Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus - Tanja Maljartschuk - E-Book

Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus E-Book

Tanja Maljartschuk

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Beschreibung

Diese Essays sind ein Geschenk: Sie öffnen ein Fenster zum Verständnis des Unvorstellbaren, das gerade in der Ukraine geschieht. Ergreifend und analytisch messerscharf führt die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Tanja Maljartschuk vor, was die kriegerische Expansionspolitik Russlands mit einem Land und seinen Menschen anrichtet. Und das nicht erst seit 2022, sondern seit über einem Jahrzehnt.  Was bedeutet es, aus einem Land zu stammen, dessen Existenzrecht aggressiv infrage gestellt wird? Wie kann eine Nation unter diesen Umständen zu sich selbst finden? Wie soll man umgehen mit dem Schmerz und der Wut und der Sprachlosigkeit, die der Krieg Tag für Tag heraufbeschwört? All diesen Fragen geht Tanja Maljartschuk in ihren Essays nach: mal analytisch und gefasst, mal verzweifelt, immer wieder aber auch spöttisch und voller Humor. Die ältesten Texte stammen von 2014 – der Zeit der Maidan-Proteste –, die für die Ukraine Hoffnung und Aufbruch, aber auch die verbrecherische Annexion der Krim bedeutete. Die neusten Texte reagieren auf das, was aktuell tagtäglich in der Ukraine geschieht: der Kampf ums Überleben, um die eigene Würde, Geschichte und Integrität. Nach der Lektüre des Bandes wird vor allem eines deutlich: Gerade wenn Brutalität und Barbarei sprachlos machen, eines darf nicht enden: das darüber Erzählen. Zeugnis ablegen. Widersprechen.

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Seitenzahl: 155

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Tanja Maljartschuk

Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus

Essays

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Tanja Maljartschuk

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Erinnerungen an das Sinnliche

1 Hühnerkopf

2  Hören

3  Riechen

4  Schmecken

5  Sehen

6  Und die Liebe

Mehr als einer

Ein Brief an den Bruder

Nur Tod, nur Lachen

Für den Krieg zu alt, für Demenz zu jung

Die Gefangenen Russlands

Eine Totengräberin kann nicht wissen, was Liebe heißt

Schlummernde Schande des Kommunismus

Die Heimat im Rucksack

Beten und Schimpfen: eine sentimentale Notiz zum »Karpatenkarneval« von Juri Andruchowytsch

Ukraina Stelo oder: Die Zukunft verwischt alle Spuren

Zurik!

Union der Liebe und Traumata

Warum schreiben Sie nicht über den Holodomor?

Das Recht auf Vergangenheit

Die Angst der Despoten

Anno Belli

Auf dem Misthaufen Europas wühlen wir wie Würmer

Bild-Satz-Traum

Wie man über die Unmöglichkeit des Schreibens schreiben kann

Nach Hause in den Krieg

Dank

Bibliografie

Inhaltsverzeichnis

Für mein tapferes Land

Inhaltsverzeichnis

Erinnerungen an das Sinnliche

(2020) 

1Hühnerkopf

Deine Heimat ist dort, wo deine Toten liegen. Ein schöner Satz, leider nicht von mir. Ich würde sagen: Deine Heimat ist dort, woher deine Traumata stammen. Wie man die Welt einst wahrzunehmen gelernt hat, sie gesehen, gehört, geschmeckt, gerochen hat, mit wie viel Freude oder vielleicht auch Schmerz, so sieht und riecht und hört man im Leben weiter. Man sitzt im Käfig seiner Heimat für immer fest.

Noch vor zwei Generationen konnte keiner aus meiner großen Familie lesen oder schreiben. Meine Vorfahren gewannen ihre Erkenntnisse durch eigene Erfahrung und Erzählungen anderer. Sie erzählten selbst gern, aber noch lieber schwiegen und verschwiegen sie. In der Westukraine, woher ich komme und wo sich im Laufe des letzten Jahrhunderts verschiedene Imperien und Diktaturen immer wieder abgewechselt haben, galt das Schweigen als eine Voraussetzung für das Überleben.

