Rudolf Steiner
Goethes Weltanschauung
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Inhaltsverzeichnis
Vorrede.
Einleitung.
Goethes Stellung innerhalb der abendländischen Gedankenentwickelung.
Die Anschauungen über Natur und Entwicklung der Lebewesen.
Die Betrachtung der Farbenwelt.
Gedanken über Entwicklungsgeschichte der Erde und Lufterscheinungen.
Goethe und Hegel.
Vorrede.
Die
Gedanken, die ich in diesem Buche mitteile, sollen die Grundstimmung
festhalten, die ich in der Weltanschauung Goethes beobachtet habe. Im
Lauf vieler Jahre habe ich immer wieder und wieder das Bild dieser
Weltanschauung betrachtet. Besonderen Reiz hatte es für mich, nach
den Offenbarungen zu sehen, welche die Natur über ihr Wesen und ihre
Gesetze den feinen Sinnes- und Geistesorganen Goethes gemacht hat.
Ich lernte begreifen, warum Goethe diese Offenbarungen als so hohes
Glück empfand, daß er sie zuweilen höher schätzte als seine
Dichtungsgabe. Ich lebte mich in die Empfindungen ein, die durch
Goethes Seele zogen, wenn er sagt, daß „wir durch nichts so sehr
veranlaßt werden über uns selbst zu denken, als wenn wir höchst
bedeutende Gegenstände, besonders entschiedene Naturscenen nach
langen Zwischenräumen endlich wiedersehen und den zurückgebliebenen
Eindruck mit der gegenwärtigen Einwirkung vergleichen. Da werden wir
denn im Ganzen bemerken, daß das Object immer mehr hervortritt, daß,
wenn wir uns früher an den Gegenständen empfanden, Freud und Leid,
Heiterkeit und Verwirrung auf sie übertrugen, wir nunmehr bei
gebändigter Selbstigkeit ihnen das gebürende Recht widerfahren
lassen, ihre Eigenheiten zu erkennen und ihre Eigenschaften, sofern
wir sie durchdringen, in einem höhern Grade zu schätzen wissen.
Jene Art des Anschauens gewährt der künstlerische Blick, diese
eignet sich dem Naturforscher, und ich mußte mich, zwar anfangs
nicht ohne Schmerzen, zuletzt doch glücklich preisen, daß, indem
jener Sinn mich nach und nach zu verlassen drohte, dieser sich in Aug
und Geist desto kräftiger entwickelte.“Die
Eindrücke, welche Goethe von den Erscheinungen der Natur empfangen
hat, muß man kennen, wenn man den vollen Gehalt seiner Dichtungen
verstehen will. Die Geheimnisse, die er dem Wesen und Werden der
Schöpfung abgelauscht hat, leben in seinen künstlerischen
Erzeugnissen und werden nur demjenigen offenbar, der hinhorcht auf
die Mitteilungen, die der Dichter über die Natur macht. Niemand kann
in die Tiefen der Goetheschen Kunst hinuntertauchen, dem Goethes
Naturbeobachtungen unbekannt sind.Solche
Empfindungen drängten mich zu der Beschäftigung mit Goethes
Naturstudien. Sie ließen zunächst die Ideen reifen, die ich vor
mehr als zehn Jahren in Kürschners „Deutscher Nationallitteratur“
mitteilte. Was ich damals in dem ersten anfing, habe ich ausgebaut in
den drei folgenden Bänden der naturwissenschaftlichen Schriften
Goethes, von denen der letzte in diesen Tagen vor die Oeffentlichkeit
tritt. Dieselben Empfindungen leiteten mich, als ich vor mehreren
Jahren die schöne Aufgabe übernahm, einen Teil der
naturwissenschaftlichen Schriften Goethes für die große Weimarische
Goethe-Ausgabe zu besorgen. Was ich an Gedanken zu dieser Arbeit
mitgebracht und was ich während derselben ersonnen habe, bildet den
Inhalt des vorliegenden Buches. Ich darf diesen Inhalt als
erlebt
im vollsten Sinne des Wortes bezeichnen. Von vielen Ausgangspuncten
aus habe ich mich den Ideen Goethes zu nähern gesucht. Allen
Widerspruch, der in mir gegen Goethes Anschauungsweise schlummerte,
