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Der dreißigjährige Franz Xavier ist glücklich und freut sich auf Weihnachten, bis sein Vater ihm beichtet: er sei nicht der leibliche Sohn, sondern ein Findelkind, das vom Himmel gefallen ist. Als Beweisstück reicht ihm der Vater ein mysteriöses Messer und die Feder eines Adlers, bei dessen Anblick Franz eine unangenehme Gänsehaut bekommt. Am nächsten Morgen bricht Franz in die Berge von Klakuja auf. Zielstrebig stapft er mit dem Schlitten in den tiefen Winterwald, obwohl ein Sturm tobt. Als er auf seine Jugendliebe Betty stößt, geht eine Lawine los. Aber die Naturgewalten sind nicht die einzige Gefahr, die in den Wäldern von Klakuja lauern. Denn eine Bande von Weihnachtshassern treibt sein Unwesen. Franz trifft einen folgenschweren Entschluss. Ein nervenaufreibendes Abenteuer für die ganze Familie zum Einstimmen auf die Weihnachtszeit.
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Seitenzahl: 179
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KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
NACHWORT
DANKSAGUNG
Entlang des Ufers quoll dunkelgrauer Rauch auf, der eine Schneise durch das Tal zog. Sich auftürmender Schnee versperrte massiv die Geleise. Die Dampflok bockte, während eine Schar von Männern das schwarze Ungetüm freischaufelte. Der riesige Berg dahinter warf Schatten auf den See, auf dem quirlige Kinder tollten. Franz hockte auf dem Berglauf gegenüber, der das vom Hochgebirge angrenzende Tal umsäumte. Argwöhnisch verfolgte er das hektische Treiben, bis seine Mundwinkel triumphierend nach oben schnellten. Niemand hatte den Kälteeinbruch kommen sehen. Nicht einmal die königlich sächsische Staatseisenbahn. Der Winter war eingebrochen über Nacht wie die Axt in die Rinde und hinterließ ein Bild der Verzweiflung.
Sein Vater lag ihm seit Wochen in den Ohren, er solle auf die Jagd gehen und die Wintervorräte auffüllen. Franz jedoch empfand kein Vergnügen am Töten von Tieren und hatte deshalb seine Pflichten bis zum heutigen Tag hinausgeschoben. Ausgerechnet heute zwang ihn die Sonntagspredigt zur Eile. Und als wenn das nicht ausreichte, musste der Winter mit voller Wucht zuschlagen. Franz war für diese raue Welt nicht geschaffen. Lieber entwarf er auf der Orgel Kantaten. Bisher gab es keinen Ruhm für seine Werke. Aber er gab die Hoffnung nicht auf, dass sich eines Tages all die harte Mühe und Arbeit auszahlen würde.
Für die Jagd hingegen war er nicht geschaffen. Allein die Vorstellung, mit einem Gewehr auf lebendiges Fell zu zielen, ließ ihn schaudern. Aber hungern konnten sie ebenso nicht.
Hastig zerrte Franz die Mütze über die Ohren. Immer wieder fanden seine Stiefel keinen Halt auf dem Eis. Feinste Steine brachen ab, er rutschte mit den Sohlen, was das Weiterkommen nahezu unmöglich machte.
Da Franz für die Jagd keine eigene Waffe besaß, schleppte er das Zündnadelgewehr seines Vaters auf dem Rücken. Bei jedem Schritt krachte das Eisen schmerzvoll gegen seine Wirbelsäule und trieb ihn voran wie die Peitsche den Esel. Dennoch, dieser Hinterlader bot fünfmal höhere Schussfolge als ein Vorderlader. Und die Chancen auf Beute stiegen mit diesem Blecheisen um ein Vielfaches.
Franz ging in die Hocke und berührte die weiche Schneedecke unter seinen Füßen, aus der vereinzelte Grashalme äugten. Es gab weder Spuren von Nagern noch Hinweise auf Rotwild. Als wäre der Wald komplett ausgestorben. Die Eisenbahngesellschaft war nicht unschuldig an dem Debakel. Denn das Dampfross, mit seinem lauten Gebrüll, verscheuchte die Tiere aus dem Wald und drängte sie hoch auf die Wipfel, in die nahrungskargen Gebiete, fernab der Zivilisation.
