Goethes Weltanschauung
Goethes WeltanschauungVorrede.Einleitung.InhaltsverzeichnisGoethes Stellung innerhalb der abendländischen Gedankenentwickelung.Die Anschauungen über Natur und Entwicklung der Lebewesen.Die Betrachtung der Farbenwelt.Gedanken über Entwicklungsgeschichte der Erde und Lufterscheinungen.Goethe und Hegel.Impressum
Goethes Weltanschauung
Rudolf Steiner
Vorrede.
Die Gedanken, die ich in diesem Buche mitteile, sollen die
Grundstimmung festhalten, die ich in der Weltanschauung Goethes
beobachtet habe. Im Lauf vieler Jahre habe ich immer wieder und
wieder das Bild dieser Weltanschauung betrachtet. Besonderen Reiz
hatte es für mich, nach den Offenbarungen zu sehen, welche die
Natur über ihr Wesen und ihre Gesetze den feinen Sinnes- und
Geistesorganen Goethes gemacht hat. Ich lernte begreifen, warum
Goethe diese Offenbarungen als so hohes Glück empfand, daß er sie
zuweilen höher schätzte als seine Dichtungsgabe. Ich lebte mich in
die Empfindungen ein, die durch Goethes Seele zogen, wenn er sagt,
daß „wir durch nichts so sehr veranlaßt werden über uns selbst zu
denken, als wenn wir höchst bedeutende Gegenstände, besonders
entschiedene Naturscenen nach langen Zwischenräumen endlich
wiedersehen und den zurückgebliebenen Eindruck mit der
gegenwärtigen Einwirkung vergleichen. Da werden wir denn im Ganzen
bemerken, daß das Object immer mehr hervortritt, daß, wenn wir uns
früher an den Gegenständen empfanden, Freud und Leid, Heiterkeit
und Verwirrung auf sie übertrugen, wir nunmehr bei gebändigter
Selbstigkeit ihnen das gebürende Recht widerfahren lassen, ihre
Eigenheiten zu erkennen und ihre Eigenschaften, sofern wir sie
durchdringen, in einem höhern Grade zu schätzen wissen. Jene Art
des Anschauens gewährt der künstlerische Blick, diese eignet sich
dem Naturforscher, und ich mußte mich, zwar anfangs nicht ohne
Schmerzen, zuletzt doch glücklich preisen, daß, indem jener Sinn
mich nach und nach zu verlassen drohte, dieser sich in Aug und
Geist desto kräftiger entwickelte.“Die Eindrücke, welche Goethe von den Erscheinungen der Natur
empfangen hat, muß man kennen, wenn man den vollen Gehalt seiner
Dichtungen verstehen will. Die Geheimnisse, die er dem Wesen und
Werden der Schöpfung abgelauscht hat, leben in seinen
künstlerischen Erzeugnissen und werden nur demjenigen offenbar, der
hinhorcht auf die Mitteilungen, die der Dichter über die Natur
macht. Niemand kann in die Tiefen der Goetheschen Kunst
hinuntertauchen, dem Goethes Naturbeobachtungen unbekannt
sind.Solche Empfindungen drängten mich zu der Beschäftigung mit
Goethes Naturstudien. Sie ließen zunächst die Ideen reifen, die ich
vor mehr als zehn Jahren in Kürschners „Deutscher
Nationallitteratur“ mitteilte. Was ich damals in dem ersten anfing,
habe ich ausgebaut in den drei folgenden Bänden der
naturwissenschaftlichen Schriften Goethes, von denen der letzte in
diesen Tagen vor die Oeffentlichkeit tritt. Dieselben Empfindungen
leiteten mich, als ich vor mehreren Jahren die schöne Aufgabe
übernahm, einen Teil der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes
für die große Weimarische Goethe-Ausgabe zu besorgen. Was ich an
Gedanken zu dieser Arbeit mitgebracht und was ich während derselben
ersonnen habe, bildet den Inhalt des vorliegenden Buches. Ich darf
diesen Inhalt alserlebtim vollsten
Sinne des Wortes bezeichnen. Von vielen Ausgangspuncten aus habe
ich mich den Ideen Goethes zu nähern gesucht. Allen Widerspruch,
der in mir gegen Goethes Anschauungsweise schlummerte, habe ich
aufgerufen, um gegenüber der Macht dieser einzigen Persönlichkeit
die eigene Individualität zu wahren. Und je mehr ich meine eigene,
