Glück und selig! - Dagmar Bach - E-Book

Glück und selig! E-Book

Dagmar Bach

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Beschreibung

Geheime Wünsche, eine moderne Fee und ein romantisches Liebeschaos-Finale – auch der letzte Band der neuen Trilogie von Bestsellerautorin Dagmar Bachs (»Zimt & weg«) lässt Herzenswünsche wahr werden! Es könnte alles so schön sein: Linas Fähigkeiten als gute Fee werden immer besser, und sie ist endlich glücklich verliebt! Doch innerhalb ihrer Patchworkfamilie wird diese Neuigkeit nicht gut aufgenommen. Jetzt stehen ein Haufen Regeln an, die romantische Dates fast unmöglich machen. Noch dazu funkt Rivalin Senta dazwischen. Lina muss unbedingt herausfinden, was deren Beweggründe sind, nur »schlechte« Wünsche zu erfüllen – vor allem solche, die sich gegen Lina richten. Denn das wird langsam richtig gefährlich für sie. Doch wie kann sie Senta nur daran hindern? Da hat Lina eine geniale Idee … Mit dem dritten Band der magischen Trilogie zaubert Bestsellerautorin Dagmar Bach ihren Leserinnen erneut ein glückseliges Lächeln auf die Lippen! Alle Bände der Trilogie: Band 1: »Glück & los!« Band 2: »Glück & wieder!« Band 3: »Glück & selig!«

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Seitenzahl: 449

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Dagmar Bach

Glück und selig!

Lina und die Sache mit den Wünschen Band 3

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungPrologArthur123456789101112131415161718192021222324252627EpilogSechs Wochen späterBrief von Dagmar Bach an die Leserinnen und LeserDanksagungLeseprobe1

Dieses Buch ist für alle meine Leserinnen und Leser – ihr seid meine ganz persönlichen Glücksfeen!

Prolog

Arthur

Arthur ließ seinen Blick durch den großen Ballsaal gleiten. Die Paare hatten sich von ihren Plätzen erhoben, die Stühle zur Seite geschoben und angefangen zu tanzen.

Er reckte seinen Kopf, aber er konnte sie nicht finden. Wo steckte sie nur?

War sie vielleicht doch noch im Foyer aufgehalten worden?

In diesem Moment entdeckte er sie. Sie saß auf einem der zurückgeschobenen Tische an der Wand, neben Mats. Sie trug ein schwarzes Kleid, und ihre langen blonden Haare, die sich über ihre Schultern wellten, waren ein wenig zerzaust. Auf ihrem Kleid erkannte er graue Flecken – weiß der Himmel, wo sie vorhin gewesen war. Doch ihre blauen Augen leuchteten im festlichen Licht beinahe, und ihr Lächeln …

Sie hatte keine Ahnung, dass sie absolut umwerfend aussah.

In Arthurs Bauch begann es zu kribbeln, doch er versuchte, cool zu bleiben. Versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie er sich fühlte, wenn sie in seiner Nähe war.

Ihre Gefühle allerdings standen ihr häufig offen wie in einem Buch ins Gesicht geschrieben, in diesem Moment ganz besonders. Ihr ganzer Körper wippte im Takt der Musik mit, und ihre Augen glänzten, während sie die Tänzer beobachtete, die durch den Raum wirbelten.

Er hätte den ganzen Abend in der Tür stehen bleiben und sie anstarren können, aber in diesem Moment wurde sie auf ihn aufmerksam und winkte ihm zu. Wie auf Befehl setzten sich seine Beine in Bewegung. Das Orchester intonierte einen Schlussakkord, während er sich durch die Menge der applaudierenden Tänzer zu ihr hinüberdrängte.

»Meine Damen und Herren, vielen Dank. Bitte bleiben Sie auf der Tanzfläche, wir machen gleich weiter mit einem weiteren Walzer: dem Blumenwalzer von Tschaikowsky«, sagte der Dirigent.

Wieder erklang Musik, leiser und langsamer diesmal, und um Arthur herum setzten sich die Tanzenden abermals in Bewegung. Er kam an Noah und Julius vorbei, beachtete sie aber gar nicht.

Er sah einfach nur sie. Wie sie dasaß und strahlte, ein einziger heller Stern in diesem Raum, der ihn magisch anzog, bis er direkt vor ihr stand.

Sie lächelte ihn an und fragte irgendetwas wegen seines Vaters, aber er konnte sich nicht konzentrieren. Nicht, wenn er sich die ganze Zeit zusammenreißen musste, sie nicht auf der Stelle zu küssen.

Er murmelte etwas, aber sie schien ihm gar nicht richtig zuzuhören, denn sie reckte ihren Kopf schon wieder zur Musik.

Vincent warf ihm einen seltsamen Blick zu, während er sich erst neben Lina setzte, dann sofort wieder aufstand und nervös auf und ab ging.

Okay, er würde das jetzt tun. Obwohl er wusste, welche Konsequenzen es haben konnte.

Aber sie war es so was von wert.

Er baute sich vor ihr auf, und sie lächelte zu ihm hoch.

»Rutsch mal, Arthur, jetzt wird’s gerade spannend da vorne«, sagte sie zu ihm und berührte ihn leicht am Arm, als sie versuchte, an ihm vorbei zur Tanzfläche zu sehen.

Doch er dachte nicht daran, sich zu bewegen.

Im Gegenteil.

»Arthur«, sagte sie, »bitte, ich will doch –«

Er räusperte sich.

»Ist alles okay?«, fragte sie ihn. »Weil, schau mal, da vorne könnte es richtig spannend werden, wie in einer Seifenoper. Wenn du nur ein Stückchen zur Seite gingest, dann –«

»Lina«, sagte er nur.

Sie sah ihn an. »Ja?«

Er atmete tief durch. Fünf Wörter. Fünf Wörter, die er jetzt sagen würde und die ihrer beider Welt auf den Kopf stellen würden. Das wusste er, aber es war ihm total egal.

Er hielt ihr seine rechte Hand hin. »Willst du mit mir tanzen?«

Ihre Augen wurden groß. »W-was?«

»Tanz mit mir. Bitte.«

Plötzlich spürte er, wie alle Nervosität wie weggeblasen war. Er nahm ihre Hand und führte sie an den Rand der Tanzfläche. Sie war fast einen Kopf kleiner als er, doch als sie ihre Tanzposition einnahmen, war es, als ob er nach langem Suchen den Schlüssel für ein Schloss gefunden hätte. Es passte perfekt.

Und dann fingen sie an, sich im Takt der Musik zu bewegen. Er hasste es, zu tanzen, hatte es immer schon gehasst, weil seine Großeltern ihn dazu gezwungen hatten. Schon vor Jahren hatten er und Vincent es lernen müssen und waren dann immer wieder zu solchen Veranstaltungen mitgeschleppt worden.

Aber das hier war anders. In seinen Armen fühlte sich Lina an wie ein Teil von ihm selbst, er konnte gar nicht sagen, wo er aufhörte und sie anfing. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass es so sein konnte.

»Du musst das wirklich nicht machen«, murmelte sie nach einer Weile an seiner Schulter.

»Aber du hattest dir insgeheim gewünscht, hier mitzutanzen, oder?«

Sie nickte sachte. »Ja. Schon. Aber –«

»Dann nichts aber.« Er schob seine Hand auf ihrem Rücken ein Stück höher und zog sie näher zu sich heran.

»Aber du hasst doch tanzen«, flüsterte sie.

Er musste lächeln. Wie gut sie ihn kannte. »Stimmt. Aber dich hasse ich nicht. Ganz im Gegenteil. Ich bin tierisch verliebt in dich, Lina«, murmelte er. Er hatte keine Ahnung, ob sie über die Musik hinweg sein donnerndes Herz hören konnte.

Ihre Hand verrutschte, und sie griff nach seiner Schulter, als ob sie sich festhalten müsste.

Er blieb stehen und zog sie noch näher an sich. Sein Mund war trocken, aber er war sich hundertprozentig sicher, dass er das Richtige tat.

Nichts hatte sich je richtiger angefühlt.

»Lina, hör mal … ich will dich, als meine Freundin. Und wenn ich dafür jeden Tag tanzen muss, dann mach ich das. Aber ich mag so nicht mehr weitermachen, das macht mich verrückt. Ich will mich nicht länger mit dir verstecken müssen.«

Damit hatte er die Karten auf den Tisch gelegt. Er hatte ihr sein Herz geschenkt. Jetzt lag es an ihr, ob sie es ganz offiziell annahm.

