Glück und wieder! - Dagmar Bach - E-Book

Glück und wieder! E-Book

Dagmar Bach

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Beschreibung

Geheime Wünsche, eine moderne Fee und jede Menge romantisches Liebeschaos – Bestsellerautorin Dagmar Bachs (»Zimt & weg«) zweite große Trilogie lässt Herzenswünsche wahr werden! Lina kann es immer noch nicht glauben: Sie ist tatsächlich eine echte Fee, und sie kann Wünsche erfüllen! Nur – warum funktioniert es dann manchmal nicht? Warum scheint sie manchen Menschen die falschen Wünsche zu erfüllen und damit alles schrecklich kompliziert zu machen? Noch dazu wird das Zusammenleben innerhalb der frisch zusammengewürfelten Patchworkfamilie auf einige harte Proben gestellt, neue Nachbarn bringen den Hausfrieden durcheinander, und sowieso ist Lina bis über beide Ohren so verliebt, dass es ihr schwerfällt, in dem ganzen Chaos einen klaren Kopf zu bewahren. Doch den hätte sie dringend nötig. Denn offenbar weiß irgendjemand über ihre magische Fähigkeit ganz genau Bescheid. Und der – oder die? – führt nichts Gutes im Schilde … Der zweite Band der »Glück«-Trilogie von Bestsellerautorin Dagmar Bach macht rundum glücklich – wieder und wieder! Fortsetzung folgt! Alle Bände der Trilogie: Band 1: »Glück & los!« Band 2: »Glück & wieder!« Band 3: »Glück & selig!«

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Seitenzahl: 428

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Dagmar Bach

Glück und wieder!

Lina und die Sache mit den Wünschen Band 2

Roman

Inka Vigh

FISCHER E-Books

Teil Zwei

Inhalt

Für Tina12345678910111213141516171819202122232425262728Liebe Leserinnen und Leser,

Für Tina

1

An diesem Sonntag war ich sehr früh wach, schon seit sechs Uhr morgens. Dabei hatte ich nur drei Stunden Schlaf bekommen, aber ich war so fit, als ob ich komplett durchgeschlafen hätte. Vielleicht lag das aber auch am Adrenalin, das wegen der Vorfälle am vergangenen Abend noch immer durch meine Adern pumpte und meinen Körper entsprechend einsatzbereit machte.

Bereit – und hungrig. Gestern hatte ich vor Aufregung kaum einen Bissen heruntergebracht, aber jetzt knurrte mein Magen über drei Oktaven. In unserer Küche war nur leider nichts zu holen, weil alles für die Party drüben gebraucht wurde, also tapste ich nach einer schnellen Dusche in Richtung Mauerdurchbruch. Der war vor ein paar Wochen gemacht worden, nachdem mein Papa und seine Freundin Bea von Bergen gemerkt hatten, dass sie gar nicht über eine gemeinsame Wohnung nachdenken mussten – weil sie nämlich schon direkt nebeneinander wohnten. Zwar nicht im selben Haus, dafür im gleichen Stockwerk. Mit großem Getöse wurde ein Loch in die Wand geschnitten und eine schwere Brandschutztür eingesetzt. Die stand aber fast immer offen, und so schlüpfte ich durch den Durchgang und schlich auf Socken den Flur entlang, um niemanden zu wecken.

Die Wohnung von Bea und ihren beiden Söhnen war riesig, aber ich hatte mich hier vom ersten Moment an wie zu Hause gefühlt. Doch als ich am Ende des Flurs um die Ecke bog und die große Wohnküche betrat, blieb ich wie angewurzelt stehen.

Denn da war schon jemand in der Küche.

Ich stutzte, aber nur einen Sekundenbruchteil. Denn mittlerweile konnte ich die beiden von-Bergen-Zwillinge Vincent und Arthur im Schlaf auseinanderhalten.

Und das hier war eindeutig Arthur, der an der Kaffeemaschine stand. Denn während ich nach ein paar Anlaufschwierigkeiten Vincent als neuen Bruder in mein Herz geschlossen hatte, löste Arthur ganz andere Gefühle in mir aus.

War das gestern Abend alles wirklich geschehen? Hatte Arthur mich in unserer Küche abgefangen, um mir zu sagen, dass er mich … mochte? Und war ich ihm hinterher tatsächlich nachgelaufen und hatte ihm wiederum gestanden, dass ich ebenfalls in ihn verliebt war? Oder war das alles ein viel zu schöner Traum gewesen?

Ein dümmliches Grinsen schlich über meine Lippen.

Nein, das war kein Traum.

Das war mir, Lina Hansson, fünfzehn Jahre alt, halbe Schwedin, Quasselstrippe und designierte Glücksfee, tatsächlich passiert.

Unglaublich.

Wie auf Befehl machten meine Eingeweide bei seinem Anblick vor Freude Purzelbäume.

»Guten Morgen«, krächzte ich, und Arthur drehte sich erstaunt um.

»Guten Morgen. Was machst du denn schon hier?« Er lächelte ganz leicht, was mir eine Gänsehaut bescherte.

»Konnte nicht mehr schlafen. Und du?«

»Ich auch nicht.« Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Außerdem haben wir heute ein Eishockeyspiel. Auswärts. Ich werde um zehn von Luca und seinem Dad abgeholt. Vincent kann ja wegen seines Bänderrisses nicht mit.«

Ich versuchte, nicht allzu enttäuscht zu gucken. Die letzten Tage ging es hier so hektisch zu, und gestern hatten geschätzt hundert Leute diese Küche belagert. Es sah auch immer noch ganz schön chaotisch aus: In einer Ecke stapelten sich leere Getränkekisten, kaum ein Möbelstück stand noch an seinem Platz, und auf der Küchenzeile türmte sich benutztes Geschirr und Gläser, weil längst nicht alles in die Spülmaschine gepasst hatte. Umso mehr hatte ich mich auf einen entspannten Sonntag im Kreise aller Familienmitglieder gefreut. Ganz besonders mit einem. Doch das war dann wohl hinfällig.

Arthur sah auf die Uhr, als ob er meine Gedanken lesen konnte. »Aber es ist ja erst halb acht. Und ich glaube, so schnell lässt sich hier niemand blicken. Mama und Christoph sind nämlich vorhin erst ins Bett gegangen, hab sie eben noch getroffen. Ich hätte gar nicht gedacht, dass die so eine Ausdauer beim Feiern haben.«

Ich grinste. »Und Mats schläft am Wochenende immer mindestens bis zehn.«

»Vincent auch.« Arthur deutete auf die Maschine. »Magst du auch Kaffee?«

»Nur Milchschaum, bitte. Für Kakao.«

Ich schob mich auf einen der Barhocker, die rund um den Küchentresen standen, während Arthur an der Kaffeemaschine hantierte. Bei seinem Anblick hatte ich plötzlich ganz zittrige Knie. Fast war ich froh, dass wir uns bei unserem ersten Kennenlernen nicht so gut verstanden hatten – gelinde gesagt. Deswegen hatte ich nicht so genau darauf geachtet, wie gut er aussah. Hätte ich das getan und wäre er vor allem da schon so nett zu mir gewesen wie in den letzten Wochen, wäre ich ihm vermutlich von der ersten Minute an verfallen gewesen.

Dabei gab er sich noch nicht mal viel Mühe mit seinem Äußeren. Zum Beispiel trug er heute Morgen nur eine schwarze Jogginghose mit dem Eisbär-Logo seiner Mannschaft auf der Tasche und dazu ein graues Langarmshirt. Und seine dunkelbraunen Haare hatte er maximal mit den Händen durchgekämmt. Trotzdem …

Er setzte sich über Eck zu mir an den Tresen, zusammen mit einem riesigen Becher Kaffee. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir so schnell Zeit alleine haben werden«, murmelte er und schob mir eine Tasse mit Milchschaum und die Kakaopackung hin.