selbst erkämpfte Weltanschauung ausbildete, desto mehr glaubte ich
Goethe zu verstehen. Ich versuchte ein Licht zu finden, das auch
die Räume in Goethes Seele durchleuchtet, die ihm selbst dunkel
geblieben sind. Zwischen den Zeilen seiner Werke wollte ich lesen,
was mir ihn ganz verständlich machen sollte. Die Kräfte seines
Geistes, die ihn beherrschten, deren er sich aber nicht selbst
bewußt wurde, suchte ich zu entdecken. Die wesentlichen
Charakterzüge seiner Seele wollte ich durchschauen.Unsere Zeit liebt es die Ideen da, wo von psychologischer
Betrachtung einer Persönlichkeit die Rede ist, in einem mystischen
Halbdunkel zu lassen. Die gedankliche Klarheit in solchen Dingen
wird gegenwärtig als nüchterne Verstandesweisheit verachtet. Man
glaubt tiefer zu dringen, wenn man von mystischen Abgründen des
Seelenlebens, von dämonischen Gewalten innerhalb der Persönlichkeit
spricht. Ich muß gestehen, daß mir diese Schwärmerei für mystische
Psychologie als Oberflächlichkeit erscheint. Sie ist bei Menschen
vorhanden, in denen der Inhalt der Ideenwelt keine Empfindungen
erzeugt. Sie können in die Tiefen dieses Inhaltes nicht
hinabsteigen, sie fühlen die Wärme nicht, die von ihm ausströmt.
Deshalb suchen sie diese Wärme in der Unklarheit. Wer im stande
ist, sich einzuleben in die hellen Sphären der reinen Gedankenwelt,
der empfindet in ihnen das, was er sonst nirgends empfinden kann.
Persönlichkeiten wie die Goethes kann man nur erkennen, wenn man
die Ideen, von denen sie beherrscht sind, in ihrer lichten Klarheit
in sich aufzunehmen vermag. Wer die Mystik in der Psychologie
liebt, wird vielleicht meine Betrachtungsweise kalt finden. Ob es
aber meine Schuld ist, daß ich das Dunkle und Unbestimmte nicht mit
dem Tiefsinnigen für ein und dasselbe halten kann? So rein und
klar, wie mir die Ideen erschienen sind, die in Goethe als wirksame
Kräfte gewaltet haben, versuche ich sie darzustellen. Vielleicht
findet auch mancher die Linien, die ich gezogen habe, die Farben,
die ich aufgetragen habe, zu einfach. Ich meine aber, daß man das
Große am besten charakterisiert, wenn man es in seiner monumentalen
Einfachheit darzustellen versucht. Die kleinen Schnörkel und
Anhängsel verwirren nur die Betrachtung. Nicht auf nebensächliche
Gedanken, zu denen er durch dieses oder jenes Erlebnis von
untergeordneter Bedeutung veranlaßt worden ist, kommt es mir bei
Goethe an, sondern auf die Grundrichtung seines Geistes. Mag dieser
Geist auch da und dort Seitenwege einschlagen:eineHaupttendenz ist immer zu erkennen. Und sie
habe ich verfolgt. Wer da meint, daß die Regionen, durch die ich
gegangen bin, eisig sind, der hat sein Herz zu Hause
gelassen.Will man mir den Vorwurf machen, daß ich nur diejenigen
Seiten der Goetheschen Weltanschauung schildere, auf die mich mein
eigenes Denken und Empfinden weist, so kann ich nichts erwidern,
als daß ich eine fremde Persönlichkeit nur so ansehen will, wie sie
mir nach meiner eigenen Wesenheit erscheinen muß. Die Objectivität
derjenigen Darsteller, die sich selbst verleugnen wollen, wenn sie
fremde Ideen schildern, schätze ich nicht hoch. Ich glaube, sie
kann nur matte und farbenblasse Bilder malen. Ein Kampf liegt jeder
wahren Darstellung einer fremden Weltanschauung zu Grunde. Und der
völlig Besiegte wird nicht der beste Darsteller sein. Die fremde
Macht muß Achtung erzwingen; aber die eigenen Waffen müssen ihren
Dienst tun. Ich habe deshalb rückhaltlos ausgesprochen, daß nach
meiner Ansicht die Goethesche Denkweise Grenzen hat. Daß es
Erkenntnisgebiete gibt, die ihr verschlossen geblieben sind. Ich
habe gezeigt, welche Richtung die Beobachtung der Welterscheinungen