habe ich aufgerufen, um gegenüber der Macht dieser einzigen
Persönlichkeit die eigene Individualität zu wahren. Und je mehr ich
meine eigene, selbst erkämpfte Weltanschauung ausbildete, desto mehr
glaubte ich Goethe zu verstehen. Ich versuchte ein Licht zu finden,
das auch die Räume in Goethes Seele durchleuchtet, die ihm selbst
dunkel geblieben sind. Zwischen den Zeilen seiner Werke wollte ich
lesen, was mir ihn ganz verständlich machen sollte. Die Kräfte
seines Geistes, die ihn beherrschten, deren er sich aber nicht selbst
bewußt wurde, suchte ich zu entdecken. Die wesentlichen
Charakterzüge seiner Seele wollte ich durchschauen.Unsere
Zeit liebt es die Ideen da, wo von psychologischer Betrachtung einer
Persönlichkeit die Rede ist, in einem mystischen Halbdunkel zu
lassen. Die gedankliche Klarheit in solchen Dingen wird gegenwärtig
als nüchterne Verstandesweisheit verachtet. Man glaubt tiefer zu
dringen, wenn man von mystischen Abgründen des Seelenlebens, von
dämonischen Gewalten innerhalb der Persönlichkeit spricht. Ich muß
gestehen, daß mir diese Schwärmerei für mystische Psychologie als
Oberflächlichkeit erscheint. Sie ist bei Menschen vorhanden, in
denen der Inhalt der Ideenwelt keine Empfindungen erzeugt. Sie können
in die Tiefen dieses Inhaltes nicht hinabsteigen, sie fühlen die
Wärme nicht, die von ihm ausströmt. Deshalb suchen sie diese Wärme
in der Unklarheit. Wer im stande ist, sich einzuleben in die hellen
Sphären der reinen Gedankenwelt, der empfindet in ihnen das, was er
sonst nirgends empfinden kann. Persönlichkeiten wie die Goethes kann
man nur erkennen, wenn man die Ideen, von denen sie beherrscht sind,
in ihrer lichten Klarheit in sich aufzunehmen vermag. Wer die Mystik
in der Psychologie liebt, wird vielleicht meine Betrachtungsweise
kalt finden. Ob es aber meine Schuld ist, daß ich das Dunkle und
Unbestimmte nicht mit dem Tiefsinnigen für ein und dasselbe halten
kann? So rein und klar, wie mir die Ideen erschienen sind, die in
Goethe als wirksame Kräfte gewaltet haben, versuche ich sie
darzustellen. Vielleicht findet auch mancher die Linien, die ich
gezogen habe, die Farben, die ich aufgetragen habe, zu einfach. Ich
meine aber, daß man das Große am besten charakterisiert, wenn man
es in seiner monumentalen Einfachheit darzustellen versucht. Die
kleinen Schnörkel und Anhängsel verwirren nur die Betrachtung.
Nicht auf nebensächliche Gedanken, zu denen er durch dieses oder
jenes Erlebnis von untergeordneter Bedeutung veranlaßt worden ist,
kommt es mir bei Goethe an, sondern auf die Grundrichtung seines
Geistes. Mag dieser Geist auch da und dort Seitenwege einschlagen:
eine
Haupttendenz ist immer zu erkennen. Und sie habe ich verfolgt. Wer da
meint, daß die Regionen, durch die ich gegangen bin, eisig sind, der
hat sein Herz zu Hause gelassen.Will
man mir den Vorwurf machen, daß ich nur diejenigen Seiten der
Goetheschen Weltanschauung schildere, auf die mich mein eigenes
Denken und Empfinden weist, so kann ich nichts erwidern, als daß ich
eine fremde Persönlichkeit nur so ansehen will, wie sie mir nach
meiner eigenen Wesenheit erscheinen muß. Die Objectivität
derjenigen Darsteller, die sich selbst verleugnen wollen, wenn sie
fremde Ideen schildern, schätze ich nicht hoch. Ich glaube, sie kann
nur matte und farbenblasse Bilder malen. Ein Kampf liegt jeder wahren
Darstellung einer fremden Weltanschauung zu Grunde. Und der völlig
Besiegte wird nicht der beste Darsteller sein. Die fremde Macht muß
Achtung erzwingen; aber die eigenen Waffen müssen ihren Dienst tun.
