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Lou Feldmanns Neffe Manu hat zusammen mit der Frau eines Polizisten eine hochkarätige Pokerrunde überfallen. Noch bevor die beiden sich ins Ausland absetzen können, wird Hanna ermordet. Manu verschwindet. Obwohl nach ihm wegen Mordes gefahndet wird, taucht er zwei Jahre später wieder in Berlin auf, um Hannas Mörder zu finden. Feldmann stellt sich vor ihn. Seine Ermittlungen und die seiner Ex-Kollegin Eva Hennings führen tief ins Zockermilieu der Stadt.
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Inhalt
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ELFI HARTENSTEIN, HORST VOCKS
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte sind die Autoren verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autoren.
© 2024 Elfi Hartenstein, Horst Vocks · elfi-hartenstein.de
1. Printausgabe, 2. komplett neu überarbeitete E-Book-Auflage
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Foto Autoren: Michael Bry
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Print: 978-3-757-93957-1EBook: 978-3-759-20165-2
Es war Anfang Juni und bereits hochsommerlich warm in Berlin. Vor dem Mahlower Eck in Neukölln saßen ein paar alte türkische Rentner beim morgendlichen Cay. Einer lehnte sich zurück und schaute in die Wipfel der Linden, die ihn an seine Heimat erinnerten, die er nie wiedersehen würde. Er war zu alt. Er war schon zu lange hier. Er wollte hier sterben und auf dem muslimischen Friedhof am Columbiadamm begraben werden. Seine Frau lag dort. Zwei seiner Söhne.
An einem anderen Tisch machten drei Handwerker bei einem Bier ihre Frühstückspause. Sie waren seit sechs Uhr morgens unterwegs und hatten es sich verdient.
Drinnen im dämmrigen Schankraum hatten sich drei Männer an einem runden Tisch zusammengesetzt: Der Wirt Kemal Özdamar, den seine Berliner Jahre grau und alt hatten werden lassen. Daneben Dimitri Cordalis, ein gebürtiger Grieche, Eigentümer verschiedener Kneipen und Bars, Geldverleiher und Herr über diverse illegale Glücksspielrunden. Cordalis hatte borstiges graues Haar und einen dichten grauen Schnauzbart, der auch Özdamar gut gestanden hätte. Sein Hund Rudi lag unter dem Tisch, hatte sich längere Zeit hingebungsvoll die Pfoten geleckt und ging jetzt dazu über, an Cordalis’ Hosen zu knabbern. Das Schweigen am Tisch hielt schon eine Weile an, und Cordalis verstand, dass der Hund sich langweilte, verwarnte ihn aber, indem er die Hand unter den Tisch streckte und mit dem Zeigefinger mehrere Male auf Rudis Kopf tippte, bis dieser sich seufzend wieder hinlegte und die Augen schloss.
Der dritte am Tisch war Lou Feldmann, ein drahtiger Mittfünfziger, ehemaliger Kriminalhauptkommissar, der in seiner Zeit bei der Mordkommission viel Menschenkenntnis erworben hatte. Seit seinem freiwilligen Abschied dort war er Eigentümer und Wirt eines in der Friedenauer Wielandstraße gelegenen Lokals namens LOU’s und bei Bedarf auch als Schlichter im Milieu unterwegs. So wie heute.
Hinter dem Tresen war Özdamars Sohn Ali damit beschäftigt, die Kaffeemühle aufzufüllen. Ab und zu schickte er einen besorgten Blick zu seinem Vater hinüber, der ein wenig in sich zusammengesunken zwischen Cordalis und Feldmann saß und vor sich auf die Tischplatte starrte.
Cordalis unterbrach das Schweigen, indem er Ali zuwinkte. „Ali, einen griechischen Kaffee, Ellinikós kafes, metrios, parakalo.“
Özdamar Senior ließ sich dadurch nicht provozieren. Er wusste ja, dass es kein griechischer, sondern türkischer Kaffee war, den die Griechen nach vierhundertjähriger Herrschaft der Osmanen tranken.
„Dazu muss ich in die Küche“, murrte Ali. „Soll ich nicht hören, was ihr da besprecht, oder was?“
Jetzt wandte auch Lou Feldmann den Kopf zum Tresen.
„Nein, lass den Kaffee, Ali, und setz dich zu uns. Es geht hier auch um deine Zukunft.“ Er rutschte auf der Bank ein Stück weiter, damit Ali sich neben ihn setzen konnte.