»Ich auch nicht.« Ich schluckte. »Aber ich hab mich heute Morgen sowieso gefragt, ob das wirklich alles passiert ist.«

»Ist es.« Er verzog den Mund zu einem halben Lächeln. »Aber war das echt erst gestern Abend? Mir kommt es vor, als ob mindestens ein Jahr vergangen ist.«

»Geht mir genauso.«

Normalerweise war Arthur superbeherrscht und souverän. Ein Fels in der Brandung. Sogar gestern Abend, bei unserem Gespräch, war er cool, obwohl ich wusste, dass er nervös war. Angemerkt hat man ihm das aber nicht. Doch heute Morgen schien das zur Abwechslung ein bisschen anders zu sein. Er spielte die ganze Zeit mit seinem Löffel und wippte dazu mit dem Knie, weswegen ich ihn noch süßer fand als sonst schon.

Schließlich sagte er: »Okay, dann nutzen wir mal die Gelegenheit, würde ich sagen. Ich weiß nämlich wirklich viel zu wenig über dich. Und wie hast du neulich so schön bei Therese gesagt? Ich stelle eine Frage, du antwortest, dann kannst du gerne was fragen.«

»Da hat aber jemand gut aufgepasst. Na schön. Okay.« Ich trank einen Schluck und leckte mir den Milchbart ab. »Dann frag mich was, bevor ich wieder nervös werde und unkontrolliert losquatsche.«

Er sah mich kurz an, ehe er leise sagte: »Mit deinem Gequatsche hattest du mich schon damals am Flughafen.«

Wohlige Wärme breitete sich in meinem Bauch aus. Arthur hatte sich tatsächlich auf den ersten Blick in mich verliebt. Vor gefühlt tausend Wochen, als wir ihn und Vincent nach seinem Kanada-Austauschjahr abgeholt hatten und ich die beiden vor Aufregung erst mal zugetextet hatte.

Allerdings hatte ich davon erst gestern erfahren. Genau während Bea eine große Party geschmissen hatte. Bei dem Fest hatten wir uns irgendwann verdrückt – um uns letztendlich zu gestehen, dass wir ineinander verliebt waren.

Natürlich mussten wir danach noch irgendwie die Party hinter uns bringen. Kurz vor drei Uhr war ich völlig erledigt ins Bett gefallen, obwohl ich eigentlich so aufgedreht war. Arthur wurde nach unserem Gespräch sofort von unserem Nachbarn Ralf belagert, der nach ein paar Gläsern Bowle endlich aufgetaut war und ihn ab da über die Eishockeymannschaft ausgequetscht hatte. Und nachdem Arthur ihm auch noch einen Fanschal von den Icebears geschenkt hatte, war er ihm überhaupt nicht mehr von der Seite gewichen. Sehr zu meinem Leidwesen, denn so konnten wir uns nur ab und zu heimlich zulächeln, wenn sonst keiner hinguckte.

Erzählen wollten wir nämlich noch niemandem von uns. Denn erstens war die Sache einfach so schräg, dass wir sie selbst kaum glauben konnten – ich meine, wie klischeehaft ist es, sich ausgerechnet in den Stiefbruder zu verlieben? Und zweitens waren wir ja nicht zusammen. Glaubte ich jedenfalls. Wir wollten uns ja erst mal kennenlernen. Und für den Fall, dass wir uns danach noch besser leiden konnten, würde es erst recht kompliziert werden, schließlich mussten wir auch weiterhin als Familie gut funktionieren, das wollten wir auf gar keinen Fall aufs Spiel setzen. Wo es doch gerade anfing, so richtig gut zu werden mit dieser Patchworksache.

Arthur räusperte sich. »Okay, also – warum hast du gestern Abend plötzlich doch erraten, dass ich in dich verliebt bin? Ich dachte nämlich, dass es wahrscheinlich eher die ganze Schule bemerkt als du. Oder unsere Eltern.«

Ich fühlte mich ertappt. »Oh. Hm.« Das war nicht so einfach. Denn vermutlich hätte ich es von mir aus tatsächlich niemals erraten, weil ich wie ein blindes Huhn durch die Gegend gestolpert bin.

Aber die Sache war die: In den letzten Wochen war außer unserem neuen Leben mit den von Bergens noch etwas passiert, das ich immer noch nicht recht glauben konnte, so abgefahren ist es. Meine Patin Therese ist die Einzige, die darüber Bescheid weiß, und es ist schwer zu erklären. Nur so viel: Ich kann hin und wieder die Herzenswünsche anderer Menschen sehen. Und das hat … na ja, sagen wir mal: Konsequenzen.

Manchmal jedenfalls.

Gestern war es wieder passiert. Und zwar hatte ich eher zufällig den von Arthur gesehen – der mich komplett umgehauen hatte, weil er offenbar so verliebt in mich war, dass ich selbst sein einziger, großer Wunsch war. Ich hatte also nicht erraten, dass er mich mochte – ich hatte es gesehen, in diesem merkwürdigen Flimmern um seinen Kopf. Das konnte ich ihm natürlich nicht so sagen, denn sonst würde er mich für verrückt erklären. Und das wäre dann doch ziemlich schade, denn ich mochte ihn ja so sehr.

Aber ehe ich mir eine geschickte Antwort auf seine Frage ausdenken konnte, gellte ein schrilles Klingeln durch die Küche, so dass wir beide auf unseren Barhockern nach oben schreckten.

»Mist«, murmelte er, sprang auf und lief durch den Raum, um das Mobilteil des Telefons zu holen. »Mama hat den Klingelton wegen der Party gestern ganz laut gestellt, hoffentlich sind die anderen jetzt nicht aufgewacht.« Er tippte mit flinken Fingern auf dem Gerät herum, bis es nur noch leise fiepte.

»Willst du nicht rangehen?«

»Nö. Ich kenne noch nicht mal die Vorwahl, da will uns bestimmt nur jemand was verkaufen.«

Er legte das Gerät vor uns auf den Tresen, wo es wieder verstummte, und lächelte. »Also, woher wusstest du, dass ich mich in dich verliebt habe?«

»Also, ich, äh –«

Da, schon wieder. Diesmal empfand ich das Klingeln allerdings als Rettung – nur war es nicht das Telefon, sondern die Türglocke.

»Sonntagfrüh? Echt jetzt?« Arthur verzog das Gesicht, stand aber trotzdem auf. »Ich sehe mal nach, ja? Und du bleibst schön hier, wir sind noch nicht fertig.«

Ich grinste wieder wie eine Bekloppte, während er im Flur verschwand.

Doch das Lachen verging mir, als das Telefon wieder läutete und ich zeitgleich Arthur leise fluchen hörte.

Ich rutschte von meinem Hocker und nahm den Anruf an.

»Hallo?«

»Bea, bist du das? O Gott, ich bin ja so froh, dass ich dich erwische, ich hab mir schon die schlimmsten Szenarien ausgemalt, dass ihr gar nicht da seid, ich hatte nichts mehr von dir gehört …«

»Entschuldigung, hier ist Lina. Wer ist denn da?«

»Lina? Ach, hi, hier ist Meg King, wir haben uns neulich kennengelernt, du kennst meine Tochter Vicky. Ist sie schon da?«

»Wer, Vicky?« Ich war verwirrt. Vicky stammte aus einer Kleinstadt etwa eine Stunde von hier. Ihre Eltern hatten vor ein paar Wochen einen Kochkurs bei Bea gemacht, dabei hatten wir uns kennengelernt und auf Anhieb super verstanden. Aber es war bestimmt eine Woche her, dass wir getextet hatten, und sie hatte nichts davon erwähnt, in die Stadt zu kommen.

»Nein, nicht Vicky«, sagte ihre Mutter, während ich mich mit dem Hörer am Ohr auf den Weg zu Arthur in den Flur machte. »Priscilla. Du weißt schon, die, die heute bei euch unten im Haus in die leere Wohnung einzieht.«

Irgendwo in meinem Hinterkopf klingelte es. »Aber das ist doch nicht heute«, sagte ich verwirrt. »Sondern erst nächste Woche. Oder?«

Ich war mittlerweile bei Arthur angekommen, der die Wohnungstür aufhielt und wieder sein unergründliches Gesicht aufgesetzt hatte. Damit sah er immer ein bisschen furchteinflößend aus, das war aber hundertprozentig von ihm auch so beabsichtigt. Ich war mir sicher, dass das ganz prima gegen Einbrecher und die Zeugen Jehovas helfen würde.