Franz haderte einen Moment, ob er auf dem Hauptweg bleiben oder eine Abkürzung durch das schwer zugängliche Dickicht nehmen sollte. Die Abkürzung war verlockend, barg allerdings mehr Gefahren. Denn die Winterstürme konnten Äste und Stämme knicken und sich als tödliche Lanzen entpuppen. Doch das Risiko musste er eingehen, wenn er pünktlich um zehn Uhr seinen Vater zur Sonntagsmesse abholen wollte.
Der Hunger drängte zum Weitermarsch. Er musste Fleisch finden. Nicht nur für sich, sondern auch für seinen Vater, der abgezehrt im Bett lag, weil er an Gicht und Hustenfieber litt. Nicht ewig konnten die beiden Männer von den eisernen Reserven leben, da musste Franz seinem Vater recht geben. Und sein Vater musste unbedingt wieder zu Kräften kommen, zumal Weihnachten heranrückte. Weihnachten ohne Festtagsbraten war wie Schnitte ohne Brot. Und hinterließ nichts als tiefe Augenringe.
Franz hing seinen Gedanken an den kranken Vater nach. Schlagartig wurde ihm die Endlichkeit des Lebens bewusst. Dabei übersah er die mit Eis überzogene Wurzel und rutschte aus. Ein dumpfer Schlag betäubte seine Sinne. Die plötzliche Blutleere in seinem Schädel wirkte wie ein Sog. Ihm wurde schwarz vor Augen. Als er wieder klar denken konnte, breitete sich der metallische Geschmack von Blut in seinem Mund aus und vermischte sich mit dem Schnee um seine Lippen. Klirrende Kälte schnitt in sein Gesicht. Der Wollstoff seines Schals hinderte ihn beim Atmen. Unzählige Eisklumpen klebten an ihm.
Franz zerrte an dem Schal, der sich wie die Schlinge eines Galgens um seinen Hals zog. Er rüttelte an der Wolle, bis sie endlich nachgab. Erschöpft sank Franz in den Schnee. Er schloss die Augen. Eine unbändige Schwäche überfiel ihn. Erst als die Sonne durch die Äste hindurch schillerte und ihn blendete, stand er auf. Sie schenkte ihm einen Funken Hoffnung. Und er spürte allmählich, wie das Leben in seinen Körper zurückströmte. Er nahm das Gewehr vom Rücken und nutzte es als Krücke, in dem er sich beim Aufstehen darauf abstützte.
Als Franz endgültig in Fahrt kam, heulte der Wind los, als wollte er seinem Vorhaben zustimmen. Diesmal wollte Franz etwas vorsichtiger sein. Der Schnee rieselte von den Ästen und Zweigen herab, als er mit dem Körper durch das Dickicht drängte. Bevor er jedoch den nächsten Schritt wagte, stieß er mit dem Kolben seines Gewehres in den Schnee, damit er nicht in eine der unzähligen Gefahren trat, die unter der Schneedecke lauerten. Nur langsam kam er voran. Und nichts als die schier endlose Weite des eisigen Winters bot sich seinem Blick. Der Schnee unter seinen Stiefeln knirschte. Ebenso die Baumwipfel, die sich durch den Wind über seinem Kopf beugten wie riesige Angeln, die mit Eis überzogene Zitteraale aus dem Boden hoben.
Der Nebel trat zurück, als er den Kamm erreichte, während die Sonne den Berg umkämpfte und diesem unbewohnten Fleckchen Erde neues Leben einhauchte. Der Schnee reflektierte die Sonnenstrahlen und glitzerte in schillernden Farben. Diese malerische Welt fühlte sich mystisch an. Als hätte sie jemand mit einem Zauberpulver berieselt. Franz konnte sich nicht sattsehen. Doch die Idylle täuschte. Hier oben blies der Wind stärker als im Tal. Franz stemmte sich gegen die Bö, die an seinen Sachen rüttelte. Ihm war, als hielt ihn der liebe Gott am Hosenbund fest, da er gegen die immense Kraft, die gegen seine Beine schlug, nicht ankam. So sehr er auch gegen den Wind ankämpfte, er kam nur sehr langsam voran.