Ali kam an den Tisch, ignorierte jedoch Feldmanns Angebot, sondern sah, ganz gehorsamer Sohn, seinen Vater abwartend an. Als dieser zustimmend nickte, zog Ali sich einen Stuhl heran, setzte sich und schaute, während er sich mit der Hand über das kurzgeschnittene Haar strich, fragend in die Runde.
Dimitri Cordalis nickte ihm zu. „Du hast mitbekommen, dass eure Kneipe den Bach runtergeht.“
Kemal Özdamar schüttelte den Kopf. „Ich krieg sie schon wieder hoch.“
„Das hast du schon vor einem Jahr versprochen, Kemal. Aber deine Schulden bei mir werden immer größer. Du bist zu alt im Kopf für einen Neuanfang. Sieh das doch endlich ein. Auch wenn es weh tut.“
„Seit dreißig Jahren mache ich das jetzt“, empörte sich Özdamar Senior. „Auch bei den anderen Wirten läuft es schlecht. Teilweise noch schlechter.“ Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und sprang auf.
Theater, stellte Feldmann für sich fest. Alles Theater. „Kemal“, sagte er ruhig, „reg dich ab. Du hast deine Frau in Kuşadasi beerdigt, nicht in Berlin, das heißt, du willst doch auch zurück. Du hast da ein großes Haus. Und eine Menge Verwandtschaft.“
„Und wie stellt sich Dimitri das vor? Glaubt er vielleicht, ich überlasse ihm mein Lokal für das bisschen Geld, das ich ihm schulde?“
Gespielte Wut, wusste Feldmann. Er will verhandeln.
„Komm wieder runter, Kemal“, sagte er geduldig. „Dimitri hat dir einen vernünftigen Vorschlag gemacht. Denn mit dem, was du hier umsetzt, wirst du deine Schulden bei ihm nicht begleichen können. Da müsstest du schon dein Haus in der Türkei verkaufen.“
„Niemals!“, stieß Kemal wütend hervor.
„Ganz ruhig, Kemal“, sagte Feldmann. „Wenn du Dimitri deine Kneipe überlässt, bist du schuldenfrei, und dein Sohn wird hier Geschäftsführer.“
„Der?“ fragte Kemal und sah erst seinen Sohn an und dann Dimitri Cordalis.
Cordalis nickte. „Ich habe ihn eine ganze Weile beobachtet. Er trinkt nicht. Er spielt nicht. Ich weiß, dass er gut klarkommt.“
„Und wovon soll ich leben?“, erregte sich Kemal Özdamar erneut.
Feldmann blickte ihn an. Er wusste, dass Kemal genügend Geld auf die Seite geschafft hatte. „Es geht nicht nur um dich. Es geht auch um deinen Sohn. Er bekommt von Dimitri ein festes Gehalt, Krankenversicherung, Rentenversicherung. Und du kriegst zehn Prozent vom Gewinn, der hier erwirtschaftet wird.“
„Fünf“, sagte Dimitri Cordalis scharf.
„Zehn“, sagte Kemal Özdamar stur.
„Sechs“, sagte Cordalis.
Feldmann stand auf, ging mit Ali an den Tresen. Der strahlte. Endlich würde er von seinem Vater unabhängig sein. Im Hintergrund hörte er, wie sich die beiden Streithähne auf acht Prozent einigten.
„Vier Raki“, sagte Feldmann.
Ali stellte vier Gläschen mit Raki auf den Tresen. Cordalis und Özdamar Senior standen auf. Jeder nahm ein Glas, sie tranken.
„Sind wir uns also einig?“, fragte Cordalis. „Dann lasse ich einen Vertrag aufsetzen zu den von Lou genannten Bedingungen. Acht Prozent! Jetzt muss ich los. Ich habe Gäste heute Abend.“
Rudi stand schon an der Tür und sah ihm schwanzwedelnd entgegen.
„Ja, Rudi“, sagte Cordalis, „ich habe verstanden. Du hast’s eilig.“ Er öffnete die Tür und ließ den Hund vorbei, bevor er selbst hinausging.
„Warte“, rief Feldmann hinter ihm her, „ich fahre dich nach Hause.“ Er reichte erst Kemal Özdamar, dann Ali die Hand. „Viel Glück, Kemal. Ich denke, du kannst zufrieden sein mit dieser Lösung.“ Kemal Özdamar hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Ali nickte. „Wir sind beide ganz gut dabei weggekommen.“
„Ich komme wieder vorbei“, sagte Lou Feldmann. Dann folgte er Cordalis nach draußen.