Klappernde Schritte waren im Treppenhaus zu hören, vermischt mit lauten Motorengeräuschen von der Straße, die bis zu uns nach oben hallten.

»Wer ist das?«, zischte ich Arthur zu, und im gleichen Augenblick kam eine Frau den letzten Treppenabsatz herauf und blieb schnaufend vor der Wohnungstür stehen.

Ich hörte Arthur neben mir tief Luft holen, und ich selbst kämpfte gegen den Drang, mein Gegenüber mit offenem Mund anzustarren.

Megs Stimme drang wieder an mein Ohr. »Nein, der Umzug ist dieses Wochenende. Bea hatte mich gebeten, anzurufen, wenn der Umzugswagen hier los ist, aber das hab ich vor lauter Stress vergessen. Priscilla müsste jeden Moment bei euch sein.«

Ich schluckte. »Priscilla.«

»Aha!«, sagte die Frau. »Mein Ruf eilt mir sogar hier voraus, was?« Ihre Stimme hörte sich an, als ob sie sich ein Megaphon an den Mund hielt. Laut und tief und rauchig und trotzdem irgendwie schrill. Und damit hundertprozentig passend zu ihrer Erscheinung. Die war nämlich Reizüberflutung pur.

Mechanisch sagte ich zu Meg in den Hörer: »Ich glaube, sie ist soeben angekommen.«

 

Priscilla hielt sich nicht mit Höflichkeitsfloskeln auf. Obwohl Arthur trotz seiner Überraschung immer noch die Ausstrahlung eines ultrastrengen Türstehers hatte, schob unsere neue Nachbarin sich einfach laut schwatzend an uns vorbei in den Flur.

»Ist das Meg am Telefon? Kann ich sie kurz sprechen?«

Ich nickte. Priscilla nahm den Hörer und ging im Flur vor uns hin und her, als ob sie hier zu Hause wäre und Arthur und ich die Gäste, die doof auf der Schwelle herumstanden. Doch weil sie uns dadurch den Rücken zuwendete, konnte ich sie wenigstens ungeniert ansehen.

Priscilla war eine Zeitreisende. Es musste einfach so sein. Sie war direkt aus dem Amerika der 1950er Jahre hierher zu uns gesprungen. Sie trug ein schwarzes, fluffiges Petticoatkleid mit kleinen weißen Punkten, Riemchenpumps und eine kurze Lederjacke. Um den Kopf hatte sie ein rotes Tüchlein, das sie raffiniert geknotet hatte und das ihre blauschwarz gefärbten Haare aus dem Gesicht hielt. Und dann das Make-up: falsche Wimpern, breiter Lidstrich, Apfelbäckchen und knallrote Lippen. Sonntagmorgens um halb acht.

Ich war so damit beschäftigt, sie anzusehen, dass ich gar nicht hörte, was sie am Telefon mit Meg besprach – denn sie war ein Kunstwerk, wirklich wahr. Das war keine Verkleidung, das war ein Outfit. Ein Lifestyle. Eine Lebenseinstellung.

Diese Frau war der personifizierte Rock ’n’ Roll.

In diesem Moment beendete sie das Gespräch und drückte mir das Telefon wieder in die Hand, ohne mich allerdings weiter zu beachten. Denn sie taxierte ihrerseits Arthur. Mit der Aufmerksamkeit eines Raubtiers für ein unschuldiges Antilopenbaby.

»Hübsche Muskeln, Junge, überhaupt, diese breiten Schultern! Und dazu noch diese silbergrauen Augen … wenn du ein paar Jährchen älter wärst, wärst du genau mein Typ!«

Arthurs Gesichtszüge entgleisten für einen winzigen Moment, und ich musste mir auf die Unterlippe beißen, um nicht laut loszulachen angesichts seines Entsetzens.

Denn Priscilla musste schon irgendwo jenseits der vierzig sein, wahrscheinlich auch der fünfzig. Das war schwer zu sagen, aber aus der Nähe schien sie doch nicht mehr ganz so jung, wie sie noch vorhin im Treppenhaus gewirkt hatte.

Plötzlich bewegte sich etwas am anderen Ende des Flurs. Und als ich Papa entdeckte, der völlig verschlafen aus dem Schlafzimmer kam, weil er zweifellos von Priscillas lautem Organ geweckt worden war, atmete ich erleichtert auf.

»Papa, das ist Priscilla. Sie zieht heute schon in die Wohnung unten ein.«

»Du lieber Himmel«, murmelte er und kratzte sich am Kopf. »Das war heute?«

»Rauschendes Fest gestern, was?«, dröhnte da Priscilla und lachte. »Da hab ich mir ja genau das richtige Haus ausgesucht, ich liebe Partys!« Und obwohl ihre Lache so laut und derb war, hatte sie was Ansteckendes, und ich musste ebenfalls kichern.

Hinter Papa war Bea aufgetaucht, und die sah noch zerstörter aus als er. Ihre Schlafmaske hatte Druckstellen in die Haut rund um ihre Augen gegraben, so dass sie aussah wie ein kleiner strubbeliger Waschbär.

»Du meine Güte … Priscilla … wie konnte ich das nur vergessen?« Sie wankte auf uns zu, in ihren Bademantel war sie nur mit einem Arm geschlüpft, der Rest schleifte hinter ihr am Fußboden. Normalerweise war Bea wunderhübsch und immer irgendwie adrett, selbst wenn sie nur zu Hause war und bequeme Sachen trug. Aber an diesem Morgen war sie einfach nur fertig.

Die Ärmste.

Priscilla zog ihre geschwungenen Augenbrauen nach oben.

»Oje, ich komme wohl wirklich ungelegen. Ich hätte doch selbst noch mal anrufen sollen, na ja, egal, jetzt ist es auch zu spät. Aber heißt das, ich habe jetzt keine Umzugshelfer? Unten steht schon der Lkw, der muss bis heute Mittag leer sein.«

»Nein, das schaffen wir schon, ich zieh mich nur eben an, ja? Das klappt schon irgendwie, wir kriegen das hin«, nuschelte Bea wie ein Mantra, vermutlich mehr zu sich selbst, und winkte Priscilla, ihr zu folgen. »Aber ich brauch erst mal Kaffee.«

»Gute Idee!«, sagte die und lief mit laut klackernden Schuhen hinter ihr her.

Papa war im Bad verschwunden, und so blieben Arthur und ich zurück.

»Das war’s dann wohl für heute Morgen. Zurück in den Familienmodus, oder?«, murmelte er mir fast unhörbar zu, und ich nickte enttäuscht.

Das mit der ungestörten Zweisamkeit sollte wohl doch nicht so schnell wahr werden.

 

Als wir Priscilla in die Küche folgten, stand die dort schon wie ein Pfau in der Mitte des Raumes, sah sich um – und kommentierte alles, was sie sah.

»Bea, du hast ja wirklich ein Händchen. Wenn ich nicht so ein Fan der Fünfziger wäre, würde ich es unten genauso machen. Diese Wandfarbe, und dazu diese Sesselchen … wo hast du die denn her? Ich hab ja neulich auf dem Flohmarkt solche gesehen, die hatten aber irgendwie eine andere Lehne und waren überhaupt grün, aber ganz ähnlich, und ich hatte schon überlegt …«

Priscilla plapperte und plapperte und hörte deswegen auch Beas leises Stöhnen nicht. Arthur hatte das Kaffeemachen übernommen, weil seine Mutter dazu eindeutig noch nicht in der Lage war. Die hatte sich nämlich auf einen Barhocker gesetzt und klammerte sich möglichst unauffällig am Tresen fest, um nicht vom Sitz zu kippen, während Priscilla lautstark vor sich hin schwadronierte.

»Zum Glück hab ich nicht viel getrunken gestern, sonst wäre ich jetzt tot«, murmelte Bea mir zu. »Aber ich war gerade in der ersten Tiefschlafphase, als ich von dem Lärm aufgewacht bin, ich wusste erst gar nicht, wo ich bin.«

Arthur schob ihr und Priscilla einen Cappuccino hin, und Bea lächelte.

»Dankeschön«, nuschelte sie und nahm vorsichtig einen Schluck.

