Glashaus - Christian Gailus - E-Book
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Glashaus E-Book

Christian Gailus

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Beschreibung

Wer das Netz beherrscht, regiert die Welt

Im Netz tobt, von den meisten unbemerkt, ein Krieg. Und der mysteriöse Hacker Godspeed ist fest entschlossen, die Macht über den Cyberspace - und damit über ganz Deutschland - an sich zu reißen. Als es ihm sogar gelingt, eine Aufklärungsdrohne der Bundeswehr abstürzen zu lassen, sieht sich die deutsche Regierung zum Handeln gezwungen. Ihre Antwort: die geheime Sondereinheit "Glashaus". Mit an Bord sind unter anderen der ehemalige Polizist und Afghanistan-Veteran Mark West und die junge Staatsanwältin Julia Murnau. Für das Team beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, um Deutschland vor den Bedrohungen durch Godspeed und anderen virtuellen sowie realen Verbrechern zu beschützen. Doch nicht alle im "Glashaus" spielen mit offenen Karten...

Packend geschrieben und hochaktuell: Ein rasanter Thriller über die verheerenden Auswirkungen, die Cyberterrorismus auf uns alle haben kann, und ein außergewöhnliches Team, dass den Verbrechern den Kampf ansagt!


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Seitenzahl: 638

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INHALT

CoverInhaltÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumDANKSAGUNGPROLOGTAG 1KAPITEL 1KAPITEL 2KAPITEL 3TAG 2KAPITEL 4KAPITEL 5TAG 3KAPITEL 6KAPITEL 7TAG 4KAPITEL 8KAPITEL 9KAPITEL 10TAG 5KAPITEL 11KAPITEL 12KAPITEL 13KAPITEL 14KAPITEL 15KAPITEL 16KAPITEL 17TAG 6KAPITEL 18KAPITEL 19KAPITEL 20TAG 17TAG 17KAPITEL 21KAPITEL 22TAG 18KAPITEL 23KAPITEL 24TAG 19KAPITEL 25KAPITEL 26KAPITEL 27TAG 20KAPITEL 28KAPITEL 29KAPITEL 30EPILOG

ÜBER DIESES BUCH

Der mysteriöse Hacker Godspeed will die Vormacht im Cyberspace. Als es ihm sogar gelingt, eine Aufklärungsdrohne der Bundeswehr abstürzen zu lassen, sieht sich die deutsche Regierung zum Handeln gezwungen. Ihre Antwort: Glashaus. Eine geheime Sondereinheit, bestehend aus IT-Spezialisten, Polizei und Staatsanwaltschaft. Mit an Bord sind der ehemalige Polizist und Afghanistan-Veteran Mark West und die junge Staatsanwältin Julia Murnau. Für das Team beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, um Deutschland vor den Bedrohungen durch Godspeed und anderen virtuellen sowie realen Verbrechern zu beschützen. Doch nicht alle im »Glashaus« spielen mit offenen Karten …

ÜBER DEN AUTOR

Christian Gailus studierte Germanistik in Hamburg und Drehbuch in Köln. Er arbeitete in einer Werbeagentur und verfasst Kriminalromane, Thriller, Kinderbücher und Hörspiele. Glashaus basiert auf der gleichnamigen Hörspielserie, die bei Audible erschienen ist.

CHRISTIAN GAILUS

JEDER HAT ETWAS ZU VERBERGEN

beTHRILLED

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Digitale Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die agentur literatur Gudrun Hebel

Erstveröffentlichung als Hörspiel durch audible GmbH

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Kai Lückemeier

Lektorat/Projektmanagement: Rebecca Schaarschmidt

Covergestaltung: Jeannine Schmelzer unter Verwendung von Motiven © shutterstock/Mario Savoia, © shutterstock/ImageFlow, © shutterstock/beccarra und © shutterstock/Alhovik

Illustration: © Shutterstock/Kundra und © LogotypeVector

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-2683-3

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Vielen Dank an Elmar Börger für technische und inhaltliche Hilfestellungen bei allen IT- und Internetfragen.

PROLOG

Das Flugzeug sinkt rasend schnell. Und kommt immer näher. Die ersten Menschen heben ihre Köpfe, schützen ihre Augen vor der am Zenit stehenden Augustsonne und realisieren, dass etwas nicht stimmt mit der vierstrahligen Boeing. Sie starren hinauf zum grauen Flieger mit dem großen tellerförmigen Aufbau, der wie ein abgeflachter Pilz aus dem letzten Drittel des Rumpfes wächst, und versuchen, die Absicht des Piloten zu erahnen. Erste Spekulationen machen die Runde, halten einen tiefen Anflug auf den Flughafen Schönefeld für möglich, vielleicht sogar eine Notwasserung auf der Spree. Ein Passant identifiziert die Maschine als Awacs-Aufklärungsflugzeug der US Air Force. Ist das ein besonders dreister Überwachungsflug der Vereinigten Staaten von Amerika? Oder gar eine unverhohlene Machtdemonstration?

In das tiefe Brummen der Triebwerke mischt sich ein heller Pfeifton, der rasch lauter wird. Die Boeing E3 senkt die Nase. Die ersten Menschen geraten in Panik, und dieser Impuls löst eine Kettenreaktion aus. Binnen Sekunden ist der Platz der Republik in Bewegung: Touristen, Studenten und Mütter mit Kinderwagen fliehen in alle Richtungen, während sich ein gewaltiger Schatten auf das Grün schiebt und in mörderischem Tempo Richtung Osten rast. Brüllender Triebwerkslärm übertönt die Schreie. Und dann, kurz vor dem Einschlag, gibt es einen Moment, in dem die Zeit stillzustehen scheint und der fast fünfzig Meter lange Flugzeugrumpf seine wahre Größe gegenüber der Glasfassade in seinem Visier demonstriert: die symbolische Visualisierung von Macht gegenüber Transparenz – und es steht außer Frage, wer dominiert.

Den Bruchteil einer Sekunde später rast die Awacs mit 300 Stundenkilometern in die Kuppel des Reichstags.

TAG 1

(24 Stunden früher)

KAPITEL 1

§ 1: Die Daten des Individuums sind unantastbar. Die Daten des Staates nicht. Sie zu kontrollieren, zu korrigieren oder zu löschen ist die Pflicht eines jeden Bürgers.

Ich bin Godspeed. Meine Daten Gesetz.

Berlin. Charité. 08.53 Uhr

Mark West drohte der Schädel zu zerplatzen. Die Kopfschmerzen hämmerten wie Fausthiebe in seinem Gehirn. Trotz der Schmerzmittel. Und eine höhere Dosierung war nicht drin. Anweisung vom Stationsarzt. Zu gefährlich beim derzeitigen Zustand. Mit diesem Loch im Kopf.

Wenn diese Typen in Weiß wüssten, was er sich alles in Masar-e-Scharif reingezogen hatte: Cannabis, Ecstasy, Speed – und haufenweise Zeug, von dem er nicht einmal den Namen kannte.

Okay, das war vor dem Zwischenfall gewesen, vor dem Loch und dem Rückflug nach Deutschland. Berlin. Charité. Die hatten ihn wieder zusammengeflickt – was einem Wunder glich, wenn es stimmte, was man ihm erzählt hatte. Ein golfballgroßes Loch prangte in seinem Schädel. Verursacht durch ein Vollmantelgeschoss, abgefeuert aus kürzester Distanz. Es war durch den Knochen wie durch ein Stück Butter gegangen, von der linken Wange durch die Schädelbasis und aus dem Schädeldach wieder raus. Hatte dabei allerdings Teile des präfrontalen Kortex weggerissen. Bei einer Visite hatte er einen Assistenzarzt scherzen hören, man könne Wests Schädel nach seinem Tod dem Kindergarten als Murmelbahn stiften. Er hatte sich schlafend gestellt.

War das möglich? Konnte man mit einer solchen Verletzung überleben? Oder war er gar nicht mehr er selber, sondern nur noch eine Hülle, mit der irgendein perverses Experiment gemacht wurde?

Wenn diese Schmerzen nicht wären!

Verdammter Afghane!

Wieso hatte er seine Waffe nicht runtergenommen, als es ihm der Ami befohlen hatte? Wieso hatte er weiter auf Wests Kopf gezielt? Wie waren sie eigentlich in diese beschissene Situation geraten?

»What the fuck are you doing, Stuart?«

»Trying to find the fucking way.«

Sie waren unterwegs gewesen. In Afghanistan. Nördlich von Shorak. Irgendwo im Nirgendwo.

»Das hier ist niemals der Asian Highway.«

Farid, der Übersetzer, war stinksauer, weil das GPS ausgefallen war und die Amis die Orientierung verloren hatten. Und statt sich Gedanken zu machen, wie sie da am besten wieder rauskämen, kutschierten sie in ihrem Humvee einfach weiter in der Gegend herum. Völlig planlos.

»Sorry, Mister West, dass Ihr kleiner Hitchhike zu ’ner scheiß Geisterfahrt wird.«

Farid hatte sich für West verantwortlich gefühlt, weil er Stuart und Carter bequatscht hatte, ihn mitzunehmen. Von Aqcha nach Masar-e-Scharif. Dort war West stationiert. Polizisten ausbilden. Ein Jahr Urlaub von der Heimatfront beim LKA. War auch dringend nötig, nach der ganzen Geiselscheiße. Und lief auch alles glatt: bis sie in dieses verdammte Dorf gekommen waren.

»Please stop the car!«

Er wollte nach dem Weg fragen. Wieso auch nicht? Wenn sich jemand hier auskannte, dann ja wohl die Afghanen. Erst hatten die Amis gelacht, weil sie Wests Vorschlag für einen Scherz gehalten hatten. Aber schließlich waren Captain Stuart und Farid doch noch ausgestiegen, während Lieutenant Carter zum Pissen hinter dem Humvee verschwand. Sie fragten einen alten Mann nach dem Weg. Doch entweder verstand er sie nicht, oder er fühlte sich unzureichend respektiert von diesem fluchenden US-Soldaten in seiner Hunderttausend-Dollar-Uniform und mit der M16 im Anschlag. Der Alte blieb stumm. Und Stuart wurde wütend.

