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Nur noch wenige Wochen trennen Rita von der Zukunft, von der sie seit Jahren träumt. Dann endlich kann sie sich zu dem Mann bekennen, dem ihr Herz gehört und sich ihrer großen Leidenschaft, dem Schreiben, hingeben. Sie vertraut darauf, dass sie es schaffen wird, eine erfolgreiche Journalistin zu werden, denn das Glück scheint in ihr zu stecken bei allem, was sie anfängt. Tom lebt im Innerquell Lodega, einem Ort, an dem das Glück der Menschen über allem anderen steht. Sich zwischen Lodega und der uns bekannten Welt hin und her zu bewegen ist für ihn so natürlich wie zu atmen. Als Bote des Glücks wird er ausgesandt, um die Geschicke der Menschen in die richtigen Bahnen zu lenken. Das Schicksal will es, dass die Leben der beiden jungen Menschen miteinander verwoben werden. Nicht nur ihr eigenes Glück, sondern das aller Menschen, die ihnen wichtig sind, hängt mit einem Mal von ihrem Handeln ab. Womit keiner der beiden rechnet ist, dass ihre eigenen Gefühle den Lauf der Dinge entscheidend beeinflussen.
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Seitenzahl: 319
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Anne Winter
Glücksträgerin
© 2021 Anne Winter
Bildnachweis Cover:
iStock.com/heckmannoleg
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
978-3-347-07233-6 (Paperback)
978-3-347-07235-0 (e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Glück:
eine Ahnung von Himmel, ein Geschenk der Ewigkeit an den Augenblick.
(aus dem „Vermächtnis des Ursprungs an die Zeiten“ an die Bewohner des Innerquells Lodega)
PROLOG
Was wäre, wenn es neben unserer gewohnten Umgebung, der Welt, in der wir uns bewegen, eine andere Welt gäbe, in der die Geschicke der Menschheit gelenkt werden? Ein Ort, wo das Glück zu Hause ist?
Was wäre, wenn der Mensch an deiner Seite nicht hier geboren wäre, sondern dort, im Innerquell? Wäre er ein anderer für dich?
Was wäre, wenn die Grenze von hier nach dort weltlich wäre, ein Ort, von dem aus du zurückblicken könntest und das Bekannte sehen könntest, das du hinter dir lässt? Wäre das „Dort“ dadurch ein anderes?
Teil 1
Schon vor Sonnenaufgang war Daniel aufgebrochen. In einem großen Rucksack hatte er alles verstaut, was er für das Experiment brauchte: Distanzmessgerät, Kreide, sein Notizheft mit den letzten Aufzeichnungen und Berechnungen, eine wasserdichte Plane und natürlich das Prisma. Er hatte es sorgfältig in die Plane eingewickelt und sich beim Einpacken ungemein darüber gefreut, wie schön es geworden war.
Noch vor einem halben Jahr war es nichts weiter gewesen als ein unförmiger, faustgroßer Klumpen Glimmerschiefer mit einer kleinen glatten, dunkelbraun glänzenden Fläche, die sich vom restlichen Stein abhob.
Aufgrund seines Faibles für Mineralien hatte Daniel den Stein von einer Schülerin geschenkt bekommen.
Als er mit dem Ärmel seines Sweatshirts über die glatte Stelle gerieben hatte um sie zu polieren, hatte er seinen Augen kaum getraut. Der Stein war durch die Reibung scheinbar zum Leben erwacht. In dem ursprünglichen Dunkelbraun erschien durch die streichenden Bewegungen mit dem Stoff ein kreisrunder, goldgelber Fleck, der sich wie eine im Stein erblühende Blume vor seinen Augen ausbreitete und kurz darauf wieder verschwand.
Fast ehrfürchtig hatte Daniel den Vorgang mehrmals wiederholt, immer mit demselben faszinierenden Effekt.
Die Magie des Steines hatte ihn im darauffolgenden halben Jahr nicht mehr losgelassen.
Obwohl er über fundiertes Wissen in Gesteinskunde verfügte, hatte er von einer derartigen Reaktion noch nie gehört. Fasziniert hatte er sich in der darauffolgenden Zeit in Fachliteratur über Gesteine vertieft. Außerdem hatte er sich daran gemacht, den glänzenden Einschluss freizulegen.
Schließlich hatte er herausgefunden, dass es sich bei diesem Stein um einen lapis dravus handeln musste.
Beim Recherchieren im Internet war er außerdem auf Mythen gestoßen, die sich um diese Gesteinsart, die im Volksmund auch Dravit genannt wurde, rankten.
Eine Legende erzählte, dass Dravit eine versteinerte Bestie sei, die alles gierig verschlang, was im Licht der Sonne schwitzte.
In einem anderen Artikel hieß es wiederum, der lapis dravus sei der Schlüssel zum Glück.
Auch wenn Daniel derartigen Geschichten anfangs nicht viel abgewinnen konnte, gefiel ihm doch die Vorstellung ein so geheimnisvolles Mineral zu besitzen.
In mühevoller Kleinarbeit war es ihm gelungen, den Dravit vollkommen von dem umgebenden Glimmerschiefer zu befreien. Er war dunkelbraun und an manchen Stellen leicht transparent, sodass man in den Stein hineinblicken konnte. In einem bestimmten Lichteinfallswinkel glitzerte es unter der Oberfläche goldgelb.
Nach und nach hatte Daniel zu seiner eigenen Verwunderung begriffen, dass in den Legenden doch ein Körnchen Wahrheit lag.
Nun war er auf dem besten Weg, selbst Geschichte zu schreiben, und seine Geschichte würde eine Erfolgsstory werden.
Gegen fünf Uhr früh brach er von zu Hause aus auf und erreichte genau zum Morgengrauen den Eingang zur Schlucht. Sie schlug eine lange, fast gerade Kerbe in das Gelände. Durch das starke Gefälle an beiden Seiten wirkten die steilen Wände beinahe bedrohlich, besonders am Eingang der Schlucht. Ein Bach preschte von Süden kommend durch die Schlucht, die hier über eine Länge von ungefähr eineinhalb Kilometern so eng war, dass das Wasser sie fast ganz ausfüllte und der Pfad an vielen Stellen über schmale Holzstege führte, die an der steil aufragenden Felswand befestigt waren.