„Was schulde ich dir für die erfolgreiche Vermittlung?“, fragte Dimitri Cordalis, kaum dass Rudi auf dem Rücksitz und er selbst auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte. Feldmann startete den Motor, rangierte den Wagen aus der Parklücke heraus und fuhr gemächlich auf die Herrmannstraße zu. Bevor er um die Ecke bog, sagte er: „Wenn ich anfange, mich kaufen zu lassen, kann ich aufhören zu vermitteln.“
Cordalis antwortete nicht. Er sah äußerst zufrieden aus. Sie wechselten kein Wort mehr, bis Lou Feldmann in Dahlem die ruhige Wohnstraße erreicht hatte, in der Cordalis’ Stadthaus lag. Als er davor anhielt, sagte er: „Viel Spaß heute Abend.“
„Das ist ein Geschäft, kein Vergnügen“, sagte Cordalis, stieg aus, ließ Rudi herausspringen und öffnete das eiserne Gartentor.
Als die beiden durch den Vorgarten auf das Haus zugingen, wendete Feldmann und machte sich auf den Weg nach Friedenau in die Wielandstraße. Dort hatte Remy sicher längst die Einkaufsliste geschrieben. Sie mochte es nicht, wenn er mit dem Einkaufen bis in den Nachmittag wartete. „Es kann immer mal was dazwischenkommen“, pflegte sie zu sagen, „dann stehe ich da und kann den Leuten bloß Dosenfutter anbieten. Das ist verdammt noch mal dein Laden, also kümmere dich auch darum, dass dein Essen seinen guten Ruf behält.“ Er lächelte vor sich hin. Nein, er hatte sich nicht getäuscht. Die Entscheidung, Remy Straub als Geschäftsführerin einzustellen, war die richtige gewesen. Damals, als er Andersens Kneipe pachtete und daraus das LOU’s machte – noch bevor Andersen ihm das ganze Haus vererbte –, hatte er von Buchhaltung keine Ahnung gehabt, und von allen anderen Herausforderungen, die zum täglichen Brot eines Kneipenwirts gehören, ebenso wenig. Der Zufall – oder besser gesagt, sein Arbeitsalltag beim LKA – hatte ihn auf Remy Straub treffen lassen. Es war der letzte Fall, den er als Kriminalhauptkommissar gemeinsam mit seiner Kollegin Eva Hennings bearbeitet hatte. Der letzte vor seinem Ausstieg. Und ein Glück für ihn, weil sich herausstellte, dass Remy etwas von Buchhaltung verstand und bereits ein Café geführt hatte. Er hatte ihr die Geschäftsführung im LOU’s angeboten, sie hatte sein Angebot angenommen und war seither seine rechte Hand.
Als er den Wagen in der Wielandstraße auf dem Bürgersteig vor seinem Lokal abstellte, stand sie vor der Tür und wollte gerade den Schlüssel im Schloss umdrehen, zog ihn aber, als sie Lou sah, wieder heraus.
„Chef. Die Liste liegt auf deinem Schreibtisch. Ich fahre eben mal rüber zu Aydin. Sie braucht Unterstützung. Wir kommen dann zusammen hierher, spätestens um zwei. Ist das in Ordnung?“
Feldmann nickte. „Passt schon. Ist irgendwas mit Aydin?“
Remy zuckte die Schultern. „Schätze mal das Übliche. Allerdings hat sie sich am Telefon angehört, als würde sie weinen.“ Sie steckte den Schlüsselbund in ihre Umhängetasche, winkte Lou zu und lief los in Richtung S-Bahn.
Lou sah ihr nach. Ein schmales, zähes Mädchen in roten Jeans, schwarzem T-Shirt und einer Baseballkappe auf dem kurzen schwarzen Haar. Zäh und ihren Freunden gegenüber absolut loyal. Aydin war ihre Freundin. Remy hatte Lou damals überzeugt, auch sie einzustellen. Als Küchenhilfe und Putzfrau. „Aydin braucht einen Job“, hatte sie ihm erklärt. „Sie braucht das Geld dringend. Weil ihr Mann Mehmet seinen Lohn ständig verspielt. Und ihre Tochter soll nach dem Abi unbedingt studieren. Und außerdem will Aydin selbst auch ihr Abitur nachmachen.“ Lou hatte keine Einwände gehabt. Er vertraute Remy. Und Remy vertraute ihm.
Er holte den Einkaufszettel aus seinem Büro, warf kurz einen Blick in die Küche, stellte fest, dass die Spülmaschine lief und nur noch die unabgewaschenen Töpfe von gestern herumstanden, die konnte er Aydin überlassen. Dann verschloss er die Eingangstür von innen und nahm im Flur zum Hinterausgang noch die Mülltüten für die Container im Hof mit.