Sie hob den Kopf und sah ihn an.

Er konnte kaum Luft holen.

»Ich will mich auch nicht mehr verstecken«, flüsterte sie. Und dann legte sie plötzlich ihre Hände an seine Wangen, zog seinen Kopf herunter, und dann waren ihre Lippen auf seinen.

Ihm schoss durch den Kopf, dass nun nichts mehr so sein würde, wie es gewesen war.

Und dann küssten sie sich.

1

Hektisch sah ich über die Schulter. Nein, da war nichts. Ich zog den Reißverschluss weiter nach oben und vergrub die Nase tief in meinem Schal. Der Novemberwind blies mir eiskalt ins Gesicht, und die Luft roch nach dem ersten Schnee. Trotzdem fing ich an, unter meiner Jacke zu schwitzen, denn ich hatte die letzten Blocks im Laufschritt zurückgelegt. Dabei hielt ich mein Handy fest umklammert, für den Fall, dass er noch einmal anrief.

Ich huschte über die Straße und versteckte mich im nächsten Hauseingang, um meine Umgebung abzuchecken.

Sie konnte jeden Moment hier vorbeikommen. Darauf war ich vorbereitet, er hatte mich ja gewarnt. Trotzdem war ich aufgeregt, denn ich wollte auf keinen Fall von ihr gesehen werden.

Als das Gerät schließlich in meiner Hand vibrierte, hopste ich vor Schreck nach oben. Das war doch …

»Mama!«

Ganz klar war das Timing meiner Mutter, mich ausgerechnet jetzt aus New York anzurufen, ziemlich mittelprächtig. Trotzdem nahm ich den Anruf entgegen. Ich hatte sie seit über einem Jahr nicht gesehen, und ich vermisste sie so sehr, dass mein Herz sofort anfing zu ziehen, als ich mir den Hörer ans Ohr presste.

»Mein Schatz, wie geht’s dir denn? Habt ihr alle das Winterkonzert bei den fiesen Großeltern im Schloss gut überstanden?«

»Hi, Mama«, sagte ich atemlos und sah mich wieder in alle Richtungen um.

Er hatte gesagt, dass wir uns drüben bei der kleinen Post treffen sollten. Doch das war, bevor …

»Lina? Alles in Ordnung? Bist du unterwegs?«

»Alles okay. Also, das Winterkonzert. Das war ziemlich … hm. Am Anfang war es eigentlich ganz okay, das Schloss war total schön dekoriert, es gab tolles Essen, und irgendwie hatten sie es hinbekommen, dass man gar nicht mehr gerochen hat, dass der alte Kasten eigentlich total verschimmelt ist.«

Mama lachte kurz. »Und was war dann nicht okay?«

Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Hauswand und stieß die Luft aus.

Ich musste meiner Mutter erzählen, was sonst noch passiert war. Das wirklich Spannende. Das, was mich letzte Nacht um den Schlaf gebracht hatte und heute Morgen um den Appetit. Ich hatte nur keine Ahnung, wo ich anfangen sollte.

»Also, weißt du … da war … stell dir vor: Ich … also, ich meine … Kims Freund hat mit einer anderen geknutscht!«

»Was?!«

Ich Feigling hatte natürlich nicht einfach die Bombe platzen lassen. Obwohl die Sache mit Moritz, Kims Freund – oder jetzt Ex-Freund –, auch ein wirklich harter Schlag war, war es nicht das, was mich seitdem beschäftigte.

Mamas Stimme am anderen Ende der Leitung wurde sanft. »Und wann willst du mir erzählen, was bei dir gestern los war?«

Ich schluckte. »Bei mir?«

»Christoph hat mich vorhin angerufen«, sagte Mama und seufzte.

Ich schloss die Augen und kämpfte gegen den Drang an, die Fäuste zu ballen. Papa war schneller gewesen. Das hätte ich mir ja denken können.

»Ach, echt?«, fragte ich trotzdem betont locker. »Das ist ja nett! Hat er dir von der Gräfin in Blau erzählt? Die hatte doch echt was mit dem Baron Sowieso, Vicky hat die beiden sogar im Vorraum der Toilette erwischt, kannst du dir das vorstellen? Und überhaupt wurde da ganz schön viel gebaggert, aber noch mehr gemobbt, diese Leute können fies sein, das glaubst du gar nicht. Und Beas Eltern –«

»Lina!«

Ich schluckte. »Hm?«

»Sei mir nicht böse, aber ich wollte eigentlich viel lieber etwas von dir hören, Liebes. Von dir und Arthur.«

Ich legte mir in einem kindischen Reflex die freie Hand über die Augen. Ich sehe dich nicht, dann siehst du mich auch nicht und vergisst ganz schnell, dass wir gerade im Begriff waren, dieses Gespräch zu führen.

Doch das war wirklich albern.

Ich ließ die Hand sinken, atmete tief ein und aus und sagte dann: »Ich hab mich in Arthur verliebt, Mama. Und er sich in mich. Völlig ungeplant. Und gestern Abend, da, da haben wir … da haben alle anderen auch davon erfahren. Also Papa und Bea. Und die Großeltern.«

Ich bekam immer noch weiche Knie, wenn ich nur daran dachte. Denn unser Kuss in aller Öffentlichkeit hatte von einer Sekunde auf die andere alles verändert. Und ich hatte recht damit behalten, Angst davor zu haben, denn sowohl Bea als auch Papa haben genau so reagiert, wie ich es erwartet hatte: geschockt. Entsetzt. Enttäuscht.

Und trotzdem war es der romantischste Augenblick, den ich je in meinem Leben erlebt hatte. Denn nach dem aufreibenden Abend im Schloss hatten wir uns alle oben im Festsaal das Ende des Konzerts angehört. Symphonieorchester, Walzerklänge, Wallekleider, Smokings, das ganze Programm.

Wir – die Zwillinge, Mats, ich und noch ein paar Freunde, die geholfen hatten – saßen ganz hinten, als plötzlich Bea und Papa anfingen, im Gang zwischen den Sitzplätzen zur Musik Walzer zu tanzen. Und immer mehr Paare standen auf und schlossen sich an, und, tja, und dann … stand auf einmal Arthur vor mir. Und als er mich dann aufs Parkett geführt hatte und wir tanzten, da waren die Gefühle mit mir durchgegangen und ich hatte ihn geküsst. Vor allen Leuten, mitten auf der improvisierten Tanzfläche, vor den Augen unserer Eltern und seiner Großeltern.

»Ach, Mama, ich bin völlig durch den Wind«, schloss ich, als ich ihr alles erzählt hatte. »Ich kann nur noch an ihn denken, schaue gefühlt eine Million Mal am Tag auf mein Handy, ob er mir geschrieben hat, und dann, wenn wir zusammen sind, ist es einfach … Sogar wenn wir unter Leuten sind, wenn wir in unserem Familienmodus sind und uns wie Geschwister benehmen. Selbst dann war es immer total schön. Also, bisher.«

»Du bist verliebt!« Im Gegensatz zu Papa oder Bea hörte sie sich nicht beunruhigt an. Im Gegenteil. Hatte sie da gerade gequietscht? »Das ist so toll, mein Schatz!«

»Sag das mal Papa«, murmelte ich und schob mich tiefer in den Hauseingang, weil der Wind stärker wurde und eiskalt um die Ecken pfiff.

»Ach, das hab ich schon!«, sagte sie fröhlich. »Ich hab ihm vorhin gesagt, dass er sich nicht so aufregen soll. Schließlich ist ihm das Gleiche ja mit Bea passiert. Na, und mit mir vor ungefähr hundert Jahren auch. Er soll bloß nicht so tun, als ob er gegen das Verlieben immun wäre.«

»Das hast du zu ihm gesagt? Du bist nicht … sauer?«

»Wieso sollte ich denn sauer auf dich sein? Du machst das doch nicht, um uns zu ärgern.«

»Und was hat Papa gesagt?«

»Das … Ach, gib ihm einfach ein bisschen Zeit, ja? Und Bea auch. Ich kann mir wirklich vorstellen, dass das ein ganz komisches Gefühl für die beiden sein muss, immerhin seid ihr ja so etwas wie Stiefgeschwister. Aber sie werden sich daran gewöhnen. Vielleicht hilft es, wenn ihr zu Hause nicht so viel rumknutscht.«

»Das hatten wir auch überhaupt nicht vor!«

»Dann bist du braver, als ich es je in meinem Leben war«, sagte Mama und kicherte.