»We haven’t got time for this shit!«

Er fuchtelte dem Alten vor dem Gesicht herum. Der begann unvermittelt wie ein Rohrspatz zu schimpfen und spuckte dem Captain vor die Füße. Stuart packte ihn am Kragen – und plötzlich war da dieser Junge. Höchstens zwölf. Und zielte mit dem Gewehr auf Stuarts Gesicht.

»Take it easy, okay? I’m just asking for the way.«

West war raus aus dem Humvee. Vermitteln. Zwanzig Jahre Polizeidienst hatten ihn konditioniert.

»Ganz ruhig, Junge! Wir tun euch nichts. Wir steigen wieder ein und hauen ab.«

Farid übersetzte. Der Junge schnaufte. Seine Hände zitterten. West hörte seine Zähne mahlen. Sein Körper war eine zum Zerreißen gespannte Armbrust. Eine falsche Bewegung, und sie würde losgehen.

Plötzlich kam Carter hinter dem Humvee hervorgeschossen, sein Sturmgewehr im Anschlag.

»Put the gun down!«

Dann ging alles ganz schnell. Der Junge zuckte, Stuart griff nach dessen Waffe, das Gewehr feuerte los.

Schwarz.

Drei Tage Nacht, wenn West der Datumsangabe auf der Armbanduhr trauen konnte, die er nach seinem Erwachen auf dem Tisch neben dem Krankenbett gefunden hatte. Ein Arzt gab ihm weitere Informationen: Notoperation. Verlegung nach Deutschland. Weitere OPs. Diagnose: Loch im Kopf.

Aber überlebt.

Und der Junge?, fragte er Farid per SMS.

West bekam keine Antwort.

*

Berlin. Albrechtstraße. 10.16 Uhr

Jörg Warninger öffnete die ramponierte Holztür im Hinterhof der Albrechtstraße 27 und ließ seiner Begleitung den Vortritt.

»Das Flurlicht ist kaputt«, gab er der schlanken Brünetten im grauen Kostüm warnend mit auf den Weg.

»Willkommen in der Schattenwelt«, sagte sie schmunzelnd und ging an ihm vorüber.

»Ein Tipp vom Architekten.« Warninger folgte ihr lächelnd und übernahm auf den Stufen ins Untergeschoss wieder die Führung. »Wir dachten, das wäre ganz passend für das Entree zu einer geheimen Sondereinheit.«

»Geheim?«, fragte die Brünette mit Stirnrunzeln. »Ich hatte es gar nicht so verstanden, dass die SE Glashaus eine Geheimorganisation ist.«

»Ist sie auch nicht«, gab Warninger zu. »Verborgen trifft es wohl eher.« Vor einer grauen Stahltür blieb der ältliche, aber dennoch drahtig wirkende Mann stehen und wandte sich seiner fast einen halben Kopf größeren Begleitung zu. »Zumindest hängen wir unsere Existenz nicht an die große Glocke, Julia. Und das ist ja nicht verboten, oder, Frau Staatsanwältin?«

Julia lächelte. Warninger fischte eine Chipkarte aus der Brusttasche seines Jacketts und zog sie durch das Lesegerät, das neben der Stahltür in die Wand eingelassen war. Das rote Lämpchen wechselte auf Grün, und mit einem Klacken öffnete sich der Sperrmechanismus. Warninger drückte die schwere Tür auf.

Julia war überrascht. Beim Hinabsteigen in die Katakomben des betagten Backsteingebäudes hatte sie sich auf ein muffiges Fahrradkeller-Ambiente gefasst gemacht, stattdessen erblickte sie einen lang gezogenen, gut ausgeleuchteten Raum, in dem rund zwei Dutzend Personen damit beschäftigt waren, an vier rechteckigen Tischen Computer aufzubauen und Kabel zu verlegen. Der schmale Gang zwischen den Tischen mündete an der Stirnseite in zwei durch Glaswände abgetrennte Büros. Links davor stand ein ovaler Konferenztisch, über dem ein übergroßer Flatscreen an Eisenketten baumelte; rechts war eine kleine Küchenzeile in die Kellerstruktur eingebettet. Acht mächtige Säulen stützten mit ihren Rundbögen die Backsteindecke des nahezu tennisplatzgroßen Raums.

»Willkommen in der Kommandozentrale der SE Glashaus«, sagte Warninger. »Kommen Sie, ich stelle Ihnen den Administrator vor.« Er übernahm wieder die Führung. Der Raum war vollgestopft mit Elektronik: Computer, Bildschirme, Messgeräte, Antennen, Funkanlagen, Abhörequipment – vieles noch in Kartons verpackt. Dicke Kabelbäume verliefen auf Aluminiumträgern, die unterhalb der Gewölbedecke angebracht waren. Über den Arbeitstischen zweigten die Kabel ab und baumelten in Trauben aus Strom- und Netzwerkanschlüssen herunter. In den Gängen stapelten sich Styroporverpackungen, in den Ecken türmten sich Luftpolsterfolie und Kabelreste zu chaotischen Gebirgen auf. Da es keine Fenster gab, erhellte eine grelle Neonbeleuchtung den künstlichen Lebensraum. Und statt Frischluft röhrte eine leistungsstarke Klimaanlage gegen die Hitzeentwicklung von Mensch und Maschine an.

Den beiden Neuankömmlingen wurde von den Anwesenden so gut wie keine Beachtung geschenkt. Alle waren entweder mit dem Zusammenbau irgendwelcher Computerbestandteile beschäftigt oder in intensive Gespräche vertieft, wobei die sorgenvollen Blicke der Diskutanten auf den Geräten vor ihnen ruhten. Der Mix aus Gesprächen, Computergebläsen und Klimaanlage erzeugte einen nicht unerheblichen Geräuschpegel, der schon beinahe unangenehm war.

Unter dem letzten Tisch am Ende des schmalen Gangs schauten zwei menschliche Beine in ausgewaschenen Jeans und mit schmuddeligen Turnschuhen an den Füßen hervor.

»Herr Radinger?«, fragte Warninger. »Haben Sie kurz Zeit?«

»Nein«, kam die prompte Antwort, gefolgt von Schnauben, Ächzen, Fluchen. Was auch immer der Mann unter dem Schreibtisch versuchte: Es klappte nicht.

»Nur eine Minute«, bat Warninger geduldig, obwohl der ehemalige Vize-Präsident des Landeskriminalamts es eigentlich nicht gewohnt war, um Aufmerksamkeit zu bitten.

»Ich sagte Nein«, gab der Mann unter dem Schreibtisch zurück – als plötzlich ein schabendes Geräusch zu hören war, gefolgt von einem Aufschrei.

»Verdammt noch mal!«, rief er und bugsierte seinen Körper ruckelnd unter dem Schreibtisch hervor. »Jetzt bin ich mit dem scheiß Schraubenzieher abgerutscht!« Er rappelte sich auf und steckte den rechten Daumen in den Mund. »Warninger«, nuschelte er, »können Sie mich nicht einfach meine Arbeit …« Als er Julia bemerkte, verstummte er abrupt und begaffte sie mit großen Augen, den Daumen noch immer im Mund.

»Das ist Julia Murnau von der Staatsanwaltschaft«, sagte Warninger, ohne der Schimpftirade seines Mitarbeiters Beachtung zu schenken. »Julia, das ist Torsten Radinger, unser Administrator.«

»Angenehm!«, nuschelte Torsten mit dem Daumen im Mund und streckte Julia die unverletzte linke Hand entgegen.

»Ich gebe Ihnen ein Taschentuch«, sagte Julia und durchsuchte ihre Handtasche.

»Frau Murnau untersteht nicht nur die rechtliche Seite der SE Glashaus, sie ist auch meine Stellvertreterin«, fuhr Warninger fort. »Torsten hat hier die technische Leitung. Deshalb sollten Sie beide einen guten Informationsfluss etablieren.«

Julia reichte Torsten ein Papiertaschentuch. Er nahm es entgegen und streifte dabei Julias Handrücken mit dem Zeigefinger.

»Nichts lieber als das«, sagte er. Julia zog ihre Hand zurück und warf ihm einen missbilligenden Blick zu.

»Wie geht’s denn voran?«, fragte Warninger, dem die kurze Szene offenbar entgangen war.

Torstens Gesicht verfinsterte sich wieder. »Ganz großartig!«, entgegnete er lakonisch. »Die Leitungen sind zu schwach, der Strom schwankt wie ’ne Nussschale im Sturm, und die Hälfte der bestellten Server ist nicht gekommen. Ebenso SAN-System und die USV. Der Glasfaseranschluss wird auch erst heute Nachmittag gelegt. Im Moment kriege ich nicht mal ’ne Lan-Party ans Laufen, geschweige denn ein Spionagezentrum.«

»Wir haben mit Spionage nichts zu tun«, korrigierte Warninger. »Wir unterstehen dem Innenministerium.«

»Schon verstanden«, murrte Torsten, während er versuchte, mit dem Taschentuch die Blutung zu stoppen.

Warninger atmete tief durch. »Okay, klare Frage, klare Antwort: Wann sind Sie startklar?«

»Ich bin froh, wenn wir heute Abend E-Mails verschicken können«, gab Torsten kopfschüttelnd zurück. »Alles andere …« Er hob entschuldigend die Schultern.

»Tun Sie Ihr Bestes«, bat Warninger. »Je früher wir loslegen können, desto besser.« Er wandte sich zu Julia. »Die übrigen Mitarbeiter stelle ich Ihnen später vor. Jetzt folgen Sie mir bitte erst einmal in mein Büro.« Damit machte er kehrt und steuerte auf einen der Glaskästen zu.

Julia warf Torsten einen raschen Blick zu. Er starrte sie noch immer mit großen Augen an. Dann steckte er seinen Daumen wieder in den Mund – wie Robert De Niro in Kap der Angst, schoss es Julia durch den Kopf. Was für ein beängstigender Film! Hastig drehte sie sich um und folgte Warninger.

*

Autobahn A2. Limousine der Kanzlerin. 10.29 Uhr

Mit uns wird es keine Verschärfung der Datenschutzgesetze geben, lautete die Überschrift in der Berliner Gazette. Wütend griff Kanzlerin Aglaia Schächter nach ihrem Smartphone und suchte die Nummer des Kanzleramtschefs in den Kontakten.

