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Eine junge Frau aus Pakistan baut gegen den Widerstand der Gesellschaft ein Waisenhaus auf, wo sie zwanzig Kindern ein Zuhause geben kann. Nach einem Jahr aber ist ihr mutiges Werk von Armut und politischer Unsicherheit gefährdet. Unverhofft und für sie wie durch ein Wunder erhält sie Unterstützung durch einen Mann aus einem westlichen Land. Die beiden begeben sich auf eine Glaubensreise. Zwischen Traum, Fiktion und Realität begegnen sie den grossen Mysterien des christlichen Glaubens.
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Seitenzahl: 113
1. Das Jüngste Gericht S. →
2. Taufe Christi S. →
3. Versuchung Jesu S. →
4. Bedrohliche Nacht S. →
5. Gebet in der Kirche S. →
6. Die Jünger von Emmaus S. →
7. Der Maler S. →
8. Heilung des Blinden S. →
9. Stillung des Sturmes S. →
10. Verklärung Christi S. →
11. Abendmahl S. →
12. Nicht von Menschenhand gemaltes Gesicht Christi S. →
13. Maria Magdalena begegnet dem Auferstandenen S. →
Abbildungen: Farbskizzen nach Motiven von Ikonen, Wasserlösliche Kreide auf Papier, A5, von Matthias Müller Kuhn
Sahrish Pervez gründete Ende 2019 ein Waisenhaus in Lahore in Pakistan, welches sie bis heute selber leitet und zusammen mit ihren Geschwistern betreut. Bis zu ihrem sechsten Lebensjahr lebte sie im Nordosten Pakistans mit ihrer Familie, die der christlichen Minderheit angehört. Wegen Anschlägen auf Christen ist die Familie 2003 nach Islamabad geflohen, wo sie unter prekären Verhältnissen in einem Slum lebte, bis sich einige Jahre später ihre Lebensumstände verbesserten und sie die öffentlichen Schulen bis zur höheren Schule besuchen konnte.
Matthias Müller Kuhn ist Pfarrer und Künstler. Er schreibt Gedichte, Romane und Erzählungen, er malt Ikonen in einem eigenen Stil. Seit 30 Jahren arbeitet er in der reformierten Zürcher Landeskirche, zurzeit als Beauftragter für Menschen und Behinderungen.
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Ich hatte einen Traum, Schwester, einen grossen, furchterregenden, mystischen Traum. Ich bin gestorben und kam vor eine Gestalt, von der ich wusste, dass es Jesus Christus ist. Sie hatte eine mächtige, aber mitfühlende, warmherzige Stimme, die zu mir sagte: Bruder, was hast du für die Ärmsten getan? Ich stand vor dem Himmelsthron und empfand tiefe Scham. Ich schlug meine Hände vors Gesicht und bekannte: Gott, ich habe nichts für die Armen getan! Und die Stimme fragte mich wiederum in einem mitfühlenden Ton: Hattest du keine Möglichkeit, etwas für die Armen zu tun?
Da brach ich in Tränen aus und spürte wie Tränen über mein Gesicht rannen und ich bekannte: Mir wurde ein reiches Leben geschenkt, ich hätte viel für die Armen tun können!
Die Gestalt, die voller Licht war, beugte sich über mich, sie war barmherzig, sie drohte mir nicht, voller Liebe sprach sie zu mir: Geh zurück zur Erde und gib den Ärmsten, was du ihnen geben kannst!
Da erwachte ich aus dem Traum und wusste, dass Gott mich zu dir geführt hat aus Barmherzigkeit. Schwester, ich werde mich für die Armen einsetzen und du hilfst mir dabei, ich spüre unendliche Dankbarkeit.
Jetzt, wo ich dir dies erzähle, erinnere ich mich an einen Satz, den mir die Stimme am Ende des himmlischen Traumes sagte, den ich aber nicht sogleich verstand, weswegen ich ihm kaum Beachtung schenkte: Folge mir nach!