Ihm präsentierte sich hier ein Stück Wildnis nach nur einer halben Stunde Fußmarsch aus dem Zentrum von Vassalis, der Stadt in der er lebte und arbeitete.
Das Rauschen des Baches wurde in gleichem Maße lauter wie das Tal enger wurde. Das Wasser schäumte und spritzte über Kaskaden aus riesigen Felsblöcken talauswärts.
Obwohl er die Schlucht schon oft durchwandert hatte, war Daniel froh, dass es nicht mehr ganz finster war. Achtsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Er sog die kalte feuchte Luft ein. Sie roch modrig von dem nassen Moos, das die Wände teilweise bedeckte. Er konzentrierte sich ganz auf sich und war in Gedanken bei seinem Experiment.
Als die ersten Sonnenstrahlen den oberen Bereich der Wand in freundliches Licht tauchten, war Daniel schon fast am innersten Punkt der Schlucht angelangt.
Er blieb stehen und sah eine Weile zu, wie die steilen Wände zunehmend vom Tageslicht erhellt wurden. Das vom Tau und der feuchten Luft nasse Moos funkelte in den ersten Sonnenstrahlen.
Ihm blieb genügend Zeit, die richtige Position für das Prisma zu bestimmen. Er bestimmte den Abstand zur Wand, markierte die ausgemessene Stelle und machte sich daran, alle notwendigen Utensilien auszupacken.
Plötzlich hörte er Schritte in seiner unmittelbaren Nähe. Er schrak auf und blickte geradewegs in die Augen eines sehr jungen Mannes. Dem stand die Überraschung ins Gesicht geschrieben. Auch er hatte offenbar nicht damit gerechnet zu so früher Stunde hier jemanden anzutreffen.
Im Vorbeigehen stopfte der unbekannte junge Mann einen nassen Regenschirm, den er zuvor abgeschüttelt hatte, in einen Schulrucksack.
Abschätzend musterte Daniel den Fremden. Mehrere Fragen huschten durch seinen Kopf. Wofür brauchte er den Regenschirm, wo doch seit Tagen trockenes Wetter herrschte? Der Bach war hier nicht begehbar. Wo kam der Typ her? Was machte er um diese Zeit hier? Abgesehen von dem Schulrucksack hatte er nicht viel bei sich, nur eine blitzblaue sportliche Bauchtasche, aus der die Ohrenstöpsel eines Musikabspielgerätes heraushingen. Wie konnte es sein, dass sie einander nicht früher gehört hatten? Es gab nur den einen Weg in die Schlucht, den Daniel genommen hatte.
Daniel spürte auch, wie sich Ärger in ihm ausbreitete.
Er hatte bei seinem Experiment ungestört sein wollen. Es war zu früh, um irgendjemandem davon zu erzählen. Der Junge war – absichtlich oder nicht – in etwas hineingeplatzt, was Daniel vorerst ganz für sich allein haben wollte.
Doch zu seiner Erleichterung schenkte der Fremde den aufgelegten Gerätschaften und Daniel keine Aufmerksamkeit, sondern er grüßte nur schnell und machte sich eilig davon talauswärts.
Beruhigt setzte Daniel seine Arbeit fort.
Er zeichnete mit Kreide einen schraffierten Kreis auf den nassen Felswächter, einen großen Stein, der seinen Namen seiner ausgesetzten Position am Ende der Schlucht und seiner Form verdankte. Mit etwas Vorstellungskraft sah der Fels wie der Oberkörper eines dicken faltigen Mannes aus. Über sein Haupt ergoss sich in wiederkehrenden Intervallen Wasser, das durch ein Loch im Inneren des Felsens nach oben gespült wurde.
In wenigen Minuten würde die Sonne hoch genug stehen, um das Prisma in Daniels Hand zu beleuchten.
Immer wieder drehte er sich um und versicherte sich, dass er ungestört war. Der Junge war schon weit entfernt und schaute sich nicht um. Daniel konnte ihn zwischen den Felswänden kaum noch erkennen. Nur seine Bauchtasche war noch als leuchtender blauer Fleck auszumachen.
Daniel streckte die Hand, auf der das Prisma lag, aus. Die Sonnenstrahlen trafen darauf. Konzentriert und gespannt drehte er das Prisma in die Position, die es seinen Berechnungen zufolge einnehmen musste.
Für einen Sekundenbruchteil reflektierte das Prisma einen Lichtkegel auf den Felswächter.
Daniel bebte vor Aufregung, gewann aber schnell wieder die Kontrolle über seine Bewegungen. Mit ruhigen Händen neigte er das Prisma erneut kaum merklich in seiner Hand.
Plötzlich erschien ein großer rechteckiger Lichtfleck auf dem Felsblock. Vor Daniels Augen begann der beleuchtete Teil des Felsens zu flimmern.
Daniel zwinkerte, versuchte das Bild, das sich ihm darbot, scharfzustellen. Doch der Effekt verstärkte sich weiter.
Gebannt hielt er den Atem an. Während sich die Luft um ihn herum vor Spannung verdichtete, löste sich die Wand exakt an der beschienenen Stelle in Nichts auf. Von seiner Markierung war nichts mehr zu sehen. Kein Steinchen oder auch nur Staubkorn wies darauf hin, dass der Felswächter noch vor wenigen Augenblicken eine andere Form gehabt hatte.
Daniel ballte seine freie Hand zur Faust und jubelte leise. Es funktionierte! Er hatte es geschafft!
° ° ° ° °
Triumphierend rieb sich Philipp die Hände. Er hatte einfach einen guten Riecher.
Die Position, die er mittlerweile innehatte, verlangte längst nicht mehr, dass er selbst Arbeiten wie diese verrichtete. Es gab genügend Handlanger, die nach seiner Pfeife tanzten. Dass er bei diesem Daniel so einen Volltreffer landen würde, überstieg seine kühnsten Vorstellungen.
Philipp war Daniel an diesem Tag in aller Früh in sicherem Abstand und leise wie eine Raubkatze in die Schlucht gefolgt.
Den Anfang hatte die Geschichte eigentlich in den Wochen zuvor genommen.
Daniel Bauer war Philipp nämlich schon wiederholt im Wendelgebirge begegnet, wo er auf der Suche nach besonderen Steinen viel Zeit zu verbringen schien.