Ich verkniff mir, zu sagen, dass ich mit Arthur allein unter vier Augen nicht ganz so brav war. Und dass ich in Zukunft nicht immer brav sein wollte. Aber damit würde ich ein anderes Thema anschneiden, auf das ich gerade noch weniger Lust hatte. Und das mich vermutlich sowieso früher einholen würde, als mir lieb war.

Nachdem ich das Gespräch mit Mama beendet hatte, fühlte ich mich ein bisschen besser. Wenigstens ihre Unterstützung hatten wir, auch wenn uns im Moment ein ganzer Ozean trennte.

Ich hielt das Handy weiterhin in der Hand, als ich aus dem schützenden Hauseingang heraustrat und mich wieder suchend umsah. Offiziell war ich nämlich noch bei Kim, aber Arthur hatte mich angeschrieben und gefragt, ob wir uns gegen vier heimlich hier draußen treffen könnten.

Tja, und da war ich nun, schlich um die Häuser und wartete auf ihn, in der Hoffnung, dass Bea uns nicht auf die Schliche kam. Die nämlich hatte vorhin überraschenderweise zusammen mit Arthur das Haus verlassen, weil sie joggen gehen wollte.

Will heißen: Arthurs Mutter lief hier irgendwo durch die Straßen, während Arthur und ich uns unbemerkt treffen wollten. Und ich kannte unser Viertel gut genug, um zu wissen, dass man trotz Großstadt immer jemanden traf. Meistens denjenigen, den man am allerwenigsten sehen wollte.

Langsam schlich ich den Gehweg entlang. Ich war nur zehn Meter von unserem Treffpunkt entfernt, aber ich konnte ihn aus der Ferne nirgendwo entdecken. Vielleicht war er noch gar nicht da? Aber es war schon kurz nach vier, hoffentlich war nichts –

Plötzlich tippte mir von hinten jemand auf die Schulter, und ich sprang vor Schreck nach oben.

Arthur lachte leise. »Ich bin’s doch nur.«

Ich wirbelte zu ihm herum. »Wie kannst du mich so erschrecken«, sagte ich und boxte ihn reflexartig gegen die Schulter. »Sei froh, dass der Selbstverteidigungskurs bei Frau Temme noch nicht angefangen hat, sonst würdest du nämlich schon wimmernd am Boden liegen!«

Arthur grinste breit. »Hört sich lustig an! Du darfst dann gerne an mir üben«, sagte er, und seine grauen Augen funkelten vergnügt.

Das war übrigens einer der Gründe, warum ich mich in ihn verliebt hatte: Er war cool, souverän – und witzig. Das erfuhr man allerdings erst, wenn man ihn besser kannte, denn nach außen gab er gerne den ernsten, introvertierten Türsteher.

Er drückte mir einen Kuss auf die Wange und schob mich sanft vorwärts. »Komm, lass uns hier verschwinden, ehe Mama uns noch erwischt. Sie läuft tatsächlich hier kreuz und quer durch die Straßen. Ich hab versucht, sie auszuquetschen, ob sie in den Park will, aber sie meinte, sie braucht gerade alles andere als Natur. Weißt du, was sie damit meinen könnte?«

»Keine Spur«, murmelte ich, zog mir die Mütze tiefer in die Stirn und fühlte mich wie eine Geheimagentin, als ich die Gehwege zu allen Seiten mit den Blicken absuchte. »Die Luft ist rein, los geht’s!«

Wie bisher hielten wir auch jetzt nicht Händchen, als wir zu zweit durch die Straßen huschten.

»Wohin sollen wir gehen?«, fragte ich ihn, und er sah sich um.

»Blöd, dass heute Sonntag ist, sonst hätten wir ins – o nein, da vorne ist sie! Wo kommt die denn so schnell her?«

Ohne uns abzusprechen, hopsten wir gemeinsam in die Mauernische des nächstbesten Hauseingangs, wo wir uns kichernd gegen die Türe lehnten.

»Sie läuft die Flößerstraße entlang, glaub ich«, murmelte Arthur und schob den Kopf vorsichtig um die Ecke. »Wenn wir schnell in die andere Richtung gehen, in Richtung Humboldt-Brücke, könnten wir ihr entkommen.«

»Dann los!«

Schulter an Schulter flitzten wir den Weg zurück, den ich gerade gekommen war. Im Zickzack liefen wir durch zwei weitere Nebenstraßen, ehe wir endlich langsamer wurden.

»Vielleicht sollten wir uns das nächste Mal auch einfach zum Laufen verabreden«, sagte ich schnaufend und sah noch mal über die Schulter.

»Da müsstest du aber ein bisschen schneller sein«, sagte er. »Wenn das alles war, was du –«

»Da ist sie! Schon wieder!!!«, zischte ich, denn ich hatte ihre rote Laufjacke eben einen Block links von uns aufblitzen sehen. »Schnell, hier rein!« Beherzt zog ich Arthur am Arm hinter mir her durch eine schnörkelig beschriftete Glastür, vor der wir gerade zum Stehen gekommen waren. Ein Glöckchen bimmelte, und ich schob einen speckigen dunkelroten Samtvorhang beiseite.

»Oh. Wow. Haben wir gerade ’ne Zeitreise gemacht?«, raunte Arthur mir zu, als wir uns durch den Windfang gekämpft hatten und uns umsahen.

»Das ist eine Konditorei«, flüsterte ich. »Warum sollte es so was nicht mehr geben?«

»Na, diese hier ist bestimmt aus dem vorletzten Jahrhundert. Oder zumindest aus den Siebzigern.« Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er neben mir die Nase kräuselte.

Das Café war von oben bis unten plüschig. Altrosa Stofftapeten, dunkelrote Samtbezüge auf Bänken und Stühlen, fluffige, geraffte Spitzengardinen vor den Fenstern – und alles von einem zarten Grauschleier überzogen. Es war im wahrsten Sinne des Wortes angestaubt hier, doch dann erblickte ich etwas, das mir sofort ziemlich gut gefiel.

Ich grinste und ging ein paar Schritte auf eine altmodisch aussehende Vitrine zu. »Dafür sehen die Torten gar nicht alt, sondern ziemlich lecker aus. Hast du zufällig Geld dabei?«

 

Wir fanden eine freie Nische in der hintersten Ecke des Cafés, zwischen verblichenen Vorhängen, die den Gastraum vom Gang zu den Toiletten trennten, und einem Sideboard, auf dem eine Vase mit hässlichen, vergilbten Stoffblumen stand.

Als Arthur sich auf die mit Samt bezogene Sitzbank fallen ließ, krachte die so laut, dass sich ein paar Leute zu uns umdrehten.

Er lächelte entschuldigend und versuchte, seine langen Beine unter das wackelige Tischchen zu quetschen.

Ich rutschte neben ihm auf die geschwungene Bank und schnappte mir die Karte.

»Ich hätte mir keinen besseren Platz für unser erstes Date vorstellen können«, sagte ich und blätterte mit spitzen Fingern durch die klebrigen laminierten Seiten der Speisekarte.

Arthur versuchte, sich in der Enge aus seiner Jacke zu schälen. »Dachte ich’s mir doch, dass ich dich damit beeindrucken kann. Hab ewig nach dem Laden gesucht. Aber dann hab ich die Blümchentapete gesehen und die Porzellanfiguren überall, und da wusste ich: Das ist genau Linas Ding.«

Wir fingen gleichzeitig an zu lachen, und ehe ich reagieren konnte, nahm Arthur mir die Karte aus der Hand und hielt sie aufgeklappt vor unsere Gesichter, um uns vor den Blicken der anderen zu verbergen.

Dann zog er mich zu sich, bis uns nur noch wenige Zentimeter trennten.

»Hi«, murmelte er an meinen Lippen, und ich seufzte wohlig.

»Selber hi«, flüsterte ich, und in meinem Magen begannen die Schmetterlinge, aufgeregt zu flattern.

Arthur und ich hatten die gleiche Meinung, was das Küssen in der Öffentlichkeit anging. Das war für uns beide nichts, aber allein der vergangene Tag mit all seinen Aufregungen und die angespannte Situation zu Hause hatten zumindest mich weichgekocht.