»Hofer«, meldete sich eine verschnupfte Stimme.

Schächter kam ohne Umschweife zur Sache. »Haben Sie das Interview in der Gazette gelesen?«

»Das mit Klaasen?«

»Natürlich das mit Klaasen!« Die Kanzlerin hob die Zeitung von ihrem Schoß und las: »Nachdem die Deutschen dem Wählerbündnis Uns reicht’s! den Auftrag gegeben haben, eine Koalition mit der Union einzugehen, stehen sämtliche Aussagen zur Datensicherheit zur Disposition.« Sie ließ die Zeitung sinken. »Hat er das mit Ihnen abgesprochen?«

»Natürlich nicht.«

»Wie kommt er dann dazu, so etwas zu behaupten? Gerade mal elf Prozent hat diese Pfeife mit seinem Wutbürger-Getue geholt!«

»Tendenz steigend.«

»Tendenz Rauswurf!« Wütend schlug Schächter die Zeitung gegen die Scheibe. »Treiben Sie diesem Politneuling die Flausen aus dem Kopf, sonst geht unsere Zweckehe schneller in die Brüche, als ihm lieb sein kann.«

Hofer räusperte sich. »Er ist der Vizekanzler. Ich kann ihm nicht vorschreiben, wozu er sich äußern darf und wozu er lieber schweigen sollte.«

»Dann bitten Sie ihn eben freundlich!«, brüllte Schächter in den Apparat. Ihr Fahrer zuckte zusammen. »Ich will so einen Mist nicht mehr lesen müssen!«

Hofer seufzte. »Ich werde ihn darum ersuchen, weitere Schritte in dieser Richtung in Zukunft mit uns abzustimmen.«

»Na, dann ersuchen Sie ihn mal.« Schächter stopfte die Zeitung zwischen die Sitze. »Was macht das Strategiepapier?«

»Wir befinden uns in der finalen Phase. Aber es sind noch ein paar Detailfragen zu klären …«

»Dann machen Sie Dampf! Wir müssen endlich was tun! Schlimm genug, dass unsere Bündnispartner uns ausspionieren. Aber dann auch noch so zu tun, als wäre das die normalste Sache der Welt – das ist der Gipfel der Unverschämtheit. Das dürfen wir uns nicht gefallen lassen, Hofer! Dagegen müssen wir angehen!«

»Was bei der aktuellen Gefahrenlage nicht gerade einfach ist.«

»Sprechen Sie von diesem Godspeed? Ich dachte, Sie haben die Sache im Griff. Haben Sie nicht extra eine Spezialeinheit ins Leben gerufen, um diesen Schwachkopf aus dem Verkehr zu ziehen?«

»Sie nimmt gerade den aktiven Betrieb auf«, sagte Hofer. »Aber natürlich wird es einige Zeit dauern …«

»Sie reden dauernd von Zeit«, unterbrach ihn Schächter erneut. »Aber genau die haben wir nicht. Wir haben das schlechteste Wahlergebnis unserer Geschichte eingefahren und müssen deshalb mit diesen Neuparlamentariern kopulieren. Wir können das zu unserem Vorteil nutzen, aber nur, wenn wir uns auf unsere Kernkompetenzen besinnen: Wirtschaft und Sicherheit. Ich will die nächste Wahl gewinnen, Hofer. Und ich will nicht bis zum Ende der Legislaturperiode darauf warten müssen. Führen wir Klaasen und seinen Deppen-Clan öffentlich vor. Ich möchte es nicht noch mal erleben, dass diese Witzfiguren über die Fünfprozenthürde kommen.«

Hofer seufzte. »Sicher.«

»Dann bis später.« Schächter legte auf und warf das Smartphone neben sich auf den Sitz. »Wie liegen wir in der Zeit, Simon?«

Der Mann hinter dem Lenkrad warf Schächter einen Blick über den Innenspiegel zu. »Wir erreichen das Messezentrum fünfzehn Minuten früher als geplant, Frau Kanzlerin.«

»Dann machen wir einen Halt bei Curry One. Ich brauch was Anständiges zwischen die Zähne, bevor ich mir den Mund vor diesen Sicherheitsfuzzis fusselig rede.« Sie zögerte plötzlich, dachte einen Moment nach und griff nach ihrem Smartphone. Wie ein Mikrofon hielt sie es sich vor den Mund. »Das war ein Scherz, Jungs«, sagte sie mit fröhlicher Stimme. »German humour, you understand?« Lachend warf sie das Telefon zurück auf das Limousinen-Leder.

*

Berlin. Glashaus. 10.31 Uhr

Warninger ließ sich auf den schwarzen Ledersessel fallen und bot Julia mit einer Geste den Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite der Glasplatte an. Dann legte er die Fingerspitzen aneinander und senkte den Blick, als müsste er sich sammeln. Es folgte eine für Julias Geschmack etwas zu lange Pause. Sie wurde langsam unangenehm.

»Zwei Dutzend Spezialisten«, sagte Warninger plötzlich und hob den Kopf. »Auf engstem Raum.« Er warf einen Blick durch die Glaswand in das Kellergewölbe. »Wir haben hier LKA, BND, MAD, Verfassungsschutz, Nationales Cyberabwehrzentrum – einen bunten Behördenpool und absolut keinen Schimmer, ob die miteinander auskommen. Oder es auch nur wollen! Sie haben Torsten Radinger ja erlebt: Ein Individualist durch und durch, der sich lieber den Finger absäbelt, als der Anordnung eines Vorgesetzten Folge zu leisten.« Warninger seufzte. »Hier sitzen sie Schreibtisch an Schreibtisch, und reagiert wird auf Zuruf. Das kann Segen oder Fluch sein. Wir werden sehen.«

Julia wies zum Glaskubus hinter sich. »Aber ich bekomme ein eigenes Büro?«

Warninger nickte. »Sie brauchen Ruhe. Und das sage ich ohne jede Ironie: Die da draußen machen zwar einen hervorragenden Job – aber eben nur ihren eigenen. Ob wir einen Kriminellen später auch wirklich hinter Gitter bringen, steht bei denen nicht unbedingt ganz oben auf der Prioritätenliste, befürchte ich. Das muss es aber auch nicht. Sie müssen ihn nur aus seinem Versteck scheuchen, die Verhaftung koordiniert Mark West, und Sie, Julia, sorgen dafür, dass alles so weit legal vonstattengeht, dass wir am Ende eine Verurteilung haben. Ihr Job hält die Aktionen der Individualisten da draußen zusammen.« Warninger verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich will ganz ehrlich sein: Es gibt erfahrenere Staatsanwälte als Sie. Aber Sie sind jung und ehrgeizig, und ich traue Ihnen zu, sich durchzusetzen. Außerdem haben Sie keine familiären Verpflichtungen. Und das hier wird kein Nine-to-five-Job. Ich hoffe, das geht in Ordnung.«

Julia nickte. »Welches Verbrechensspektrum soll die SE Glashaus abdecken?«

»Alle Formen von Cyber-Kriminalität«, sagte Warninger. »Dazu gehören Industriespionage, Wirtschaftskriminalität, kriegerische Aktivitäten und Attacken durch andere Staaten, Terrorattacken sowie Angriffe durch Hacker und sogenannte Hacktivisten.«

Julia hob erstaunt die Brauen. »Ziemlich breites Betätigungsfeld für eine derart überschaubare Belegschaft.«

»Wir werden uns nicht mit alltäglichen Kleinangriffen auf die Netzstruktur aufhalten«, stellte Warninger klar. »Wir nehmen uns nur die großen Brocken vor und testen an ihnen, ob diese Form von behördenübergreifender Zusammenarbeit zum Erfolg führt. Falls ja, ist eine Aufstockung von Personal und Mitteln Formsache. Es liegt ja auch im Interesse der Politik, gegen den Internetterror vorzugehen. Nur gibt es dafür eben kein Patentrezept.«

»Und ein solcher großer Brocken ist Godspeed?«

Warninger nickte und betätigte ein paar Tasten auf der Tastatur vor sich. Dann drehte er den Bildschirm zu Julia. Ein Omegazeichen füllte den Flatscreen, in seinem Griff: eine Weltkugel.

»Godspeed ist der Grund für den übereilten Start dieses Projekts«, erklärte Warninger. »Ihm gilt unsere oberste Priorität.«

»Was wissen wir über ihn?«

»Nicht viel. Möglicherweise ist er ein Einzeltäter, vielleicht handelt es sich aber auch um ein Hacker-Kollektiv. Die Regierung jedenfalls betrachtet Godspeed als ernsthafte Bedrohung. Intern wird schon von einer Internet-RAF gesprochen. Godspeed selbst sieht sich wohl als eine Art Web-Polizei, die gegen Ungerechtigkeiten kämpft – wobei das natürlich immer eine Frage des Standpunkts ist.«

»Was hat er denn bislang gemacht?«

Warninger lehnte sich zurück. »Ihm sind mehrere spektakuläre Einbrüche in Big-Data-Systeme gelungen: Lufthansa, Deutsche Bank, Telekom. Das Vorgehen ist immer gleich: Er hackt sich in die Systeme, stiehlt sensible Daten und veröffentlicht sie in Webforen.«

»So wie Wikileaks.«

»Wikileaks veröffentlicht keine Kontodaten oder Industriegeheimnisse. Die Hacks von Godspeed zeichnen sich vor allem durch Kontraproduktivität aus. Dahinter steckt kein öffentliches Informationsinteresse, das ist Terrorismus.« Warninger bearbeitete die Tastatur vor sich, und ein neues Bild erschien auf dem Flatscreen. Es zeigte eine Liste von Firmennamen. »Vor drei Monaten änderte sich die Art der Anschläge dann. Mehrere Kraftwerke meldeten Manipulationsversuche via Social Engineering und gefälschten USB-Sticks.«

Julia überflog die Liste rasch. »Also ein Sabotageprogramm? Ähnlich wie der Computerwurm Stuxnet vor ein paar Jahren?«

Warninger nickte. »In einem Fall gelang sogar die Einschleusung eines Virus. Allerdings war es inaktiv.«

»Und woher weiß man, dass immer derselbe Hacker dahintersteckt?«

»Weil Godspeed ein Markenzeichen hinterlässt, eine Art Fehdehandschuh.« Warninger kehrte zum vorherigen Bildschirm zurück. »Eine digitale Signatur. Ein Omegazeichen, das eine Weltkugel umklammert. Godspeed schreibt seinen Namen mit einem Omega statt mit einem O. Die Message ist ja wohl klar.«

Julia dachte kurz nach. »Und wenn die Signatur gefälscht ist?«

Warninger schüttelte den Kopf. »Die Art der Einbrüche lässt auf ein fundiertes Know-how schließen. Das sind keine Dumme-Jungen-Streiche, Julia. Da steckt System dahinter.«

»Wieso hat er dann noch nicht richtig zugeschlagen?«

»Wir glauben, dass es Tests waren.«

»Tests? Wofür?«

»Darüber haben wir keine Erkenntnisse. Fakt ist aber, dass der Anschlag, der dann folgte, ein noch höheres Hackerniveau benötigte.« Warninger rief einen neuen Bildschirm auf und startete ein Video. Der Film zeigte eine Drohne im Flug. »Godspeed hat eine Aufklärungsdrohne vom Typ Heron abstürzen lassen. Und das ganze publikumswirksam gefilmt, was bedeutet, er muss auch noch einen Satelliten gehackt haben.« Die Drohne auf dem Bildschirm begann zu schlingern, kippte über die linke Tragfläche und stürzte ab.