nehmen muß, wenn sie in die Gebiete dringen will, die Goethe nicht
betreten hat, oder auf denen er, wenn er sich in sie begeben hat,
unsicher herumgeirrt ist. So interessant es ist, einem großen
Geiste auf seinen Wegen zu folgen; ich möchte jedem nur so weit
folgen, als er mich selbst fördert. Denn nicht die Betrachtung, die
Erkenntnis, sondern das Leben, die eigene Tätigkeit ist das
Wertvolle. Der reine Historiker ist ein schwacher, ein unkräftiger
Mensch. Die historische Erkenntnis raubt die Energie und Spannkraft
des eigenen Wirkens. Wer alles verstehen will, wird selbst wenig
sein. Was fruchtbar ist, allein ist wahr, hat Goethe gesagt. Soweit
Goethe für unsere Zeit fruchtbar ist, soweit soll man sich in seine
Gedanken- und Empfindungswelt einleben. Und ich glaube, aus der
folgenden Darstellung wird hervorgehen, daß unzählige noch
ungehobene Schätze in dieser Gedanken- und Empfindungswelt
verborgen liegen. Ich habe auf die Stellen hingedeutet, an denen
die moderne Wissenschaft hinter Goethe zurückgeblieben ist. Ich
habe von der Armut der gegenwärtigen Ideenwelt gesprochen und ihr
den Reichtum und die Fülle der Goetheschen entgegengehalten. In
Goethes Denken sind Keime, welche die moderne Naturwissenschaft zur
Reife bringen sollte. Für sie könnte dieses Denken vorbildlich
sein. Sie hat einen größeren Beobachtungsstoff als Goethe. Aber sie
hat diesen Stoff nur mit spärlichem und unzureichendem Ideengehalt
durchsetzt. Ich hoffe, daß aus meinen Ausführungen hervorgeht, wie
wenig Eignung die moderne naturwissenschaftliche Denkweise dazu
besitzt, Goethe zu kritisieren, und wie viel sie von ihm lernen
könnte.Rudolf Steiner.
Einleitung.
Will man Goethes Weltanschauung verstehen, so darf man sich
nicht damit begnügen, hinzuhorchen, was er selbst in einzelnen
Aussprüchen über sie sagt. In kristallklaren Sätzen den Kern seines
Wesens auszusprechen, lag nicht in seiner Natur. Er hatte eine
gewisse Scheu davor, das Lebendige, die Wirklichkeit in einem
durchsichtigen Gedanken festzuhalten. Sein Innenleben, seine
Beziehungen zur Außenwelt, seine Beobachtungen über die Dinge und
Ereignisse waren zu reich, zu erfüllt von zarten Bestandteilen, von
intimen Elementen, um von ihm selbst in einfache Formeln gebracht
zu werden. Er spricht sich aus, wenn ihn dieses oder jenes Erlebnis
dazu drängt. Aber er sagt immer zu viel oder zu wenig. Die lebhafte
Anteilnahme an allem, was an ihn herankommt, bestimmt ihn oft,
schärfere Ausdrücke zu gebrauchen, als es seine Gesamtnatur
verlangt. Sie verführt ihn ebenso oft, sich unbestimmt zu äußern,
wo ihn sein Wesen zu einer bestimmten Meinung nötigen könnte. Er
ist immer ängstlich, wenn es sich darum handelt, zwischen zwei
Ansichten zu entscheiden. Er will sich die Unbefangenheit nicht
dadurch rauben, daß er seinen Gedanken eine scharfe Richtung giebt.
Er beruhigt sich bei dem Gedanken: „Der Mensch ist nicht geboren,
die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem
angeht, und sich sodann in der Grenze des Begreiflichen zu halten.“
Ein Problem, das der Mensch gelöst zu haben glaubt, entzieht ihm
die Möglichkeit, tausend Dinge klar zu sehen, die in den Bereich
dieses Problemes fallen. Er achtet auf sie nicht mehr, weil er über
das Gebiet aufgeklärt zu sein glaubt, in das sie fallen. Goethe
möchte lieber zwei Meinungen über eine Sache haben, die einander
entgegengesetzt sind, alseinebestimmte.
Denn jedes Ding scheint ihm eine Unendlichkeit einzuschließen, der
man sich von verschiedenen Seiten nähern muß, um von ihrer ganzen
Fülle etwas wahrzunehmen. „Man sagt, zwischen zwei
entgegengesetzten Meinungen liegt die Wahrheit mitten inne.