Ziemlich genau vier Wochen später kam Lou Feldmanns Neffe Manu auf dem Berliner Flughafen Schönefeld an. Vom anderen Ende der Welt. Er hatte den Flug über Moskau genommen und stand jetzt mit seinem Handgepäck vor der Passkontrolle. Er hatte den Pass schon mehrmals vorzeigen müssen. Immer war alles glattgelaufen. Doch als er nun an die Reihe kam, hatte er feuchte Hände und Schweiß auf der Stirn, als der Sicherheitsbeamte seinen Pass kontrollierte, ihn auf das Lesegerät legte, unbeteiligt auf eine Liste sah. Manu kam es vor, als würde der Beamte unter dem Brett, auf dem das Lesegerät stand, einen Knopf drücken. Aber da gab er ihm schon den Pass zurück und winkte ihn gleichmütig weiter. Als Manu am Zoll vorbeigehen wollte, wurde er von einem Zollbeamten aufgehalten, der auf seine kleine Reisetasche deutete und fragte, ob er wirklich nichts zu verzollen habe. Manu verneinte, trotzdem bat ihn der Beamte, ihm zu folgen und ging ihm voraus in einen angrenzenden Raum. Dort öffnete er im Beisein einer Kollegin Manus Tasche, breitete die wenigen Dinge aus, die sich darin befanden – Ersatzhose, Hemden, Unterwäsche, Waschbeutel, Schuhe, eine Berliner Zeitung, die er auf dem Moskauer Flughafen bekommen hatte – tastete die Nähte ab, prüfte die Tasche mit einem Röntgengerät. Dann wies er Manu an, durch einen Nacktscanner zu gehen, tastete ihn anschließend gründlich ab und stellte ihm schließlich einen Stuhl hin. Manu setzte sich. Er schwitzte am ganzen Körper, versuchte ruhig zu atmen und sich einzureden, dass er keinen Grund hatte, nervös zu sein. Er hatte sein Bargeld vor dem Abflug in Santiago auf ein Bankkonto eingezahlt. Die zweitausend Dollar, die er bei sich trug und die die Zollbeamtin in seiner Brieftasche gefunden hatte, waren erlaubt.
Der Zollbeamte hatte wortlos den Raum verlassen. Er geht telefonieren, dachte Manu. Er schluckte, bemühte sich, die Angst zu verdrängen, die ihn schon seit der Landung begleitete. Vielleicht hatte man sie ihm angesehen. Vielleicht hatten die Beamten sie gerochen. Die Tür wurde von draußen geöffnet und herein kamen zwei andere Zollbeamte, jeder mit einem Schäferhund an der kurzen Leine. Die perfekt abgerichteten Hunde blieben bei Fuß, bis einer der Hundeführer das „Such“-Kommando gab, dann zogen sie mit aller Kraft an ihren Leinen, einer auf Manu zu, der andere hin zu dem noch ausgebreitet liegenden Gepäck und der leeren Reisetasche. Manu schnellte in die Höhe, wagte kaum zu atmen, als der Hund ihn von den Schuhen aufwärts beschnupperte, war wie gelähmt und jetzt wirklich starr vor Angst. Noch bevor er wusste, wie ihm geschah, war der Spuk schon vorbei, Hundeführer und Hunde wieder draußen, die Tür hinter ihnen geschlossen. Manu sank auf seinen Stuhl zurück, drückte sich schwer atmend gegen die Stuhllehne, versuchte zu verstehen, was hier gerade passierte.
Die Beamtin streckte ihm seine Brieftasche entgegen, sagte „vielen Dank, Herr Prahl“, bat ihn sich noch einen Moment zu gedulden und verschwand ebenfalls ohne weitere Erklärung. Warum, wollte Manu fragen, warum soll ich mich gedulden, aber es war niemand mehr im Raum, er war allein. Wie lang, konnte er nicht einschätzen, er hatte beim Hereinkommen nicht auf die Uhr geschaut, es kam ihm unendlich lang vor. Bestimmt war eine halbe Stunde vergangen, vielleicht auch eine ganze, als der Zollbeamte wiederkam, ihn erneut misstrauisch musterte und ihn schließlich mit einer Handbewegung entließ. Manu war schweißnass, als er ging. Er irrte durch den Flughafen, auf dem er sich nicht auskannte, fand eine Wechselstube, wo er Dollar in Euro wechseln konnte, endlich auch die Schalter der Autovermietungen. Er mietete sich einen Wagen, musste warten, wieder wurde sein Pass geprüft, zum Glück hatte er sich in Chile eine Kreditkarte besorgen können und damit schien alles in Ordnung zu sein. Er erhielt die Autoschlüssel, die Wagenpapiere, den Plan, in welcher Tiefgaragenebene der Wagen stand. Auf dem Weg dahin dachte er, ich muss mich umziehen. Ich stinke vor Angst.