Nur eine Sekunde richtete er den Blick auf den Weg, da vernahm er eine Bewegung aus seinem Augenwinkel heraus.
Als er den Kopf hob, machte sich Freude breit. Ein paar hundert Meter vor ihm hoppelte etwas über den Weg.
Sofort griff Franz nach dem Jagdgewehr und schnellte seine Finger an den Abzug. Doch die Beute war zu weit weg. Seine Augen späten auf den Punkt, der seelenruhig streunte.
Wie erleichtert war Franz, als er das Wildkaninchen entdeckte, das im Schnee nach Frischfutter scharrte. Offenbar war dieses mutige Kerlchen der Vorreiter seiner Kolonie, während die anderen Kaninchenbraten in ihrem Bau auf sein Zeichen lauerten. Jetzt schlug das Tier mit den Hinterbeinen auf. Als wollte es die Nachhut warnen. Doch anstatt einer Flucht blieb er mutig sitzen und spitzte die langen Löffel.
Franz musste näher an das Kaninchen, wollte er es mit der Kugel treffen. Während Franz vorsichtig durch den Schnee pirschte, behielt er das Wollknäuel im Auge. Das Tier blieb reglos im Schnee sitzen. Er wollte gerade abdrücken, da durchkreuzte ein schriller Schrei seinen Plan.
Schlagartig hob Franz den Kopf und blickte zum Himmel.
Das Kaninchen gab nicht so viel Fleisch her wie ein Federvieh. Er musste schnellstmöglich eine Entscheidung treffen. Kaninchen oder Adler? Adler oder Kaninchen? Der Raubvogel kreiste viel zu hoch. Das Kreischen wurde leiser, bis es vollends verstummte. Der Entschluss stand fest.
Das Kaninchen stand da wie eine in den Schnee gesetzte Skulptur. Fehlte nur noch, dass Mutter Natur in ihr Kosmetiktäschchen griff, um ihn theatertauglich zu bürsten. Die Vorstellung eines Kaninchenbratens trieb Franz das Wasser im Mund zusammen. Sein Zeigefinger zuckte am Metall des Abzugs. Jegliche Kälte war in diesem Moment verweht. Es gab nur das Ziel, sein spähendes Auge und seinen Zeigefinger, der sicher am Anschlag lag. Der Schuss hallte, während der Rückstoß gegen seine Brust donnerte. Franz starrte auf das Pelzknäuel im Schnee, das wie ein Stein zur Seite plumpste. Bevor er zu seiner Beute sprang, sah sich Franz noch einmal um. Der Adler war aus dem Blickfeld verschwunden.
Vermutlich durch den Schuss vertrieben. Stattdessen versperrte eine graue Wolkendecke die Sicht auf den blauen Himmel.
Franz zog den Dolch aus seiner Gürteltasche und packte das Tier an den Hinterpfoten. Er nahm die Eingeweide heraus und zog dem noch warmen Kadaver das Fell über die Ohren. Blut sickerte in den Schnee. Die verderblichen Überreste überließ er den Geiern.
Wie eine stolze Trophäe hielt er das Tier in die Höhe. Endlich konnte sein Vater stolz auf seinen Sohn sein. Franz stellte sich vor, wie er vom König gekürt und ganz Klakuja ihn als Held feierte. Er stellte sich vor, wie ihm sein Vater enthusiastisch den Arm nach oben zog und ihn: Franz Xavier Gruber, geboren im Jahre 1851, Sohn des Pfarrers von Klakuja, zum Gewinner aller Zeiten kürte. Und weil er seinen Wahnsinns Auftritt vor dem inneren Auge abspulte und sich der Tagträumerei hingab, sah er das Unheil nicht kommen.