Mein Urgroßvater hat im Ersten Weltkrieg gekämpft, aber ich weiß nicht, gegen wen. Zwanzig Jahre später hat sein Sohn im Zweiten Weltkrieg gekämpft, aber ich weiß nicht, gegen wen. Ein weiterer Sohn wurde geboren, und seine Mutter bekam eine schicke schwarze Handtasche dafür als Geschenk. In dieser Tasche bewahre ich heute meinen ganzen/größten Schatz: unbeschriftete alte Familienfotos voller unbekannter Gesichter. Es lebt niemand mehr, der sie erkennen könnte. Begräbnisse, Hochzeiten, Reisen, mal Europa, mal Sibirien. Am Ufer eines weiten zugefrorenen Meeres hocken eine Frau und zwei Knaben im Schnee, sie blicken voller Hoffnung über den Horizont. Ist je ein Schiff gekommen, um sie abzuholen?

Die Vergangenheit zuckt wie ein abgehackter Hühnerkopf auf dem Boden in der Küche meiner Großmutter. Vor Abscheu schließe ich die Augen, und die Großmutter sagt: »Sei nicht so empfindlich.«

2 Hören

Die Eltern streiten miteinander, die Hunde bellen, die Glocken in der Kirche schlagen laut. Entweder zu einem Begräbnis oder zu einem Feiertag, was für mich gleichermaßen Trauer bedeutet. Am Feiertag darf ich nichts machen, sonst erschlägt mich der Donner Gottes. Heißt es. Und ich langweile mich sehr. Meine Großmutter melkt ihre Kühe und rezitiert leise ein Gedicht. Ich sitze daneben und höre zu. Lerne, Kindchen, fordert mich das Gedicht einer Analphabetin auf, was du gelernt hast, versinkt nicht im Wasser, verbrennt nicht im Feuer. Danach folgen furchtbare Geschichten, die schlimmen Kindern in Nachbarorten angeblich passiert sind. Ein Mädchen warf eine Scheibe Brot ohne Respekt auf den Boden und wurde sofort von Gott bestraft, sie verstummte. Zwei Buben seien im Brunnen ertrunken, weil sie wissen wollten, wer dort lebt. Das will ich auch wissen. Ich öffne den Deckel unseres Brunnens und versuche hineinzublicken, doch ich bin zu klein, um mich ganz hinüberzubeugen. Ich schreie in den Brunnen hinein, und meine Stimme kommt verdoppelt zurück. Nur Gott kann so etwas zaubern. Er lebt im Brunnen und langweilt sich genau wie ich. Mein Opa schlägt vor, den Brunnengott wie einen Karpfen herauszufischen. Ich glaube ihm und suche eine Angelrute. Der Opa lacht. Er lacht ständig, als könnte er damit sein Leben eines einfachen Bauern, das nur aus schwerer Arbeit und starkem Alkohol besteht, übertönen. Zu Weihnachten 1990 singt er verbotene Lieder, denkt er, obwohl sie keiner mehr verbietet. Die Ukraine wird bald unabhängig, aber ich höre noch die sowjetische Hymne morgens um sechs und abends um zwölf im Radio. Meine Eltern, die kein Geld und große Angst vor der neuen Epoche haben, streiten leise, und ich schlafe friedlich ein. Über meinem Bett hängen die Ikonen, unter meinem Bett rascheln die Mäuse.

3 Riechen

Es gibt Städte, in denen es nach Sauerkraut riecht, schreibt Josef Roth Anfang des 20. Jahrhunderts in einer seiner Reportagen über Galizien. Am Ende dieses Jahrhunderts riecht es in unserer Küche nach Rote Bete, die beim Kochen verbrannt sind, weil meine Mutter mehrere Jobs gleichzeitig erledigt, nicht immer mit Erfolg. Nach Sauerkraut riecht es selbstverständlich auch. Um mich von jenen widerlichen Küchengerüchen abzulenken, hole ich regelmäßig eine kleine Packung Earl-Grey-Tee aus dem Schrank und atme den herrlichen Duft von Bergamotte ein. Nichts in der Welt riecht für mich besser. Vielleicht Fliederbüsche auf einem alten Friedhof im Dorf meiner Großeltern. Dort schlendere ich stunden- und tagelang herum und entziffere die Namen der Begrabenen. Sie wurden nicht in Kyrillisch geschrieben, sondern in einer Sprache, die ich noch nicht kenne, womöglich Polnisch. Keiner in der Umgebung kümmert sich um die Gräber, Familiengrüfte wurden aufgebrochen und ausgeplündert, ich sehe Knochen durch schmale Löcher.