Auch Philipp trieb sich oft dort herum, da sich die Erdpforte am Fuße dieses Gebirges befand.
Die Erdpforte war das Tor zwischen dem Innerquell Asoka, in dem er lebte, und der Welt.
Philipp hatte ein Gedächtnis wie ein Elefant, wenn es um Gesichter ging. Er wusste immer, ob, wann und wo er jemanden schon einmal gesehen hatte. Als er am Vortag aus der Erdpforte gekommen war, hatte es nur wenige Sekunden gedauert, und Daniel Bauer war in der 5. Kehre des Zickzacksteiges aufgetaucht.
Um ein Haar hätte er Philipp aus der Pforte kommen sehen. Philipp hatte sich im ersten Moment überrumpelt gefühlt und Daniel argwöhnisch angeschaut. Seine Befürchtungen, ertappt worden zu sein erwiesen sich aber als unnötig. Sein Gegenüber war gedanklich ganz auf einen Stein in seiner Hand konzentriert gewesen.
Als Philipps Blick darauf gefallen war, hatte Daniel den Stein so gut es ging mit seinen Händen bedeckt. Doch der eine Blick hatte gereicht und Philipps Neugier war geweckt gewesen.
Er hätte gern mehr gesehen und erfahren. Daniel aber war zügig an ihm vorbeimarschiert und hatte ihm so unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er nicht an einer Unterhaltung interessiert war.
Philipp hatte beschlossen, dieser zufälligen Begegnung weitere folgen zu lassen, bei denen er sich vorerst verdeckt halten würde.
Und so war es gekommen, dass er Daniels Wohnung über Nacht beschattet hatte und ihm gefolgt war, als er in der Morgendämmerung das Haus verlassen hatte.
Das, was Daniel Bauer nun gerade vor Philipps Augen vollbracht hatte, eröffnete neue Dimensionen.
Doch nun galt es keine weitere Zeit zu verlieren. Philipp wollte wissen, was der Junge vorhatte, der talauswärts unterwegs war. Auch sein Gesicht war in Philipps Gedächtnis nur zu gut verankert.
° ° ° ° °
Tagesrundschau, 20. Mai
Ehepaar aus Vassalis vermisst
Petram. Am Samstag gegen sechs Uhr früh brachen Helene (28) und Oliver (26) Fercher aus Vassalis zu einer Wanderung auf die Bettelwurfhütte im Vassalistal auf. Sie führten ihren Hund, einen Labrador, mit sich.
Nachdem sie ihr Auto am Parkplatz des Taleinganges geparkt hatten, überquerten sie gemeinsam mit zwei jungen Wanderern aus der Schweiz die Fußgängerbrücke, die unmittelbar an den Parkplatz anschließt. Die Schweizer hatten das gleiche Ziel, stiegen aber über das Lafatscher Joch auf. Das Ehepaar aus Vassalis hatte sich für die Route über den Zickzacksteig entschieden.
Die Wanderer vereinbarten ein Treffen auf der Bettelwurfhütte am späten Vormittag. Dieses Treffen kam jedoch nicht zu Stande, da das Ehepaar aus Vassalis nicht in der Hütte erschien. Nachdem die Schweizer Wanderer bis ein Uhr gewartet hatten, machten sie sich über den Zickzacksteig auf den Rückweg. Im Bereich der fünften Kehre trafen sie auf den Hund des Ehepaares aus Vassalis, der abwechselnd heftig bellte, winselte und an einem mehrere Meter hohen Felsen kratzte.
Besorgt suchten sie das Gelände rundherumnach den Wanderern ab, jedoch erfolglos.
Nachdem sie das Auto am Parkplatz vorfanden, alarmierten sie schließlich die Polizei.
Eine groß angelegte Suchaktion von Polizei und Bergrettung ist derzeit im Gange, von den Vermissten fehlt jedoch jede Spur.
° ° ° ° °
Tom näherte sich der Klassentür leise und blieb unmittelbar davor stehen.
Sein Auftrag war für ihn gleichermaßen ungewöhnlich wie unklar. Er lautete: Gewinne Rita Gärtner als Komplizin.
Doch als Komplizin wofür? Normalerweise war es seine Aufgabe, Menschen zu Lebensglück zu verhelfen.
Er konnte sich einfach keinen Reim darauf machen, warum er als Glücksritter eines Innerquells eine Weltbürgerin als Komplizin anwerben sollte.
Doch das pure Glück, die Oberste seines Innerquells, vertraute auf seine Zuverlässigkeit, und hatte ihn für weitere Informationen auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet.
Während er sein Äußeres kurz prüfte und seine Bauchtasche im Rucksack verstaute spulte er die Geschichte, die er sich zurechtgelegt hatte, nochmals im Schnell-durchlauf gedanklich ab:
Er kam ursprünglich aus Lodega, einem kleinen Ort in der Nähe Roms. Seine Mutter war Österreicherin, sein Vater war gebürtiger Amerikaner. Er war mehrsprachig aufgewachsen und hatte zuletzt in Wien das Oberstufenrealgymnasium besucht. Seine Mutter war vor drei Jahren gestorben, damals hatte er in Betracht gezogen, die Schule abzubrechen und sich in dem einen und anderen Job versucht. Schließlich hatte er sich doch entschieden weiterzumachen und ein Schuljahr wiederholt. Sein Vater war geschäftlich meistens im Ausland unterwegs. Seine Großmutter wohnte hier in Vassalis. Aus familiären Gründen sei er jetzt, da er volljährig war, hierher gezogen.
Tom hob die Hand und klopfte. Die Stimmen, die er durch die Tür leise vernommen hatte, verstummten, und wenige Augenblicke darauf öffnete ein junger, sportlicher Lehrer die Tür.
Überrascht stellte Tom fest, dass vor ihm derselbe Mann stand, der ihn heute in aller Früh in der Schlucht aus der Wasserpforte kommen gesehen hatte.
Der verblüffte Blick seines Gegenübers verriet ihm, dass auch er ihn sofort wiedererkannt hatte.
„Hallo! Du bist Tom Russel, nicht wahr?“ Tom nickte, und der Lehrer streckte ihm die Hand zum Gruß entgegen und stellte sich als Daniel Bauer vor.