Hoch oben auf einem nahegelegenen Vorsprung einer Felswand saß der Adler. Er gierte nach seiner Beute. Die Krallen lösten sich langsam von dem hervorstehenden Felsen. Er breitete die braunen Flügel aus und ließ den Wind hindurchsegeln. Wie unruhige Finger spreizten die Federn auseinander. Das flatternde Gefieder wirkte in der Luft wie ein unförmiger Fächer.
Franz hielt noch immer seine Beute in die Höhe.
Der Adler tauchte auf wie aus dem Nichts. Ohne Vorwarnung. Blitzschnell. Noch ehe Franz begreifen konnte, was da für ein Windzug bebte, war es bereits zu spät. Ein brauner Flügel durchschnitt die Luft. Ein messerscharfer Schmerz durchbohrte seine linke Hand. Seine rechte ließ das Gewehr fallen. Ein Schuss fiel.
Franz sackte zu Boden.
Riesige Schneeflocken füllten den Vierseitenhof. Sie drückten Zweige und Äste nieder, dass die kahlen Sträucher kaum atmen konnten. Der Schnee knirschte unter Franz` Stiefeln, als er den Eingangsbereich passierte. Der Knauf der maroden Holztür klemmte. Vom Pech verfolgt bin ich, zeterte Franz. Er rüttelte und zerrte an ihr, worauf die herunterbaumelnden Eiszapfen knacksten und Risse bekamen. Franz sprang einen Schritt zur Seite, gerade als die eisigen Geschosse vor seine Füße krachten und sich tief in den Schnee bohrten. Halb geduckt, die noch hängenden Eiszapfen im Blick, warf er sich gegen die Tür. Stolpernd fiel er ins Innere des Hauses, wischte den Schnee von der Kleidung und starrte auf das Obergeschoss.
„Pfarrer Ludwig?“ Franz` warmer Atem erzeugte feinsten Sprühnebel. Niemand antwortete. Eine Treppe führte steil nach oben. Nur eine Treppe. Warum allerdings kam es Franz vor, er müsse den Mont Everest besteigen? Seine Beine zitterten, als er auf die Tür im Obergeschoss hinaufblickte. Die Luft war knapp. Auf ihn drückte eine Last, die er sich gut erklären konnte. Sie traf ausschließlich Versager. Auf ganzer Strecke. Unter dem mit Eisblumen verzierten Fenster lag ein Stapel Brennholz. Franz streifte die Handschuhe ab, nahm zögernd das Holz und klemmte die Scheite unter den Arm. Er lauschte dem Knarren der Stufen, welche unter seinen festen Schritten nachgaben, als er die Treppe zum Obergeschoss hochstieg. Der festgepappte Schnee unter seinen Sohlen rutschte wie auf der zugefrorenen Eisdecke eines Sees. Franz umklammerte das Geländer, sodass die Knöchel seiner freien Hand weiß hervortraten. Das Holz unter seinem anderen Arm drohte zu rutschen.
Warum reagierte der Pfarrer nicht auf seinen Ruf? Sonst öffnete er sofort die Tür, wenn er die Stimme seines Jungen hörte. »Pfarrer Ludwig?«, schrie Franz erneut. Aber auch diesmal erfolgte keine Reaktion.
Ein mulmiges Gefühl beschlich Franz. Das schlechte Gewissen waberte auf wie eine fleischfressende Pflanze. Sein Herz schlug kräftiger. Unweigerlich lief er schneller und riss die Tür des Zimmers auf, in dem er den Vater wusste. Durch den Schwung übersah er die Schwelle und es passierte genau das, was er vermeiden wollte. Er stolperte. Die Tür knallte lautstark gegen die Wand. Das Feuerholz polterte auf die Dielen und kullerte quer durch das Zimmer.