Keineswegs! Das Problem liegt dazwischen, das Unschaubare, das ewig
thätige Leben, in Ruhe gedacht.“ Goethe will seine Gedanken
lebendig erhalten, damit er in jedem Augenblicke sie umwandeln
kann, wenn die Wirklichkeit ihn dazu veranlaßt. Er will nicht recht
haben; er will stets nur aufs „Rechte losgehen“. In zwei
verschiedenen Zeitpunkten spricht er sich über dieselbe Sache
verschieden aus. Eine feste Theorie, die ein für allemal die
Gesetzmäßigkeit einer Reihe von Erscheinungen zum Ausdruck bringen
will, ist ihm widerlich.Wenn man dennoch die Einheit seiner Anschauungen überschauen
will, so muß man weniger auf seine Worte hören als auf seine
Lebensführung sehen. Man muß sein Verhältnis zu den Dingen
belauschen, wenn er ihrem Wesen nachforscht und dabei das ergänzen,
was er selbst nicht sagt. Man muß auf das Innerste seiner
Persönlichkeit eingehen, das sich zum größten Teile hinter seinen
Äußerungen verbirgt. Was er sagt, mag sich oft widersprechen; was
er lebt, gehört immer einem widerspruchlosen Ganzen an. Hat er
seine Weltanschauung auch nicht in einem geschlossenen System
aufgezeichnet; er hat sie in einer geschlossenen Persönlichkeit
dargelegt. Wenn wir auf sein Leben sehen, so lösen sich alle
Widersprüche in seinem Reden. Er hat über die Natur dies und jenes
gesagt. In einem festgefügten Gedankengebäude hat er seine
Naturanschauung niemals niedergelegt. Aber wenn wir seine einzelnen
Gedanken auf diesem Gebiete überblicken, so schließen sie sich von
selbst zu einem Ganzen zusammen. Man kann sich eine Vorstellung
davon machen, welches Gedankengebäude entstanden wäre, wenn er
seine Ansichten im Zusammenhang vollständig dargestellt hätte. Ich
habe mir vorgesetzt, in dieser Schrift zu schildern, wie Goethes
Persönlichkeit in ihrem innersten Wesen geartet gewesen sein muß,
um über die Erscheinungen der Natur solche Gedanken äußern zu
können, wie er sie in seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten
niedergelegt hat. Daß manchem von dem, was ich sagen werde,
Goethesche Sätze entgegengehalten werden können, die ihm
widersprechen, weiß ich. Es handelt sich mir aber in dieser Schrift
nicht darum, eine Entwicklungsgeschichte seiner Aussprüche zu
geben, sondern darum, die Grundlagen seiner Persönlichkeit
darzustellen, die ihn zu seinen tiefen Einsichten in das Schaffen
und Wirken der Natur führten. Nicht aus den zahlreichen Sätzen, in
denen er Konzessionen an andere Denkweisen macht, oder in denen er
sich der Formeln bedient, welche der eine oder der andere Philosoph
gebraucht hat, lassen sich diese Grundlagen erkennen. Aus den
Äußerungen zu Eckermann könnte man sich einen Goethe konstruieren,
der nie die Metamorphose der Pflanzen hätte schreiben können. An
Zelter hat Goethe manches Wort gerichtet, das verführen könnte, auf
eine wissenschaftliche Gesinnung zu schließen, die seinen großen
Gedanken über die Bildung der Tiere widerspricht. Ich gebe zu, daß
in Goethes Persönlichkeit auch Kräfte gewirkt haben, die ich nicht
berücksichtigt habe. Aber diese Kräfte treten zurück hinter den
eigentlich bestimmenden, die seiner Weltanschauung das Gepräge
geben. Diese bestimmenden Kräfte so scharf zu charakterisieren, als
mir möglich ist, habe ich mir zur Aufgabe gestellt.
Inhaltsverzeichnis
Vorrede.
Einleitung.
Goethes Stellung innerhalb der abendländischen
Gedankenentwickelung.
Die
Anschauungen über Natur und Entwicklung der Lebewesen.
Die Betrachtung der
Farbenwelt.
Gedanken über Entwicklungsgeschichte der Erde und
Lufterscheinungen.
Goethe und Hegel.
Goethes Stellung innerhalb der abendländischen
Gedankenentwickelung.
Goethe und Schiller.Goethe erzählt von einem Gespräch, das sich einstmals
zwischen ihm und Schillern entspann, nachdem beide einer Sitzung
der naturforschenden Gesellschaft in Jena beigewohnt hatten.