Vor dem Zweiten Weltkrieg haben hier Ukrainer, Polen und Juden in gleicher Zahl gelebt. Dieses Dreieck der Kulturen verwandelt sich bald in eine gerade, in der Leere schwankende Linie. Als die Sowjetunion zerbricht, kommen viele Busse aus Polen mit Menschen, deren Eltern von hier nach Schlesien vertrieben worden sind. Sie knien sich in der verfallenen katholischen Kirche hin und weinen, und ich bekomme Süßigkeiten. Ich würde gerne in Polen leben und verstehe diese Tränen nicht.

Von den Juden wiederum bleibt im Dorf keine Spur und keine Erinnerung mehr. Es kommen keine Busse mit Besuchern. Jüdische Grabsteine wurden für das Fundament des hiesigen Kulturhauses verwendet. Mit vierzehn tanze ich dort ahnungslos. Der hölzerne Boden knarrt unter meinen Füßen.

4 Schmecken

Ich musste immer alles aufessen, sonst hat es geheißen, ich sei nicht brav. Um die aufwendigen ukrainischen Gerichte vorzubereiten, verschwenden ukrainische Frauen einen Großteil ihres Lebens – sie haben also gute Gründe, beleidigt zu sein, wenn man keinen Hunger hat. Das Essen und die Liebe wachsen hier zusammen, und oft bewahrt nicht das Schlafzimmer die Geheimnisse der Leidenschaft, sondern die Küche.

Ich habe Kakao und Extrawurst begehrt, und meine Großmutter, als sie sich aus irgendeinem Anlass ärgerte, sagte: »Noch weißt du nicht, wie Gänsefuß schmeckt!« Das sagte sie mit solchem Bedauern, als wäre sie überzeugt, dass der Geschmack von Gänsefuß mich zu einem besseren Menschen machen würde.

Als Kind hatte sie den Holodomor überlebt, eine von Stalin künstlich herbeigeführte Hungersnot, der mehr als drei Millionen Menschen zum Opfer fielen. Meine Großmutter hat ihre Familie verloren und ist als Waisenkind aufgewachsen. Um zu überleben, hat sie seltsame Sachen gegessen und erzählt, dass die Bäume im Mai 1933 nackt wie im Winter gestanden seien. Kinder sind gestorben, weil sie zu viel Gras, Baumknospen und Lindenblätter gegessen haben, von den Blähungen hätten sie unnatürlich riesige Bäuche und Köpfe bekommen.

Meine Großmutter hat Pilze im Wald gesucht und geschworen, als es noch kalt war, einen seltenen Pilz gefunden zu haben, der Judasohr heißt und einem menschlichen Ohr sehr ähnlich sieht. Der Wald war voll von diesen Pilzen, sagte sie, der Wald wollte genau hinhören, was gerade geschah. Und es geschah eine unglaubliche Stille allerorts, weil alles, was singen, krähen, miauen oder bellen konnte, längst gegessen worden war. Gott versteckte sich auch, und zu Recht, sagte meine Großmutter. Seitdem habe sie ihn nicht mehr gesehen.

5 Sehen

Die Ukraine ist ein Land der großen Dinge. Große Städte, mächtige Flüsse, unendliche Felder, entsetzliche Tragödien. Das größte und schwerste Flugzeug der Welt wurde in Kyjiw gebaut, die tiefste U-Bahn-Station der Welt befindet sich ebendort und sogar die angeblich größte europäische Wüste, Oleschky-Sande, liegt südlich von Cherson.

In Kyjiw habe ich gegenüber einer großen Schlucht, Babyn Jar, gewohnt, wo im September 1941 innerhalb von zwei Tagen mehr als dreißigtausend Jüdinnen und Juden ermordet worden sind. Am Rand der Schlucht befindet sich die größte psychiatrische Klinik Europas, kurz Pawliwka genannt. Auch die Patienten dieser Einrichtung, man schätzt bis zu eintausend Menschen, wurden in Babyn Jar erschossen, man weiß bis heute nicht, wo genau.