Als Franz sein Gleichgewicht zurückgewann, blieb er wie angewurzelt stehen. Es war schneidend kalt im Zimmer. Die Fenster standen sperrangelweit offen. Unweigerlich wurde ihm beim Anblick des Vaters die Kehle trocken. „Willst du dir den Tod holen?“, krächzte er.
Der Pfarrer hockte bibbernd im Freien auf dem Vordach. Er reagierte nicht auf die Worte des Ankömmlings.
„Was bitte möchtest du mit dieser Aktion bezwecken, Vater?“
Endlich fand der Pfarrer seine Stimme wieder, als er erwiderte: „Ich dachte, der liebe Herrgott befreit mich von meinen Schmerzen und meinem Hunger und spuckt mich aus dem Fenster. Aber er tat mir nicht den Gefallen. Stattdessen drückte er mir ein Fernrohr in die Hand und ließ mich das peinliche Elend sehen.“ Die Stimme des Pfarrers klang vorwurfsvoll: „Statt eines Hasenbratens bescherst du mir weitere Tage des Fastens! Als wäre ich nicht klapperdürr genug.“
Franz gewann die Fassung zurück und lehnte sich über das Fensterbrett. In Sekundenschnelle blickte er über das Dach, um die Lage einzuschätzen. „Ich habe mir größte Mühe gegeben, Vater. Es tut mir leid. Bitte vergib mir!“
Der Pfarrer seufzte und tat, als wollte er springen.
Franz seine Finger ballten sich zu Fäusten, während er jammerte wie ein Kind. „Es war nicht meine Schuld! Bitte tu das nicht!“
Erneut blieb die Antwort des Pfarrers aus. Franz redete sich in Rage. „Der Schuss traf ins Schwarze! Du bist doch aufs Vordach geklettert. Du musst den Treffer doch gesehen haben? Gib mir nicht die Schuld!“, stammelte Franz. Die Angst in Franz` Stimme war nicht zu überhören. Bei aller Gebrechlichkeit seines Vaters, sein Geist war intakt. Aber der Hunger trieb viele in den Wahnsinn: „Bitte Vater! Komm endlich von diesem Vordach runter! Wir finden eine Lösung!“
Doch der Alte dachte nicht daran. Franz wollte sich entschuldigen, weil er sein Versagen über alles bereute. Aber die jetzige Situation wirkte grotesk. Noch immer ballte er die Hände zu Fäusten. Zwang sich allerdings zu einem ruhigen Tonfall, unter dem er seine aufbrausenden Gefühle dämpfte: „Wir haben doch bisher immer eine Lösung gefunden. Alles wird gut. Die Dorfbewohner brauchen dich! Ohne Pfarrer sind sie verloren.“ Irrte sich Franz oder lief das Gesicht des Pfarrers trotz der klirrenden Kälte puterrot an? Der Pfarrer schob die Unterlippe nach vorn wie ein beleidigtes Kind. Fehlte nur noch, dass er mit dem Fuß aufstampfte. „Ich habe dich großgezogen wie meinen eigenen Sohn. Als Dank läufst du mir weg und ich bekomme zwei Stunden und fünfundvierzig Minuten kein Lebenszeichen von dir zu hören! Fast gestorben bin ich aus Sorge um dich!“
„Deshalb willst Du aus dem Fenster springen?“
Der Pfarrer schwieg und Franz stutzte. Was sagte der Pfarrer eben gerade?
„Wiederhole bitte, was du eben gesagt hast.“
Der Pfarrer wirkte verdutzt. „Das du weggelaufen bist?“
„Nein. Das danach. Du meintest gerade, du hättest mich großgezogen wie deinen eigenen Sohn?“
Franz wiederholte die Worte in seinem Kopf. Sie hallten wie eine Endlosschleife durch seinen Schädel. Die plötzliche Unbeholfenheit seines Vaters versetzte ihm einen Stich ins Herz. Kaum zu glauben. Aus dem einstigen starken Mann ist ein alter, gebrechlicher Greis geworden. Und anstatt einer Antwort wich der Pfarrer seiner Frage aus.