In diesem Moment kam Papa herein, in seiner typischen Cargohosen-T-Shirt-Kombi, die er zu Hause praktisch immer trug. Das verkaterte Gesicht allerdings sah man nur selten.

»Ich hab Vincent und Mats geweckt«, sagte er und holte sich eine Flasche Cola aus den Party-Getränkekisten. »Schließlich wollten die sich ja auch was mit dem Helfen dazuverdienen.«

Kaum hatte er es ausgesprochen, kamen meine beiden anderen Brüder in die Küche – der echte und der neue. Jeweils in Jogginghose und T-Shirt, ungekämmt – und augenscheinlich völlig überrumpelt von Priscillas Erscheinungsbild.

»Was sind Sie denn?«, fragte Vincent und rieb sich über die Augen, als ob er nicht glauben konnte, was er da sah.

Doch Priscilla strahlte die beiden nur an.

»Ach, ihr Schnuckelchen, ihr seid mir ja jetzt schon sympathisch. Meg hatte schon von eurer Patchworkfamilie erzählt, ich war sooo neugierig! Aber sagt mal – wer gehört denn jetzt zu wem?«

»Wie – wer gehört zu wem?«, fragte Mats und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ist das jetzt ernst gemeint?«

Wir standen oder saßen mittlerweile alle um den Küchenblock. Bea, Vincent und Arthur mit dunkelbraunen Haaren und grauen Augen. Mats und ich schwedisch hellblond und blauäugig wie aus Lindgrens Klassikern, Papa mittelblond – die Sache war mehr als eindeutig.

»Hm, ja, jetzt, wenn ich genauer hinschaue …«, sagte Priscilla und strahlte in die Runde. »Egal, jedenfalls seht ihr so aus, als ob das mit dem Umzug im Nullkommanichts erledigt ist.« Sie klatschte in die Hände. »Als Dankeschön bekommt ihr auch alle eine kostenlose Frisur von mir.«

Stimmt, Bea hatte erzählt, dass die neue Nachbarin Friseurin war.

Sie nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. »Die dunklen Haare der Jungs würden sich wahnsinnig gut für die typische Elvistolle eignen! Und aus dir« – sie zeigte mit ihrem rosa Fingernagel auf Mats –, »aus dir mache ich Eddie Cochran!«

Und leise vor sich hin summend ging sie zu ihrer Kaffeetasse und nahm einen Schluck.

There ain’t no cure for the Summertime Blues.

Mats riss erschrocken die Augen auf.

»Ich gehe dann schon mal runter zum Lkw«, sagte Arthur schnell, und Mats nickte hektisch.

»Ich komme mit.«

Damit trollten sich die Jungs, Vincent folgte ihnen auf dem Fuße, und auch ich rutschte von meinem Barhocker. Doch ehe ich die Küche verließ, drehte ich mich noch mal um und ertappte Priscilla bei einem wissenden Lächeln.

»Du hast die Jungs absichtlich erschreckt, damit sie endlich loslegen!«, sagte ich, als die drei außer Hörweite waren.

Entschuldigend zuckte sie mit den Schultern, ehe sie in aller Seelenruhe den letzten Rest Milchschaum aus ihrer Tasse löffelte. »Ich muss nun mal den Umzugswagen pünktlich zurückbringen.« Sie zwinkerte mir zu, und ich musste lachen.

»Willkommen im Haus!«, sagte ich, und sie kam strahlend auf mich zu.

»Und ihr bekommt natürlich den vereinbarten Stundenlohn, keine Angst.«

Damit hakte sie sich bei mir unter, und gemeinsam gingen wir die Treppe nach unten, wo die Arbeit auf uns wartete.

Auch wenn Priscilla ein bisschen verrückt war – irgendwie mochte ich sie jetzt schon. Langweilig würde uns mit ihr auf jeden Fall nicht werden.

2

Es gab zwei Wohnungen im Erdgeschoss. In einer von beiden wohnte ein Anwalt, der mehr in seinem Büro lebte als hier, denn ich hatte ihn bisher nur ein-, zweimal gesehen, und auch das nur von hinten. Die andere öffnete Priscilla uns in diesem Moment und ließ Arthur und mich ein – Mats und Vincent zogen sich gerade noch an.

»Ich hab drei Zimmer, aber eines bleibt erst mal leer, ich möchte mir noch einen Mitbewohner suchen, macht ja so viel mehr Spaß, als wenn man alleine in seiner Bude hockt.«

Die Wohnung war kleiner und anders geschnitten als die von Bea, aber trotzdem schön: das gleiche tolle Altbauprogramm, mit Fischgrätparkett und ewig hohen Stuckdecken wie bei uns oben.

»Ich zeig euch mal alles, damit ihr die Kisten gleich richtig sortieren könnt. Hier rechts haben wir Bad und Küche, dann links das Wohnzimmer und mein Schlafzimmer im Anschluss –«

Wir folgten ihr, und beim Anblick der Wandfarbe hörte ich Arthur hinter mir kurz aufjapsen.

»Ist hier ein Flamingo explodiert?«

»Ich weiß gar nicht, was ihr Männer immer für ein Problem mit Rosa habt. Mir gefällt’s!«, sagte Priscilla, und weil sie eine echt beleidigte Schnute zog, sagte ich schnell:

»Also, ich find’s echt cool. Bea hat ja auch so viel Farbe in der Wohnung, ich finde es toll, wenn man sich da mal was traut. Bei uns ist alles reinweiß, ich muss unbedingt Papa überreden, dass ich zumindest mein Zimmer streichen darf.«

»Also, diese Farbe heißt Miami Blush, aber ich fand auch Rock ’n’ Rosé gut, die hab ich dann im Bad benutzt. Mein Schlafzimmer ist dafür mintgrün, das ist hier hinten.« Sie zeigte auf einen etwas kleineren Raum hinter dem Wohnzimmer.

»Alle Kisten und Möbel sind beschriftet, die Sachen mit einem X kommen in den Keller und die mit einem Fragezeichen in das freie Zimmer auf der anderen Seite. Alles klar?«, fragte sie, aber ihr Blick sagte eher so viel wie: Und jetzt macht euch endlich an die Arbeit!

Ich wechselte einen Blick mit Arthur, der nur resigniert mit den Schultern zuckte. Wir gingen nach draußen zum Lkw, wo schon Mats und Vincent auf uns warteten. Der Fahrer des Wagens hatte die Laderampe hinten geöffnet, und wir vier fingen in einvernehmlichem Schweigen an, die ersten Sachen entgegenzunehmen und nach drinnen zu tragen. Ich glaube, wir hatten uns alle für den Moment mit unserem Schicksal abgefunden.

 

Wir kamen erstaunlich gut voran. Priscilla schien kein Fan von Klimbim zu sein, so dass es fast nur Möbel oder kompakt gepackte Kisten zu schleppen galt. Und obwohl alle so müde waren (und Arthur und ich um unseren schönen zweisamen Morgen gebracht wurden), war die Stimmung gut, sogar Bea und Christoph schienen sich einigermaßen gefangen zu haben, als sie kurze Zeit später zu uns stießen. Wir waren es zwar, die mit dem Umzug unsere Finanzen aufbessern wollten, aber sie hatten uns versprochen zu helfen. Ich hatte ein bisschen ein schlechtes Gewissen, weil Papa und Bea so fertig waren, aber sie waren selbst schuld, immerhin hätten sie ja mal das Datum auf die Kette bekommen können.

Als ich mit einem Küchenstuhl vom Lkw zur Tür ging, kam mir jemand entgegen. Ich unterdrückte ein Stöhnen.

»Guten Morgen, Herr Flöter!«, sagte ich stattdessen, und er blieb erschrocken stehen. Er war von oben bis unten in neonorangene Laufsachen gekleidet und sah aus wie einer dieser Absperrpylonen, die bei uns die Straße runter an der kleinen Baustelle standen, wo gerade etwas an der Kanalisation repariert wurde.

»Oh, hehe, äh … na ja, ich kann mich immer noch nicht daran gewöhnen, dass ich erkannt werde«, sagte er und lachte dabei klackernd, stellte sich aber schnell in seine typische breitbeinige Pose und konnte auch sein selbstherrliches Grinsen nicht verbergen.