»Das Video hat fünfzehn Millionen Klicks bekommen und wurde in zahllosen Formaten persifliert.« Warninger wechselte wieder zu seinem Arbeitsbildschirm. »Die Bundesregierung ist not amused, wie Sie sich denken können. Godspeed stellt eine ernsthafte Gefahr für die Sicherheit unseres Landes dar. Denn offenbar verfügt er nicht nur über die Mittel, diese Hacks durchzuführen, sondern auch über die nötige Entschlossenheit, seine Fähigkeiten gezielt einzusetzen, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben. Sich über eine abgestürzte Drohne in Afghanistan lustig zu machen ist das eine; einen landesweiten Stromausfall zu provozieren etwas ganz anderes. Mit einer solchen Attacke könnte Godspeed diesem Land ernsthaften Schaden zufügen. Das gilt es zu verhindern.«

»Keine Peanuts«, kommentierte Julia trocken.

»Waren Sie auf Peanuts aus, als Sie Deutschlands jüngste Staatsanwältin wurden?« Warninger warf ihr einen tadelnden Blick zu. »Niemand hat ein Patentrezept, wie mit einer solchen Bedrohung umzugehen ist. Deshalb kann uns auch niemand sagen, wie wir unsere Arbeit machen sollen. Wenn wir es geschickt anstellen, können wir das zu unserem Vorteil nutzen.«

»Aber die Regierung erwartet doch konkrete Ergebnisse. Von welchem Zeitraum sprechen wir denn?«

Warninger zuckte mit den Schultern. »So wie immer. Gestern.«

Julia seufzte.

»Haben Sie noch weitere Fragen?«

»Ja. Wer ist dieser Mark West?«

Das Telefon klingelte. Warninger hob den Hörer ab.

»Ja? … Aha, und jetzt? … Na gut, ich komme.« Er legte auf.

»Kommen Sie mit, dann können Sie Mark West persönlich kennenlernen.« Etwas schwerfällig erhob er sich aus seinem Stuhl. »Wenn er mit etwas unzufrieden ist, verlangt er immer nach mir. Als wär ich seine Mutter.«

*

Hannover. Messegelände. 11.02 Uhr

»Und nun freue ich mich auf unseren Ehrengast«, sagte der hochgewachsene Mann mit dem einnehmenden Lächeln in das Mikrofon vor sich. »Eine Frau, die den flächendeckenden Ausbau der Netzstruktur in Deutschland unermüdlich vorangetrieben hat. Begrüßen Sie mit mir auf der diesjährigen Messe für Datensicherheit CySec Bundeskanzlerin Aglaia Schächter.«

Höflicher Applaus begleitete Schächters Weg auf das Podium. Sie stellte ihre Tasche auf den Hocker neben sich und schenkte den rund fünfhundert Anwesenden ein warmes Lächeln.

»Danke für den freundlichen Empfang«, sagte sie ins Mikrofon. »Lassen Sie mich gleich zur Sache kommen: Sicherheit ist das Thema des 21. Jahrhunderts. Denn ohne Sicherheit ist ein Leben in Freiheit undenkbar. Sicherheit ist der Grundpfeiler der Demokratie und beschränkt sich nicht allein auf körperliche Unversehrtheit. Sicherheit durchdringt jeden Aspekt des öffentlichen wie privaten Lebens: die Sicherheit, dass der elektrische Strom fließt, der sichere Schulweg unserer Kinder oder das sichere Gefühl, auch morgen noch in einer Demokratie zu leben: Sicherheit ist das unsichtbare Band, das unserem Dasein ein Leben in Würde garantiert – und uns damit erst zum Menschen macht.«

Applaus. Lächeln. Weiter.

»Das schließt die Sicherheit unserer Daten ein. Denn alles, was wir tun, sagen und denken, ist letzten Endes Information. Und jede Information lässt sich digital darstellen, in Nullen und Einsen. Wenn wir unsere persönlichen Äußerungen und Entscheidungen also als eine Folge von elektrischen Impulsen begreifen, hat die Sicherheit unserer Daten höchste Priorität. Höchste Priorität!« Schächter hob die Brauen und ließ ihren Blick mahnend durchs Forum gleiten. »Aber ohne in falschen Aktionismus zu verfallen. In den vergangenen Wochen und Monaten haben Horrormeldungen die Nachrichten dominiert. Meldungen über abgehörte Telefonate und ausgespähte Existenzen. Dabei konnte man leicht den Eindruck gewinnen, dass von der eben zitierten Freiheit nicht viel übrig geblieben und unsere Gesellschaft unter dem Schleier der Demokratie nichts weiter als eine gut getarnte Matrix ist. Doch das ist falsch! In Deutschland wird beim Einstellungsgespräch kein Erbgut analysiert, niemandem wird wegen einer drohenden Erkrankung die Aufnahme in eine Krankenkasse verweigert, und von der Erhebung lückenloser Bewegungsprofile sind wir weit entfernt. In der Bundesrepublik Deutschland steht niemand unter Generalverdacht. Der gläserne Bürger ist nicht in Sicht.«

»Wir haben das schlechteste Wahlergebnis unserer Geschichte eingefahren und müssen deshalb mit diesen Neuparlamentariern kopulieren«, dröhnte eine Stimme durch den Saal. Die Anwesenden sahen sich verwirrt um. Schächter starrte zum Veranstalter, der hektisch in sein Walkie-Talkie bellte.

»Wir können das zu unserem Vorteil nutzen, aber nur, wenn wir uns auf unsere Kernkompetenzen besinnen: Wirtschaft und Sicherheit.«

Schächter lehnte sich nach vorne und sagte etwas, doch das Mikro vor ihr übertrug die Worte nicht mehr. Und in dem großen Saal hatte ihre unverstärkte Stimme keine Chance. Besonders deshalb, weil sie sich gegen eine Stimme hätte durchsetzen müssen, die um einige Dezibel lauter war als ihre eigene. Ihre eigene?

»Ich will die nächste Wahl gewinnen, Hofer. Und ich will nicht bis zum Ende der Legislaturperiode darauf warten müssen.«

Erst jetzt begriff sie, wessen Stimme sie da hörte. Sie konnte es kaum glauben.

»Führen wir Klaasen und seinen Deppen-Clan öffentlich vor. Ich möchte es nicht noch mal erleben, dass diese Witzfiguren über die Fünfprozenthürde kommen.«

Einige Gäste bemerkten, dass es sich nicht um eine technische Panne handelte, sondern irgendetwas anderes vor sich ging. Die Unruhe wurde immer größer.

»Wie liegen wir in der Zeit, Simon?«

Die ersten Gäste brachten die Stimme, die über die großen schwarzen Lautsprecher ertönte, mit der Person auf der Bühne in Einklang. Vereinzelte Lacher waren zu hören.

»Dann machen wir einen Halt bei Curry One. Ich brauch was Anständiges zwischen die Zähne, bevor ich mir den Mund vor diesen Sicherheitsfuzzis fusselig rede.«

Schächter wurde leichenblass. Hektisch kramte sie das Smartphone aus ihrer Tasche und sah auf das Display. Doch statt des gewohnten Funktionsbildschirms leuchtete dort ein Symbol auf: ein Omegazeichen, das eine Weltkugel umklammert hielt.

KAPITEL 2

§ 2: Der Idealist muss sich in der Masse verbergen. Tarnung und Täuschung sind seine Werkzeuge. Denn der Staat gewährt ihm keine Daseinsberechtigung: Er wird verfolgt, verhaftet und verhört. Deshalb lautet sein höchstes Gebot: Traue niemandem!

Berlin. Charité. 11.24 Uhr

»Ich habe keine Ahnung, was jetzt schon wieder nicht in Ordnung ist«, beteuerte die Krankenschwester kopfschüttelnd. »Ich habe ihm nur das Essen gebracht. Und dann hat er plötzlich nach Ihnen verlangt.«

»Vielleicht haben Sie etwas gesagt oder getan, das er in den falschen Hals gekriegt oder missverstanden hat«, sagte Warninger und fügte rasch hinzu: »Unabsichtlich natürlich.«

Das Gesicht der Schwester nahm einen beleidigten Ausdruck an. »Ich habe ihm das Essen gebracht und einen guten Appetit gewünscht, sonst nichts.«

Warninger seufzte. »Ich rede mit ihm.« Er wandte sich an Julia. »Warten Sie bitte einen Moment. Ich finde erst einmal heraus, was los ist, dann hole ich Sie herein, damit Sie ihn kennenlernen können, okay?«

Julia nickte. Warninger öffnete die Tür, und Julia erhaschte einen kurzen Blick auf den Mann mit dem Verband um den Kopf, der mit vor der Brust gekreuzten Armen auf einem Stuhl saß. Warninger betrat das Krankenzimmer und schloss die Tür.