„Was genau ist passiert auf der Jagd?“
„Wo… woher weißt du …?“ Franz griff reflexartig hinter sich. Blitz, Donner und Sonnenstrahl. Schließlich trug er ja noch immer das Gewehr auf dem Rücken. „Ich hielt das Kaninchen in der Hand. Aber so ein verfluchter Adler hat es mir entrissen.“
„Ein Adler?“
Blitzschnell reagierte der Pfarrer. Wollte er doch über den Sims krauchen und über das Fensterbrett klettern. Durch den Schreck geriet der Alte ins Schwanken. Schlagartig reagierte Franz, warf das Gewehr auf die Erde, sprang über den Fenstersims, landete auf sicheren Füßen und schnappte nach dem Arm seines Vaters. Endlich war der Alte in Sicherheit. Franz half ihm auf die Füße, durch das Fenster auf den sicheren Boden.
Die schlohweißen Haare des Pfarrers standen nach allen Seiten. Franz geriet in Versuchung, ihm über den Schopf zu streichen, nur, um ihn zu berühren. Eine unendliche Liebe umfing sein Herz, die seine Stimme augenblicklich weicher klingen ließ: „Ja, Vater. Ein Adler. Um ein Haar hätten wir heute einen Festtagsbraten gehabt. Ich wollte doch nur, dass du stolz auf mich bist.“ Franz zuckte mit den Schultern, während seine Mundwinkel sich nach unten verschoben.
„Du hast ihn angeschossen?“ Die Augen des Alten wurden größer. Er sprach mehr zu sich selbst, als er sagte: „Gott bewahre. Er ist zurückgekehrt, nach all den langen Jahren.“
„Wie, zurück? Von was redest du? Verheimlichst du mir etwas?“ Franz Blick haftete auf seinem Vater. Dieser strich sich zigmal mit den Händen über die Brust, als würde er etwas in den Taschen suchen. Nur das sich in seinem Nachtgewand keine Taschen befanden. „Wo soll ich nur anfangen?“, stotterte er. Abwechselnd blickte er von der Kommode zur Kuckucksuhr und wieder zurück, lief auf das Bett zu und setzte sich. Es schlug zehn Mal zur vollen Stunde. Franz zuckte zusammen, als pünktlich auf die Minute ein mechanischer Kuckuck durch die türähnliche Klappe schwenkte und zeitgleich mit zehn tiefen Gongs schrille Kuckucksrufe ertönten. Dieser Krach lenkte Franz für einen kurzen Moment ab. Aber die Verwirrung hielt an.
„Wir kommen zu spät!“, waren die Worte, die in diesen Räumen irgendwie falsch wirkten. Um zehn Uhr begann die Sonntagsmesse. Noch nie war es vorgekommen, dass der Pfarrer unpünktlich in der Kirche erschien. Wenn das keine Anzeichen eines drohenden Unheils waren. Die Uhr machte Klick. Die Zeiger rutschten weiter. Endlich verstummte der Vogel. Franz blickte entsetzt zu seinem Vater. Er lag am gesamten Leib zitternd, das Kopfkissen umklammernd in seinem Bett, als hätte er Todesangst! Wahrscheinlich war es keine Angst, sondern Unterzuckerung, mutmaßte Franz. Schließlich nagte die Hungersnot an dem ausgezehrten Körper des Alten. Tagelang verzichtete der Vater für seinen Sohn auf das Essen. Das konnte nicht ewig gut gehen. Unweigerlich beschlich Franz das schlechte Gewissen. Er wollte ja sein Essen mit dem Pfarrer teilen, aber dieser bestand darauf, es nicht zu tun. Er hasste, was er jetzt sagen musste, auch wenn er wusste, er war im Recht. „Wir können die Bewohner von Klakuja nicht in der Kapelle warten lassen, Vater.“ Sein Blick blühte hoffnungsvoll auf, jedoch mehr, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen: „Vielleicht bringen sie uns Gaben mit.“