Aus dem Fenster meiner Wohnung habe ich die beeindruckende denkmalgeschützte Kirche des heiligen Kyrril gesehen. Diese grünen Kuppeln sind alles, was von dem gleichnamigen Kloster übergeblieben ist, nachdem die russische Kaiserin Katharina die Große das Kloster aufgelöst und auf seinem Fundament ein – wie man es damals genannt hat – »Irrenhaus« gegründet hatte. Um die Kranken nicht zu erregen, wurden die Innenwände der Kirche weiß gestrichen. Erst einhundert Jahre später hat man unter der Farbenschicht zufällig das wunderschöne mittelalterliche Fresko entdeckt. Mithilfe vieler prominenter Künstler sind die Gemälde teilweise gerettet worden. Eines der schönsten Fresken heißt »Engel, der den Himmel zusammenrollt«.

Heute herrscht in der Kirche eine derart erhabene Atmosphäre, dass man nicht an das große, das so oft tötet, sondern an das kleine Göttliche in einem Menschen glauben möchte. Die benachbarten Kranken schleichen ab und zu aus der Psychiatrie durch ein Loch im Zaun herüber. Einmal habe ich eine Nachricht für sie an der Tür hängen gesehen. »Liebe Irre«, stand dort, »das Küssen der Wände in der Kirche ist nicht erlaubt.«

6 Und die Liebe

Ich habe keinen Schmuck geerbt, kein Familienhaus, nur eine schwarze Damenhandtasche mit vergilbten Fotos. Einem Foto fehlt die Hälfte. Ein kleiner Bub sitzt auf dem Sessel, mein Vater, ich erkenne den ängstlichen und viel zu ernsthaften Blick, den ich auch habe. Von seiner danebenstehenden Mutter sind nur noch die Stiefel zu sehen. Jemand hatte ihre Figur und ihr Gesicht weggerissen, um sie nicht mehr sehen zu müssen.

Sie war eine schöne Frau, und das hat sie auch selbst gesagt: Ich war schön. Mit Stolz hat sie mir ihre anderen Fotos gezeigt – als Beweis dafür, dass sie nicht lügt. Wenn ich schön war, hat sie dann gefragt, warum hat mich keiner geliebt? Schöne Menschen haben die Liebe besonders verdient, oder?

An ihren Ehemann erinnere ich mich fast nicht, ich war klein, als er an Diabetes gestorben ist, ein unfreundlicher, immer unzufriedener Trinker, Schuster von Beruf. Die Stiefel auf dem Foto hat er gemacht. Sie habe kaum damit gehen können, so grob und unbequem seien diese Stiefel gewesen. Für seine zahlreichen Geliebten hat er viel elegantere Schuhe gefertigt. Seine Frau hat er beschimpft, und einmal hat sie ihn mit Steinen beworfen, trotzdem ist sie mit ihren drei Kindern nicht weggegangen. Ich habe in der Hölle gelebt, meint sie am Ende der Geschichte, die sie mit großem Talent im leeren Haus erzählt. Anstatt ihre Hölle zu verlassen, macht sie daraus eine Heldensage. Sie hat ihn überlebt. Das war das Ziel.

Und danach war sie lange alt und auch dement. Zuletzt habe ich sie im Sommer 2013 besucht, nachdem ich mich hatte scheiden lassen. Ich bin die erste geschiedene Frau in unserer Familie. Sie hat mich nicht erkannt. Kindchen, geht es dir gut?, fragte sie, und die zweite Frage lautete: Bist du verheiratet? Um sie nicht zu irritieren, habe ich Ja gesagt. Gut, rief sie erleichtert, du bist schön, schöne Menschen haben die Liebe am meisten verdient.

Inhaltsverzeichnis

Mehr als einer

(2014) 