Ich habe deshalb rückhaltlos ausgesprochen, daß nach meiner Ansicht
die Goethesche Denkweise Grenzen hat. Daß es Erkenntnisgebiete gibt,
die ihr verschlossen geblieben sind. Ich habe gezeigt, welche
Richtung die Beobachtung der Welterscheinungen nehmen muß, wenn sie
in die Gebiete dringen will, die Goethe nicht betreten hat, oder auf
denen er, wenn er sich in sie begeben hat, unsicher herumgeirrt ist.
So interessant es ist, einem großen Geiste auf seinen Wegen zu
folgen; ich möchte jedem nur so weit folgen, als er mich selbst
fördert. Denn nicht die Betrachtung, die Erkenntnis, sondern das
Leben, die eigene Tätigkeit ist das Wertvolle. Der reine Historiker
ist ein schwacher, ein unkräftiger Mensch. Die historische
Erkenntnis raubt die Energie und Spannkraft des eigenen Wirkens. Wer
alles verstehen will, wird selbst wenig sein. Was fruchtbar ist,
allein ist wahr, hat Goethe gesagt. Soweit Goethe für unsere Zeit
fruchtbar ist, soweit soll man sich in seine Gedanken- und
Empfindungswelt einleben. Und ich glaube, aus der folgenden
Darstellung wird hervorgehen, daß unzählige noch ungehobene Schätze
in dieser Gedanken- und Empfindungswelt verborgen liegen. Ich habe
auf die Stellen hingedeutet, an denen die moderne Wissenschaft hinter
Goethe zurückgeblieben ist. Ich habe von der Armut der gegenwärtigen
Ideenwelt gesprochen und ihr den Reichtum und die Fülle der
Goetheschen entgegengehalten. In Goethes Denken sind Keime, welche
die moderne Naturwissenschaft zur Reife bringen sollte. Für sie
könnte dieses Denken vorbildlich sein. Sie hat einen größeren
Beobachtungsstoff als Goethe. Aber sie hat diesen Stoff nur mit
spärlichem und unzureichendem Ideengehalt durchsetzt. Ich hoffe, daß
aus meinen Ausführungen hervorgeht, wie wenig Eignung die moderne
naturwissenschaftliche Denkweise dazu besitzt, Goethe zu kritisieren,
und wie viel sie von ihm lernen könnte.Rudolf
Steiner.
Einleitung.
Will
man Goethes Weltanschauung verstehen, so darf man sich nicht damit
begnügen, hinzuhorchen, was er selbst in einzelnen Aussprüchen über
sie sagt. In kristallklaren Sätzen den Kern seines Wesens
auszusprechen, lag nicht in seiner Natur. Er hatte eine gewisse Scheu
davor, das Lebendige, die Wirklichkeit in einem durchsichtigen
Gedanken festzuhalten. Sein Innenleben, seine Beziehungen zur
Außenwelt, seine Beobachtungen über die Dinge und Ereignisse waren
zu reich, zu erfüllt von zarten Bestandteilen, von intimen
Elementen, um von ihm selbst in einfache Formeln gebracht zu werden.
Er spricht sich aus, wenn ihn dieses oder jenes Erlebnis dazu drängt.
Aber er sagt immer zu viel oder zu wenig. Die lebhafte Anteilnahme an
allem, was an ihn herankommt, bestimmt ihn oft, schärfere Ausdrücke
zu gebrauchen, als es seine Gesamtnatur verlangt. Sie verführt ihn
ebenso oft, sich unbestimmt zu äußern, wo ihn sein Wesen zu einer
bestimmten Meinung nötigen könnte. Er ist immer ängstlich, wenn es
sich darum handelt, zwischen zwei Ansichten zu entscheiden. Er will
sich die Unbefangenheit nicht dadurch rauben, daß er seinen Gedanken
eine scharfe Richtung giebt. Er beruhigt sich bei dem Gedanken: „Der
Mensch ist nicht geboren, die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber
zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann in der Grenze des
Begreiflichen zu halten.“ Ein Problem, das der Mensch gelöst zu
haben glaubt, entzieht ihm die Möglichkeit, tausend Dinge klar zu
sehen, die in den Bereich dieses Problemes fallen. Er achtet auf sie
nicht mehr, weil er über das Gebiet aufgeklärt zu sein glaubt, in
das sie fallen. Goethe möchte lieber zwei Meinungen über eine Sache
haben, die einander entgegengesetzt sind, als
eine
bestimmte. Denn jedes Ding scheint ihm eine Unendlichkeit
einzuschließen, der man sich von verschiedenen Seiten nähern muß,
um von ihrer ganzen Fülle etwas wahrzunehmen. „Man sagt, zwischen
zwei entgegengesetzten Meinungen liegt die Wahrheit mitten inne.