Und leider (und zugegeben mit sehr viel Vergnügen) musste ich seine Illusionen zerstören, dass er ein Superstar war – denn der war er nun mal nicht. Ich sagte: »Vor allem, wenn wir Nachbarn sind und Sie erst vor zwölf Stunden oben bei uns auf der Party waren.«

»Ja, na ja, hehe … genau.«

In diesem Augenblick kam Priscilla aus dem Haus, und als sie Heiko in seiner neonfarbenen Laufkluft sah, klappte ihr der Mund auf.

»Sie!«, murmelte sie, kam näher und starrte ihn an. »Sie sind es wirklich!!!«

Heiko schaute ob Priscillas leicht beängstigender optischer Reize zu mir, und ich runzelte die Stirn. Konnte es sein, dass …

»Sie sind doch der Jungbauer! Der Jungbauer mit Herz!!! Oh, wie ich diese Serie geliebt habe, ich habe sogar an den Sender geschrieben, als sie abgesetzt wurde … und jetzt stehen Sie leibhaftig vor mir! Ich kann’s ja gar nicht glauben!«

Jetzt war es an mir, Priscilla anzustarren. Die kannte den wirklich aus einer seiner schrecklichen Serien, in denen er mitgespielt hatte! Und das, wo noch nicht mal meine beste Freundin Kim von ihm gehört hatte, und die war normalerweise sogar bei Reality-TV-Sternchen bestens informiert.

»Ja, genau, das war ich!«, sagte Heiko stolz und richtete sich auf, und Priscilla runzelte die Stirn.

»Wie geht es denn Larissa, Ihrer Verlobten? Ach, Sie beide passen einfach so wunderbar zusammen! Wohnt sie etwa auch hier im Haus?«

Jetzt glotzte Heiko ziemlich doof.

»Nein. Also, das … das war doch … im Fernsehen. Das war doch eine, eine … Rolle.«

Priscilla riss die Augen auf. »Was???«

Hinter Heiko und Priscilla lief gerade Arthur mit zwei Stühlen vorbei, und er machte einen noch größeren Bogen um die beiden als sonst schon.

Und auch ich verdrückte mich in Richtung Wohnung, weil ich Priscilla in ihrem Leid kaum ertragen konnte. Ich meine, jeder weiß doch, dass solche Serien nicht echt sind, sondern ein Drehbuch haben, oder?

Bea war anscheinend zwar mittlerweile wieder einigermaßen wach, doch offensichtlich nicht willens oder in der Lage, sich mit Heiko auseinanderzusetzen. Als sie aus der Haustüre trat und ihn entdeckte, wie er da mit Priscilla stand und sich in ihrer Aufmerksamkeit suhlte (sie ließ sich sogar ein Autogramm geben!), machte sie sofort wieder kehrt und murmelte irgendwas von »Küche einräumen«. Papa hatte sich sowieso schon abgeseilt und werkelte drinnen an den Schlafzimmermöbeln herum.

Na toll. Ich seufzte und sah auf die Uhr. Erst kurz vor zehn. Dafür war der Lkw schon halb leer, und falls wir so weitermachten, waren wir – vielleicht – bis zum Mittag durch. An diesen Gedanken klammerte ich mich jedenfalls, als ich anfing, die vielen Topfpflanzen nacheinander ins Wohnzimmer zu tragen.

 

Kurze Zeit später steckte Arthur seinen Kopf durch die Tür. Über der Schulter hatte er seine riesige Eishockeytasche, in einer Hand eine Flasche Wasser.

»Ich bin dann weg, Luca und sein Dad sind da.«

»Pass schön auf, und ruf an, wenn irgendwas ist, ja? Und viel Glück!«, rief Bea aus dem Nebenzimmer.

»Ja, von mir auch«, sagte ich und wischte mir die Hände an der Hose ab. »Aber nicht so viel rumschlägern!«

»Das ist Eishockey und nicht Wrestling!«

»Große Typen, die aufeinander losgehen und sich auch mal zum Spaß prügeln? Bist du sicher?«

Arthur machte so ein Mittelding zwischen Augenrollen und Zwinkern, dann winkte er ein letztes Mal. »Bis später.«

»Ich muss auch unbedingt mal wieder zu einem Eishockeyspiel«, sagte da Priscilla, die plötzlich neben mir stand und mal wieder ihre Ohren überall hatte. »So viel Testosteron in einem Raum hat man wirklich selten!«

»Da kannst du mit deinem neuen Nachbarn Ralf gehen«, schaltete Mats sich ein, der gerade einen kleinen Sessel hereinschleppte. »Der ist totaler Fan der Icebears.«

»Wer ist denn Ralf? Ist der nett?«

»Er wohnt zusammen mit seiner Freundin Mandy in unserem Haus im Erdgeschoss, und er ist« – total blöde – »ganz okay«, sagte ich und wechselte mit meinem Bruder einen Blick.

Doch auch Mats grinste nur. »Er ist wirklich nett. Du wirst dich sicher super mit ihm verstehen.«

Priscilla nickte begeistert und stöckelte wieder nach draußen.

»Unglaublich, wie die in diesen Schuhen den ganzen Tag gehen kann. Und so schnell!«, sagte ich und ließ mich zum ersten Mal an diesem Vormittag auf die rosa Couch fallen.

Mein Bruder schien den gleichen Gedanken gehabt zu haben wie ich: Zeit für eine Pause.

Er setzte sich rechts neben mich, und als Vincent keine Minute später mit drei Flaschen Apfelschorle ins Wohnzimmer kam, seufzten wir beide wohlig auf.

»Komm her, Lieblingsbruder, hier ist noch was frei«, sagte ich, und er ließ sich grinsend auf den Platz zu meiner Linken sinken. So saßen wir einträchtig nebeneinander, als die Hausherrin wieder vor uns auftauchte.

»Ach, da sieh mal einer diese Kinder an.« Sie seufzte entzückt. »Genau wie Peter, Paul & Mary in ihren besten Teenagerjahren!«

Papa, der gerade aus dem Schlafzimmer kam, musste vor Lachen losprusten. Und Mats, der, glaube ich, immer noch ein wenig Angst vor ihr hatte (er hatte in der Zwischenzeit Eddie Cochran gegoogelt und wollte um jeden Preis verhindern, dessen Frisur verpasst zu bekommen), trollte sich wieder nach draußen und ließ Vincent und mich alleine auf der Couch zurück.

Der knuffte mich sofort in die Seite und raunte neugierig: »Also – seid ihr jetzt zusammen, Arthur und du?«

»Psssttt!!!« Panisch sah ich mich um, aber wie durch ein Wunder waren alle gerade draußen.

»Nein, sind wir nicht! Ich meine, schließlich kenne ich ihn ja noch kaum. Das, äh … müssen wir jetzt erst mal alles sehen. Wie es so weitergeht und so. Außerdem bin ich immer noch nicht hundertprozentig darüber hinweg, dass er so unmöglich zu mir war am Anfang«, flüsterte ich.

»Das war, weil er wegen dir völlig verstört war. Er wollte ja eigentlich überhaupt keine Freundin, aber als er dich dann gesehen hat …« Vincent zuckte mit den Schultern. »Versteht man wohl nur, wenn man es selbst erlebt.«

Irgendwie war es komisch, mit ihm über die Gefühle seines Bruders zu sprechen. Obwohl sie sich so nahstanden wie sonst kaum jemand, den ich kannte, war das dann doch ganz schön … persönlich.

Deswegen versuchte ich eine kleine Ablenkung.

»Aber was ich schon immer wissen wollte: Warum warst du denn eigentlich so blöd zu mir am Anfang? Du warst ja wohl nicht verstört wegen mir.«

Vincent grinste. »Ich war dafür zerstört. Weil ich die letzten beiden Wochen vor unserem Rückflug jede Nacht maximal drei Stunden geschlafen hatte.«

»Oh. Du kleine Partymaus«, stichelte ich, doch er lachte nur.

»Ich musste mich doch von allen anständig verabschieden. Wir hatten da jede Menge – Freunde.«

»Alles klar. Mehr möchte ich bitte nicht wissen«, sagte ich und stand auf.