Wie Tom es sich erhofft hatte, waren die Schüler schon auf seine Ankunft vorbereitet worden. Ein Platz ganz hinten in der Mitte war bereits für ihn hergerichtet.
Erleichtert, dass alles wie geplant lief, setzte er sich und stellte sich vor. Dabei waren alle Augen auf ihn geheftet.
Er ließ seinen Blick durch die Gruppe der nur wenige Jahre jüngeren Schülerinnen und Schüler schweifen auf der Suche nach Rita Gärtner.
Ihre Blicke trafen sich. Für einen Moment gab es nichts außer ihrer Gegenwart.
Nachdem er seine kurze Geschichte erzählt hatte, ergriff Daniel wieder das Wort. Mit einem freundlichen Nicken in Toms Richtung knüpfte er wieder an das Thema an, über das sie vor Toms Eintreffen gesprochen hatten.
Tom hatte sich im Vorfeld über Rita informiert.
Da sie für die Schülerzeitung schrieb, hatte er Berichte von ihr gelesen. Er wusste von dem kleinen Porträtfoto, das am Anfang dieser Artikel abgedruckt war, wie sie aussah.
In sozialen Netzwerken im Internet war sie nicht zu finden gewesen, aber glücklicherweise hatten ihn seine Nachforschungen auf der Schulhomepage weitergebracht.
Sämtliche Schülerzeitungen der letzten fünf Jahre waren dort im Archiv abrufbar. Rita schrieb seit der dritten Klasse für die Zeitung. In jeder der dreimal im Jahr erscheinenden Ausgaben fanden sich Artikel von ihr über geologische Forschungsprojekte, an denen Schüler ihrer Schule arbeiteten.
Wie Tom aus den Artikeln erfahren hatte, arbeiteten alljährlich Schüler der 3. Klassen im Rahmen ihres Ausbildungsschwerpunktes „Ökologie des Alpenraumes“ an Projekten, die sich mit dem Aufbau und der Beschaffenheit der Umwelt im Alpenraum befassten.
Angeleitet und betreut wurden die Schüler dabei von ihrem Lehrer Daniel Bauer.
Rita Gärtner dokumentierte die Ergebnisse und präsentierte sie in der Schülerzeitung allen Lesern.
Tom war aufgefallen, wie wertschätzend sie die Arbeit der Schüler beschrieb. Sie hatte eine humor- und liebevolle Art, Misserfolge, Sackgassen und Pannen bei der Forschungsarbeit zu beschreiben. Ihre Artikel waren informativ und zugleich unterhaltsam, und Tom hatte sich schon beim Lesen darauf gefreut, sie kennenzulernen.
Rita saß von ihm aus gesehen vorne links, direkt beim Lehrerpult. Sie hatte ihren Blick nach vorne in die Mitte gerichtet, wo Daniel Bauer stand.
Tom betrachtete ihr Profil. Ein Prickeln breitete sich in ihm aus.
Sie war schön. Ihr dunkelbraunes Haar war locker im Nacken zusammengebunden und fiel wellig weit über den Rücken hinab. Ihre graublauen Augen wirkten durch die vollen Brauen dunkel, zumal ihre Haut klar und sehr hell war. Die vollen, roten Lippen zogen seinen Blick magisch an.
Als hätte sie es gespürt, drehte sie ihren Kopf und schaute ihn an.
° ° ° ° °
Ein heißer Blitz durchfuhr Rita ausgehend von ihrem Herzen, das mit einem Mal wie wild hämmerte. Sie spürte, wie sie rot wurde und drehte sich schnell wieder nach vorn.
Ihre Hände begannen zu schwitzen und sie registrierte jede kleinste Regung ihres Körpers bewusst.
Sie versuchte still zu sitzen, sich ganz normal auf den Unterricht zu konzentrieren. Plötzlich fühlte sie sich sehr unwohl auf ihrem Platz, irgendwie im Mittelpunkt einer Szene, die sie aus dem Nichts überrascht hatte.
Kurz flammte schlechtes Gewissen gegenüber Daniel in ihr auf, für das sie sich in Gedanken selbst schalt.
Zu allem Überfluss richtete Daniel mit fragendem Blick das Wort an sie: „Alles in Ordnung, Rita?“ Rita zuckte zusammen. Die Situation war ihr peinlich, und sie wollte im Moment nur eines: fliehen.
„Ehrlich gesagt ist mir ziemlich schwindlig. Kann ich kurz nach draußen gehen?“, fragte sie deshalb kurzerhand.
„Natürlich“, stimmte Daniel mit besorgtem Ausdruck zu, „aber jemand soll dich begleiten!“
Als sich nun Tom erhob, und fragte, ob er mitgehen könne, weil er ohnehin noch den Schulwart wegen der Zuteilung eines Spinds antreffen wolle, klappte Rita die Kinnlade herunter. Restlos alle Augen wanderten verwundert zu Tom.
Auch Daniel war sichtlich irritiert, stimmte aber zu. Rita setzte sich mechanisch in Bewegung.
Als sie im Gang war, drehte sie sich zu Tom um, der gerade die Klassentür hinter sich schloss.
Etwas verlegen bedankte sie sich und versicherte ihm, dass es ihr nicht ganz so schlecht gehe und sie einfach nur ein bisschen frische Luft schnappen wolle. Ihr entging dabei nicht sein Blick, in dem keine Spur von Besorgnis zu sehen war. Ganz im Gegenteil, ein verschmitztes Lächeln umspielte seine Lippen.
„Dann begleite ich dich nach draußen“, beschloss Tom und war schon ein paar Schritte vorausgegangen, um ihr die Glastür zum Stiegenhaus aufzuhalten.
Rita knüpfte an Toms Erzählung im Klassenzimmer an und fing ein belangloses Gespräch über Wien an.
Sie gingen beim Haupttor hinaus und setzten sich ohne ihr Gespräch zu unterbrechen wie selbstverständlich auf die Mauer bei den Fahrradständern, die den Zugang zur Schule wie eine Allee säumten und eine willkommene Sitzgelegenheit boten.
Irgendwie hatte sich die Unterhaltung gedreht, und Rita war dabei, Tom von sich zu erzählen.
Unweigerlich kam sie auch darauf zu sprechen, dass sie ihre Mutter und ihre ältere Halbschwester bei einem Flugzeugunglück verloren hatte.