Keineswegs! Das Problem liegt dazwischen, das Unschaubare, das ewig
thätige Leben, in Ruhe gedacht.“ Goethe will seine Gedanken
lebendig erhalten, damit er in jedem Augenblicke sie umwandeln kann,
wenn die Wirklichkeit ihn dazu veranlaßt. Er will nicht recht haben;
er will stets nur aufs „Rechte losgehen“. In zwei verschiedenen
Zeitpunkten spricht er sich über dieselbe Sache verschieden aus.
Eine feste Theorie, die ein für allemal die Gesetzmäßigkeit einer
Reihe von Erscheinungen zum Ausdruck bringen will, ist ihm widerlich.Wenn
man dennoch die Einheit seiner Anschauungen überschauen will, so muß
man weniger auf seine Worte hören als auf seine Lebensführung
sehen. Man muß sein Verhältnis zu den Dingen belauschen, wenn er
ihrem Wesen nachforscht und dabei das ergänzen, was er selbst nicht
sagt. Man muß auf das Innerste seiner Persönlichkeit eingehen, das
sich zum größten Teile hinter seinen Äußerungen verbirgt. Was er
sagt, mag sich oft widersprechen; was er lebt, gehört immer einem
widerspruchlosen Ganzen an. Hat er seine Weltanschauung auch nicht in
einem geschlossenen System aufgezeichnet; er hat sie in einer
geschlossenen Persönlichkeit dargelegt. Wenn wir auf sein Leben
sehen, so lösen sich alle Widersprüche in seinem Reden. Er hat über
die Natur dies und jenes gesagt. In einem festgefügten
Gedankengebäude hat er seine Naturanschauung niemals niedergelegt.
Aber wenn wir seine einzelnen Gedanken auf diesem Gebiete
überblicken, so schließen sie sich von selbst zu einem Ganzen
zusammen. Man kann sich eine Vorstellung davon machen, welches
Gedankengebäude entstanden wäre, wenn er seine Ansichten im
Zusammenhang vollständig dargestellt hätte. Ich habe mir
vorgesetzt, in dieser Schrift zu schildern, wie Goethes
Persönlichkeit in ihrem innersten Wesen geartet gewesen sein muß,
um über die Erscheinungen der Natur solche Gedanken äußern zu
können, wie er sie in seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten
niedergelegt hat. Daß manchem von dem, was ich sagen werde,
Goethesche Sätze entgegengehalten werden können, die ihm
widersprechen, weiß ich. Es handelt sich mir aber in dieser Schrift
nicht darum, eine Entwicklungsgeschichte seiner Aussprüche zu geben,
sondern darum, die Grundlagen seiner Persönlichkeit darzustellen,
die ihn zu seinen tiefen Einsichten in das Schaffen und Wirken der
Natur führten. Nicht aus den zahlreichen Sätzen, in denen er
Konzessionen an andere Denkweisen macht, oder in denen er sich der
Formeln bedient, welche der eine oder der andere Philosoph gebraucht
hat, lassen sich diese Grundlagen erkennen. Aus den Äußerungen zu
Eckermann könnte man sich einen Goethe konstruieren, der nie die
Metamorphose der Pflanzen hätte schreiben können. An Zelter hat
Goethe manches Wort gerichtet, das verführen könnte, auf eine
wissenschaftliche Gesinnung zu schließen, die seinen großen
Gedanken über die Bildung der Tiere widerspricht. Ich gebe zu, daß
in Goethes Persönlichkeit auch Kräfte gewirkt haben, die ich nicht
berücksichtigt habe. Aber diese Kräfte treten zurück hinter den
eigentlich bestimmenden, die seiner Weltanschauung das Gepräge
geben. Diese bestimmenden Kräfte so scharf zu charakterisieren, als
mir möglich ist, habe ich mir zur Aufgabe gestellt.
Goethes Stellung innerhalb der abendländischen Gedankenentwickelung.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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