»Ein schwieriger Patient?«, fragte Julia die Schwester.

»Schwierig?«, rief die Schwester aus. »Unausstehlich trifft es eher. Ich hatte schon oft schwierige Patienten, die immer und überall eine Extrawurst verlangt haben. Aber die haben wenigstens noch mit mir geredet. Mark West verstummt einfach nur und verlangt stoisch nach Herrn Warninger. Da helfen dann weder Argumente noch gutes Zureden.« Sie seufzte tief. »Das ist fast wie mit einem störrischen Kind.«

»Liegt vielleicht an seiner Verletzung«, mutmaßte Julia. »Was genau hat er eigentlich?«

Die Tür wurde wieder geöffnet, und Warninger trat aus dem Zimmer, in der Hand das Tablett mit dem unangetasteten Mittagsmenü.

»Es ist das Essen«, sagte er und reichte der Schwester das Tablett.

»Was ist mit Lamm, Reis und Couscous nicht in Ordnung?«, fragte sie und starrte auf den Teller.

»In Afghanistan gab es ziemlich oft Couscous«, erläuterte Warninger. »Und West will nicht mehr daran erinnert werden. Deshalb möchte er lieber etwas anderes.«

»Und wieso sagt er mir das nicht selbst?«

»Er hat wohl so was wie eine Vertrauenskrise. Deshalb will er lieber mit jemandem reden, den er kennt.«

»Aber das hier ist ein Krankenhaus«, sagte die Schwester. »Keine Privatresidenz. Es wäre für uns alle einfacher, wenn sich Mark West etwas besser integrieren könnte. Vielleicht können Sie ihn ja bei Gelegenheit mal darum bitten.« Damit zog sie ab.

Warninger hob die Brauen. »Sie will er auch nicht sehen«, sagte er zu Julia. »Nicht jetzt. Aber ich habe ihm ein Foto von Ihnen gezeigt, und er hat genickt.«

»Genickt?«, fragte Julia skeptisch. »Und was heißt das?«

Warninger zuckte mit den Schultern. »Wir werden sehen.«

*

Hannover. Bundesstraße 65. Limousine der Kanzlerin. 11.49 Uhr

Schächter kochte vor Wut. Aggressiv bearbeitete sie die virtuelle Tastatur ihres Smartphones. Doch das flache Ding aus Plastik und Glas war alles andere als geeignet, den Frust seines Besitzers zu kompensieren. Was waren das für Zeiten, als sich der Plastikhörer eines Schnurtelefons noch als Hammer verwenden und genüsslich in seine Einzelteile zerlegen ließ! Ein Smartphone ließ solche Exzesse nicht zu. Klar konnte man es auf die Erde schmeißen und darauf herumtrampeln; aber abgesehen davon, dass ein solches Gerät leicht mehrere Hundert Euro kosten konnte, waren nach dem Wutausbruch möglicherweise auch sämtliche Daten futsch. Das Fortschreiten der Technik nötigte dem Besitzer eine Form von Disziplin auf, die jeden spontanen Ausbruch von Emotionalität einer vorherigen Prüfung der Folgen abverlangte. Für jemanden mit Schächters Gemüt eine geradezu übermenschliche Herausforderung.

»Hofer«, meldete sich ihr Gesprächspartner mit gewohnt verschnupfter Stimme.

»Wie hat er das gemacht?«, fuhr ihn die Kanzlerin an. »Wie ist dieser Wichser in mein Handy gekommen?«

»Sie sprechen vom amerikanischen Präsidenten?«

»Ich spreche von Godspeed! Wie konnte er mein Smartphone abhören und mich der Lächerlichkeit preisgeben? Und wieso haben Sie das nicht verhindert!«

Hofer ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Dazu müsste ich erst einmal wissen, was genau …«

»Nein, das müssen Sie nicht«, unterbrach ihn Schächter aufgebracht. »Sie müssen ihn nur aus dem Verkehr ziehen, Hofer. Scheuchen Sie diesen Spinner aus seinem Loch, und knüpfen Sie ihn am nächsten Laternenpfahl auf – damit auch dem letzten Hacker klar wird, dass er eine Bundeskanzlerin nicht herausfordern sollte. Haben Sie verstanden?«

»Aglaia, ich …«

»Wiederhör’n«, bellte Schächter und legte auf. Eine Sekunde lang starrte sie auf das kleine Gerät in ihrer Hand. Dann suchte sie über den Innenspiegel Blickkontakt mit ihrem Fahrer.

»Halten Sie an, Simon.«

»Hier? Mitten auf der Brücke?«

»Ja, hier.«

Der Fahrer gab eine kurze Funkanweisung an die Wagen vor und hinter ihnen und fuhr dann rechts ran. Während vier breitschultrige Securityleute die Straße sicherten, stapfte Kanzlerin Schächter zum Brückengeländer und sah hinab in den fließenden Strom. Dann nahm sie ihr Smartphone und warf es hinunter.

»Mach’s gut, Arschloch«, zischte sie lächelnd.

*

Berlin. Dienstwagen Warninger. 11.51 Uhr

Warninger setzte den Fuß auf die Bremse. »Vielleicht entscheiden wir uns mal für eine Spur!«, bellte er den Skodafahrer vor sich an und schaltete einen Gang runter.

Julias Körper verkrampfte sich. »Schwer vorstellbar, dass Mark West in einer Woche seinen Dienst antreten soll«, sagte sie.

Warninger suchte nach einer Gelegenheit, seinen Vordermann zu überholen. »West ist zäher, als man denkt. Körperlich sehe ich da keine Probleme. Ist eher eine mentale Frage.«

»Wie meinen Sie das?«

»Die Kugel hat Teile des präfrontalen Kortex weggerissen.« Warninger setzte den rechten Blinker. Der Skoda vor ihnen fuhr nach rechts, Warninger trat das Gaspedal durch und zog mit aufheulendem Motor links an ihm vorbei. Der Fahrer gestikulierte wild. Aber Warninger schenkte ihm keine Beachtung. Mit neunzig Stundenkilometern raste er über die gelb-rote Ampel und nahm den Fuß erst wieder vom Gas, als der Skoda außer Sicht war. Julia atmete auf.

»West kriegt keine emotionale Verbindung zwischen Außenwelt und Innenwelt mehr hin«, fuhr Warninger mit bemerkenswerter Gelassenheit fort. »Dadurch hat er Schwierigkeiten, zu entscheiden, was richtig und was falsch ist. Für uns ist es leicht, in einer bestimmten Situation die angemessene Verhaltensweise an den Tag zu legen; West muss das erst wieder lernen. Das ist trotz der Schwere seiner Verletzung möglich, sagen die Ärzte. Denn bestimmte Areale in Wests Gehirn wurden zwar zerstört, aber andere können ihre Funktionen übernehmen – wenn man sie trainiert. Trotzdem ist diese Gemütsveränderung schon ziemlich unheimlich.« Er seufzte. »Ich kenne West seit über zehn Jahren. Bis zu der Geiselsache vor einem Jahr war er freundlich, aufmerksam und gewissenhaft. Dann wird vor seinen Augen diese Frau erschossen. Und er gibt sich die Schuld. Obwohl er nur versucht hat, sie zu retten.« Warninger schüttelte den Kopf. »Das hat ihn aus der Bahn geworfen. Er wurde unaufmerksam, fahrig, erschien oft zu spät zum Dienst, kam manchmal gar nicht; als würde sein Motivationsmotor nur noch untertourig laufen. Schließlich habe ich ihm zu einer Auszeit geraten. Die Ausbildung von Polizisten in Afghanistan hat er sich dann selber ausgesucht. Er dachte wohl, je weiter weg, desto besser. Und es lief gut! West gab mir zwischendurch immer wieder positives Feedback. Der Auslandsaufenthalt war genau das Richtige für sein angeknacktes Ego.« Warninger hob die Brauen, als beklagte er dieses verdammte Schicksal, das einem Menschen immer wieder einen Strich durch die Rechnung macht. »Das Jahr war fast vorüber, da kassiert er den Kopfschuss von diesem Kind. West überlebt – was schon an ein Wunder grenzt. Aber er ist nicht mehr der, der er vorher war – als wäre etwas an die Oberfläche gekommen, das vorher im Verborgenen gelegen hat.«

Warninger konzentrierte sich auf den Verkehr. Die BND-Baustelle an der Chausseestraße zwang ihn auf die orangefarbene Fahrbahnmarkierung.

»Wieso nehmen Sie ihn dann in die Sondereinheit auf?«, fragte Julia.

»Ich habe meine Gründe«, antwortete Warninger knapp und bog in die Invalidenstraße ein. »Und ich halte West trotz allem immer noch für einen hervorragenden Polizisten. Er hat eine Chance verdient.«

»Mit einem Loch im Kopf.«

Warninger lenkte den Wagen an den rechten Straßenrand und schaltete den Motor aus. Dann drehte er sich zu Julia.

»West ist nicht bloß irgendein Polizist«, sagte er. »Er hat zwanzig Jahre Erfahrung auf dem Buckel, war beim LKA. Er kennt die Szene und weiß, wie man sich im kriminellen Milieu bewegt. Und er hat mehr üble Sachen erlebt als die meisten anderen.«

»Was ihn nicht automatisch dazu befähigt, gute Polizeiarbeit zu leisten«, folgerte Julia ohne jeden Anflug von Ironie.