Tom hörte ihr einfach zu, stellte keine Fragen, schenkte ihr kein Mitleid. Er schaute sie einfach an und nickte hie und da. Sie war dankbar, dass er ihr sein Entsetzen ersparte und sie nicht dazu zwang, Worte für eine so große Leere zu finden.
Die Zeit hatte ihr geholfen, ihr Herz wieder mit Freude zu füllen, und so erzählte sie auch von ihrer Schreibtätigkeit, ihrer Schwäche für Souvenirs und ihrer innig geliebten und zugleich einzigen sportlichen Aktivität, dem Laufen. Sie genoss seine Aufmerksamkeit und fühlte sich auch wohl, als sie beide schließlich schwiegen.
Toms Beine baumelten einen halben Meter über dem Boden. Er hatte sein Gesicht der Sonne zugewandt und die Augen geschlossen.
Rita nutzte diese Gelegenheit, um ihn genau zu betrachten. Seine Größe ließ ihn sehr schlank erscheinen. Die sehnigen Arme, die er gerade locker auf der Mauer abstützte, waren braun und fein behaart. Ritas Blick glitt zu seinem Gesicht.
„Er gefällt mir besser als Daniel“, dachte sie und wunderte sich im gleichen Moment darüber, dass sie diesen Vergleich anstellte.
Beim Anblick seines leicht geschlossenen Augenlids spürte sie ein sanftes Kribbeln im Inneren ihrer Brust aufsteigen. Sie stellte sich vor, ihm sanft mit ihrem Mund über die Wange zu streichen und ihn zu küssen. Sie spürte das Verlangen, ihre Hände in seinen halblangen, goldbraunen Haaren zu vergraben.
In diesem Moment öffnete er die Augen, blinzelte und strahlte sie dann an, als ob die Sonne ihre Leuchtkraft direkt in seine grünblauen Augen gelegt hätte.
„Wie geht es dir jetzt eigentlich? Ist dir immer noch schwindlig?“
Rita schüttelte schnell den Kopf. Die Neuigkeit, dass sie sich soeben aus heiterem Himmel verliebt hatte, verbreitete sich binnen Sekunden in sämtlichen Regionen ihres Körpers.
Ihre Hände prickelten und fühlten sich geschwollen an, ihr Herz hämmerte wie wild, sie spürte, dass ihre Ohren heiß und ihr Mund trocken waren.
„Nein, alles wieder okay“, murmelte sie mit rauer Stimme und sprang dann von der Mauer, wobei sie dankbar war, dass ihre weichen Knie ihr nicht den Dienst versagten.
Auf dem Weg ins Klassenzimmer erinnerte sich Rita, dass Tom eigentlich den Schulwart aufsuchen wollte und fragte ihn danach.
Er hatte es seinerseits ganz vergessen, was ihm irgendwie peinlich zu sein schien, aber er tat die Frage ab und versicherte ihr, dass er der Sache auch nach der Schule noch nachgehen könne.
„Ich glaube, es ist höchste Zeit, zurück in die Klasse zu gehen. Wir waren, glaube ich, ziemlich lang weg.“ Bei diesen Worten drehte er den Kopf zu Rita und lächelte sie an.
Sie lächelte zurück und ihre Blicke verfingen sich einen Augenblick länger als notwendig, was in Ritas Bauch tausend Schmetterlinge zum Flattern brachte.
Die Pausenglocke, die nun erschallte, bestätigte seine Vermutung.
° ° ° ° °
Tagesrundschau, 23. Mai
Wieder Vermisste im Vassalistal
Am Dienstag machten sich Dietmar Leier (56) aus Vassalis, Erwin Beer (50) und Matthias Beer (29), beide aus Petram, in den frühen Morgenstunden über den Zickzacks teig auf zur Bettelwurfhütte.
Nachdem die Männer nicht wie vereinbart am Nachmittag zurückkehrten und auch telefonisch nicht erreichbar waren, alarmierte die Frau von Herrn Erwin und Mutter von Matthias Beer am Dienstag gegen 19:30 Uhr die Polizei.
Seither fehlt von den drei Männern jede Spur. Im selben Gebiet wird bereits seit Samstag ein Ehepaar aus Vassalis vermisst.
Eine groß angelegte Suchaktion der Bergrettung und der Polizei blieb bislang ohne Erfolg. Die Suche läuft weiterhin auf Hochtouren.
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In den darauffolgenden Wochen verflog die Zeit. Die Matura rückte mit Riesenschritten näher. Der normale Unterrichtsalltag hatte wenige Tage nach Toms Eintreffen geendet. Bis zu den Prüfungen fanden nur noch wenige Blockveranstaltungen statt, die jeder Schüler in jenen Fächern besuchte, die er für die Matura gewählt hatte.
Tom und Rita trafen deshalb nur in den Deutsch- und Mathematikveranstaltungen aufeinander.
Im Nachhinein bereute Rita, dass sie Geografie als Maturafach gewählt hatte. Als die Entscheidung dafür zu treffen war, hatte sie sich stark zu ihrem Lehrer Daniel Bauer hingezogen gefühlt.
Er erwiderte ihre Gefühle, das spürte sie genau. Ungeduldig wie sie war, hatte Rita bereits Luftschlösser für ihre Zukunft mit Daniel gebaut, sie geschmückt und ausgestaltet. Sie hatte den letzten Schultag herbeigesehnt, den Tag, an dem aus dem Lehrer-Schülerin-Verhältnis endlich ein gleichwertiges Mann-Frau-Verhältnis werden würde.
Seit Tom in ihr Leben getreten war, hatte sich ihre Beziehung zu Daniel grundlegend geändert.
Sie konnte ihm nicht mehr in die Augen sehen. Anstelle der Freude und des Interesses, wenn sie ihn sah, waren schlechtes Gewissen und Smalltalk getreten. Doch nichts konnte ihre Gefühle für Tom einbremsen.
Sie waren kein Paar, aber Rita fühlte sich ihm sehr nahe, auch wenn sie sich erst wenige Wochen kannten.
Einen Tag nach ihrem ersten Gespräch vor der Schule waren sie sich zufällig beim Bäcker begegnet und hatten spontan beschlossen, gemeinsam in einem Café zu frühstücken.