Schiller zeigte sich wenig befriedigt von dem, was in der Sitzung
vorgebracht worden war. Eine zerstückelte Art, die Natur zu
betrachten, war ihm entgegengetreten. Und er bemerkte, daß eine
solche den Laien keineswegs anmuten könne. Goethe erwiderte, daß
sie „den Eingeweihten selbst vielleicht unheimlich bliebe, und daß
es noch eine andere Weise geben könne, die Natur nicht gesondert
und vereinzelt, sondern sie wirkend und lebendig, aus dem Ganzen in
die Teile strebend darzustellen“. Und nun entwickelte Goethe die
großen Ideen, die ihm über die Pflanzennatur aufgegangen waren. Er
zeichnete „mit manchen charakteristischen Federstrichen eine
symbolische Pflanze“ vor Schillers Augen. Diese symbolische Pflanze
sollte die Wesenheit ausdrücken, die in jeder einzelnen Pflanze
lebt, was für besondere Formen diese auch annimmt. Sie sollte das
successive Werden der einzelnen Pflanzenteile, ihr Hervorgehen
auseinander und ihre Verwandtschaft untereinander zeigen. Über
diese symbolische Pflanzengestalt schrieb Goethe am 17. April 1787
in Palermo die Worte nieder: „Eine solche muß es doch geben; woran
würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine
Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären.“
Die Vorstellung einer plastisch-ideellen Form, die dem Geiste sich
offenbart, wenn er die Mannigfaltigkeit der Pflanzengestalten
überschaut und ihr Gemeinsames beachtet, hatte Goethe in sich
ausgebildet. Schiller betrachtete dieses Gebilde, das nicht in
einer einzelnen, sondern in allen Pflanzen leben sollte, und sagte
kopfschüttelnd: „Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.“ Wie
aus einer fremden Welt kommend, erschienen Goethe diese Worte. Er
war sich bewußt, daß er zu seiner symbolischen Gestalt durch
dieselbe Art naiver Wahrnehmung gelangt war wie zu der Vorstellung
eines Dinges, das man mit Augen sehen und mit Händen greifen kann.
Wie die einzelne Pflanze, so war für ihn die symbolische oder
Urpflanze ein objektives Wesen. Nicht einer willkürlichen
Spekulation, sondern unbefangener Beobachtung glaubte er sie zu
verdanken. Er konnte nichts entgegnen als: „Das kann mir sehr lieb
sein, wenn ich Ideen habe, ohne es zu wissen,und sie
sogar mit Augen sehe.“ Und er war ganz unglücklich,
als Schiller daran die Worte knüpfte: „Wie kann jemals eine
Erfahrung gegeben werden, die einer Idee angemessen sein sollte.
Denn darin besteht das Eigentümliche der letzteren, daß ihr niemals
eine Erfahrung kongruieren könne.“Zwei entgegengesetzte Weltanschauungen stehen in diesem
Gespräche einander gegenüber. Goethe sieht in der Idee eines Dinges
ein Element, das in demselben unmittelbar gegenwärtig ist, in ihm
wirkt und schafft. Ein einzelnes Ding nimmt, nach seiner Ansicht,
bestimmte Formen aus dem Grunde an, weil die Idee sich in dem
gegebenen Falle in einer besonderen Weise ausleben muß. Es hat für
Goethe keinen Sinn zu sagen, ein Ding entspricht der Idee nicht.
Denn das Ding kann nichts anderes sein, als das, wozu es die Idee
gemacht hat. Anders denkt Schiller. Ihm sind Ideenwelt und
Erfahrungswelt zwei getrennte Reiche. Der Erfahrung gehören die
mannigfaltigen Dinge und Ereignisse an, die den Raum und die Zeit
erfüllen. Ihr steht das Reich der Ideen gegenüber, als eine
andersgeartete Wirklichkeit, dessen sich die Vernunft bemächtigt.
Von zwei Welten fließen dem Menschen seine Erkenntnisse zu, von
außen durch Beobachtung und von innen durch das Denken. Für Goethe
giebt es nureineQuelle der Erkenntnis,
die Erfahrungswelt, in welcher die Ideenwelt eingeschlossen
ist.Schillers Anschauung ist hervorgegangen aus der Philosophie
seiner Zeit. Die grundlegenden Vorstellungen, welche dieser
Philosophie ihr Gepräge gegeben haben, und welche treibende Kräfte
der ganzen abendländischen Geistesbildung geworden sind, muß man im
griechischen Altertume suchen. In einem verhängnisvollen
Augenblicke bemächtigte sich eines griechischen Denkers ein
Mißtrauen in die menschlichen Sinnesorgane. Er fing an zu glauben,
daß diese Organe dem Menschen nicht die Wahrheit überliefern
sondern daß sie ihn täuschen. Er verlor das Vertrauen zu dem, was
die naive, unbefangene Beobachtung darbietet. Er fand, daß das
Denken über die wahre Wesenheit der Dinge andere Aussagen mache als
die Erfahrung. Es wird schwer sein zu sagen, in welchem Kopfe sich
dieses Mißtrauen zuerst festsetzte. Man begegnet ihm in der
eleatischen Philosophenschule, deren erster Vertreter der um 570 v.