Man sagt, der Mensch kann nur das verstehen, was er selbst erlebt hat. Das glaube ich gern. Ich verstehe sehr viel nicht, denn ich habe in meinem Leben noch zu wenig erlebt. Das Jahr 2013 war für mich jedoch in jeder Hinsicht ein Zeichen. Das Spektrum des Erlebten reichte vom völligen Abtauchen in die Dunkelheit bis zu Tränen der Trauer und der Reinigung, vom völligen Verlust meiner selbst bis zum Gefühl, Boden unter den Füßen zu haben, ja sogar einen Himmel über dem Kopf. Ob dieser Himmel friedlich sein wird, ist eine Frage der Zeit, nicht mehr. Es war wichtig zu wissen, dass es ihn überhaupt gibt. 2013 feierte ich meinen dreißigsten Geburtstag, und es waren genau drei Jahre, seit ich durch meine Übersiedlung von Kyjiw nach Wien Emigrantin geworden war. Im Frühling, um genau zu sein im März, zeigten sich die ersten Anzeichen einer Angststörung. Das bedeutet, dass du ohne Grund plötzlich schreckliche Angst hast, von Kopf bis Fuß von Panik ergriffen wirst, dass sich alles um dich herum dreht, du keine Luft bekommst, dein Herz wie verrückt schlägt, du schweißgebadet bist, die Wirklichkeit um dich verschwimmt, wie aus Plastik ist, und du glaubst, jetzt gleich, im nächsten Moment, bist du tot. Psychologen kennen diese Symptome gut und nennen sie Panikattacken. Sie sagen, es sei ein Übel der heutigen Welt, immer mehr Menschen würden unter Angst leiden. Panikattacken haben die früher weitverbreiteten Depressionen abgelöst, die wiederum die Hysterie des 19. Jahrhunderts abgelöst haben. Ich schreibe diese vielleicht unangemessenen Details nicht, um Mitleid zu erregen. Es ist nur so, dass mein persönlicher Majdan bereits im März 2013 begann.

Während der ersten Panikattacke hätte ich mich notfalls aus dem Fenster gestürzt, nur damit sie aufhört. Danach verließ ich das Haus einen Monat lang nicht, aus Angst, ich könnte Angst bekommen, und so war es auch. Diese unmotivierte Angst begleitete mich von da an jeden Tag, jede Minute: Sie verwandelte sich in ein absolutes Ding an sich und ich mich in ihre Gefangene. Ich streite nicht ab, dass ich immer ängstlich gewesen bin, aber die Angst wurde zu einer körperlichen Angst, sozusagen auf chemischer und physikalischer Ebene, zu einer unkontrollierbaren Macht, die mein Herz vom Brustkorb bis in den Hals schnellen ließ. Das Herz im Hals, so nannte ich meinen Zustand und musste die Zähne fest zusammenbeißen, damit mein Herz nicht aus dem Hals auf den Boden sprang. Beruhigungsmittel, Atemübungen, nichts half. Ein Bekannter mit ähnlichen Symptomen riet mir, Kopfstand zu machen, ihm helfe das. Mir half es nicht, denn ich hatte Angst, mir das Genick zu brechen. Ich hatte vor allem Angst. Ich scherzte, dass dies der Aufstand meiner Wurzeln in mir sei, dass sich die Ukraine so an mir räche.

 

Die Übersiedlung nach Österreich hatte keine politischen Gründe, sie war nicht sorgsam geplant, alle Entscheidungen fielen spontan und blitzartig. Mein Mann ist Österreicher, in der Ukraine hatte er nichts zu suchen, ich dagegen hatte nicht besonders viel zu verlieren. Ich fühle mich überall wohl, wo es einen Tisch und einen Computer gibt, sagte ich, das Mittelalter ist vorbei, heute existieren diverse Möglichkeiten, mit Familie und Freunden in Kontakt zu bleiben, ich war und bin Ukrainerin, die Entfernung zwischen Wien und Iwano-Frankiwsk, meiner Heimatstadt, ist gerade mal 700 Kilometer, und so weiter.

 

In Wahrheit bin ich aus der Ukraine und vor mir selbst geflüchtet.

 