Seither verabredeten sie sich alle paar Tage, gingen gemeinsam joggen oder bummelten durch die Stadt und tranken etwas.
Tom war ein guter Zuhörer, und er hatte Humor und Charme. So hatte sie ihm in kurzer Zeit viel von sich anvertraut.
Vor ihm genierte sie sich nicht für ihre konservative Lebenseinstellung.
Bei den meisten Gleichaltrigen wurde ihr unterschwellig der Titel Streberin oder Spaßbremse verliehen. Obwohl sie nicht gemieden wurde und niemand es je direkt zu ihr gesagt hatte, wusste sie es. Sie war bei den meisten Partys eingeladen und war ein beliebtes Mitglied bei Arbeitsgruppen in der Klasse.
Sie gehörte dazu, aber eben mehr zu den Dingen als zu den Menschen.
Bei Tom war es anders. Er brachte die Seite in ihr zum Erblühen, die sie normalerweise sorgfältig vor dem Licht schützte. Sie erzählte ihm, wie intensiv sie arbeitete um ihre schriftstellerischen Fähigkeiten zu verbessern, wie viel sie las, wie kritisch sie mit sich umging. Sie vertraute ihm an, dass ihr Hang zur Perfektion ihr oft den Schlaf raubte und dass es ihr einfach nicht gelang, diese Stimme in ihr zum Schweigen zu bringen.
Niemals hatte sie den Eindruck, er ordne das in die Schublade Streberei oder fühle sich neben ihr klein.
Tom war, was sein Leben und seine Vergangenheit anging, auch nach mehreren Treffen noch sehr geheimnisvoll. Dennoch offenbarte er sich ihr in Gedanken, die er aussprach, in einer Weise, die alles andere als oberflächlich war.
° ° ° ° °
Tagesrundschau, 11. Juni
Schüler entwickeln neue App
24 Schüler des Abschlussjahrgangs des Oberstufen-realgymnasiums Vassalis laden am 15. Juni zur Präsentation ihrer neuen App ein.
Bei einem bunten „Come together“ von interessierten Menschen stellen die Schüler ihre Idee zum Thema „Kleidung bewusst nachhaltig nutzen“ vor.
Auf die Frage, was die App könne, antworteten die Schüler: „Bei unserer App handelt es sich um eine gute alte textile Applikation, einen Button zum Aufnähen. Einerseits wird durch dieses Style-Element Interesse erzeugt und Bewusstsein geschaffen, und andererseits soll die App durch die Vermarktung zur Nachhaltigkeit in der Kleidungsbranche beitragen.
Kleidung, die uns heute glücklich macht, braucht eine glückliche Vergangenheit – vom Rohstoff bis zum fertigen Kleidungsstück.“
Alle trendbewussten Leser, die mit ihrer Kleidung nicht bloß beeindrucken, sondern auch etwas verkörpern wollen, sollten sich diese Veranstaltung nicht entgehen lassen!
° ° ° ° °
Kyra schob Tom die drei Zeitungsausschnitte aus der Tagesrundschau und einen gefalteten Zettel über den Tisch zu.
„Ich nehme an, du hast das initiiert“, stellte sie mit einem matten Lächeln fest und tippte dabei auf den letzten Artikel, den vom 11. Juni. Tom lächelte und zuckte mit den Schultern.
„Keine große Sache“, entgegnete er. Dann überflog er die nicht erfreulichen Artikel.
„In exakt der 5. Kehre des Zickzacksteiges befindet sich die Erdpforte“, stellte er mit düsterer Miene fest.
„Das ist doch der Eingang zum Außenbezirk Asoka!“, versicherte er sich, obwohl er die Antwort bereits wusste.
„Ja. Offenbar gibt es dort neuerdings unfreiwilligen Zuzug“, bestätigte Kyra.
Sie hatte das Gesicht auf die Daumen gestützt und massierte sich mit den Fingern die Schläfen.
Tom klappte den Zettel auf. Das Schnauben und die Widerrede, die ihm scharf auf der Zunge lagen, schluckte er widerwillig hinunter wie einen feurigen Schnaps.
Die zierliche Handschrift konnte nicht über die Härte der Worte hinwegtäuschen.
„Ein persönliches Treffen mit Rita Gärtner ist nicht mehr aufzuschieben. Dienstag, 15. September, Vormittag.“
Kyra nahm sein Schweigen als Zusage, nickte ihm müde zu und ging.
Tom blickte der schönen Frau, die in seiner Heimat, dem Innerquell Lodega, nicht nur den Vornamen Kyra trug, sondern von den meisten ehrfürchtig „das pure Glück“ genannt wurde, nach.
Er kannte sie schon sein ganzes Leben lang, war als Junge sogar in sie verliebt gewesen, ebenso wie die meisten anderen in seinem Alter.
Doch auch sie war älter geworden, was ihrer Schönheit zwar keinen Abbruch tat, wohl aber ihrer jugendlichen Ausstrahlung. Ihr Gang war steifer geworden, ihre Lippen härter. Gleichzeitig mit ihrem Lebensgefährten hatte sich der Glanz aus ihren Augen verabschiedet. Große Verantwortung und Kummer hatten feine dünne Linien auf Stirn und Mundwinkel geritzt, und unter dem Licht der jüngsten Ereignisse erschienen sie Tom wie dunkle Furchen.
Er erhob sich, schob den handgeschriebenen Zettel in die Tasche seiner Jeans und versuchte vergeblich, das schlechte Gefühl, das ihm dieser Auftrag bescherte, abzuschütteln. Er war ein Profi, verdammt nochmal.
Wie hatte er zulassen können, dass Rita und er sich ineinander verliebten? Sie waren zwar kein Paar, dennoch wusste er, dass sie es sich genauso wünschte wie er.
Die Nähe, die es zwischen ihnen gab und die bei jedem Treffen noch intensiver wurde, würde zerstört werden, sobald Rita mit Kyra zusammentraf. Rita würde sich ausgenutzt und betrogen fühlen. Wenn sie erfuhr, dass Tom nicht aus eigenem Interesse Kontakt mit ihr aufgebaut hatte, würde sie sich ihm verschließen.
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Etwas zu fest, beinahe ruckartig, zog Rita Daniel den Bogen aus der Hand. Sein Lächeln war anerkennend und distanziert.