Es war am selben Abend, als Lou Feldmann wieder im Mahlower Eck vorbeischaute. Sein Vater sei gleich nach dem Handel mit Cordalis und der Vertragsunterzeichnung in seine Heimat zurückgekehrt, hatte Ali ihm erzählt. Er wäre schon viel früher gegangen, wenn er nicht befürchtet hätte, von Dimitri übers Ohr gehauen zu werden.
Jetzt saß Feldmann im Hinterzimmer an einem Pokertisch. Der Raum, verräuchert wie eh und je, hatte sich kein bisschen verändert, seit Ali die Kneipe übernommen hatte: Bunte Teppiche an den Wänden, Bilder von antiken Ruinen vor strahlendblauem Meer, aber auch von Bergpässen und Almhütten, die genauso gut vom Schwarzwald oder den bayrischen Alpen hätten stammen können, Regale mit Tongeschirr, ein paar Wasserpfeifen, Musikinstrumente. Folklore-Kitsch als Tarnung, denn die illegalen Pokerrunden an den zusammengeschobenen Ausziehtischen wurden den Aufsichtsbehörden als Folkloreabende verkauft. Feldmann war auf der Suche nach Mehmet Celik gewesen, dem Mann seiner Küchenhilfe Aydin, und hatte ihn hier gefunden. Mehmet spielte also wieder. Feldmann war in die Runde eingestiegen. Er war kein großer Pokerspieler, hatte bloß manchmal unverschämtes Glück. In seiner Zeit bei der Polizei hatte er das Spiel lernen müssen, weil seine damaligen Kollegen fast alle gezockt hatten und er lange darum bemüht gewesen war, nicht als Außenseiter abgestempelt zu werden. Auch diesmal war der Spielergott gnädig und gab ihm gute Karten. Feldmann beobachtete seine Mitspieler: Einen habgierigen Profizocker, hager und ausgemergelt, der gelegentlich in den Neuköllner Hinterzimmern auftauchte und auf leichtes Spiel mit den Amateuren hoffte. Zwei Türken um die sechzig, die er nicht kannte, einen etwa siebzigjährigen Griechen, der das Spielen noch immer nicht lassen konnte, den Dealer Ringo, der auf die Vierzig zuging, muskulös, tätowiert, mit schwarzem Pferdeschwanz und einem großen goldenen Ohrring. Und Mehmet Celik. Er hatte den kleinsten Packen Geldscheine vor sich liegen und mitunter Schwierigkeiten, seine Augen vom Pott in der Mitte loszureißen. Der Profizocker lauerte. Er wartete auf seine Chance. Lou Feldmann rechnete im Kopf seine Chancen durch, wusste, dass der Profi bluffte, betrachtete die unbewegten Gesichter der anderen – nur Mehmet war das ewige Verlieren ins Gesicht geschrieben – und deckte auf. Die anderen warfen ihre Karten hin, als sie sein Blatt sahen. Feldmann stand auf, schob die Scheine aus dem Pott zu einem Bündel zusammen, legte einige davon vor den Dealer auf den Tisch, steckte das Bündel dann in seine Jacke, klopfte zum Abschied auf den Tisch und ging. Er schloss die Tür zum Hinterzimmer und setzte sich an den Tresen, hinter dem Ali Özdamar auf einem Hocker saß und Zeitung las. „Einen Corretto, bitte“, sagte Feldmann. Özdamar legte die Zeitung weg, drehte sich zur Espressomaschine, ließ einen Espresso durchlaufen, goss Grappa hinein und stellte die Tasse vor Lou hin. „Du siehst aus, als hättest du gewonnen.“
Lou nickte, nahm einen vorsichtigen Schluck von seinem noch heißen Getränk. „Aber es macht keinen Spaß.“
„Soll ich dir ein Taxi rufen?“
„Nein“, sagte Feldmann, „ich geh erst noch eine Runde zu Fuß.“
„Du weißt, dass um diese Zeit hier ziemlich viele üble Typen unterwegs sind. Leute, die wissen, dass bei meinen Gästen auch immer ein Gewinner dabei ist.“
Feldmann zuckte gleichgültig die Schultern, legte einen Schein auf den Tresen, trank aus und winkte Özdamar zu.
Es war noch Nacht. Bald würde die Dämmerung einsetzen.