»Ich bin davon überzeugt, dass er ein guter Polizist ist«, beharrte Warninger. »Und ich erhoffe mir, dass er eine Ergänzung zu Ihren Fähigkeiten als Staatsanwältin darstellt. Allerdings weiß niemand, wie West in Stresssituationen reagiert. Deshalb möchte ich Sie bitten, ihn im Auge zu behalten. Falls es Probleme gibt, geben Sie mir Bescheid.«

»Dass ich das Kindermädchen mimen soll, haben Sie mir beim Vorstellungsgespräch aber nicht gesagt.«

»Ungewöhnliche Aufgaben erfordern ungewöhnliche Maßnahmen«, stellte Warninger klar. »Das hier ist kein 08/15-Job, Julia. Wenn Sie das Gefühl haben, der Sache nicht gewachsen zu sein, respektiere ich das.«

Julia zuckte zurück. »Was? Erst baggern Sie mich wochenlang an, um mich in Ihre Sondereinheit zu locken. Und auf den letzten Metern bieten Sie mir den Rückzug an?«

»Auf den letzten Metern, ja.« Warninger nickte. »Und dann verlange ich vollen Einsatz. Wenn ich Sie erst einmal in alle unsere Geheimnisse eingeweiht habe, ist ein Ausstieg sehr viel komplizierter.«

Julia zog die Stirn kraus. »Drohen Sie mir etwa?«

Sie starrten sich schweigend an. Und zum ersten Mal nahm Julia bei ihrem einstigen Mentor eine Art unterkühlter Bedrohung wahr. Warninger antwortete nicht.

»Wenn ich kein ernsthaftes Interesse hätte, hätte ich mich erst gar nicht darauf eingelassen«, brach Julia schließlich das Schweigen.

»Hatte ich nicht anders erwartet«, sagte Warninger und lächelte wieder. »Also dann: Sehen wir uns morgen.«

»Morgen?«

»Sie haben unseren Administrator ja gehört: Heute läuft nichts im Glashaus. Also können Sie auch einfach nach Hause gehen und ein bisschen feiern. Sie haben doch heute Geburtstag, oder?«

Julia nickte zögerlich.

»Dreißigster, wenn man den Akten trauen kann. Also feiern Sie ordentlich. Und morgen geht’s dann los.« Warninger lächelte auffordernd. Erst jetzt bemerkte Julia, dass sie schon die ganze Zeit vor dem Haus standen, in dem sie wohnte. Verwirrt stieg sie aus. Warninger startete den Motor, grüßte knapp und fuhr dann davon.

Julia blieb einen Augenblick unentschlossen stehen. Hatte sie die richtige Entscheidung getroffen, als sie den Job bei der Staatsanwaltschaft Berlin für Warningers Offerte hingeschmissen hatte? Es hatte ein so verführerisches Flair, die stetig anwachsenden Aktenberge gegen einen Job einzutauschen, in dem Bürokratie als Makel angesehen wurde. Aber vielleicht war es ja voreilig gewesen, sich vom süßen Duft der großen weiten Welt betören zu lassen. Wie gerne hätte Julia einen Blick in die Zukunft geworfen. Doch die einzige Zukunft, die sie überblicken konnte, war der heutige Abend.

Julia seufzte. Dann drehte sie um und machte sich auf den Weg zum Supermarkt.

*

Berlin. Supermarkt. 12.09 Uhr

Julia stellte sich in die Reihe vor der Kasse. Der aufdringliche Typ, der sie seit der Spirituosenabteilung verfolgte, drückte seinen Wagen in ihr Gesäß. Am liebsten hätte Julia einen energischen Schritt zurück getan und dem schmächtigen Kerl mit dem schiefen Lächeln seinen Wagen in die Eier gerammt. Aber sie war müde und wollte nur schnell nach Hause. Und sie hatte sich schon vor Jahren mit den archaischen Annäherungsversuchen ihrer Artgenossen abgefunden. Gegen genetische Programmierungen war offenbar kein Kraut gewachsen.

»Sieht ja nich’ gerade nach ’ner Riesenparty aus«, sagte der Typ mit Blick auf den Piccolo in Julias Wagen. »Was ’n der Grund? Beförderung? Gehaltserhöhung? Neuer Job?«

Julia verdrehte die Augen.

»Ich hab’s!«, rief er aus. »Geburtstag! Und weil sonst niemand kommt, wird mit ’nem Sektchen angestoßen, stimmt’s?«

Julia spürte, wie ihr die Galle hochkam.

»Könnte was beisteuern«, sagte der Widerling und zeigte auf die Flasche Bulldog in seinem Wagen. »Damit wird der Abend garantiert nicht langweilig. Was meinste? Soll ich … dazustoßen?« Wütend drehte sich Julia um. Doch als das dreckige Lachen dieser jämmerlichen Type nahtlos in einen nikotinbedingten Hustenanfall überging, überwog das Mitleid. Julia wendete sich wieder ab und legte ihre Waren auf das Transportband.

»Also, wie sieht’s aus?«

Ohne ihn weiter zu beachten, ging sie zur Kassiererin.

»Ey, ich sprech mit dir!«

Sie bezahlte in bar, packte ihr halbes Dutzend Sachen zusammen und verließ den Supermarkt. An der Ampel hatte sie die Begegnung fast schon wieder vergessen, als sie erneut die unangenehme Präsenz des Mannes spürte. Er stand so dicht hinter ihr, dass sie seinen Atem in ihrem Nacken spüren konnte.

»Wo wohnste denn?«

Wutentbrannt drehte sich Julia um und stieß den Mann mit einem kräftigen Stoß ihrer rechten Hand von sich. Er stolperte zurück, verlor das Gleichgewicht und ging zu Boden. Aus seiner Tüte kullerten Äpfel, Möhren und Papaya. Eine helle Flüssigkeit mischte sich zwischen Obst und Gemüse.

»Guter Schlag«, sagte ein junger Mann anerkennend im Vorübergehen. Erst jetzt bemerkte Julia, dass sie noch immer in Kampfposition stand. Sie entspannte sich und ließ die Arme sinken.

»Ey, tickst du nicht mehr richtig?«, brüllte der Widerling. »Ich wollt doch nur wissen, ob du was trinken willst. Und dafür schmeißte mich auf die Straße? Biste krank, oder was?«

Julia überlegte kurz, ob sie sich entschuldigen und dem Mann beim Einsammeln seiner Einkäufe helfen sollte. Doch dann entschied sie sich dagegen und setzte ihren Weg fort.

*

Knotenpunkt Alpha. Antillen-Server. 08:49 UTC (= 12.49 Uhr CET)

<8:49> [Blood] has joined #AAStalk

<8:49> [creAthor] has joined #AAStalk

<8:49> Blood: Cre?

<8:49> creAthor: yo mann, was geht

<8:49> Blood: Was geht bei dir?

<8:50> creAthor: render grad die final version

<8:50> Blood: Wird auch Zeit. Du wolltest vor drei Tagen liefern.

<8:50> creAthor: yo mann, was zwischengekommen

<8:50> Blood: Das ist eine ernste Angelegenheit, creAthor. Da darf nichts dazwischenkommen.

<8:50> creAthor: geht klar, mann, verstanden

<8:50> Blood: Was war es denn diesmal? Die Party bei Rio? Das Skatingturnier im Innocentiapark? Oder etwa der Geburtstag von diesem Benny-O-Five?

<8:51> creAthor: äh, scheiße, woher haste das alles

<8:51> Blood: Ich weiß eben gerne, mit wem ich es zu tun habe, Andreas Brand.

<8:51> creAthor: alter, keine namen, was soll der scheiß

<8:51> Blood: Das ist kein Scheiß. Noch einmal: Das ist eine ernste Angelegenheit. Und ich möchte, dass du sie ab sofort entsprechend behandelst. Sonst lösch ich dir deine scheiß Festplatte. Verstanden?

<8:51> creAthor: yo mann, bleib cool, mach ja schon

<8:51> Blood: Wann kriege ich das Video also?

<8:51> creAthor: rendern läuft, zwei, drei stunden, grob geschätzt

<8:51> Blood: Wenn es in drei Stunden nicht auf dem Server ist, hacke ich mich in dein System.

<8:51> creAthor: das kannste nich machen, alter, ich mein, ich mach ja alles, aber wie sieht’s überhaupt mit der kohle aus, wann wächst die rüber, zum beispiel

<8:52> creAthor: äh, hallo, biste noch da

<8:52> [Blood] has left #AAStalk

<8:52> creAthor: scheiße

*

Berlin. Wohnung Julia. 21.37 Uhr

Julia drehte den Wasserhahn an der Badewanne auf und schlenderte zurück in die Küche. Auf dem Tisch bildeten ein angebrochenes Paket Schwarzbrot, eine leere Dose Tomatenpastete und der halb ausgetrunkene Piccolo ein trostloses Stillleben. Dabei hatte sie doch eigentlich sogar doppelten Grund zum Feiern, denn neben ihrem Geburtstag hatte sie auch noch ihren neuen Job angetreten. Julia wurde wütend. Mit irgendeiner Zügellosigkeit musste sie den Tag würdigen! Die Frage war nur, mit welcher? Sie öffnete die große, glänzende Kühlschranktür, aber der Anblick wirkte ernüchternd: Abgesehen von ein paar kaum unterscheidbaren Diätprodukten und einer Kühlbrille gegen Kopfschmerzen herrschte gähnende Leere in der geräumigen Gefrierkombination. Wieso hatte sie bloß dieses Monstrum gekauft und nicht einen kleinen, sparsamen und vor allem auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Kühlschrank?

Die simple Antwort lautete: weil sie nicht nachgedacht hatte. Julia hatte einfach einen Katalog genommen und das erstbeste Gerät bestellt. Wozu sich die Mühe machen, zwischen drei Dutzend Modellen auszuwählen, wenn sie sich überhaupt nichts aus Kühlschränken machte? Sie interessierten Julia genauso viel wie Wohnzimmertische, Auslegeware und Schlafzimmereinrichtungen.

Deutschlands jüngste Staatsanwältin wurde man nicht, weil die Mitbewerber so viel schlechter waren, sondern weil man doppelt so hart arbeitete wie sie. Seit der Schulzeit hatte Julia verbissen für ihren Erfolg gekämpft. Für ein Privatleben war da kaum Platz gewesen. Natürlich war sie im vergangenen Jahrzehnt auch die eine oder andere Liaison eingegangen. Hin und wieder war es sogar vorgekommen, dass sie Anflüge von Herzschmerz verspürt hatte, wenn sich ein potenzieller Langzeitpartner von ihr abgewandt hatte, weil Julias kompromisslose Art jede Romantik im Keim erstickte. Doch sie tröstete sich dann stets mit psychologischen Erklärungen und schob ihren Schmerz auf ein enttäuschtes Ego – etwas, das man besser überwand, wenn man seinen Weg weiterverfolgen wollte.