Der Pfarrer nickte. Sein Mund schien zusammenzukleben. Blass und rissig sahen die Lippen aus. Kurz waren die Augen des Alten bei Franz` Worten aufgeblitzt, aber jetzt wirkten sie wieder trüb und eingefallen. Der Pfarrer sprach geistesabwesend: „Ich kann nicht laufen.“
„Ich trage dich.“
„Das kann ich dir nicht zumuten.“
„Kannst du sehr wohl.“
Kaum beendete Franz den Satz, erstrahlte das Zimmer im Licht der Sonne, als würde sie ihre Zustimmung für das Vorhaben geben. Wärme durchflutete den Raum und wirkte versöhnlich und hoffnungsvoll. Während der Pfarrer schwieg, senkte er den Kopf wie ein Kind, das durch Fieber apathisch wirkte. Franz half dem Vater in den schwarzen Talar. Erst jetzt bemerkte er die Veränderung, die der Pfarrer in den wenigen Stunden seines Fortseins durchgemacht haben musste. Die geröteten Augen, wahrscheinlich vom Weinen. Franz spürte, wie es ihm die Kehle zuschnürte. Sein Vater wirkte in diesem Moment zerbrechlich wie noch nie im Leben. Die Lider schienen ebenso eingefallen wie das Gesicht. Sämtliche Lebenskraft war aus der einstigen aufstrebenden Mundpartie und den erschlafften Muskeln entschwunden. Auch wenn Franz vollkommen verwirrt war über die Worte des Pfarrers „Ich habe dich großgezogen wie meinen eigenen Sohn.“, wollte er ihm keine Vorwürfe mehr machen. Bestimmt gab es eine logische Erklärung. Franz seufzte. Wieso musste ausgerechnet am dritten Advent das Leben aus dem Ruder laufen? Was auch immer den Pfarrer in diesen Geisteszustand trieb, der Streit, der Hunger, oder die Erzählung von dem Adler. Die Messe musste stattfinden. Danach konnten sie reden.
Liebevoll rückte Franz das weiße Beffchen des Kragens an den rechten Platz. Der Umhang war über die Jahre viel zu groß für den schmächtigen alten Mann geworden. Der Pfarrer lächelte bei den Worten seines Sohnes: „So sieht es ordentlicher aus.“
Sie sollten keine weitere Zeit verschwenden.
„Steig auf den Schemel. Von dort aus kannst du auf meinen Rücken klettern!“
Der Pfarrer folgte bereitwillig seinen Anweisungen.
Der Pfarrer stöhnte auf, als Franz mit dem Ellenbogen gegen den Knöchel des Alten stieß. Das Gelenk, angeschwollen durch die Gicht, musste sehr schmerzen.
„Entschuldige, Vater“, erschrak Franz über dessen Aufschrei. „Ich stütze dich unter den Kniekehlen.“ Trotz der dicken Jacke spürte Franz den warmen Körper des Pfarrers auf seinem Rücken ruhen. Der alte Mann fühlte sich leichter an als erwartet. Mit einem Mal kam ihm der Streit von gestern Nacht so sinnlos vor. Alles nur, weil der Pfarrer Franz immer wieder bedrängte, dass er sich endlich eine Frau suchen sollte.
Niemals würde er seinen Vater im Stich lassen. Niemals! Egal, was passieren würde. Als Franz die Mappe mit der Predigt vom Tisch schnappte und die Tür leise ins Schloss klackte, glaubte Franz zu hören, wie der Pfarrer sagte: „Du musst die Wahrheit über deine Herkunft erfahren. Die Ganze. Ich will sie nicht mit ins Grab nehmen.“
Franz wusste nicht, ob er das wollte. Zuerst jedenfalls mussten sie schnellstens zur Kirche. Mal sehen, wie viele Leute heute vor der Tür standen. Seit dem Aufschwung der Industrie nahm die Einwohnerzahl von Klakuja drastisch ab, weil es die jungen Leute in die Städte zog und sogar noch weiter hinaus, nach Amerika. Dort war es besser um Arbeit bestellt als hierzulande. Die Eisenbahngesellschaft sollte die