Sie warteten hinter der nächsten Straßenecke und fühlten sich unsichtbar. Zwei hagere Burschen, keine zwanzig Jahre alt. Der eine blieb im Schatten einer Einfahrt, der andere löste sich von der Hauswand und kam auf Feldmann zu, eine Hand hinter dem Rücken.
„An eurer Stelle würde ich es erst gar nicht versuchen“, sagte Feldmann. Ehe sein Gegenüber das Messer, das er in der Hand hielt, noch richtig in Stellung bringen konnte, schlug Feldmann zu. Der Angreifer ging zu Boden. Das Messer fiel ihm aus der Hand. Feldmann kickte es mit dem Fuß auf die Straße. „Ich habe euch gewarnt“, sagte er zu dem anderen, der jetzt mit einem Totschläger auf ihn zukam. Als der Junge ausholen wollte, schlug Lou ihm mit dem Handrücken ins Gesicht. Der große Junge, der gern den starken Mann markiert hätte, schrie vor Schmerzen auf, ging in die Hocke, der Totschläger fiel auf die Straße. Feldmann kickte ihn dem Messer hinterher und sah zu, wie der Junge vor ihm versuchte, mit der Hand das Blut, das aus seiner Nase lief, aufzuhalten. „Ich hoffe, du willst jetzt von mir kein Taschentuch“, sagte Lou und ging weiter die Straße entlang, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Lou Feldmann ließ sich von einem Taxi zu seinem Lokal fahren. Der Schriftzug LOU’s über der Tür war noch erleuchtet. Davor rappelte sich ein stämmiger Mittdreißiger hoch, ihm fehlte ein Schuh. Er trug ein weit aufgeknöpftes Hemd und eine dicke Goldkette um den Hals, griff nach einem auf dem Gehsteig liegenden Gucci-Slipper, zog ihn an und sah dabei zu Lou hoch, der neben ihm stehen geblieben war: „Die mach ich fertig, die Sau.“
„Du nicht“, sagte Feldmann und ging an ihm vorbei in das Lokal hinein.
Am Tresen saß ein letzter Gast, Feldmanns früherer Kollege vom SEK, Richard Mittelberger, den alle nur Ricardo nannten, und starrte auf sein Glas, dessen Inhalt zur Neige ging. Ricardo gehörte zu den Typen, die niemals sagen würden: Mein Glas ist halb voll. Seines war immer halb leer. Lou wusste, Ricardo trank gegen seine Depressionen an.
Remy Straub putzte die Bleche unter den Zapfhähnen. Aydin Celik hatte die Stühle auf die Tische gestellt und wischte den Boden. Feldmann ging an den Tresen, nickte Ricardo zu, bevor er sich an seine Geschäftsführerin wandte. „Hattest du Ärger?“
„Ich nicht“, sagte Remy ungerührt und putzte weiter die Bleche. „Der Lude da draußen. Er wollte, dass ich für ihn anschaffen gehe.“
Feldmann schaltete hinter dem Tresen die Außenbeleuchtung ab, stellte zwei Tassen unter die Kaffeemaschine und drückte auf den Knopf.
Ricardo, der sein Glas ausgetrunken hatte, schob Remy seinen Deckel hin. „Da passt noch was drauf.“
Remy antwortete nicht, sondern hielt Lou den mit Strichen fast vollständig bedeckten Deckel hin. Lou sah Ricardo unentschlossen an.
Ricardo wechselte das Thema. „Gestern Abend gab es eine Schießerei am Flughafen.“
„Geht mich das was an?“ Lou klang gelangweilt.
„Es ging um jemanden, den du gut kennst.“
„Um wen?“
„Manu“, sagte Ricardo trocken.
Lou knickte den Deckel zusammen, warf ihn in den Papierkorb und sah Ricardo gespannt an.
„Was ist passiert?“
„Er wurde angeschossen und konnte fliehen. Mehr weiß ich vorläufig nicht.“
Lou versuchte, seine Bestürzung zu verbergen. Er nickte Remy zu.
Sie schenkte Ricardo nach.
Der Kaffee war durchgelaufen. Feldmann nahm beide Tassen und ging zu seiner Bürotür, drückte die Klinke mit dem Ellenbogen nach unten, schob die Tür auf. Mit einer Kopfbewegung bat er Aydin Celik, ihm ins Büro zu folgen.
Er stellte die Tassen auf seinem Jugendstilschreibtisch ab, schob das Notebook zur Seite, rückte einen zweiten Stuhl vor den Schreibtisch und setzte sich dahinter. Er mochte dieses Büro, er mochte die Einrichtung, die noch vom alten Andersen stammte. Doch jetzt hatte er keinen Blick dafür, zu sehr hatte diese Nachricht ihn getroffen: Manu, der Sohn seines tödlich verunglückten Bruders, den er, nachdem kurz darauf auch die Mutter des damals Zehnjährigen ihren Verletzungen erlegen war, zu sich genommen und wie einen eigenen Sohn großgezogen hatte, war also zurück. Und er war angeschossen worden.