Ich beugte mich ein Stückchen weiter nach vorne, doch ehe meine Lippen auf die von Arthur trafen, hörte ich jemanden sagen: »Also, ganz ehrlich – wenn ihr hier sitzen und knutschen wollt, müsst ihr auch etwas bestellen!«

Arthur und ich wichen ruckartig voneinander zurück. Während mir die Röte ins Gesicht schoss, setzte er wie auf Knopfdruck sein nonchalantes Lächeln auf und sagte:

»Ich nehme einen Cappuccino, bitte. Und du, Lina?«

»Ich, äh …« Ich räusperte mich. »Bitte eine heiße Schokolade.«

Die Bedienung, eine Dame mit goldgelben Löckchen und einer Lesebrille auf der Nase, verzog das Gesicht.

»Cappuccino haben wir nicht. Ein Kännchen Kaffee mit Sahne?«

Arthur lächelte weiterhin einnehmend. »Okay, dann das.«

Sie zog nickend ab, nicht ohne uns noch einen tadelnden Blick zuzuwerfen.

Ich rutschte auf der Bank ein Stück nach unten und vergrub kurz mein Gesicht an seiner Schulter.

»So weit ist es also schon. Wir müssen uns in einem Omacafé verstecken, nur um zusammen zu sein.«

Arthur seufzte. »Mama und dein Dad werden sich schon wieder einkriegen. Sie waren vielleicht gestern nur ein bisschen überfordert.«

»Heute kamen die mir aber gar nicht überfordert vor, als sie uns beide strategisch den Tag über getrennt haben.« Ich setzte mich wieder aufrecht hin und knibbelte an der gehäkelten Tischdecke herum. »Schon auffällig, dass Papa mich an seinem sonst so heiligen Familiensonntag unbedingt aus dem Haus haben wollte. Er hat sogar persönlich beim Frühstück vorgeschlagen, dass ich sofort zu Kim fahren sollte, um den Tag bei ihr zu verbringen.«

Wobei ich das so oder so getan hätte, obwohl oder gerade weil ich frisch verliebt war. Wegen dem, was ihr Ex Moritz gestern veranstaltet hatte, ging es meiner besten Freundin furchtbar schlecht, und sie tat mir unendlich leid. Ich musste einfach an ihrer Seite sein.

»Wie soll das denn nur weitergehen?«

Arthur nahm meine Hand und verschränkte unsere Finger.

»Keine Ahnung. Aber ewig durchhalten können die das auch nicht. Wenn wir mit ihnen sprechen, können wir sie bestimmt schnell davon überzeugen, dass sie sich ruhig locker machen können. Wir wissen schließlich, was wir tun.«

Ich sah ihn an. »Was tun wir denn?«

Arthur sah mich von der Seite an und legte den Kopf schräg, als ob er überlegen müsste, was er mir antworten wollte.

»Das, was wohl alle anderen in unserer Situation auch tun würden.«

Ich dachte an das Gespräch mit meiner Mutter eben. Dass ich mit Arthur vor unserer Familie weiterhin den Familienmodus beibehalten wollte. Hinter verschlossenen Türen allerdings … war das etwas anderes. Und Arthurs Blick nach zu urteilen hatte er ganz ähnliche Gedanken.

»Vorhin hat meine Mutter angerufen«, sagte ich leise, um davon abzulenken, dass sich meine Wangen langsam rosa färbten.

Arthur sah mich aufmerksam an. »Und was sagt sie?«

»Dass Papa schon Alarm geschlagen hat. Sie allerdings ist entspannt und freut sich tatsächlich für uns. Als Einzige. Ihr Versuch, Papa zu beruhigen, war aber bis jetzt nicht erfolgreich.«

»Klingt, als ob sie ziemlich cool ist.«

»Du wirst sie mögen, ganz bestimmt.«

»Wenn sie auch nur ein bisschen so ist wie du, bezweifle ich das nicht«, sagte er und zwinkerte mir zu.

In diesem Augenblick schwappte eine unerwartete Gefühlswelle über mich, die so groß war, dass ich mich blitzschnell zu ihm beugte und ihm einen Kuss auf die Lippen drückte, Öffentlichkeit hin oder her.

Natürlich kam genau in diesem Augenblick die Bedienung mit den Getränken. »Na, na, na, man muss doch hier jetzt wirklich nicht so viel herumpoussieren!«, sagte sie und stellte unsere Bestellung auf dem wackeligen Tischchen ab.

Tja, wenn wir das zu Hause machen könnten, müssten wir es nicht in Ihrem miefigen Café tun.

Sagte ich natürlich nicht, sondern lächelte nur höflich.

»Ich mache mich, ehrlich gesagt, schon darauf gefasst, dass die beiden uns heute Abend zu einem Gespräch zitieren«, meinte Arthur, nachdem die Kellnerin uns wieder allein gelassen hatte – nicht ohne sich noch drei Mal umzudrehen, ob wir auch nicht wieder angefangen hatten zu schmusen. Das war keine Bedienung, das war die Sittenpolizei.

»Du meinst, zu dem Gespräch?«, gab ich zurück und rührte mit dem Löffel in meiner heißen Schokolade. »Das Gespräch, bei dem ich jetzt schon gar nicht weiß, was ich sagen soll?«

»Das wäre aber neu, dass du mal nicht weißt, was du sagen sollst«, meinte Arthur grinsend, und ich knuffte ihn dafür in die Seite.

»Nein, im Ernst. Was erwartest du dir denn von dem Gespräch?«

Arthur drehte sich auf der Bank und sah mich aufmerksam an. »Ich kann nicht für dich sprechen, aber ich will, dass Mama und Christoph akzeptieren, dass wir zusammen sind. Und dass sie verstehen, dass wir ein Recht darauf haben, auch mal allein zu sein. Wenn ich nämlich irgendein anderes Mädchen als Freundin hätte, wären sie da sehr viel entspannter.«

»Hm. Ob mein Vater bei mir entspannter wäre bei jemand anderem, weiß ich nicht«, sagte ich und dachte an Papa, dessen Beschützerinstinkte mir gegenüber ähnlich groß waren wie die meines Bruders Mats. Wobei Mats uns quasi seinen Segen gegeben hatte und schon eine Weile versuchte, sich zurückzuhalten.

»Wir müssen ihnen klarmachen, dass wir trotzdem als Familie noch funktionieren. Dass wir, na ja … nicht herumpoussieren, wenn die anderen dabei sind.«

Arthur verdrehte die Augen bei meiner Wortwahl, doch dann seufzte er.

»Vielleicht hätte ich doch auf dich hören sollen. Du wolltest es noch geheim halten. Vermutlich wäre das doch die bessere Idee gewesen«, murmelte er und rührte sich einen großen Löffel Sahne in den Kaffee.

»Ach, ich weiß nicht«, sagte ich. »Irgendwann hätten sie es sowieso herausgefunden, und wer weiß –«

Ich brach mitten im Satz ab, weil Arthur an mir vorbeisah und plötzlich die Augen aufriss.

Doch ehe ich mich umdrehen konnte, ertönte schon eine schrille weibliche Stimme, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.

»Was macht ihr denn hier???«

2

Die gute Nachricht war: Es war nicht Bea, die plötzlich vor uns stand. Die schlechte allerdings: Es war Marianne Göttler. Unsere äußerst klatschfreudige Nachbarin, mit Antennen für Geheimnisse, so lang wie der Fernsehturm. Und mit der nervigen Eigenschaft, sich in Dinge einzumischen, die sie gar nichts angingen.

»Lina, na, so ein Zufall, wir treffen uns oft in letzter Zeit, nicht wahr? Ach, prima, der Tisch neben euch ist frei, es macht euch doch nichts aus?«

Sie steuerte schnaufend auf die Sitznische links von uns zu, legte ihre Handtasche auf den Tisch und ließ sich ebenso geräuschvoll wie vorhin Arthur auf die Bank plumpsen, die unter ihrem Gewicht laut ächzte. Sofort hüllte uns ihr Duft ein, eine Mischung aus Kölnisch Wasser, Haarspray und angebratenen Zwiebeln, die sie zu jeder Tages- und Nachtzeit zu kochen schien.