Rita war die siebte von vierundzwanzig Schülerinnen und Schülern, die nach der Reihe nickend und dankend Glückwünsche und das heiß ersehnte Maturazeugnis entgegennahmen.
Wie auch bei allen anderen flossen die Glückwünsche über seine Lippen, und obwohl er sich sicher war, dass seine Körpersprache der Situation angemessen war, befiel ihn innerlich eine derartige Beklemmung, dass er unmittelbar an eine Würgeschlange denken musste, die darauf wartete, dass der letzte Luftzug aus seinem Körper entwichen war.
Sein Blick streifte ihren nur so kurz wie es notwendig war, um den Anschein zu bewahren, dass es ihm nichts ausmachte. Dann ruhte er kurz auf dem Dokument, das sozusagen besiegelte, dass sich ihre Wege hier trennten.
Rita Gärtner – beim Anblick dieser zwei Wörter stockte ihm der Atem. Meine Traumfrau – fügte er in Gedanken hinzu, bevor er den Kopf hob und dem nächsten Schüler die Hand reichte.
° ° ° ° °
Asoka war kein Ort, an den man gern unverrichteter Dinge zurückkam. Anfangs hatte Lex bei jeder Rückkehr weiche Knie gehabt, und es hatte ihm den Magen zusammengezogen, wenn er keinen vollen Erfolg vermelden konnte. Er konnte nicht einmal genau benennen was es eigentlich war, das das Eingestehen eines Misserfolges vor dem Chef, der von allen freundschaftlich Philipp genannt wurde, so unerträglich machte.
Philipp wirkte eigentlich zugänglich, er erhob nicht einmal seine Stimme, selbst im Ärger nicht.
Dennoch hatte Lex erlebt, wie die Frustration über das eigene Versagen ihm tage- oder gar wochenlang in den Gliedern saß. Mit der Zeit war es ihm aber gelungen aus der Vorstellung der Reaktion seines Chefs eine Art Kick und Adrenalinschub zu gewinnen. Er bildete sich ein, dass er dadurch besonders konzentriert und gezielt handelte.
Außerdem hatte er mit jedem erfüllten Auftrag an Selbstbewusstsein gewonnen. Er kannte seinen Wert, und er verstand sein Geschäft besser als die meisten anderen, mit denen er gelegentlich bei einem Auftrag zusammentraf.
Diesmal jedoch beschlich ihn wieder das ungute Gefühl in der Magengegend.
Philipp hatte großes Aufsehen um diesen Auftrag gemacht.
Lex selbst konnte die Aufregung nicht verstehen, er persönlich hielt den Auftrag in gewisser Weise für unter seiner Würde.
„Bring ihn hierher. Ich will mich mit ihm unterhalten. Vergeude keine Zeit!“, hatte Philipp den Auftrag mit großen Augen und einem schiefen Grinsen knapp formuliert, nachdem er ihm einen kurzen Überblick über die Zielperson und die vorhandenen Umstände gegeben hatte.
Lex hatte sich gefragt, ob der Gesichtsausdruck Schadenfreude oder Gier offenbarte.
„Der Auftrag ist ein Kinderspiel, er ist langweilig. Dieser Typ hat ja nicht einmal den leisesten Hauch einer Ahnung, dass er überhaupt einen Feind hat. Andererseits kostet mich der Auftrag schätzungsweise maximal vier Tage, und ich will keine Unstimmigkeiten mit dem Chef provozieren.“ Diese Überlegungen hatten ihn dazu bewegt einzuwilligen.
Philipp hatte einen großen gelben Umschlag aus der obersten Schublade seines Schreibtisches gezogen, in dem sich alle erforderlichen Unterlagen befanden. Dann hatte er Lex mit einem strengen Blick bedacht und auf dem Umschlag die Summe notiert.
Lex hatte sich seine Überraschung über die hohe Summe nicht anmerken lassen. Er hatte den Umschlag wortlos genommen und war gegangen.
Nun saß er in seinem silbernen Kombi und legte den Umschlag mit den Fotos und der langweiligen Lebensgeschichte beiseite. Entschlossen drehte er den Zündschlüssel und machte sich auf den Weg. Er kannte die Adresse, er hatte in dieser Gegend schon einmal geschäftlich zu tun gehabt. Wenn er sich recht erinnerte, war es das zweistöckige Mietshaus, das erst vor wenigen Jahren gebaut worden war.
Mal sehen, was dieser Daniel Bauer gerade trieb.
° ° ° ° °
Daniels Gedanken schweiften unwillkürlich zu Rita, und es versetzte ihm einen empfindlichen Stich, als sein Blick zu dem Foto auf seinem Nachttisch wanderte, das sie beide zusammen vor der Kulisse eines fantasievoll angelegten Hanggartens zeigte.
Damals, als dieses Foto auf der Sprachreise in Florenz entstanden war, waren sie sich näher gewesen als je zuvor.
Sie waren durch die Giardini di Boboli gewandert. Es war am frühen Nachmittag eines brütend heißen Junitages gewesen, und die meisten Schüler hatten sich nach einer kleinen Runde im unteren Teil der Gärten bereits ein schattiges Plätzchen gesucht und sich lauthals über die Hitze und das dicht gedrängte Programm ihrer Reise beschwert.
Nur Rita und noch zwei Schülerinnen hatten in Daniels Begleitung die oberen Teile der Gärten erkundet. Schließlich hatten sich die beiden Mitschülerinnen von Rita auf den Weg hinunter zum Palazzo Pitti, der die Gärten am Fuße des Hügels begrenzte, gemacht.
Rita und er hatten ohne es auszusprechen die Chance erkannt, unauffällig ein bisschen Zeit zu zweit verbringen zu können. Sie hatten sich in den östlichen Teil der Gärten begeben, wo sie nur selten auf andere Personen stießen. Schweigend waren sie nebeneinander durch eine der zahlreichen Alleen aus Sträuchern gegangen.
Auf einer kleinen Kuppe eröffnete sich ein wunderschönes Panorama auf die Stadt. Sie waren stehen geblieben, Daniel einen halben Schritt hinter Rita. Er hatte seinen Arm auf ihre Schulter gelegt und auf Teile der Stadt gezeigt und ihr dazu kurz etwas Geschichtliches erzählt.