Er zwinkerte mir zu. »Keine Sorge, Arthur war viel braver als ich. Glaub ich zumindest.«

Ich war froh, dass in diesem Moment Priscilla wieder hereingetrabt kam und damit unser Gespräch beendet war. Ich konnte mir nämlich lebhaft vorstellen, dass die beiden während ihres Austauschjahrs in Vancouver viele Freunde gefunden hatten. Vor allem weibliche. Wenn das dort so war wie hier, wo praktisch die Hälfte aller Schülerinnen unserer Schule in die beiden verknallt war, dann …

»Hör mal, Vincent – sag bitte niemandem was, ja? Von Arthur und mir. Egal, in welche Richtung das alles geht.«

Vincent lächelte verständnisvoll. »Ehrensache.«

»Was ist Ehrensache?«, fragte da Papa, der in diesem Moment gemeinsam mit Mats eine Stehlampe hereinschlepp te.

Doch bevor ich antworten konnte, sagte Mats: »Dass Lina mit mir zusammen einen Tanzkurs macht. Das ist Ehrensache.«

»Äh – so?«, fragte ich. »Welchen Tanzkurs?«

»Den, um den ich mich gleich morgen kümmern werde. Oder heute Abend. Ich hatte doch erzählt, dass ich tanzen lernen will. Und du gehst mit als meine Partnerin.«

»Du kannst doch nicht einfach so über mich verfügen!«

»Stimmt. Aber du wolltest doch schon immer so einen Kurs machen. Oder willst du lieber mit einem andern gehen? Zum Beispiel mit Tom, deinem literarischen Verehrer?«

Ich verzog das Gesicht. »Du bist gemein.« Tom hatte ich vor ein paar Wochen bei einem Eishockeyspiel der Jungs kennengelernt. Erst hatte ich ihn nett gefunden, aber schon bei meinem ersten Date war mir klar geworden, dass es nicht mehr werden würde. Leider war ihm das nicht so klar.

»Na schön«, lenkte ich ein. »Ich mache mit. Aber ich warne dich – ich will dann auch bitte alles lernen. Standard und Latein. Keinen Hochzeits-Crashkurs!«

Doch Mats zuckte nur lässig mit den Schultern. »Alles klar.« Er setzte sich wieder in Bewegung. »Lass mich mal machen. Du wirst sehen, der Tanzkurs wird der Hit.«

Bea, die gerade hereingekommen war, starrte zusammen mit Papa Mats nach.

»Hab ich das eben richtig gehört?«, fragte Papa. »Der Tanzkurs wird der Hit? Da stimmt doch was nicht.«

»Was soll denn da nicht stimmen«, fragte Bea. »Tanzen können schadet nie, die Zwillinge konnten schon alles mit zwölf, na ja, da waren auch meine Eltern ein bisschen schuld, aber das ist ja dann hinterher wie Fahrradfahren, das verlernt man nicht mehr. Ach, ihr werdet viel Spaß haben!« Bea tätschelte mir im Vorbeigehen die Schulter.

Doch ich musste ganz klar Papa recht geben. Es musste einen Grund geben für die plötzliche Tanzwut meines Bruders.

Und ich würde nicht eher Ruhe geben, bis ich den herausgefunden hatte.

Punkt mittags um zwölf hatten wir den großen Lkw komplett leergeräumt und saßen auf dem Gehweg vor dem Haus in der Sonne – Papa, Bea, Mats, Vincent und ich. Jedes Möbelstück stand im richtigen Zimmer, und außer einer Schrankwand musste auch kaum noch etwas aufgebaut werden. Wir waren stolz auf uns.

Mit einem strahlenden Lächeln trat Priscilla zu uns in den Sonnenschein.

»Super, der Lkw ist leer, prima. Das ist doch bestes Timing.«

Mats sah sie misstrauisch an. »Wieso Timing? Weil der Lkw zurückmuss?«

Sie lachte. »Nein, weil der nächste gleich kommt.«

Wie auf Befehl schossen Mats, Vincent und ich nach oben.

»Wie – der nächste???«, fragte Mats, und Priscilla deutete ein Stück die Straße hinunter.

»Da ist er ja schon! Auf die Sekunde, würde ich sagen.«

Wir folgten ihrem Blick – beziehungsweise der Richtung, in die ihr spitzer, bonbonrosa lackierter Fingernagel deutete. Und tatsächlich kam da gerade ein überlanger Sprinter angefahren und blieb mit blinkenden Warnlichtern hinter dem leeren Lkw stehen – direkt vor unserer Nase.

»Meine Babys sind da!«, sagte Priscilla seufzend vor Glück und stöckelte zu dem Fahrer, der gerade ausstieg.

»Ihre Babys? Sie ist doch mindestens, na ja, also … fünfzig?«

Mats fing an zu lachen angesichts Vincents dämlicher Bemerkung, aber das verging ihm ganz schnell, als der Fahrer heraussprang und die Klappe des Fahrzeugs hinten aufmachte.

»Oh. Mein. Gott«, entfuhr es ihm – und ich fühlte mich plötzlich unglaublich schwach.

Denn in dem Transporter waren Kartons gestapelt. Es mussten Hunderte sein. Oder Tausende. Bis unter die Decke, dicht an dicht, kaum ein Fingerbreit Platz dazwischen.

Priscilla kam um den Wagen herum auf uns zu. »Darf ich vorstellen? Meine Plattensammlung. Das Herz meiner neuen Wohnung. Und von mir. Und ich sag’s euch gleich, die ist richtig viel Geld wert.« Sie lächelte und zupfte sich ihre toupierten Haare zurecht. »Die Möbel und der andere Kram waren die Pflicht. Die Platten hier sind die Kür.«

Vincent, Mats und ich tauschten einen Blick.

Der Nachmittag würde sehr, sehr lang werden.

 

Das Gute an Priscillas Plattensammlung war: Die Kartons waren recht kompakt und auch nicht zu schwer, so dass ich sie gut alleine tragen konnte. Das Schlechte: Es waren unendlich viele. Ich hatte das Gefühl, dass, sobald ich eine Kiste aus dem Transporter nahm, irgendwer auf der anderen Seite wieder eine hineinschob. Es wurden einfach nicht weniger, egal, wie oft wir hin- und hergingen.

Vincent fiel als Helfer außerdem keine halbe Stunde später aus – er war am Vormittag wohl zu viel gelaufen, so dass sein Fuß, an dem er den Bänderriss hatte, trotz Stützmanschette wieder angeschwollen war. Also saß er in Priscillas Wohnzimmer, klimperte auf ihrer Gitarre herum, die er gefunden hatte, oder tippte auf seinem Handy, wo er per Livechat mit seiner Eishockeymannschaft verbunden war.

»Sie machen sich gerade warm«, sagte er, als ich einen Karton mit der Aufschrift Ba – Bel absetzte. (Priscilla hatte ihre Platten alphabetisch nach Interpreten sortiert und beschriftet, und alleine für den Buchstaben A hatten wir zwanzig Kisten hereingeschleppt.)

»Aha«, sagte ich und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Das Kartonschleppen war ausschließlich an Mats, mir und dem Fahrer hängengeblieben, weil Papa und Bea schon um zwei schlappgemacht und sich nach oben verzogen hatten.

Priscilla klapperte auf ihren Pumps hin und her, half hier, half dort und schaffte es trotz der schwindenden Kräfte aller Beteiligten, gute Stimmung zu verbreiten.

»Ich hab extra eine Umzugsplaylist gemacht, die mach ich gleich an, wartet mal kurz!«

Sie scrollte in ihrem Handy herum, und Vincent fragte erstaunt: »Ich dachte, Sie hören nur Platten?«

»Die Platten sammle ich! Na ja, ab und zu höre ich die auch an, aber die sind vor allem eine Investition. Die Musik selbst streame ich natürlich. Und wenn du mich noch einmal siezt, Junge, dann setzt’s was!«

Vincent nickte ehrfürchtig. Wir hatten vorhin nämlich herausgefunden, dass Priscilla sogar fast sechzig war. Und dafür sah sie mal echt knallermäßig aus und war auch sonst sehr jung geblieben. Na ja, bis auf ihre Kenntnisse, was gecastete Fernsehserien betraf. Da war sie nicht so auf dem letzten Stand.