Chr. zu Kolophon geborene Xenophanes ist. Als die wichtigste
Persönlichkeit dieser Schule erscheint Parmenides. Denn er hat mit
einer Schärfe wie niemand vor ihm behauptet, es gäbe zwei Quellen
der menschlichen Erkenntnis. Er hat erklärt, daß die Eindrücke
unserer Sinne Trug und Täuschung seien, und daß der Mensch zu der
Erkenntnis des Wahren nur durch das reine Denken, das auf die
Erfahrung keine Rücksicht nimmt, gelangen könne. Damit hat er den
auf ihn folgenden Philosophen eine Entwicklungskrankheit
eingeimpft, an der die wissenschaftliche Bildung noch heute
leidet.Die platonische Weltanschauung.Mit der ihm eigenen bewunderungswerten Kühnheit spricht Plato
dieses Mißtrauen in die Erfahrung aus. „Die Dinge dieser Welt,
welche unsere Sinne wahrnehmen, haben gar kein wahres Sein:sie werden immer, sind aber nie. Sie haben nur
ein relatives Sein, sind insgesamt nur in und durch ihr Verhältnis
zu einander;man kann daher ihr ganzes Dasein
ebensowohl ein Nichtsein nennen. Sie sind folglich
auch nicht Objekte einer eigentlichen Erkenntnis. Denn nur von dem,
was an und für sich und immer auf gleiche Weise ist, kann es eine
solche geben; sie hingegen sind nur das Objekt eines durch
Empfindung veranlaßten Dafürhaltens. So lange wir nur auf ihre
Wahrnehmung beschränkt sind, gleichen wir Menschen, die in einer
finsteren Höhle so fest gebunden säßen, daß sie auch den Kopf nicht
drehen könnten und nichts sähen, als beim Lichte eines hinter ihnen
brennenden Feuers, an der Wand ihnen gegenüberdie
Schattenbilder wirklicher Dinge, welche zwischen
ihnen und dem Feuer vorübergeführt würden, und auch sogar von
einander, ja jeder von sich selbst, eben nurdie
Schatten an jener Wand. Ihre Weisheit aber wäre, die aus Erfahrung
erlernte Reihenfolge jener Schatten vorherzusagen.“In zwei Teile reißt die platonische Anschauung die
Vorstellung des Weltganzen auseinander, in die Vorstellung einer
Scheinwelt und in eine andere der Ideenwelt, der allein wahre,
ewige Wirklichkeit entsprechen soll. „Was allein wahrhaft seiend
genannt werden kann, weil es immer ist, aber nie wird, noch
vergeht: das sind die realen Urbilder jener Schattenbilder: es sind
die ewigen Ideen, die Urformen aller Dinge. Ihnen kommt keine
Vielheit zu; denn jedes ist seinem Wesen nach nureines, indem es das Urbild selbst ist, dessen
Nachbilder oder Schatten alle ihm gleichnamige, einzelne,
vergängliche Dinge derselben Art sind. Ihnen kommt auch kein
Entstehen und Vergehen zu; denn sie sind wahrhaft seiend, nie aber
werdend, noch untergehend wie ihre hinschwindenden Nachbilder. Von
ihnen allein daher giebt es eine eigentliche Erkenntnis, da das
Objekt einer solchen nur das sein kann, was immer und in jedem
Betracht ist, nicht das, was ist, aber auch wieder nicht ist, je
nachdem man es ansieht.“Die Unterscheidung von Idee und Wahrnehmung hat nur eine
Berechtigung, wenn von der Art gesprochen wird, wie die menschliche
Erkenntnis zustande kommt. Der Mensch muß die Dinge auf zweifache
Art zu sich sprechen lassen. Einen Teil ihrer Wesenheit sagen sie
ihm freiwillig. Er braucht nur hinzuhorchen. Dies ist der
ideenfreie Teil der Wirklichkeit. Den andern aber muß er ihnen
entlocken. Er muß sein Denken in Bewegung setzen, dann erfüllt sich
sein Inneres mit den Ideen der Dinge. Im Innern der Persönlichkeit
ist der Schauplatz, auf dem auch die Dinge ihr ideelles Innere
enthüllen. Da sprechen sie aus, was der äußeren Anschauung ewig
verborgen bleibt. Das Wesen der Natur kommt hier zu Worte. Aber es
liegt nur an der menschlichen Organisation, daß durch den