Genau dies ist der Schlüsselsatz, mit welchem alles beginnt. Ich mache mich auf, ich begebe mich ins Ungewisse und lasse los. Schwester, kommst du mit mir? Ich weiss, dass du dich schon aufgemacht hast, auch du bist auf dem Weg der Nachfolge, auf dem Glaubensweg. Ist es die Bestimmung des Himmels, dass wir uns gemeinsam aufmachen?
Was wird unser Ziel sein, wohin gehen wir? fragst du mich. Höre Schwester, ich weiss es selber nicht, kann man denn ahnen, wohin einen der Glaube führt? Es ist ein Abenteuer, du weisst nicht, wo du eines Tages aufwachen wirst.
Wir werden sein wie die drei Weisen aus dem Morgenland. Sie haben sich auf den Weg gemacht, weil sie einen Stern gesehen haben, der ihnen sagt: Es ist etwas Wunderbares geschehen, macht euch auf den Weg, sucht es in der Weite, in der Ferne und ihr werdet das grösste Wunder miterleben. Schwester, du hast den Stern gesehen, ich weiss es, der Glaube hat in dir zu wachsen angefangen. Manchmal ist er ein grosses Feuer in dir, und du kannst nicht mehr anders, als diesem Gottesfeuer dein Leben zu widmen.
Du musst mir nicht antworten, ich weiss, dass du bereit bist. Also, machen wir uns auf den Weg. Gerade jetzt! Nein, gehe nicht mehr zurück, um von deiner Familie Abschied zu nehmen! Nein, du brauchst keine Zeit, um noch alles in Ordnung zu bringen. Wir brechen jetzt auf, so, wie wir gerade sind. Du, Schwester, in deinem Alltagskleid, in deinem roten Sari, ich, mit meinem etwas abgetragenen Kittel und meinen Jeans, die mich jünger aussehen lassen. Du, Schwester, bist jung, kaum der Kindheit entwachsen, ich bin schon älter, bin schon viele Wege gegangen.
Wir sind ein ungleiches Paar und trotzdem, wir machen uns zusammen auf, weil wir ahnen, dass wir gerade durch unsere Ungleichheit voneinander lernen können. Gibt es grössere Unterschiede zwischen zwei Menschen als zwischen uns? Aber innen, Schwester, innen haben wir etwas Gemeinsames, etwas Grosses, das sich anzieht, das sich gleicht, das sich schon längst verbunden hat: Wir haben beide eine starke, unumstössliche, von Ewigkeit her gegebene Verbindung zu Gott, deshalb sind wir Geschwister: Du bist meine Schwester und ich bin dein Bruder.
Wir sind zusammen unterwegs, Schwester. Oft gehst du mir voran in deinem roten Sari, das Tuch, das du über die Schulter geschlagen hast, tanzt im Wind. Manchmal denke ich, du bist eine Flamme und loderst hell vor mir her. Warte auf mich, geh nicht zu schnell. Vor allem, wenn es bergauf geht, spüre ich mein Alter, manchmal schmerzen meine Gelenke. Du bist jung, Schwester, deine Beine tragen dich leicht, du hüpfst und oft denke ich, dass du vor mir her tanzest und fast vom Wind aufgehoben und fortgetragen wirst.
Du gehst neben mir und erzählst, unbekümmert und froh, wie ein sprudelnder Bach. Schon als Mädchen wusstest du, dass du einmal ein Waisenhaus gründen wirst. Als deine Mutter dir anvertraute, dass sie als Waisenkind aufgewachsen war und immer ums Überleben kämpfen musste, da wusstest du, Schwester, dass du dich einmal für diese Kinder einsetzen wirst. Du wirst ein Haus aufbauen für Kinder, die kein festes Zuhause haben. Nachdem du mit den besten Noten die Schule abgeschlossen hattest, kamen deine Eltern auf dich zu, wie es in deinem Land üblich ist und sagten dir, dass die Zeit für dich gekommen ist zu heiraten: Sie würden gerne für dich einen Mann auswählen.