Und ich wollte es ja erst nicht zugeben, weil ich eigentlich schon längst keine Lust mehr hatte auf Kistenschleppen – doch die Playlist machte dann doch Stimmung. Zu den Klängen von Chuck Berry und Jerry Lee Lewis trugen wir also weiter die Kartons heran, und hin und wieder ertappte ich mich sogar dabei, dass ich zur Musik mitwippte, auch wenn ich schon ziemlich erledigt war. Und ich tröstete mich, dass Priscilla ihre geliebten Platten selbst in ihre Regale einräumen wollte.

 

Doch keine Playlist der Welt hätte es an diesem Tag geschafft, uns bis zum Abend bei Laune zu halten. Als Mats und ich die letzten Kisten mit Z in Priscillas Wohnung trugen, wobei Papa und Bea uns irgendwann wieder unterstützt hatten, fühlte ich weder Arme noch Beine, und meine Lider hingen auf Halbmast. Und das, obwohl ich sogar am Nachmittag (nach diversen Müdigkeitstiefpunkten) angefangen hatte, Kaffee zu trinken, den ich nicht mochte – und der auch nichts nützte. Von der anregenden Wirkung spürte ich zumindest nichts, im Gegenteil, ich wurde von Stunde zu Stunde schwächer. Ich war noch nicht mal mehr in der Lage, mich richtig zu freuen, als Vincent irgendwann verkündete, dass die Icebears ihr Auswärtsspiel mit 6:3 gewonnen hatten.

Dem Rest meiner Familie schien es ähnlich zu gehen. Mats wurde unnatürlich still, Beas Gesichtsfarbe tendierte wieder gen leichenblass, die von Papa dafür in Richtung Tomate.

Und endlich, endlich, irgendwann gegen sechs, hatte Priscilla Erbarmen mit uns. Sie bestellte Unmengen von Pizza, die sie uns dann sogar höchstpersönlich in Beas Wohnung trug, damit wir gleich oben essen konnten. Vermutlich hatte sie Angst, dass wir abgefüttert sonst allesamt auf ihrer rosa Couch einpennen würden – und das war gar nicht so abwegig.

So saßen wir dann also in Beas Küche am großen Esstisch, jeder einen Pizzakarton vor sich (die Teller waren noch von der Party schmutzig, und überhaupt waren uns jetzt solche Details auch völlig egal), als plötzlich Arthur in der Tür stand.

»Hallo, zusammen!«

Mein Herz hatte zwar noch die Kraft, bei seinem Anblick ein bisschen schneller zu schlagen, aber sonst konnte ich mich kaum rühren.

»Hallo, Arthur«, sagte Bea. »Die Pizza ist noch warm. Wir haben dir zwei aufgehoben. Oh – Gerd, ich hab dich ja gar nicht gesehen, komm rein!«

Bea hievte sich beim Anblick des Besuchers aus dem kleinen Sessel und wankte auf den Mann zu, der hinter Arthur in die Küche kam. Ich erkannte ihn wieder, Gerd Völke war der Mannschaftsarzt der Icebears und auch der Leichtathletikmannschaft der Zwillinge. Hinter ihm stand ein schwarzhaariges Mädchen mit blitzwachen Augen.

Dr. Völke schüttelte Bea die Hand und deutete mit der freien Hand auf seine Begleiterin. »Das ist Jasmin, meine Physio-Praktikantin.«

Jasmin lächelte in die Runde. »Guten Appetit!«

»Danke!«, sagte ich. »Möchtest du auch was?«

»Ja, setzt euch doch! Was mögt ihr trinken?«, fragte Bea.

Doch Dr. Völke schüttelte den Kopf. »Wir wollten nur Arthur nach Hause bringen. Er hat sich verletzt.«

»Verletzt?«, entfuhr es mir, doch Arthur winkte ab.

»Ach, das ist nix, hatte nur einen kleinen Zusammenstoß. Mann, hab ich Hunger, ist die mit Schinken da hinten für mich?« Er schnappte sich einen Karton und ließ sich mir gegenüber auf einen freien Platz fallen. Dabei sah er mich für eine Sekunde lang an. So, als ob er sagen wollte: Ist wirklich nicht schlimm.

Dr. Völke grunzte leise. »Eher ein mittelgroßer Zusammenstoß. Egal, setz dich da drüben mal auf den Sessel.«

Arthur hatte bereits ein Stück Pizza verdrückt und stöhnte.

»Muss das sein?«

Seufzend und kauend wanderte er zum Sessel, schob seine Trainingshose nach oben, und beim Anblick seines Beins schnappten wir kollektiv nach Luft.

»Das sieht … übel aus«, sagte Vincent, und ich schluckte. Auf Arthurs Oberschenkel prangte ein riesiger, tiefvioletter Bluterguss.

»Hat ein bisschen die Form von Alaska«, murmelte ich und hoffte, mein Entsetzen verbergen zu können.

»Ja, mittlerweile ist es ein bisschen kleiner geworden. Vorhin sah es eher noch aus wie Südamerika«, meinte Jasmin. Mats lächelte sie nur kurz an und wischte sich dann die Finger an seiner Serviette ab. Er musste todmüde sein, wenn er noch nicht mal einen Standard-Flirtspruch brachte. Normalerweise platzierte er den nämlich automatisch bei jedem süßen Mädchen, das in seine Nähe kam.

»Wenigstens erging es ihm nicht so wie Luca«, sagte Dr. Völke, der routiniert Arthurs Bein abtastete. »Der hat sich heute das Handgelenk gebrochen und wird wochenlang ausfallen. Deswegen hab ich auch Arthur mit nach Hause genommen, Luca ist mit seinem Vater noch im Krankenhaus.« Er richtete sich auf. »Hast du Eis, Bea? Das müssen wir noch ein bisschen kühlen.«

»Luca hat sich die Hand gebrochen?«, fragte Vincent geschockt. »Wie ist denn das passiert? Und wer ist jetzt Kapitän?«

Dr. Völkes Blick glitt zu Arthur. »Na, wer wohl? Arthur, lass das Eis noch eine Weile drauf. Und ruft mich an, wenn die Schmerzen schlimmer werden, ja?«

Bea nickte leicht verstört.

Jasmin lächelte sie an. »Keine Sorge, der Stoß war nicht schlimmer als das übliche Gemetzel bei den Spielen.«

»Wie hältst du das nur aus?«, fragte ich unwillkürlich. »Mir wird schon schlecht vom Zusehen. Und du musst auch noch helfen, die wieder zusammenzuflicken.«

Sie lachte. »Ach, das ist harmlos im Gegensatz zu den blöden Anmachsprüchen der Jungs. O Mann, das war ja wirklich nervig am Anfang. Und dieser Umkleidekabinentratsch, der reinste Kindergarten!«

»Hey, da haben Arthur und ich aber nie mitgemacht!«, sagte Vincent nachdrücklich, und Jasmin zuckte mit den Schultern.

»Stimmt, deshalb kann ich euch auch gut leiden.« Sie sah zu Dr. Völke, der seine Sachen zusammenpackte.

Mats war aufgestanden und deutete auf seinen Pizzakarton. »Willst du wirklich kein Stück?«, nuschelte er. »Ist übrig.«

Herrje, der musste wirklich noch erschlagener sein als ich, denn normalerweise gab er nur sehr, sehr ungern was von seinem Essen ab.

Jasmin nahm sich geistesabwesend das Stück und winkte dann noch in die Runde. »War nett, euch zu sehen.« Damit waren sie und Dr. Völke schon verschwunden.

Wir rappelten uns auf und stellten die Pizzakartons zusammen. Nur Papa rührte sich nicht, sondern murrte nur irgendwas. Er hatte sich mittlerweile ein Geschirrtuch über den Kopf gelegt, weil er so fertig war. (Vielleicht schlief er auch schon, und das Murren war gar kein Murren, sondern ein Schnarchen.)