Aydin Celik war hereingekommen, hatte sich Feldmann gegenübergesetzt und eine der Tassen zu sich herangezogen. Sie trank nicht, schaute besorgt vor sich hin und schließlich Feldmann ins Gesicht. „Lou, ich weiß, dass Mehmet wieder spielt. Er war bei einem Psychologen, er war in einer Selbsthilfegruppe …“
Feldmann unterbrach sie. „Dein Mann bekommt furchtbaren Ärger. Das Geld, mit dem er seine Schulden bei Dimitri bezahlen wollte, ist weg.“
„Ist es viel?“
„Das kannst du hier in zwanzig Jahren nicht abarbeiten.“
Aydin sank resigniert in sich zusammen. „Ich habe so sehr gehofft, er würde aufhören, aber …“ Sie brach ab. Sie wusste, dass sie sich etwas vorgemacht hatte.
Lou Feldmann nahm den Packen Geldscheine, den er gewonnen hatte, aus seiner Jacke, zählte seinen Einsatz ab und schob den Rest Aydin über den Tisch zu. „Um elf geht ein Flieger nach Istanbul. Sag ihm, er muss ihn nehmen. Unbedingt. Ich schätze, ab Mittag werden Dimitris Leute hinter ihm her sein, um ihm die Knochen zu brechen. Ich will nicht, dass du auch noch seine Krankenhauskosten bezahlen musst.“
Aydins Blick wanderte zu dem vor ihr liegenden Geld. Sie musste die Scheine nicht zählen, um zu wissen, dass sie so viel in einem Vierteljahr nicht verdienen würde. Obwohl Lou gut zahlte.
„Ist das dein Ernst, Lou?“
„Aydin, du hast schon genug Probleme. Ich mache mir auch Sorgen um deine Tochter. Bring deinen Mann zum Flughafen, er soll für eine Weile untertauchen. Und sag ihm, wenn er die Maschine nicht nimmt – ein zweites Mal werde ich ihm nicht helfen.“
Aydin Celik nahm das Geld, bedankte sich, holte ihre Tasche, winkte Remy zu und lief eilig in die Nacht hinaus. Feldmann legte seine Füße auf den Schreibtisch und versuchte sich zu entspannen, aber ohne Erfolg. Der Gedanke an seinen Neffen ließ ihn nicht los. Verdammt noch mal, Manu, warum bist du nicht geblieben, wo auch immer du gesteckt hast? Hast du dir da auch die Finger verbrannt?
Als Manu aus seinem Blickfeld verschwunden war, waren die Sorgen um ihn allmählich abgeklungen. Und auch die Wut, die er auf ihn gehabt hatte.
Dr. Sylvie Westphal hatte den Anruf zwei Stunden nach Beginn ihrer Nachtschicht in der Notaufnahme des Urbankrankenhauses erhalten. Sie kannte die Stimme und wusste sofort, wen sie an der Strippe hatte. Ohne ihr Erstaunen zum Ausdruck zu bringen, ließ sie sich genau schildern, um was für eine Verletzung es sich handelte, fragte, wie stark die Blutung sei und erklärte, vom medizinischen Standpunkt her betrachtet sei es eindeutig das Beste, der Anrufer käme umgehend in die Klinik. Ihrer Erfahrung nach konnten nur die wenigsten Patienten einschätzen, wie bedrohlich der Blutverlust nach einer Verletzung wirklich war. Andererseits war es nicht das erste Mal, dass Sylvie Westphal von einem Patienten kontaktiert wurde, für den der medizinische Standpunkt zweitrangig war. Deshalb willigte sie schließlich ein, so bald wie möglich ihre Schicht abzutreten und nach Hause zu kommen.
Es war kurz vor fünf Uhr und beinahe hell, als sie den Wagen parkte und auf ihre Haustür zusteuerte. Aus dem Dunkel des Hauseingangs gegenüber trat ein Mann auf die Straße, der schmerzverkrümmt und ein wenig hinkend auf sie zukam. Ein zerknittertes Leinenjackett bedeckte seinen ansonsten nackten Oberkörper. Das mit Blut vollgesogene Hemd presste er sich an die rechte Seite. Sylvie Westphal öffnete die Tür. Der Mann folgte ihr wortlos. Sie fuhren mit dem Aufzug in die dritte Etage. Erst als die Wohnungstür von innen abgeschlossen war, sahen sie einander ins Gesicht.