Zum Zeitpunkt dieser Flucht war Wiktor Janukowytsch bereits ein Jahr Präsident. Ich arbeitete als investigative Journalistin bei einem TV-Programm. Als bekannt wurde, wer die Wahlen gewonnen hatte, brach etwas in mir zusammen. Ich dachte, dass am nächsten Tag in diesem Land vor lauter Scham niemand aufwachen wird, dass das ein Hexenbacchanal ist, ein Schlag in den Rücken, ein Spucken ins Gesicht. Aber am Morgen erwachte das Land, rappelte sich nach dem ersten Schock auf, wischte sich die Spucke aus dem Gesicht und begann schnell, sich an den neuen Alltag zu gewöhnen. Dieser neue Alltag war brutal und zynisch. Das Verbrechertum hatte seinen Präsidenten bekommen und Legitimität erlangt, der russische Knastgesang wurde zur neuen ukrainischen Hymne. Ich und Millionen solcher wie ich wurden zu Geiseln von Grobheit und Gewalt. Der oberste Parasit ließ sich auf der vermoderten Staatsstruktur, die die Ukraine fast widerstandslos und ohne Modifikationen aus der Sowjetunion übernommen hatte, nieder und triumphierte. Sehr schnell versammelte er seinesgleichen um sich, schuf eine neue Hierarchie und begann alles Lebendige und Menschliche auszusaugen. Er war nicht die Ursache, sondern nur die Folge des Zerfalls der ukrainischen Gesellschaft, seine Apotheose. Das »Ukrainische« starb, und das spürte nicht nur ich. Die Ukraine als eigenständige politische Einheit produzierte nichts als Korruption, Lüge, vollkommenen/schrecklichen Kitsch, Angst und das Recht des Stärkeren. Der Sinn ihrer Existenz verlor sich mit jeder neuen Handlung der Machthaber immer mehr, mit jedem neuen politischen Gefangenen, mit jedem neuen Palast, der mit einer drei Meter hohen Stahlbetonmauer vor den untertänigen/obrigkeitshörigen Knechten geschützt wurde, mit jeder vor Lügen strotzenden Ausgabe der Abendnachrichten auf den staatlichen Fernsehsendern.

 

Viele meiner Freunde sprachen von innerer Emigration. Viele von ihnen verloren ihre Arbeit. Kluge Journalisten wurden entlassen, an ihrer Stelle systemhörige eingestellt. Die Reste der Freiheit verlagerten sich ins Internet, auf Facebook. Die Intellektuellen, welche sich schon früher am Rand der Gesellschaft befunden hatten, wurden noch weiter verdrängt, an den Rand des Randes, und kläfften von dort hin und wieder ohne Hoffnung, gehört zu werden. Niemanden beeindruckte mehr, wer wie viele Millionen gestohlen, wer wen umgebracht oder vergewaltigt hatte und wo. Die Rhetorik der Beamten, die für die »Verbesserung« (dieses Wort wurde zum Symbol der neuen Macht) arbeiteten, brachte typische Beispiele der Breschnew-Rhetorik hervor: »Der Premierminister gratulierte den Bewohner der Region XY zur Eröffnung des neuen Obstlagers«, »Der Präsident erteilte der Regierung den Befehl, den Rinderbestand um das Neunhundertfache zu vergrößern«, »Schüler stickten in Kreuzstich das Porträt des Präsidenten«. Eine verrückte Zeitmaschine beförderte uns mit kosmischer Geschwindigkeit in die sowjetische Vergangenheit zurück. Wer nicht mitfliegen wollte, musste mit dem Fallschirm abspringen.

 

Eine meiner letzten Aufgaben als Journalistin war dem Tag der Unabhängigkeit gewidmet. Gemeinsam mit Kameramann und Fahrer legten wir in drei Tagen zweitausend Kilometer zurück, vom östlichsten Osten bis in den westlichsten Westen; wir besuchten alle wichtigen Orte, an denen sich in verschiedenen Jahrhunderten das Schicksal der Ukraine entschieden hatte, und überall stellten wir dieselbe Frage: »Hatten Sie so eine Ukraine im Sinn, als Sie 1991 für die Unabhängigkeit stimmten?« Niemand antwortete mit »Ja«. Ich hatte keine andere Antwort erwartet, mich faszinierte etwas anderes. Während einer so weiten Reise, wenn man in kurzer Zeit fast das ganze Land durchquert, erscheint das Land plötzlich so greifbar, als hätte man es vor sich auf der Handfläche. Damals erschien mir die Ukraine als eine einzige eklige Wunde, voller gebrochener Menschen, die ihre Vergangenheit nicht kannten und an ihre Zukunft nicht glaubten. Viele von ihnen verwendeten das Wort »Ukraine« als Schimpfwort. Andere zogen sich mit Scherzen und Witzen aus der Affäre. Irgendwo zwischen Schimpfen und Scherzen sollten sich zarte Triebe einer Identität zeigen. Doch in dreiundzwanzig Jahren war dort nichts gewachsen als Scham und Hass: Die Ukrainer wollten entweder keine Ukrainer sein, oder sie schämten sich, Ukrainer zu sein.