Kurz darauf schlurften und humpelten wir alle ins Bett, ich, nicht ohne vorher noch einen langen Blick mit Arthur getauscht zu haben.

Mein einziger Trost war, dass mich am nächsten Tag ein einigermaßen entspannter Tag in der Schule erwartete. Alles andere wäre sowieso nicht drin gewesen.

3

Als Herr Gruber uns am nächsten Morgen einen unangekündigten Mathetest schreiben ließ, hatte ich nur einen Herzenswunsch. Dass ein Wunder geschehen möge und das notwendige Wissen wie durch Zauberhand in mein Hirn gelangen würde. Alternativ würde es auch ein Feueralarm tun.

Nichts davon trat ein. Was umso frustrierender war, weil ich vor kurzem gelernt hatte, dass tatsächlich manchen Herzenswünschen auf die Sprünge geholfen werden konnte. Konkret gesagt: Ich konnte ihnen auf die Sprünge helfen.

Wenn ich meiner Patin Therese glaubte, war ich nämlich nicht nur das Glückskind, als das mich früher immer alle bezeichnet hatten, sondern tatsächlich so etwas wie eine gute Fee. Laut Therese gibt es in jeder Stadt, in jedem Land Feen. Aber nicht mit Flügeln und so ’nem Zeug. Wir sind ganz normale Menschen, die … na ja, noch eine Art Zusatzbegabung haben.

Dabei gibt es allerdings auch ein paar Haken. Wir können zwar Herzenswünsche sehen und sie auch erfüllen, aber für echt sinnvolle Wünsche wie den Weltfrieden oder die Heilung aller schlimmen Krankheiten reicht es nicht. Eigene Herzenswünsche klappen auch nicht. Und dass man eine Fee ist, heißt nicht automatisch, dass man auch eine gute Fee ist.

Ich jedenfalls hatte mich in letzter Zeit als eine total miese Fee entpuppt. Sozusagen eine Feenversagerin. Denn die Sache mit den Wünschen ist ziemlich verflixt, das weiß ja eigentlich jeder, der mal die Sams-Bücher gelesen hat. Dazu kam noch, dass ich offenbar nicht besonders talentiert war. Jedenfalls waren eine Menge meiner Wunscherfüllungsversuche schiefgegangen. Beziehungsweise hatten sie eine Kette von Ereignissen nach sich gezogen, die gar nicht schön waren. Die schüchterne Mathilde aus meiner Parallelklasse hatte ihre lang ersehnte Hauptrolle im Schulmusical erhalten, war aber merkwürdigerweise gar nicht glücklich darüber gewesen. Denn eigentlich wünschte sie sich, dass die ursprüngliche Anwärterin auf die Rolle, unser Schulstar Xenia, mit ihr befreundet sein wollte, was sie natürlich nun knicken konnte.

Bei Vincent war etwas Ähnliches passiert: Ich hatte ihn eigentlich nur vor dem Debütantinnenball seiner schrecklichen Großeltern bewahren wollen, das führte allerdings dazu, dass er sich den fiesen, schmerzhaften Bänderriss zuzog. Und so weiter.

Therese, die auch eine Fee ist und mir als Mentorin zur Seite stand, hatte versucht, mich zu trösten, aber Fakt war, dass ich mit dieser ganzen Feensache echt noch fremdelte. Und wenn nicht das tolle Kakaogefühl wäre, das mich durchströmte, wenn ich jemanden glücklich gemacht hatte, dann hätte ich das Ganze schon längst ad acta gelegt.

Zumal es einem nicht mal half, einen winzig kleinen Mathetest zu bestehen. Das war doch unfair, oder?

»Ich hasse Schule«, murmelte ich, als ich mittags neben meiner besten Freundin Kim den Galactica betrat. Die Speisesäle unserer Kantine hatten die Namen von Raumschiffen, aber was ich vor ein paar Wochen noch cool fand, war mir gerade total schnuppe. Vor allem, weil Kimmi mich seit dem Pausengong antrieb und herumscheuchte, nur damit wir früh genug hier waren und in genau diesem Raum einen Platz zum Essen ergatterten.

»Oh, da ist ein ganzer Tisch frei, das ist unserer!«, sagte sie erfreut, eilte zu der langen Tafel und verteilte auf den Stühlen links und rechts von sich Rucksack und Jacke, um die Plätze zu besetzen. »Moritz kommt bestimmt jeden Moment!«

Moritz war Kims Freund und ging wie Mats und die Zwillinge in die zehnte Klasse. Ich hatte nichts gegen ihn, war aber trotzdem überhaupt nicht scharf darauf, mit ihm zusammen zu essen. Denn das bedeutete, dass ich für die komplette Pause bei Kim abgemeldet war. Dabei hätte ich so dringend Zuspruch von meiner besten Freundin gebraucht.

»Jetzt schau nicht so, Lina, Mathe war bestimmt nicht so schlimm, wie du denkst. Du hast sicher trotzdem ganz viel richtig«, sagte sie, als ich mich ihr gegenübersetzte, und prüfte blitzschnell ihr Aussehen in einem kleinen Handspiegel. (Das natürlich wie immer makellos war. Kim hatte asiatische Vorfahren: wunderschöne Mandelaugen und eine pechschwarze, glänzende Mähne.)

Doch ich schüttelte den Kopf. »Es war ein Desaster. Und ich hab das Gefühl, dass ich die Einzige war, die den unangekündigten Test nicht hat kommen sehen«, murrte ich und stocherte mit der Gabel in meinem Risotto herum.

In Wahrheit war Mathe mir ziemlich schnuppe. Ich hatte nämlich das Gefühl, gleich platzen zu müssen, weil ich Kim noch nichts von Arthur und mir erzählt hatte. Klar, die Party von Bea war erst zwei Tage her, aber mir kam es vor, als ob ich dieses Geheimnis schon eine Ewigkeit mit mir herumschleppte, so dass ich es kaum aushielt.

»Ich muss dir unbedingt was erzählen, Kimmi …«, fing ich an, aber sie unterbrach mich.

»Hier sind wir!«, rief sie und winkte in Richtung Tür. »Was willst du mir erzählen?«

»Hallo, Ladys«, sagte da auch schon Moritz, ehe er Kim einen Schmatz auf den Mund drückte und sich neben sie setzte.

»Ach, nichts«, murmelte ich und schob mir einen Bissen in den Mund. Das Thema Arthur würde ich sicher nicht vor ihrem Freund ausbreiten. Oder sonst vor irgendjemandem. Ich würde es ihr in Ruhe unter vier Augen sagen – wann immer das sein würde.

Binnen kürzester Zeit hatte sich unser Tisch gefüllt – zu meiner Linken mit Mädels aus meiner Klasse: Sina, Luisa und Melli, zu meiner Rechten mit Jungs aus der Zehnten, darunter Mats und sein bester Freund Noah, der sich direkt rechts neben mich setzte.

»Ist das Risotto schlecht?«, fragte er, als er mein Gesicht und den immer noch vollen Teller sah.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin schlecht. In Mathe. Und in Pflanzenpflege, ich muss heute nach der siebten Stunde noch hierbleiben und mich um unseren Klassenphilodendron kümmern. Ansonsten macht der es nicht mehr lange, Frau Blum hat mir schon mit Repressalien gedroht.«

»Dir drücken sie auch immer die blödesten Jobs auf, oder? Was musstest du letztes Jahr machen? Die Kakteen im Biolabor pflegen?«

Ich seufzte. »Das war vorletztes Jahr. Letztes Jahr waren es die Zwiebeln und Kartoffeln draußen im Schulgarten. Sind letztendlich jämmerlich vertrocknet in der Hitzewelle, obwohl ich sie jeden Tag gegossen habe.«

Noah lachte, und meine Gabel verharrte einen Augenblick in der Luft, weil sich gerade die Zwillinge und ihr Freund Julius auf die letzten freien Plätze am Tisch quetschten.

Ich lächelte sie möglichst unverfänglich an, ehe ich mir das Essen in den Mund schob und sorgfältig kaute. Arthur mochte ja ein spitzenmäßiges Pokerface haben, aber ob ich meine Gefühle für ihn verbergen konnte, stand auf einem ganz anderen Blatt.