Du hast dich gewehrt, du hast gewusst: Nein, ich kann jetzt nicht heiraten, ich muss mich für Waisenkinder einsetzen. Deine Eltern sagten dir zuerst, dass du dies nach deiner Heirat tun kannst. Du aber bliebst hart und deine Eltern akzeptierten es, weil sie wussten: Unsere Tochter können wir nicht zwingen. Sie gaben dir eine Chance: Also, versuch es, baue ein Waisenhaus auf. Dein Onkel hatte ein altes, baufälliges Haus, das er dafür zur Verfügung stellte. Als du es mit deinen Geschwistern besuchtest, wusstet ihr: Wir müssen ganz von vorne anfangen. Schwester, es forderte die letzte Kraft von dir, doch es ist dir gelungen.
Ihr habt das alte Haus abgebrochen und ein neues aufgebaut. Als ihr mit den ersten Kindern einzogt, war es eine Bauruine, erst die Betonwände standen, es gab noch keinen Innenausbau. Und dann kam die Pandemie, die euch die letzten Mittel raubte, Spenden blieben aus. Du dachtest schon, dass du bald aufgeben musst. Dann hat dir ein Mann geschrieben und sich für deine Arbeit interessiert. Er gab dir die finanziellen Mittel, das Haus fertigzubauen und er unterstützte dich mit einem festen monatlichen Beitrag.
Schwester, dieser Mann bin ich. Warum er dies tut? Weil er Feuer gefangen hat, weil er in sich eine Überzeugung spürt, hier und jetzt das Richtige zu tun und weil er die Begegnung mit dir in einem grösseren Zusammenhang sieht und weil er einen Traum gehabt hat vom Ende seines Lebens und weil er sich auf eine geheimnisvolle Weise mit dir verbunden fühlt.
Wir gelangen auf eine Hügelkuppe, von wo sich eine Ebene öffnet. Unten, weiss schimmernd, sehen wir ein silbernes Band sich durch die Landschaft schlängeln. Es ist der Fluss: Komm, wir gehen zu seinem Ufer, lass uns abkühlen, unser Gesicht mit Wasser benetzen und dort ausruhen, der Aufstieg bisher war streng und steil.
Jetzt gibt es für dich kein Halten mehr. Du rennst, du lässt dich gleiten in die Talsohle hinab, ich sehe dich als einen roten Punkt immer kleiner werden. Ich komme, warte doch auf mich! Unten, am Ufer des Flusses, ist eine grosse Menschenmenge versammelt. Ich finde dich direkt am Fluss, du hältst deine Füsse ins Wasser, lächelst mir zu. Dein Lächeln ist wie der frische Wind, der jetzt aufkommt und übers Land streicht. Was machen die vielen Leute hier? fragst du mich. Ich zucke mit den Schultern. Es ist seltsam, die Gegend ist verlassen, es gibt keine Dörfer, keine Städte weit und breit. Die vielen Leute scheinen jemanden zu erwarten, in ihren Gesichtern liegt eine Erwartung. Sie schauen alle immer wieder auf die andere Seite des Flusses, ob da jemand kommt?
Ich erfrische mich mit dem kühlen Flusswasser und lege mich ins Gras, das gelb und vertrocknet ist. Ich schlummere ein, bis ich deine Hand an meinem Arm spüre: Wach auf, Bruder, wach auf. Es geschieht etwas Unerhörtes.
Ich richte mich auf. Da sehe ich ihn, vielleicht zehn Schritte von mir entfernt. Ich schaue in sein Gesicht und erschauere. So Tiefes und Himmlisches habe ich noch selten in einem Gesicht gesehen. Er steht bis zu seinen Knien im Wasser des Flusses, eine Frau kommt zu ihm hin, er nimmt sie sacht in seinen Arm und lässt sie langsam und behutsam nach hinten gleiten, bis sie ins Wasser untergetaucht ist. Ich höre die Leute murmeln: Der Täufer, der Täufer! Da verstehe ich: Es ist Johannes der Täufer.