Seit dem Tod ihrer Eltern ging Julia Enttäuschung und Schmerz konsequent aus dem Weg. Eine Entscheidung, die sie die Karriereleiter in rasendem Tempo erklimmen ließ.

Allerdings war sie dort oben ganz alleine.

Julia schloss die Kühlschranktür und trottete ins Badezimmer zurück. Sie stellte das Wasser ab, zog sich aus und ließ sich ins warme Nass gleiten, das ihren Körper wie eine schützende Hülle umgab. In der Badewanne fühlte sie sich sicher. Geborgen. Hier war ihr eigentliches Zuhause. Ihr Nest.

Julia schloss die Augen. Dreißig Jahre. Mit diesem Tag ließ sie ihre Jugend endgültig hinter sich. Eine Jugend, die sie im Grunde nie gehabt hatte.

»Happy Birthday, Schwesterherz!«

Fünf Jahre hatte Bettina Vorsprung. Sie hatte den Absprung geschafft. Und dadurch, ohne es zu wollen, Julias Leben determiniert.

»Wo willst du hin?«, hatte ihr Vater gefragt.

»Raus! Weg! Ich halte das nicht mehr aus!«

»Du kannst doch so kurz vor dem Ziel nicht aufgeben, Bettina! Du musst weitermachen!«

»Ich bin aber keine Maschine! Ich bin ein Mensch!«

Die Tür knallte ins Schloss. Und die Luft wurde dünn. Die auszufüllende Lücke war zu groß für Julia. Doch sie wurde nicht gefragt.

»Du schaffst es, Julia. Du kannst alles schaffen. Wenn du es willst. Du musst es nur wollen. Und das willst du doch? Oder?«

Einser-Abi, Jura-Studium, Bestnote »sehr gut«. Dann der Anruf ihrer Schwester.

»Sie sind tot, Julia. Ein Autounfall. Unsere Eltern sind tot.«

Und mit einem Schlag war alles weg: der Druck, das Ziel, das Zuhause. Noch immer kamen Julia die Tränen, wenn sie an diesen Tag im April vor drei Jahren zurückdachte. Bettina war mittlerweile verheiratet und Mutter zweier Kinder. Julia besaß außer Bestnoten nur noch ein leeres Herz.

Sie schluchzte. Ihre Tränen erzeugten konzentrische Kreise auf der Wasseroberfläche – als ein Geräusch sie zusammenzucken ließ. Und das kam ganz eindeutig nicht aus ihrer Vergangenheit.

Julia spitzte die Ohren. Dielenknarren. Jemand war in ihrer Wohnung!

»Hallo?«, rief sie – und bereute es sofort. Denn zurzeit war sie so schutzlos, wie man nur sein konnte; und wer auch immer da draußen herumschlich, verfolgte mit Sicherheit keine hehren Absichten. Julia blickte sich hektisch nach einer Waffe um. Doch da war nichts, womit sie sich verteidigen konnte. Oder doch: die Schere im Regal neben dem Spiegel. Dafür müsste sie aber erst einmal raus aus der Wanne …

Das Hämmern gegen die Badezimmertür ließ sie zurückzucken. Instinktiv suchte Julia Schutz, indem sie sich tiefer ins Wasser gleiten ließ, um sich so gut wie möglich unter dem Schaum zu verbergen.

Es klopfte erneut.

»Gehen Sie weg!«, rief Julia. »Ich habe die Polizei bereits verständigt. Und halte eine Waffe in meinen Händen.«

Sie lauschte. Nichts. War der Eindringling fort?

Der Türgriff wurde langsam nach unten gedrückt.

»Ich warne Sie zum letzten Mal!«, rief Julia mit bebender Stimme. Doch die weiße Tür schwang schon auf. Und als Julia die Silhouette des großen, breitschultrigen Mannes sah, hätte sie beinahe geschrien. Sie fühlte sich wie in einem Hitchcock-Film. Mit absehbarem Ende.

»Wo is’ sie denn?«, fragte der Mann. Julia hielt inne.

»Was?«

»Ihre Waffe. Ich seh nur Schaum.«

Der Mann trat einen Schritt vor, und das Badezimmerlicht erhellte sein Gesicht. Julia brauchte eine Sekunde, um die verhärmten Züge, die müden Augen und den breiten Verband um seinen Kopf einordnen zu können.

»Sie?« Aber erst als sie seinen Namen aussprach, konnte sie ihren im Ausnahmezustand befindlichen Verstand wieder mit der Realität koppeln. »Mark West? Was … tun Sie hier?«

»Ich muss mit Ihnen reden.«

Julia lachte auf. »Deshalb brechen Sie in meine Wohnung ein? Wieso klingeln Sie nicht?«

»Hab ich.«

Julia zögerte. »Nein, haben Sie nicht.«

»Doch.«

»Ich habe aber nichts gehört.«

»Weil Ihre Klingel kaputt ist.«

Julia schnappte nach Luft. »Ich … ich rufe jetzt die Polizei«, sagte sie und legte die Hände auf den Badewannenrand.

»Wozu?«, fragte West ungerührt.

»Weil Sie in meine Wohnung eingebrochen sind. Woher haben Sie überhaupt meine Adresse?«

West zuckte mit den Achseln. »Ich bin Ex-Bulle.«

»Na, das erklärt natürlich alles.« Sie blickte ihm fest in die Augen. »Das wird ein Nachspiel haben.« Die Staatsanwältinnenstimme. »Ihre Zweitkarriere können Sie vergessen, das ist Ihnen ja wohl hoffentlich klar.«

West blies die Backen auf.

»Also?« Julia deutete an, dass sie die Wanne verlassen wollte.

West ließ die Luft aus den Backen. »Also?«, fragte er.

»Verlassen Sie meine Wohnung! Damit ich aus der Wanne steigen und die Polizei rufen kann.« Sie hob auffordernd die Brauen.

West schüttelte den Kopf. »Das geht nicht«, sagte er bedauernd und sah sich um. Er entdeckte einen weißen Holzschemel und ließ sich auf ihm nieder. Abwesend rieb er seine Handgelenke, an denen sich noch immer die Spuren der Krankenhausriemen abzeichneten.

»Und wieso nicht?«, fragte Julia, ohne den Blick von den dunklen Streifen zu nehmen.

»Weil ich Ihre Hilfe brauche. Und Warninger meinte, dass Sie weisungsbefugt sind.«

Julia zuckte zusammen. »Ich bin … was?«

»Weisungsbefugt«, wiederholte West. »Das heißt, wenn Sie was sagen, muss ich das machen. Und ich muss jetzt was machen. Und da wollte ich, dass Sie das wissen. Nicht, dass es nachher Ärger gibt.«

Julia fühlte sich wie in einem schlechten Film. »Wovon reden Sie überhaupt?«

»Von meinem Unfall. In Afghanistan. Und dass es vielleicht gar kein Unfall war.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

West schöpfte Atem. »Ein Informant hat sich bei mir gemeldet. Meint, es war gar nicht der Junge, der auf mich geschossen hat.«

»Sondern?«

»Das will er mir ja eben sagen. Deshalb will er mich treffen.«

Julia schüttelte den Kopf. »Und um mir das mitzuteilen, brechen Sie in meine Wohnung ein und halten mich in meinem Badezimmer fest?«

West zuckte mit den Achseln. »Sie sind weisungsbefugt. Also wollte ich Sie informieren. Außerdem dachte ich, Sie könnten mich zum Treffpunkt fahren. Wo ich schon mal hier bin.«

»Warum sollte ich?«

»Weil ich keinen Führerschein habe. Haben sie mir entzogen, wegen dem Loch im Kopf. Muss erst ’ne Nachprüfung machen. Hab nächste Woche meine erste Theoriestunde. Und noch nicht mal gelernt.« Nachdenklich schüttelte er den Kopf.

Julia atmete tief durch. »Sie gehen jetzt raus und warten in der Küche.«

»Und dann fahren Sie mich hin?«

»Wir werden sehen.«

West grinste. »Das is’ doch ’n Wort!« Er stand auf und drehte sich zur Tür. »Ich nehm mir ’n Bier, okay?«

»Sie warten in der Küche«, ordnete Julia an.

West verharrte. »Ja, hab ich verstanden. Ich geh in die Küche und nehm mir ’n Bier. Wenn’s recht is’.«

»Sie warten draußen«, sagte Julia mit Nachdruck.

West legte die Stirn kraus. »Also soll ich mir kein Bier nehmen?«

»Ich habe kein Bier«, sagte Julia genervt.

West dachte nach. »Schnaps vielleicht?«

*

Berlin. Wagen Julia. 22.19 Uhr

West hob das Kinn und schnupperte. »Neu?«, fragte er.

»Mietwagen«, sagte Julia.

»Wusste gar nicht, dass es den Cherokee auch zum Mieten gibt.« Er trank die Piccoloflasche leer, ließ die Scheibe runter und warf die Flasche aus dem Fenster.

»Was machen Sie denn da?«, rief Julia entsetzt.

West sah sie verwundert an. »Müll wegschmeißen.«

»Indem Sie ihn aus dem Fenster werfen?«

»Nicht okay?«

Julia schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht okay.«

West seufzte. »Okay, drehen Sie um, ich sammle die Pulle wieder ein.« Er löste seinen Sicherheitsgurt.

»Merken Sie es sich einfach«, sagte Julia. »Für nächstes Mal.«

»Geht klar.« West schnallte sich wieder fest. »Was ist mit Ihrem alten?«

Julia warf ihm einen raschen Blick zu. »Meinem alten?«

»Wagen.«

»Ist in der Werkstatt.«

»Wieso nehmen Sie nicht den von Ihrem Freund?«

»Weil ich zurzeit keinen habe«, sagte Julia leicht genervt. »Fragestunde beendet?«

»Wusste ich«, murmelte West.

Julia setzte den Blinker und sah über ihre Schulter nach hinten. »Was wussten Sie?«, fragte sie abwesend.

»Dass Sie keinen Freund haben. Zurzeit.«

»Ach ja? Und woher?« Sie beschleunigte wieder.