»Kommen die anderen auch noch? Ich habe Bea ja schon ewig nicht mehr gesehen!«

Als Arthur und ich nicht antworteten, sondern nur einen schnellen Blick wechselten, bohrte sie nach:

»Ach, oder seid ihr alleine losgeschickt worden? Müsst wohl für Bea die Himbeersahneschnitten kaufen, was? Die sind die besten hier, nur der Bienenstich ist meiner Meinung nach noch besser, und der Schneewittchenkuchen, bei dem gerät nur manchmal der Boden ein wenig trocken.«

Plötzlich runzelte sie die Stirn. Sie musterte uns, sah sich an, wie eng wir nebeneinandersaßen – und riss dann überrascht die Augen auf.

»Ah, so ist das also«, sagte sie und zwinkerte. Ihr Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen.

Ich lächelte schief. »Nein, ach was«, sagte ich betont fröhlich und versuchte, die Aufregung in meiner Stimme zu verbergen. »Wir trinken hier nur schnell einen Kakao. Na ja, Arthur hat Kaffee, wie immer. Die servieren den hier im Kännchen, stell dir vor, ich dachte echt immer, das sei nur eine Erfindung in alten Familienfilmen im Fernsehen. Ich kann mich ja noch nicht damit anfreunden, selbst mit drei Löffeln Zucker schmeckt er mir nicht, wie ist das denn bei dir? Kaffee soll ja auch nicht gut für den Magen sein, man bekommt davon Gastritis, ich glaube, eine meiner Tanten hatte das mal, üble Sache, sie hat uns immer auf Schwedisch vollgejammert, aber ich hab nur die Hälfte verstanden, obwohl ich ja eigentlich fließend Schwedisch spreche.«

Neben mir stieß Arthur leise die Luft aus, und ich hörte, wie die Bank wieder krachte, als er ein kleines Stück von mir wegrutschte.

Ich fuhr zu ihm herum. »Lachst du mich gerade aus?«, fragte ich ihn, doch er hatte seine Gesichtszüge meisterhaft im Griff. Mit todernster Miene schüttelte er den Kopf.

»Würde ich niemals wagen.« Seine Mundwinkel zuckten allerdings. »Ich wusste gar nicht, dass du überhaupt Schwedisch sprichst.«

»Mama hat es uns beigebracht, aber irgendwann haben wir immer weniger gesprochen. Aber ich verstehe praktisch alles und kann auch sprechen. Ehrlich! Manchmal ist es dann zwar so, dass mir die Leute in Schweden auf Englisch antworten, aber – hey, du machst dich doch lustig über mich!«

Weil Arthur die Lippen aufeinanderpresste, um nicht loszuprusten, wandte ich mich wieder Marianne zu.

Die beobachtete uns weiterhin mit Adleraugen. Mit sehr, sehr wissenden Adleraugen. »Und wo ist Bea nun?«, fragte sie langsam.

Ich ließ die Schultern hängen. »Sie joggt draußen kreuz und quer durchs Viertel.«

Marianne nickte. »Und ihr seid hier drin. Allein. Zu zweit.«

Neben mir stieß Arthur leise die Luft aus und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Ich musste ihn gar nicht ansehen, um zu wissen, dass er das Gleiche dachte wie ich: Wir waren aufgeflogen.

»Marianne, bitte«, setzte ich an, denn ihr siegessicheres Grinsen sagte alles. »Es stimmt. Das hier ist genau das, wonach es aussieht. Aber Bea hat leider überhaupt nicht gut darauf reagiert. Seit sie es gestern Abend erfahren hat, ist sie total verstört, und wir dürfen uns seitdem noch nicht mal in einem Raum aufhalten. Vorhin konnten wir uns kurz abseilen, mussten uns aber hier reinflüchten, weil Bea draußen wie eine Bekloppte ihre Runden dreht. Wahrscheinlich hält sie Ausschau nach uns.«

»Ach, Herzchen, das ist ja mal romantisch«, gurrte Marianne und rutschte mit einem schnellen Hüftschwung so dicht neben mich, dass ich zwischen ihr und Arthur auf der Bank eingeklemmt war wie ein Hot Dog.

»Stiefbruder und Stiefschwester, wie in einem Heftchenroman! Herrlich!!! Und Bea und Christoph sind nicht so angetan von euch Turteltäubchen?«

Ich schüttelte resigniert den Kopf. »Nicht so angetan ist gar kein Ausdruck. Sie waren –«

Ich konnte meinen Satz nicht beenden.

Marianne hatte sich im selben Moment von der Bank erhoben und mich mit ihrem runden Hinterteil weggeschoben, so wie Arthur meine Hand gepackt und mich in die andere Richtung von der Bank gezerrt hatte.

Schneller, als ich gucken konnte, hatte er uns beide hinter den Vorhang neben unserem Tisch bugsiert, so dass wir vom Verkaufsraum und Café aus nicht mehr zu sehen waren.

»Was ist passiert?«, zischte ich. »Gibt es einen bewaffneten Raubüberfall auf die Konditorei?«

»Schlimmer«, flüsterte Arthur zurück. »Mama ist gerade reingekommen. Zum Glück hat Marianne sie auch sofort gesehen. Ich hoffe, sie fängt sie direkt vorne an der Kuchentheke ab.«

Ich stand zwischen der Wand und Arthur. Um uns herum hing der dicke rote Vorhang wie ein alter Lappen und schluckte jedes Licht. Auch die Geräusche vom angrenzenden Café drangen nur noch gedämpft zu uns, und ich konnte nur Arthurs Umrisse erkennen, als er vorsichtig ein Stück von mir abrückte, um den Stoff neu um uns herumzudrapieren.

»Ich glaube, so sieht uns keiner«, meinte er angespannt.

Ich verlagerte mein Gewicht, um eine bequemere Position zu finden, denn irgendetwas drückte schmerzhaft gegen meine Kniekehle. Vorsichtig schob ich mit dem Fuß einen schweren Gegenstand weg – einen verschnörkelten Schirmständer aus Messing, in dem ein alter Besen und ein paar Trockenblumen steckten, die unter meiner Berührung knisternd zu Staub zerfielen.

»Meinst du, Marianne verrät uns?«, presste ich hervor.

»Glaub ich nicht. Die steht doch auf Geheimnisse. Außerdem verrät die uns allein deswegen nicht, damit sie später allen von der Aktion erzählen kann.«

»Das tröstet mich jetzt sehr«, murrte ich leise, aber ich konnte förmlich spüren, wie Arthur grinste.

»Wenigstens können wir uns so erst mal ordentlich begrüßen.« Er beugte sich zu mir herunter, so dass sich unsere Nasenspitzen berührten. »Hi, Lina«, wisperte er.

»Hi, Arthur.« Ich schloss kurz die Augen und versuchte, alles andere um mich herum auszublenden. Ich schlang die Arme um seine Taille, zog ihn ein Stück zu mir und vergrub mein Gesicht in seiner Halsbeuge. Er roch so gut, immer ganz frisch und warm und … »Hmmm«, machte ich leise und freute mich diebisch, als ich spürte, dass Arthur sofort eine Gänsehaut bekam.

Doch ehe ich etwas dazu sagen konnte, hatte er mit einer Hand meinen Kopf zu sich gehoben – und küsste mich. Und für einen kurzen Moment vergaß ich, dass wir nur durch einen muffigen Vorhang getrennt standen von Bea, die vermutlich einen Herzinfarkt bekommen würde, wenn sie uns hier hinten eng umschlungen erwischte.

Doch Arthur löste sich ohnehin schon wieder von mir – denn wir konnten plötzlich Mariannes Stimme dicht neben uns hören.

»Wollen wir uns nicht da vorne ans Fenster setzen, Bea, Liebes, da ist es ein wenig, äh, heller?«

Danke, Marianne!

»Nein, lass, hier ist es doch wunderbar!«, antwortete Bea, und ich hörte, wie sich jemand auf die Bank setzte.

Ein zweites Knarzen ertönte, sehr viel lauter diesmal, und ein Seufzen. Das war unverkennbar Marianne, und Arthur und ich sahen uns alarmiert an.

Die beiden saßen tatsächlich direkt hinter dem Vorhang, kaum einen Meter von uns entfernt!

Langsam hob Arthur den Zeigefinger an die Lippen, aber der Hinweis war überhaupt nicht nötig. Ich war vor Schreck wie versteinert und rührte mich keinen Millimeter, genau wie er. Erstarrt standen wir da und konnten gar nicht anders, als die Unterhaltung zwischen den beiden von unserem Versteck aus mit anzuhören.