Dann war er verstummt, hatte seinen Arm aber nicht von ihrer Schulter genommen. Sein Herz hatte wie wild gehämmert. Hin- und hergerissen zwischen seinen Gefühlen und dem, was ihm die Vernunft gebot, hatte er den richtigen Moment sie zu küssen verpasst. Rita hatte ihn kurz von der Seite angeblickt und dann mit fast versagender Stimme geflüstert, dass sie etwas Kleines für ihn habe. Sie hatte ihre Hand in den Rucksack geschoben, den sie nach vorne geholt und mit einer Schlaufe über ihre Schulter gehängt hatte, sodass er über ihrer Brust und ihrem Bauch hing.
In genau diesem Augenblick war die zweite Begleitlehrerin und damit Daniels Kollegin aufgetaucht.
Mit sichtlich überraschtem Gesichtsausdruck hatte sie sich den beiden genähert.
Geistesgegenwärtig hatte Rita ihr Smartphone herausgezogen und sie gebeten ein Bild zu machen.
„Ohne Selfiestab fehlt meistens ein Teil des Gesichtes, auch wenn man noch so eng zusammenrückt“, hatte Rita in beiläufigem Plauderton erklärt.
Daniel hatte sich bemüht, für das Foto entspannt und auszusehen und sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
Danach waren sie zu dritt zum Rest der Gruppe zurückgekehrt.
Bis heute wusste Daniel nicht, was Rita ihm damals eigentlich hatte geben wollen.
Daniel atmete tief und geräuschvoll durch, als bliese er mit dem Luftstrom auch die Erinnerungen von sich fort.
Er wandte sich zum Gehen um. Er wollte nicht an sie denken, er wollte sich gut fühlen, er hatte allen Grund dazu.
Mit den Gedanken an den Erfolg mit dem Dravit in der Schlucht streifte er die Melancholie endgültig ab wie eine alte Schlangenhaut.
Bevor er sein Zimmer und die Wohnung verließ, klappte er das Foto um. Er nahm sich vor, es bei der nächsten Gelegenheit aus dem Rahmen zu nehmen und in seiner Erinnerungskiste verschwinden zu lassen. Denn das war ihre Verbindung in der Zwischenzeit: nur noch eine bittersüße Erinnerung.
° ° ° ° °
Lex musste nicht warten. Gerade als er auf das Mietshaus zufuhr, bog ein dunkelgrauer Sportwagen aus der Tiefgarageneinfahrt und fuhr wenige Augenblicke später direkt an ihm vorbei.
Der Mann hinter dem Steuer war zweifellos Daniel Bauer gewesen.
Lex verspürte frischen Tatendrang und schob seine Grübelei über die Umstände dieses Auftrags beiseite. Er stellte sein Auto in die nächste Parallelstraße, um neugierigen Beobachtern aus Daniels Nachbarschaft möglichst wenige Bilder zu liefern. Dann zog er sich einen dunklen langen Trenchcoat an und setzte sich einen schwarzen Hut auf. Das war sozusagen seine Arbeitsuniform, die der eines Mitarbeiters eines Bestattungsunternehmens nicht unähnlich war.
In der Hülle seines Tablets verstaute er das feine Werkzeug, das er zum Öffnen der Tür brauchte.
Um möglichst niemandem zu begegnen wartete er noch, bis keine Fußgänger zu sehen waren, dann verließ er das Auto und schlug den direkten Weg zu Daniels Wohnhaus ein.
Wieder verließ gerade ein Auto die Tiefgarage. Lex nutzte die Gelegenheit und näherte sich zügigen Schrittes dem Tor, das sich gerade wieder zu schließen begann.
Er blickte sich kurz um, sah, dass die Luft rein war, und schlüpfte durch das Tor hindurch. Dann nahm er den Lift ins Erdgeschoss. In der einen Hand trug er das Tablet, mit der anderen hielt er sich das Handy ans Ohr und führte ein Scheingespräch, bei dem er nur zustimmend nickte und, als er weiter oben eine Wohnungstür auf- und zugehen hörte, wie beiläufig in Wiener Dialektsprache sagte, er habe sämtliche Gerätebeschreibungen sowie das neueste Staubsaugermodell in seinem Auto und stelle dieses gerne zur Erprobung zu Hause zur Verfügung.
Als er sah, dass sich Daniel Bauers Wohnung nicht im Erdgeschoss befand, nahm er die Treppe nach oben, immer noch sein Scheingespräch führend.
Eine kleine attraktive Frau mit dunkelbraunen Locken kam die Treppe herunter. Sie erinnerte Lex an jemanden, doch obwohl er Gesichter für gewöhnlich nie vergaß, war diese Erinnerung für ihn nicht greifbar.
Sie huschte an ihm vorbei, ohne Notiz von ihm zu nehmen und verließ das Haus durch die Haupteingangstür.
Daniel Bauer wohnte im zweiten von fünf Stockwerken. Die Eingangstür zu seiner Wohnung befand sich direkt neben einer anderen und gegenüber einer dritten Eingangstür.
Blumiger Duft von der Frau lag noch in der Luft. Lex‘ Gedanken überschlugen sich, er hatte schon einen Plan.
„Falls diese heiße Braut zu dir gehört, weiß ich bereits wie ich dich notfalls gefügig machen kann.“
Das schiefe Grinsen, das sich auf sein Gesicht legte, verging ihm jäh. Ein scharfer stechender Schmerz durchzuckte seinen Nacken. Es fühlte sich an, als ob ein glühender Dolch durch seine Narbe gestoßen wurde. Kurz hatte Lex das Gefühl, den Boden zu verlieren, doch schlagartig hörte der Schmerz wieder auf.
Lex rieb sich die zwei kleinen Stellen auf der Rückseite seines Halses links und rechts der Wirbelsäule. Innerlich verfluchte er zum x-ten Mal den Unfall im Herrenhaus seines Chefs. Dieses unerträgliche Schmerzerlebnis hatte er nicht zum ersten Mal. Ihm schauderte beim Gedanken daran, dass es wohl auch nicht das letzte Mal war.
Eilig machte er sich nun an der Tür zu schaffen, er hatte schon viel zu viel Zeit hier verbracht.
Nach wenigen gekonnten Handgriffen spürte er, wie die Tür leicht nach innen nachgab.