Zusammenklang von zwei Tönen die Dinge erkannt werden müssen. In
der Natur isteinErreger da, der beide
Töne hervorbringt. Der unbefangene Mensch horcht auf den
Zusammenklang. Er erkennt in der ideellen Sprache seines Innern die
Aussagen, die ihm die Dinge zukommen lassen. Nur wer die
Unbefangenheit verloren hat, der deutet die Sache anders. Er
glaubt, die Sprache seines Inneren komme aus einem andern Reich als
die Sprache der äußeren Anschauung. Plato ist es zum Bewußtsein
gekommen, daß er auf zwei Wegen von den Dingen Kunde erhält; aber
er hat nicht erkannt, daß es dieselben Dinge sind, die auf den
beiden Wegen ihre Mitteilungen senden. Er hat damit dem
abendländischen Denken eine Aufgabe gestellt, die vollkommen
überflüssig war. Durch Jahrhunderte hindurch wurde unendlicher
Scharfsinn auf die Frage verwendet: wie verhalten sich die im
Innern des Menschen offenbar werdenden Ideen zu den Dingen der
äußeren Wahrnehmung? Ein großer Teil des Inhalts aller auf die
platonische folgenden Philosophieen besteht aus Lösungsversuchen
dieser gar nicht vorhandenen Frage. Was das gesunde menschliche
Empfinden in jedem Augenblicke lehrt: wie die Sprache der
Anschauung und die des Denkens sich verbinden, um die volle
Wirklichkeit zu offenbaren, das wurde von den grübelnden Denkern
nicht beachtet. Statt hinzusehen, wie die Natur zu dem Menschen
spricht, bildeten sie künstliche Begriffe über das Verhältnis von
Ideenwelt und Erfahrung aus. Um die Sehkraft für dieses Verhältnis
ganz zu lähmen, verband sich mit dem Platonismus das Christentum.
Dieses religiöse Bekenntnis mit seinem Jenseitsglauben und seiner
Verachtung der Sinnenwelt ist nur eine volkstümliche Form des
Platonismus. Es macht eine nach menschlichem Bilde gedachte
persönliche Wesenheit zum Urheber der Welt. Die christlichen
Kirchenväter versetzen einfach die platonische Ideenwelt in den
Geist dieses persönlichen Gottes. In diesem Geiste sind die
Urbilder, die Muster aller Dinge enthalten, und Gott hat die Welt
nach diesen Urbildern geschaffen und regiert sie ihnen gemäß. Die
Welt ist nur der unvollkommene Abglanz der in Gott ruhenden
vollkommenen Ideenwelt. Der wahrhaft Fromme soll sich nicht viel
mit diesem Abglanz beschäftigen; er soll seine Empfindung, sein
Gefühl zu Gott erheben. „Ohne jedes Schwanken wollen wir glauben,
daß die denkende Seele nicht wesensgleich sei mit Gott, denn dieser
gestattet keine Gemeinschaft, daß aber die Seele erleuchtet werden
könne durch Teilnahme an der Gottesnatur,“ sagt der Kirchenvater
Augustinus. Ebensowenig gesteht er der Gesamtnatur irgendwelche
göttliche Wesenheit zu. Aber die Wahrheit sucht er nur bei Gott.
Frechheit ist es, nach seiner Ansicht, zu glauben, daß die Natur
oder die menschliche Seele göttlich sei. Nicht durch Beobachtung
der irdischen Dinge, sondern durch Versenken in die überirdische
göttliche Wesenheit wird die vernünftige Seele vollkommen. In
dieser Lehre der Kirchenväter wird der Sprache des menschlichen
Innern ein allem natürlichen Empfinden fremder Ursprung
angedichtet. Nicht aus den Dingen soll diese Sprache kommen,
sondern aus dem Geiste des jenseitigen Gottes. Die platonische
Vorstellungsart hielt sich mehr im abstrakten Elemente des Denkens
auf. Das Ungesunde derselben wäre leichter überwunden worden, wenn
nicht die platonischen Begriffe durch das Christentum das
Empfindungs- und Gemütsleben ergriffen hätten. Dieses Gemütsleben
der abendländischen Menschheit ist auf diese Weise geradezu nach
der falschen Richtung hin umorganisiert worden. Was Plato nur
gedacht hat, das haben die Kirchenväter dem Gemüte eingepflanzt.