»Ach, Marianne, es ist gerade alles so furchtbar«, hörte ich Bea sagen. Ich konnte praktisch vor mir sehen, wie sie sich zum wiederholten Mal diese eine störrische Haarsträhne aus dem Gesicht strich und dann anfing, an ihrer Nagelhaut herumzuzupfen. Eindeutige Zeichen für ihre innere Unruhe. Nein – für ihr Entsetzen.

Früher hatte sie das im Beisein ihrer Eltern gemacht.

Jetzt reichte allein ein Gedanke an mich in Verbindung mit ihrem Sohn, um sie in genau die gleiche tiefe Verzweiflung zu treiben.

Das machte mich plötzlich sehr, sehr traurig.

»Dann erzähl doch mal«, plapperte Marianne munter weiter. »Was hast du auf dem Herzen? Lief das Konzert im Schloss deiner Eltern gestern nicht gut?«

»Das Konzert? Nein, das heißt – doch, eigentlich lief es ganz gut, auch wenn jede Menge schiefgegangen ist. Aber irgendwie haben wir die Leute alle versorgt bekommen, und die Musiker waren sensationell.«

»Na, das hört sich doch prima an!«

Ich hörte ein lautes Schnauben. »Aber du glaubst ja nicht, was noch passiert ist. Christophs Tochter und Arthur … die beiden … O Gott, ich darf überhaupt nicht daran denken!«

Ich schluckte schwer. Jetzt war ich nicht mal mehr Lina, sondern nur noch Christophs Tochter.

»Was ist denn mit den beiden?« Und an jemand anderen gerichtet: »O doch, das ist alles meins! Ich hab die Tassen nur eben auf dem Nebentisch abgestellt. Dazu nehme ich bitte noch ein Stück Donauwelle.« Die Bedienung murmelte irgendetwas, und während ich Marianne aus tiefstem Herzen für ihre Geistesgegenwart dankte, sagte Bea:

»Und ich nehme zum Hieressen ein Stück Erdbeertorte und zum Mitnehmen gleich noch ein Stück Schwarzwälder Kirsch, einen Käsekuchen und eine Himbeersahneschnitte.«

»Warum denn drei? Ihr seid doch zu sechst zu Hause?«

»Die sind alle für mich. Nervennahrung«, sagte Bea. »Ich verstecke die immer im Kühlschrank in einer Dose und schreibe Harzer Käse darauf, dann nimmt die niemand.«

Arthur hob verblüfft die Augenbrauen, und trotz der schrecklichen Situation musste ich mir auf die Unterlippe beißen, um nicht zu kichern.

Das tat Marianne für mich, bis sie wieder ernst wurde. »Was ist denn nun mit Lina und Arthur?«, fragte sie scheinheilig.

»Sie … sie … sie sind offenbar zusammen!«, platzte es aus Bea heraus.

»Oh!«, rief Marianne fröhlich. »Sie sind verliebt? Das ist doch wunderbar!«

Nichts an ihrer Stimme verriet, dass sie wusste, dass wir uns nur einen Meter neben ihr versteckten. An ihr war echt eine gute Schauspielerin verlorengegangen.

»Das ist überhaupt nicht wunderbar! Das ist eine Katastrophe!«

»Aber warum denn, Schätzchen?«

»Weil … weil …«

Arthur und ich sahen uns gespannt an.

»Weil das nicht richtig ist!«, platzte Bea heraus. »Die beiden sind jetzt so was wie Geschwister, immerhin ist Lina die Tochter meines Partners. Und so sollten sie sich auch benehmen. Hätte Arthur sich nicht eine andere Freundin suchen können, musste es ausgerechnet Lina sein? Vielleicht hat sie ihn ja absichtlich um den Finger gewickelt.«

Ich ballte die Hände neben mir zu Fäusten. Ich ihn um den Finger gewickelt? Für wie berechnend hielt sie mich? Die Bea, die ich da gerade hinter dem Vorhang hörte, erkannte ich kaum wieder.

Arthur spürte meine Aufregung. Er hatte angefangen, mir tröstend über den Rücken zu streichen.

»Ich weiß nicht, was sie sich dabei gedacht haben. Ich meine, schau sie doch an, das sind noch Kinder, vor allem Lina! Für sie ist das vermutlich ein Flirt, die jugendlichen Hormone meinetwegen. Das dauert jetzt zwei, drei Wochen – und was kommt danach? Großes Drama, und daran denkt niemand! Aber ich lasse mir von einer kopflosen Pubertierenden nicht meine neue Familie zerstören!«

Ehe ich etwas sagen oder tun konnte, drückte Arthur mich fest an sich.

»Hör nicht hin«, flüsterte er mir zu. »Bitte, hör nicht hin. Sie weiß nicht, was sie sagt. Keine Ahnung, was mit ihr los ist.«

Ich krallte die Hände in sein Shirt, um mich selbst davon abzuhalten, den Vorhang zur Seite zu reißen und mich zu verteidigen. Ich mochte kopflos sein, ja, vielleicht auch öfter als andere. Aber nicht bei dieser Sache.

Nicht bei Arthur.

Bei Arthur war ich mir so sicher wie bei kaum etwas zuvor in meinem Leben.

Bea beklagte sich noch eine ganze Weile länger bei Marianne, immer mit dem gleichen Kerngedanken: Natürlich war ichdiejenige, die ihrem armen Sohn den Kopf verdreht hatte, und deswegen ganz alleine schuld.

Irgendwann wollte ich einfach nicht mehr zuhören. Ich drückte mich fest an Arthur, was sich so, so gut anfühlte, und zog seinen Kopf zu mir, um ihn zu küssen. Selbst wenn Bea uns in dieser Position erwischen sollte, konnte es ja offenbar kaum noch schlimmer werden. Es sei denn, sie schickten uns beide getrennt voneinander aufs Internat. Aber dann war die Sache mit der heilen Patchworkfamilie für mich sowieso vorbei.

Erst als wir die Bedienung hörten, die bei Bea und Marianne abkassierte, und dann die Bank krachte, weil die beiden aufstanden, lösten wir uns wieder voneinander.

Mir war schwindelig vom Küssen, und vermutlich hatte ich ein ganz rotes Gesicht. Soweit ich erkennen konnte, sah Arthur wie immer recht aufgeräumt aus, bis auf seine Haare, die ich ihm ein wenig verwuschelt hatte.

Sein Herz allerdings galoppierte genauso schnell wie meines, und ich war mir in diesem Augenblick sicher, dass es nicht wegen seiner Mutter war. Und sofort wurde meines dadurch sehr viel leichter.

Sekundenlang standen wir ganz still da, eng umschlungen, und sahen uns an.

Jetzt musste Bea doch endlich mal abdampfen!

»Ich geh noch mal eben aufs Klo!«, sagte sie da auf einmal direkt neben uns, und der Raumteiler wehte verräterisch, als sie keine zehn Zentimeter an uns vorbeirauschte in den kleinen Gang zu den Toiletten.

Hektisch sah Arthur sich um, ob der Vorhang uns noch ausreichend verdeckte. Eine kleine Lücke schloss er, indem er von innen den Stoff an die Wand drückte, so dass wir – hoffentlich – von außen nicht zu sehen waren.

»Sollen wir schnell rausrennen?«, flüsterte ich, doch Arthur schüttelte sofort den Kopf.

»Das schaffen wir nicht, lass uns noch warten. Sie müsste jeden Moment zurück sein.«

»Aber wenn wir jetzt ganz schnell –«

Arthur verstärkte seinen Griff um mich, als ich gerade nach dem Vorhang greifen wollte, und hielt mich bombenfest.

»Nein, warte«, murmelte er.

»Ich geh dann mal!«, rief Bea da auch schon, und zwar links von uns – wieder auf der Caféseite. Wie hatte die das so schnell gemacht?

Arthur zuckte nur mit den Schultern, und wir hielten gespannt die Luft an, bis wir endlich, endlich Beas letzten Gruß und dann die Glöckchen an der Ladentür bimmeln hörten.

Gleichzeitig atmeten wir auf.

»Was für ein Schlamassel«, murmelte ich, und Arthur legte seine Stirn an meine.

Er hauchte mir noch einen letzten Kuss auf die Lippen, ehe er vorsichtig den Vorhang einen kleinen Spalt zur Seite zog.

»Sie ist weg!«, rief Marianne, und nacheinander schälten wir uns aus unserem Versteck.