Schwester, wir sind an den Jordan gelangt, hast du es gewusst? Wunderbar, wir sind vor kurzem aus unserem Alltag aufgebrochen. Du hast das Waisenhaus in Lahore verlassen: Es war spät abends, die Kinder schliefen schon in ihren Betten, immer zwei auf einer Matratze, du hast noch mit ihnen gebetet, hast noch ein Mädchen getröstet, das weinte. Dann bist du gegangen, tratst hinaus und liefst der Strasse entlang. Und ich, es waren drei Stunden Zeitunterschied, stieg aus dem Zug, wollte mich nach meiner Arbeit auf den Nachhauseweg begeben. Ich weiss nicht warum, aber ich nahm nicht den gewohnten Weg, sondern schlug eine andere Richtung ein. Ich ging auf einem Weg, den ich nicht kannte.
An einer Kreuzung trafen wir uns. Wir begrüssten uns kaum, als wäre unser Zusammentreffen ein selbstverständlicher Bestandteil unseres Alltags. Wir setzten den Weg zusammen fort: Ich fragte dich nichts, du gingst so selbstbewusst und mit Würde. Deine Kleidung fiel auf. Die Leute drehten sich nach dir um, einen roten Sari sieht man selten in einer mitteleuropäischen Stadt. Bald verschwand das Land hinter uns, wir gingen aus der Zeit heraus und kamen an einen unbekannten Ort.
Johannes der Täufer richtet sich auf, er hebt die Frau sanft aus dem Wasser. Ihr Gesicht leuchtet und strahlt, Schwester, ich weiss, dass du das gleiche siehst wie ich. Es ist ein Licht, das von innen kommt und sie erleuchtet. Ohne dass wir darüber sprechen müssen, weiss ich, dass du dieses Licht kennst, es ist das Licht der Taufe, das himmlische Licht, wie du es immer wieder nennst. Es kommt von Gott, es trägt uns und macht uns leicht.
Schwester, nein, geh nicht hin! Ich kann dich verstehen, du fühlst dich von Johannes angezogen, er ist so nah und hat zu uns allen gesprochen. Auch du willst dich von ihm taufen lassen, ich habe es an deinem Körper gespürt, als ihn ein leises Zittern erfasste. Du willst dich hingeben, in den Fluss steigen, untertauchen! Doch Schwester, du bist schon getauft!
Du hast mir erzählt, wie deine Eltern unter schwierigen Umständen den christlichen Glauben lebten und ihre Kinder taufen liessen, dafür haben sie ihr Leben riskiert. Deshalb kannst du dich nicht noch einmal taufen lassen. Ich kann dich jedoch gut verstehen, es liegt eine Spannung in der Luft, die kaum auszuhalten ist. Wenn Johannes spricht, ist es wie ein Gewitter, das sich am Himmel auftürmt und droht, sich auf die Welt niederzustürzen: Kehrt um, hört, schaut auf, der Himmel wird sich aufreissen!
Ich halte dich am Arm, Schwester. Bleibe jetzt bei mir, wir haben noch eine lange Reise vor uns, lass mich nicht allein!
Da drehe ich mich leicht um, schaue in die Weite der Ebene und sehe jemanden kommen. Er geht langsam, behutsam, ohne Eile, er geht, als würde es für ihn kein Ziel geben. Zuerst bemerken ihn die Leute nicht, die sich um Johannes herumdrängen, ihm an den Lippen hängen und nur ihn alleine sehen. Es ist ein einfacher Mann, bekleidet mit einem leinenen Gewand. Seine Ausstrahlung ist sanft, er hat etwas Weiches an sich. Ich spüre, dass in ihm eine grosse, würdevolle Bestimmung liegt.
Plötzlich hört Johannes auf zu sprechen. Er kommt ans Ufer und sinkt auf die Knie nieder. Die Leute erschrecken, blicken einander verlegen an: Was geschieht jetzt? Dann hebt Johannes seinen Arm, langsam zeigt er in die eine Richtung, wo der Mann stehen geblieben ist. Johannes sagt nur die wenigen kargen Worte, und wie er sie sagt, bestimmt und mit dem Gewicht des ganzen Himmels: Er ist es!
Alle Leute drehen sich nach dem Mann um und gehen in die Knie. Zuerst steht er gelassen vor den vielen knienden Menschen, dann geht er langsam auf Johannes zu: Taufe mich!