»Ihre Bude. Picobello sauber, aufgeräumt, unbenutzt. Wie im Museum. Wohnen Sie da überhaupt? Oder baden Sie da nur?«

Julia lachte auf. »Und Sie? Verheiratet?«

»Klar«, sagte West und lümmelte sich in seinen Sitz.

»Und was sagt Ihre Frau dazu, dass Sie bei Fremden in die Bude einsteigen?«

West verschränkte die Arme vor der Brust. »Kümmert die nicht. Hat jetzt ’n andern.«

Julia stutzte. »Das … tut mir leid.« Sie warf ihrem Beifahrer einen prüfenden Blick zu. Hatte er sie absichtlich ins Fettnäpfchen treten lassen?

»Zwanzig Jahre«, sagte West ohne erkennbare Regung. »Nich’ gerade ’n Wochenendflirt.«

»Auseinandergelebt?«

»Sie meint, früher war ich anders.«

»So was kommt vor. Man verändert sich.«

»Sie meint das nicht so. Sie meint, ich war ganz anders.« West starrte zum Seitenfenster hinaus. Er hatte etwas von einem eingeschnappten Teenager, der seine Freundin beim Knutschen mit einem anderen erwischt hat. »Seit mir in Afghanistan jemand ’ne Kugel durch den Schädel gejagt hat. Seitdem hab ich nämlich nicht nur ’n Loch in meinem Kopf, sondern auch in meinen Erinnerungen. Und keine Ahnung mehr, wie ich früher war.« Er sah zu Julia. »Kennen Sie das Gefühl, wenn Sie nachts aufwachen und so ’ne seltsame fleischige Masse spüren? Sie tasten und kneten – und ganz langsam wird Ihnen bewusst, dass es Ihre eigene Hand ist. Auf der Sie gelegen haben. Und in der jetzt null Gefühl mehr ist.«

Julia ließ den Gedanken sacken. »Erinnern Sie sich an gar nichts mehr, was vor dem Unfall war?«

West kroch aus seinem Versteck und setzte sich aufrecht hin. »Es war kein Unfall.«

»Aber die offizielle Version lautet so. Ein Aufständischer hat auf Sie geschossen.«

»Kein Aufständischer – ein Kind. In einem dieser Dörfer. Wissen Sie überhaupt, wie die da leben? Die haben nichts. Gar nichts. Und dann kommen wir, bis zum Abwinken hochgerüstet. Jede Soldatenmontur kostet mehr, als so ein Dorf in einem Jahr verdient. Und wir bilden uns ein, dass die uns mit offenen Armen empfangen.« Er schüttelte den Kopf.

»Was genau ist passiert?«, fragte Julia.

West seufzte. »Wir hatten die Orientierung verloren. Funk war weg. Und wir hatten keinen Schimmer, wo wir waren. Also wollte ich einen der Einheimischen nach dem Weg fragen. Wieso auch nicht? Die Afghanen wohnen ja schließlich da. Also werden sie sich auch auskennen. Aber der Captain wollte mich nicht aussteigen lassen. Zu gefährlich. Also geht er selber. Und versaut die Sache gründlich. Erst verscherzt er es sich mit einem alten Mann, dann kommt so ein Halbwüchsiger aus einem der Häuser gestürmt und hält dem Ami seine Knarre vors Gesicht. Also bin ich raus. Situation entschärfen. Aber die Amis sind auf bedingungslosen Gehorsam gedrillt. Wer nicht pariert, hat verspielt.« West winkte ab. »Alles sinnlos. Dieser ganze verdammte Krieg. Können Sie sich vorstellen, wie es ist, ein Kind zu verlieren? Dass wir der Grund dafür sind, dass Menschen sterben? Nicht anonyme Nummern, sondern richtige Menschen, mit Namen, Adresse und einem Gesicht. Stellen Sie sich vor, es wäre Ihr Kind, das da stirbt. Wie würden Sie sich fühlen?«

Julia hatte keine Lust, sich auf eine solche Diskussion einzulassen.

»Der Junge hat also geschossen«, sagte sie stattdessen. »Was passierte dann?«

West zuckte mit den Achseln. »Ich bin im Krankenhaus aufgewacht. Drei Tage später.«

»Und der Junge?«

West antwortete nicht.

»Wie haben Ihre Kameraden den Weg zurück gefunden, wenn der Funk ausgefallen war?«

»Hab nie wieder was von denen gehört.« West starrte aus dem Fenster. Der Schäfersee zog an ihnen vorüber. West stutzte. »Wo fahren Sie denn hin?« Er starrte zu Julia. »Das ist doch nicht der Weg zum Flughafen!«

»Glauben Sie wirklich, ich lasse mich auf so etwas ein?«, fragte Julia ruhig. »Ich fahre Sie zur Polizei, die werden wissen …«

Blitzschnell löste West den Sicherheitsgurt, stieß die Beifahrertür auf und ließ sich aus dem fahrenden Wagen fallen. Reflexartig trat Julia auf die Bremse. Mit quietschenden Reifen kam der Cherokee zum Stehen. Julia warf einen Blick in den Rückspiegel, doch um diese Zeit war die Straße menschenleer. Sie sprang aus dem Wagen und rannte zu West, der aufzustehen versuchte. Aber sein rechtes Bein knickte einfach weg. Auf Höhe des Oberschenkels war die Jeans zerrissen, und eine handtellergroße Schürfwunde war zwischen den Stofffetzen zu sehen.

»Lassen Sie mich das mal anschauen«, sagte Julia und ging neben West in die Hocke. Aber er wendete sich ab, stemmte sich hoch und humpelte davon.

»Warten Sie doch!«, rief ihm Julia hinterher. »Ich bringe Sie ins Krankenhaus!«

»Sie können mich mal!«, rief West zurück. »Mich so zu hintergehen!«

»Ich habe Sie hintergangen?« Julia traute ihren Ohren nicht. »Sie sind in meine Wohnung eingebrochen. Schon vergessen?«

»Weil ich Ihnen vertraut habe.«

»Weil Sie einen Fahrer brauchten.«

West drehte sich um. In seinen Augen funkelte Zorn.

»Weil ich dachte, dass wir auf einer Wellenlänge sind«, zischte er. »Sie kennen meine Einsamkeit. Deshalb habe ich Sie gebeten mitzukommen. Aber offenbar habe ich mich geirrt.«

»Ja, haben Sie auch«, giftete Julia zurück. »Sie kennen mich doch überhaupt nicht. Wie wollen Sie da wissen, dass wir auf einer Wellenlänge sind? Sie bilden sich das doch nur ein, weil …«

»Weil ich verrückt bin?«, unterbrach sie West. »Weil ich ein Loch im Kopf habe? Meinen Sie das?« Er schnaubte wütend aus. »Sie haben recht, irgendwas geht da drinnen vor. Und manchmal hör ich Stimmen, wie ein Verrückter. Aber ich bin nicht verrückt. Ich bin nur anders. Meine Frau und mein Sohn – alle um mich herum sagen, ich bin nicht mehr der, der ich mal war. Aber ich kann doch nicht ein komplett anderer geworden sein. Ich kann höchstens der werden, der schon vorher da war und nur die ganze Zeit das Maul gehalten hat. Aber jetzt … jetzt ist er da, und etwas anderes ist verschüttet worden. Etwas, das mit meiner Vergangenheit zu tun hat. Irgendwo hier drinnen, in meinem Schädel. Und ich will wissen, was das ist.« Er starrte sie mit verbissener Miene an.

Julia kam ins Grübeln. »Und dieser Informant – könnte das einer Ihrer Kameraden sein?«

»Schon möglich«, gab West knapp zurück.

»Mit Informationen darüber, was nach dem Schuss geschehen ist?«

»Vielleicht.«

»Warum keine Polizei?«

»Keine Zeit. Ich muss um elf am Flughafen sein, sonst haut der Typ wieder ab. Und mit ihm vielleicht meine einzige Chance, die Wahrheit herauszufinden.«

»Okay«, sagte Julia. »Ich fahre Sie hin. Aber nur, wenn Sie mir versprechen, danach Warninger zu informieren. Okay?«

West nickte.

Knotenpunkt Alpha. Antillen-Server. 18:33 UTC (= 12.33 Uhr CET)

<18:33> Blood: Data Transfer Tokio?

<18:33> ComBat1: Complete.

<18:33> Blood: Data Transfer Texas-City?

<18:33> 3CCc??45: Complete.

<18:33> Blood: Data Transfer Berlin?

<18:34> Deliver@19: Complete.

<18:34> Blood: Data Transfer Air France?

<18:34> LuZIffa: Complete.

<18:34> Blood: Data Transfer Frankfurt?

<18:34> Blood: Data Transfer Frankfurt?

<18:35> Blood: Last Call: Data Transfer Frankfurt?

<18:35> creAthor: Complete.

<18:35> Blood: Data Transfer Rio de Janeiro?

KAPITEL 3

§ 3: Das Recht ist mit dem Gerechten. Warte nicht, bis es zu spät ist.

Berlin. Airport. Parkdeck. 22.51 Uhr

Julia lenkte den Cherokee auf die zweite Ebene des Parkhauses am Flughafen Tegel.

»Halten Sie da hinten«, sagte West und wies zum Ende der Ebene. Dann zog er eine Sig Sauer aus der Tasche und kontrollierte das Magazin.

Julia starrte die Waffe mit großen Augen an. »Was soll das?«

West ließ das Magazin zurückschnappen und zog den Schlitten nach hinten. Die erste Kugel wanderte in den Lauf.

»Ich war zwanzig Jahre lang Bulle«, sagte er ohne erkennbare Regung. »Ich trau nur mir selber.«

Julia stoppte den Wagen am hinteren Fahrbahnrand des Plateaus. »So war das aber nicht abgesprochen …«

Die im Rückspiegel aufblitzenden Scheinwerfer eines herannahenden Wagens ließen sie verstummen.

»Sie bleiben im Wagen«, ordnete West an und stieg aus. »Egal was passiert.« Er schlug die Beifahrertür zu. Ein schwarzer Subaru Kombi rollte an ihnen vorüber und hielt etwa zwanzig Meter entfernt neben dem Parkautomaten. West verstaute die Sig Sauer in seinem Hosenbund und folgte dem Wagen mit energischen Schritten.