»Findest du jetzt unsere Geschichte immer noch romantisch?«, fragte ich sie und setzte mich auf einen wackeligen Stuhl an unserem Tisch. Meine heiße Schokolade war in der Zwischenzeit eiskalt geworden, und ich rührte missmutig darin herum.

»Ach, ihr Süßen«, sagte Marianne, schob sich aber trotz ihres besorgten Gesichts ein großes Stück Torte in den Mund.

»Danke, dass du uns nicht verraten hast«, sagte ich, doch Marianne winkte nur mit ihrer Kuchengabel ab.

»Wenn ich nur wüsste, wie ich euch helfen könnte«, nuschelte sie mit vollem Mund.

Ich seufzte. »Das wüsste ich auch gern.«

Arthur setzte sich nicht mehr hin. Er stand wie ein Leibwächter neben mir und sah durch die Fenster zur Straße hinaus. Vielleicht fürchtete er, dass seine Mutter noch mal zurückkommen würde.

»Wir kommen schon klar. Danke«, sagte er langsam, doch ich zuckte hilflos mit den Schultern.

Nach Beas Auftritt eben war ich mir dessen nämlich überhaupt nicht sicher. Und ich hatte keine Ahnung, was ich tun würde, wenn wir uns gleich zu Hause treffen würden.

3

Marianne versuchte, uns zu beruhigen, indem sie uns Geschichten aus ihrer Jugend erzählte und wie oft sie wegen Jungs Ärger mit ihren Eltern hatte. Doch weder Arthur noch ich konnten ihr richtig zuhören, nicht einmal aus Höflichkeit.

Ich hatte keine Ahnung, wie ich Bea jetzt gegenübertreten sollte, nachdem ich ihre Meinung über mich gehört hatte. Ihre echte Meinung. Bisher hatte ich immer gedacht, dass sie mich gut leiden mochte, aber langsam fragte ich mich, ob ich mich nicht in ihr getäuscht hatte. Ob sie schon die ganze Zeit so schlecht von mir dachte?

»Ich geh dann mal vor«, sagte Arthur nach einer Weile, und ich nickte. Wir durften schließlich auf keinen Fall gemeinsam zu Hause ankommen. Deshalb blieb ich bei Marianne am Tisch sitzen, nachdem wir unsere Getränke bezahlt hatten, und Arthur schnappte sich seine Jacke.

Ich wollte ihm zum Abschied gerade zuwinken, als er meine Hand nahm und sich an Marianne wandte. »Entschuldige uns einen Moment«, sagte er, zog mich vom Stuhl und bugsierte mich wieder hinter den roten Miefvorhang.

»Ist sie noch mal zurückgekommen?«, flüsterte ich panisch, doch Arthur schüttelte den Kopf und strich mir eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn.

»Ich wollte mich nur von dir verabschieden, ohne dass uns der Seniorenclub da draußen zusieht.«

Er beugte sich zu mir und hauchte mir unzählige Küsse auf die Wangen, Stirn und meinen Hals und dann auf die Lippen.

»Nur damit du es weißt«, wisperte er, »ich meine es ernst mit dir. Und wenn du in zwei Wochen tatsächlich keine Lust mehr auf mich hast, hast du Pech gehabt. Ich lass dich nämlich nicht mehr gehen.«

Bei diesen Worten schossen mir Tränen in die Augen. Ich wusste, dass er versuchte, Beas Befürchtung ins Lächerliche zu ziehen. Doch nach Lachen war mir leider überhaupt nicht zumute.

»Ich wäre gern so cool wie du«, flüsterte ich zurück und drückte mich an ihn. »Wie machst du das nur?«

»Ich kenne meine Mutter. Die beruhigt sich schon wieder, auch wenn es jetzt nicht so aussieht.«

Dann traten wir wieder aus unserem Versteck hervor. Arthur schlüpfte in seine Jacke, winkte Marianne zu und verschwand dann nach einem letzten Blick über die Schulter aus der Konditorei.

 

Seufzend setzte ich mich wieder zu Marianne und nahm dankbar den Rest ihrer Torte entgegen, den sie mir hinschob. Ich musste jetzt noch ein bisschen Zeit schinden, dann konnte ich auch nach Hause und mich in mein Zimmer verkriechen, um meine Wunden zu lecken. Aber vorerst hörte ich mir Mariannes neueste Geschichte an respektive die ihrer Hüfte, die sie seit Längerem quälte, was ich aus unserem gemeinsamen Tanzkurs wusste.

»Herr Hegemann hat mir jetzt einen Arzt empfohlen, der da ganz neue Behandlungsansätze hat, aber bei dem gibt es eine Warteliste bis zum Sommer. Der wäre meine letzte Hoffnung gewesen, ohne OP aus der Sache rauszukommen«, jammerte sie, als sie der Bedienung winkte, um zu bezahlen.

Die Luft um ihren Kopf herum begann zu flimmern, und ich setzte mich auf, um besser sehen zu können. Mein Herz fing an, aufgeregt zu klopfen, diesmal allerdings vor Freude. Die Zeiten, in denen mich dieses Phänomen erschreckt hatte, waren nämlich vorbei. Ich wusste, was das zu bedeuten hatte: Ich konnte gerade Mariannes allergrößten Wunsch erkennen. Ihren Herzenswunsch.

Und das war offensichtlich ein Arzt – der Arzt für die Hüftsache, vermutlich. Sein Bild schwirrte um sie herum wie ein Hologramm, das nur ich sehen konnte.

»Wie heißt denn dieser Arzt?«, fragte ich beiläufig, während ich nach meinem Anorak griff.

»Dr. Pachala«, sagte Marianne, seufzte schwer und rieb sich wie zur Bestätigung ihre linke Hüfte. »Ich ruf da morgen noch mal an. Aber viel Hoffnung mach ich mir nicht, wenn ich ehrlich bin. Ich habe mich schon damit abgefunden, dass ich operiert werden muss. Hoffen wir mal, dass ein neues Hüftgelenk wirklich keine so große Sache mehr ist, heutzutage.«

»Das wird schon wieder«, sagte ich, und Marianne quiekte überrascht, als ich sie kurz zum Abschied an mich drückte und ihr einen Kuss auf die faltige Wange hauchte.

»Danke noch mal für heute.«

»Ach, Schatz, ich wünschte, ich hätte mehr tun können.«

»Das war mehr als genug. Bis morgen im Tanzkurs«, sagte ich und verließ die Konditorei.

Draußen war es schon dunkel. Der Wind pfiff noch stärker als vorhin um die Hausecken, so dass ich die Nase tief in meinem Schal vergrub und meine Kapuze aufsetzte.

Trotzdem war mir das erste Mal an diesem Nachmittag das Herz ein bisschen leichter, denn Mariannes Herzenswunsch hatte es geschafft, mich ein bisschen von Arthur und unserem Problem abzulenken. Dass ich ihn überhaupt gesehen hatte, dafür gab es einen Grund:

Ich bin eine Fee.

Und genau für diese Art von Wünschen da.

Ja, ich weiß, das klingt völlig verrückt, ich wollte es ja selbst am Anfang kaum wahrhaben. Meine beste Freundin Kim glaubte zwar schon seit Kindertagen an mich, doch so richtig bestätigt hatte mir meine Fähigkeiten schließlich meine Patentante Therese vor ein paar Wochen. Die war auch eine Fee, allerdings zog sie sich gerade aus dem aktiven Geschäft zurück und gab nach und nach ihr Wissen an mich weiter – auch wenn sie ärgerlicherweise ein Fan war von Autodidaktik.

Auf jeden Fall: Ich kann die Herzenswünsche anderer Menschen erfüllen, praktisch mit einem Fingerschnippen.

Früher hatte ich immer gedacht, dass ich diverse Hilfsmittel brauchen würde, um Wünsche zu erfüllen – meine Zeiten mit Parmesanreibe, Kompass und Fruchtquark werden wohl als die peinlichsten meines Lebens in die Geschichte eingehen. Zum Glück braucht es nichts davon – nur mich und die Gewissheit, mit der Erfüllung eines Wunsches genau das Richtige zu tun.

Und dieses Gefühl hatte ich gerade bei Marianne zu hundert Prozent.

Ich konnte ihr zwar nicht den Wunsch erfüllen, plötzlich wieder eine gesunde Hüfte zu haben – Krankheiten heilen ist mehrere Nummern zu groß für uns Feen, genau wie Liebeswünsche oder der Wunsch nach Weltfrieden. Aber ich konnte an anderen Stellen ansetzen.