„Manu. Du traust dich was.“
„Sylvie. Ich …“
„Wo kommst du denn jetzt so plötzlich her? Nach zwei Jahren …?“
„Flughafen.“
„Und wo kam der Flieger her?“
„Moskau.“
„Aber du warst nicht in Russland.“
„Nur eine Nacht und einen halben Tag auf dem Flughafen.“
„Und vorher?“
„Patagonien. Mit Zwischenstopp in Kuba.“
Sie betrachtete ihn kopfschüttelnd und zeigte auf das blutdurchtränkte Hemd, das Manu an seine Seite presste. „Zeig her. Schussverletzung hast du gesagt?“
„Frag mich nicht, wer das war. Die waren einfach da.“
„Ich frage gar nichts. Komm rüber an den Tisch.“
Sylvie Westphal holte ihren Arztkoffer und breitete ihr Besteck auf dem Tisch aus. Dann untersuchte sie die Wunde. „Da hast du ziemliches Glück gehabt. Das war bloß ein Streifschuss. Ich desinfiziere jetzt die Wunde. Aber ich sage dir eines, Manu Feldmann, die Bullen haben mich auf der Abschussliste. Wegen einer Sache wie dieser. Und nach dir fahnden sie seit zwei Jahren wegen Mordes. Du musst schnellstens von hier verschwinden.“
„Aber ich habe Hanna nicht umgebracht!“
„Dass du abgehauen bist, ist nicht unbedingt ein Zeichen dafür, dass du unschuldig bist.“
Manu biss die Zähne zusammen, als Sylvie die Wunde mit einer Kompresse, auf die sie reichlich Desinfektionslösung geträufelt hatte, säuberte.
„Du stinkst“, sagte sie. „Trotzdem solltest du damit mindestens eine Woche lang nicht duschen. Wasch dir deinen Schweiß mit dem Waschlappen ab.“
Manu schluckte. Er wagte nicht, sich zu rühren. Erst als Sylvie die Wunde mit einer neuen Kompresse bedeckte und begann, einen Verband anzulegen, fragte er: „Verpfeifst du mich jetzt?“
„Wenn sie mir das Messer auf die Brust setzen: ja. Du weißt, dass Schussverletzungen gemeldet werden müssen. Ärztliche Schweigepflicht hin oder her. Aber jetzt sorge ich erst einmal dafür, dass dein Onkel dich abholt.“
Sie schnitt den Rest der Mullbinde ab, klebte zwei Leukosilk-Streifen über die Verbandsenden und griff sich ihr Handy.
„Du willst ihn doch nicht anrufen?“, fragte Manu kleinlaut. „Vielleicht wird er abgehört.“
„Keine Angst.“
Sylvie begann eine SMS zu tippen.
Als Ricardo das Lokal verlassen hatte und in seine Dachwohnung, die Lou Feldmann ihm, nachdem Andersens Haus an ihn übergegangen war, vermietet hatte, verschwunden war, setzte Lou sich hinter seinen Schreibtisch und überprüfte Rechnungen und Lieferscheine, ohne sich wirklich konzentrieren zu können. Manu hatte sich in seinem Kopf breitgemacht. Feldmann schob die Rechnungen zur Seite. Er wollte gerade aufstehen, um nach oben in seine Wohnung zu gehen, als Remy hereinkam und ihm verärgert ihr Mobiltelefon entgegenstreckte. „Eine SMS von Sylvie. An dich. Offenbar geht sie davon aus, dass dein Telefon noch immer überwacht wird.“
Lou las die Nachricht, gab Remy das Handy zurück, stand auf und nahm seine Jacke von der Stuhllehne.
„Konnte dieser Scheiß-Manu nicht bleiben, wo er war?“, fragte Remy zornig. „Du kannst sicher sein, dass sie schon draußen auf dich warten. Und wenn es sich erst rumgesprochen hat, warten nicht nur die Bullen. Jetzt geht dieses verdammte Theater wieder von vorne los!“
„Ich kann deine Wut gut verstehen, Remy“, sagte Lou. „Aber trotzdem …“
Sie verließen das Lokal gemeinsam.
„Pass auf dich auf“, sagte Remy und ging eilig davon.
Feldmann gab sich unentschlossen, als wisse er nicht, in welche Richtung er gehen wollte. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr – es war schon nach sechs – und schaltete sein Handy aus. Sie würden versuchen, ihn darüber zu orten, und er hatte nicht vor, ihnen ein Bewegungsprofil zu liefern.