Was aber in dem Gemüte wurzelt, das ist viel schwerer auszurotten,
als was bloß im Verstande ruht. Deshalb ist es bis heute noch nicht
gelungen, die christlich-platonische unnatürliche Ansicht über die
Wirklichkeit innerhalb der abendländischen Bildung zu
überwinden.Die Folgen der platonischen Weltanschauung.Vergeblich hat sich Aristoteles gegen die platonische
Spaltung der Weltvorstellung aufgelehnt. Er sah in der Natur ein
einheitliches Wesen, das die Ideen ebenso enthält, wie die durch
die Sinne wahrnehmbaren Dinge und Erscheinungen. Nur im
menschlichen Geiste können die Ideen ein selbständiges Dasein
haben. Aber in dieser Selbständigkeit kommt ihnen keine
Wirklichkeit zu. Bloß die Seele kann sie abtrennen von den
wahrnehmbaren Dingen, mit denen zusammen sie die Wirklichkeit
ausmachen. Hätte die abendländische Philosophie an die richtig
verstandene Anschauung des Aristoteles angeknüpft, so wäre sie
bewahrt geblieben vor den Irr- und Schleichwegen, die sie gewandelt
ist.Aber dieser richtig verstandene Aristoteles war der
christlichen Denkweise unbequem. Mit einer Naturauffassung, welche
das höchste wirksame Prinzip in die Erfahrungswelt verlegt, weiß
das Christentum nichts anzufangen. Die christlichen Philosophen und
Theologen deuteten deshalb den Aristoteles um. Sie legten seinen
Ansichten einen Sinn unter, der geeignet war, dem christlichen
Dogma zur logischen Stütze zu dienen. Nichtsuchensollte der Geist in den Dingen die
schaffenden Ideen. Die Wahrheit ist ja den Menschen von Gott in
Form der Offenbarung mitgeteilt. Nurbestätigensollte die Vernunft, was Gott geoffenbart hat. Die
aristotelischen Sätze wurden von den christlichen Denkern des
Mittelalters so gedeutet, daß die religiöse Heilswahrheit durch sie
ihre philosophische Bekräftigung erhielt. Nach der Auffassung
Thomas’ von Aquino, des bedeutendsten christlichen Denkers, enthält
die Offenbarung die höchsten Wahrheiten, die Heilslehre der
heiligen Schrift; aber es ist der Vernunft möglich, in
aristotelischer Weise in die Dinge sich zu vertiefen und deren
Ideengehalt aus ihnen herauszuholen. Die Offenbarung steigt so tief
herab und die Vernunft kann sich so weit erheben, daß die
Heilslehre und die menschliche Erkenntnis an einer Grenze in
einander übergehen. Die Art des Aristoteles, in die Dinge
einzudringen, dient also für Thomas dazu, bis zu dem Gebiete der
Offenbarung zu kommen.Als mit Bacon von Verulam und Descartes eine Zeit anhob, in
welcher der Wille sich geltend machte, die Wahrheit durch die
eigene Kraft der menschlichen Persönlichkeit zu suchen, waren die
Denkgewohnheiten so verdorben, daß alles Streben zu nichts anderem
führte als zur Aufstellung von Ansichten, die trotz ihrer
scheinbaren Unabhängigkeit von der platonischen und christlichen
Vorstellungswelt, doch nichts waren als neue Formen derselben. Auch
Bacon und Descartes haben den bösen Blick für das Verhältnis von
Erfahrung und Idee als Erbstück einer entarteten Philosophie
mitbekommen. Bacon hatte nur Sinn und Verständnis für die
Einzelheiten der Natur. Durch Sammeln desjenigen, was durch die
räumliche und zeitliche Mannigfaltigkeit als Gleiches oder
Ähnliches sich hindurchzieht, glaubte er zu allgemeinen Regeln über
das Naturgeschehen zu kommen. Goethe spricht über ihn das treffende
Wort: „Denn ob er auch darauf hindeutet, man solle die
Partikularien nur deswegen sammeln, damit man aus ihnen wählen, sie
ordnen und endlich zu Universalien gelangen könne,so
behalten doch bei ihm die einzelnen Fälle zu viele Rechte