Ich atmete tief durch, schloss kurz die Augen und formulierte dann in meinem Kopf:

Ich wünsche mir, dass Marianne morgen bei Dr. Pachala sofort einen Termin bekommt, wenn sie dort anruft.

Und während ich eine Straße überquerte, machte ich direkt einen kleinen Luftsprung. Meine Wunscherfüllung hatte schon funktioniert, das spürte ich in jeder Faser meines Körpers. Denn ein erfüllter Wunsch fühlt sich an wie heißer Kakao, den man an einem eiskalten Wintertag trinkt. Es ist fast so ein schönes Gefühl wie Verliebtsein.

Fast so schön, wie Arthur zu küssen.

Doch wie alles Gute hat auch das Feendasein seine Schattenseiten. Es gibt nämlich nicht nur gute Feen wie mich – zumindest sind meine Absichten immer die allerbesten, auch wenn das Ergebnis manchmal nicht so hinhaut –, es gibt auch böse Feen. Fiese Feen. Feen, die Spaß daran haben, anderen Menschen das Leben schwerzumachen, einfach, weil sie es können.

Und eine davon war Senta.

Sie ging in meine Parallelklasse, war klein und zierlich, hatte einen dunklen Pagenkopf, strahlend grüne Augen und leider eine völlig falsche Auffassung von Moral.

Und sie hatte genau wie ich die Fähigkeit, Wünsche zu erfüllen. Im Gegensatz zu mir hatte sie sich allerdings entschieden, sie nur zu ihrem eigenen Besten einzusetzen. Und dafür, anderen, allen voran mir, zu schaden. Gleichzeitig war sie äußerst geschickt darin, ihre Skrupellosigkeit zu verbergen, denn sie hatte erst gestern Abend, während des Winterkonzerts, ihre Maske fallen lassen, dabei hatte sie mich schon seit Wochen manipuliert und beobachtet. Gestern Abend im Schloss von Arthurs Großeltern hatte es den großen Knall gegeben. Und ich wusste, dass Senta zu allem, aber auch wirklich allem fähig war. Was mir große Sorgen bereitete.

Ich war mittlerweile in der Königinstraße angekommen. Hier wohnte unsere Patchworkfamilie, das heißt, genau genommen waren es zwei Häuser, in denen wir lebten. Papa, Mats und ich wohnten in der Nummer 26, Bea von Bergen und die Zwillinge direkt daneben in der 24. Allerdings hatten wir zwischen den Häusern einen Durchbruch gemacht, so dass wir nicht ständig rauf- und wieder runterlaufen mussten.

Ich schloss die Haustür auf und stieß fast mit Mandy zusammen, die im Erdgeschoss wohnte.

»Entschuldigung«, murmelte ich und trat zur Seite, weil sie mich giftig anfunkelte. Die Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht, und unter den Augen zeichneten sich tiefe Augenringe ab. Mandy war zwar sonst rein erscheinungsmäßig auch ein bisschen strange, denn sie hatte einen Hang zu Blümchenfrotteeteilen, aber heute war es anders. Ihr Kummer umgab sie wie eine Blase, ich konnte praktisch spüren, wie traurig sie war, und ich wusste auch, wieso: Ihr langjähriger Freund Ralf hatte sie letzte Woche verlassen.

Sie war am Boden zerstört deswegen, dazu brauchte ich noch nicht mal meine Fähigkeit, Herzenswünsche zu sehen.

Ob sie wusste, dass Ralf sich in Heiko Flöter von nebenan verliebt hatte?

Bei dem Blick, den sie mir im Hinausgehen zuwarf, würde ich es jedenfalls nicht sein, die ihr diese Nachricht überbrachte. Auch wenn sie mich nie besonders nett behandelte, wollte ich ihr nicht auch noch diesen Stoß versetzen. Denn sie lag ja schon längst am Boden.

Als ich unsere Wohnung betrat, überraschte es mich, dass die Brandschutztür, die zwischen unserer und Beas Wohnung eingebaut worden war, offen stand. Trotzdem verzichtete ich darauf, nach drüben zu gehen, denn außer Bea wohnten da im Moment auch noch Arthurs adelige Von-und-zu-Großeltern, weil in ihrem Schloss die Heizung ausgefallen war. Und im Gegensatz zu Bea hassten die mich nicht erst seit gestern.

Ich seufzte, zog Jacke und Schuhe aus und tappte in unsere Küche. Mats saß mit seinem Handy auf der Bank und sah auf, als ich ihm müde zuwinkte.

Ich nahm mir ein Glas aus dem Schrank und ließ mich neben ihn auf einen Stuhl fallen.

»Wie war’s bei Kim?«, fragte er.

»Schrecklich. Sie kann gar nicht aufhören zu weinen«, sagte ich und schnappte mir die Wasserflasche vom Tisch.

»Ich hab echt noch nie viel von Moritz gehalten, aber dass er vor ihren Augen mit Senta rummacht, das war echt das Allerletzte.«

Und das war es, von Moritz und Senta. Senta hatte wirklich ein rabenschwarzes Herz, und es hatte meins gebrochen, dass Kimmi sich die Augen aus dem Kopf weinte. Ich hatte den Tag über nicht viel mehr machen können, als neben ihr zu sitzen und Taschentücher anzureichen. Und ihr ständig zu versichern, dass Moritz sie nicht verdient hätte.

Was er wirklich, wirklich nicht tat, der Idiot.

»Ich wusste überhaupt nicht mehr, wie ich sie trösten soll«, sagte ich zu meinem Bruder.

Mats nickte langsam, und ich fragte vorsichtig:

»Und wie ist hier die Stimmung?«

»Geht so. Bea ist, glaube ich … ziemlich durcheinander«, sagte er mit einem Seitenblick, und ich nickte.

Das war nett umschrieben, aber vorhin in der Konditorei hatte ich ja ohnehin erfahren müssen, was sie wirklich dachte.

»Ich weiß echt gar nicht, warum die sich so aufregen.«

Plötzlich spürte ich Mats’ Hand auf meiner Schulter. »Gib ihnen einfach Zeit. Bea und Papa werden sich sicher bald daran gewöhnen, dass ihr beiden eine Geschmacksverirrung erlitten und euch ineinander verliebt habt.« Er zwinkerte mir zu, und ich musste trotz meiner Verzweiflung lachen.

»Bist du sicher?«

Er zuckte fröhlich mit den Schultern. »Klar. Nächste Woche ist das für die das Normalste auf der Welt. Wetten?«

Ich wollte gerade etwas erwidern, als plötzlich ein markerschütternder Schrei durch unseren Flur gellte.

»Lina!!! Wo steckst du???«

Erschrocken zuckten wir beide zusammen.

Draußen im Flur hörte ich schwere Schritte, und Türen wurden auf- und wieder zugemacht.

»Lina!!!«

»Papa?« Ich wollte aufspringen, aber Mats hielt mich zurück.

»Warte hier einen Moment«, sagte er mit finsterer Miene. »Ich glaube, ich muss da mal was klären.«

Mit zittrigen Knien ließ ich mich wieder auf den Stuhl fallen, als er aus der Küche stürmte.

»Wo ist Lina?«, bellte Papa und polterte durch den Gang in Richtung Mauerdurchbruch. Ich sah ihn bildlich vor mir, wie er wutentbrannt nach drüben stampfte und Arthurs Zimmertür aufriss, hinter der er mich offensichtlich vermutete.

Doch dann hörte ich Mats.

»Sie ist in der Küche!«, rief er, und draußen wurde es mucksmäuschenstill.

»Sagt mal, drehen hier jetzt alle durch? Wo soll sie denn sonst sein?«

Beim Ausbruch meines Bruders schossen mir die Tränen in die Augen, obwohl ich das gar nicht wollte.

Aber ich war so erschöpft, noch von gestern, aber hauptsächlich von dem, was Bea vorhin gesagt hatte. Und trotzdem war ich froh, dass wir sie heute belauscht hatten, denn damit war mir schneller klargeworden, wie die Stimmung Arthur und mir gegenüber wirklich war. Auch wenn ich gehofft hatte, dass Papa nicht ganz so extrem dachte wie sie und sich auch nicht aufhetzen ließ.

Tja. Da hatte ich mich wohl getäuscht.

Draußen hörte ich leises Murmeln, dann ging die Tür wieder auf, und Mats kam zurück. Er schnaubte und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare.