Goldköpfchens Glück und Leid - Magda Trott - E-Book

Goldköpfchens Glück und Leid E-Book

Magda Trott

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"Goldköpfchens Glück und Leid" ist der siebte Band der dreizehnteiligen Kinderbuchreihe "Goldköpfchen" von Magda Trott, erschienen 1932.

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Goldköpfchens Glück und Leid

1. Kapitel. Aufruhr im Ort2. Kapitel. Die Dame von Welt3. Kapitel. Die Schlange im Paradiese4. Kapitel. In Tannengrund5. Kapitel. Gestörte Ferien6. Kapitel. Erinnerungen7. Kapitel. Tiefstes Leid8. Kapitel. Haralds VermächtnisImpressum

1. Kapitel. Aufruhr im Ort

Frau Barbara Wendelin saß am Fenster der Wohnstube; aber die blauen Augen schweiften nicht hinaus in die sommerliche Landschaft, sie schauten vielmehr tiefsinnig in die große Flickentruhe, die neben der jungen Frau stand. Was lag nicht alles darin! Knabenanzüge, einige Mädchenkleider, Wäschestücke und Strümpfe, Strümpfe, Strümpfe!

»Wie können drei Kinder so viel Strümpfe zerreißen!« Das war der Stoßseufzer, mit dem Frau Bärbel ein neues Paar Kinderstrümpfe zur Hand nahm, um an die Ausbesserarbeit zu gehen.

»Wenn sie doch erst wieder zurück wäre, meine gute Frau Leuschner!«

Der Ausruf galt der treuen Kinderfrau, die Bärbel seit Jahren im Hause hatte. Kurz nach der Geburt des zweiten Sohnes hatte man Frau Leuschner in die Villa nach Heidenau verpflichtet, seit sieben Jahren sorgte Frau Leuschner unermüdlich dafür, daß die drei Kinder der Mutter nicht gar zu viel Mühe machten. Frau Leuschner meinte selbst, daß mitunter acht Kinder nicht so viel zerrissen, nicht so viel Lärm und Unruhe machten wie allein die beiden Buben des Oberingenieurs Wendelin.

Hermann und Jürgen waren so ziemlich in ganz Heidenau bekannt. Die beiden hübschen, blonden Knaben, die mit so hellen Augen in die Welt schauten, wußten immer etwas Neues, und obwohl sich Frau Bärbel die größte Mühe gab, ihre Kinder zu sittsamen und bescheidenen Menschlein zu erziehen, ging mit den Knaben immer wieder das Temperament durch. Nicht immer wollte die Mutter die Autorität des Vaters anrufen. Sie hoffte, allein mit den beiden fertig zu werden, und nur im äußersten Falle klagte sie dem Gatten ihre Not.

Wie oft hatte Harald Wendelin sein goldhaariges Frauchen umgefaßt, wie oft hatte er lächelnd daran erinnert, daß Bärbel im Elternhause doch selbst ein kleiner Ausbund gewesen sei und daß auch dort die drei Kinder dem Apotheker Wagner manchen Lärm und manche Unruhe ins Haus getragen hatten.

An das Elternhaus dachte Bärbel auch jetzt, als sie Faden um Faden durch den schadhaften Strumpf zog. Jedesmal, wenn ihr bisheriges Leben an ihrem Geiste vorüberzog, trat in Bärbels Gesicht ein Zug tiefinneren Glückes. Das Leben schien wirklich nur Rosen für sie zu haben. Erst die glückliche Zeit im Elternhause. Wie hatte sie so herrlich mit den beiden jüngeren Brüdern, den Zwillingen Martin und Kuno, gespielt, dann kam die prächtige Jungmädchenzeit, der Aufenthalt bei der Großmutter in Dresden, alle die fröhlichen Backfischerlebnisse, dann die Lehrzeit im photographischen Atelier des Herrn Brausewetter – und zwischendurch immer wieder die Gestalt Harald Wendelins. Der junge Student war oft ins Haus der Eltern gekommen, und in Bärbels Herzen war sehr rasch innige Liebe zu dem tüchtigen Manne emporgekeimt. Noch war ihre Lehrzeit nicht beendet gewesen, da hatte ihr Harald Wendelin den goldenen Reif an den Finger gesteckt. Sie war die Seine geworden und lebte nun hier in Heidenau im Kreise ihrer Familie.

Die elfjährige Ehe war nur ein einziger Tag des Glückes und der Zufriedenheit gewesen. Goldköpfchen, so hatte man Bärbel genannt, als sie noch ganz klein gewesen war, als ihr die goldenen Locken beim wilden Lauf um die Stirn flatterten. Goldköpfchen hieß sie auch in der Schule; ja sogar in der Lehrzeit war mitunter dieser Name gefallen. Und heute? Wenn sie den Kopf zärtlich an die Brust des Gatten schmiegte, tönte auch jetzt noch dieser Name von seinen Lippen.

»Mein liebes, liebes Goldköpfchen!«

Die Blicke der jungen Frau schweiften durch das behaglich eingerichtete Zimmer. Dort in der Ecke stand auf drei Korbbeinen der sogenannte Flickenkorb. Er hatte bisher immer für die Näharbeit ausgereicht; aber seitdem Frau Leuschner in Urlaub gefahren war, mußte die Truhe hervorgeholt werden, um die ausbesserungsbedürftigen Sachen aufzunehmen. Allabendlich, wenn Goldköpfchen die Kleidung ihrer Kinder kontrollierte, mußte sie allerlei mitnehmen. Vor allem war es ihr Ältester, der Hermann, der dafür sorgte, daß die Mutter stets Arbeit hatte.

»Unerhört!« Goldköpfchen hielt einen Knabenstrumpf hoch, der nicht nur an Ferse und Zehen große Löcher aufwies –, am Bein zeigten sich kreisrunde zerrissene Stellen, die beinahe darauf schließen ließen, daß man daran absichtlich ein Werk der Zerstörung vorgenommen hatte.

»So geht das auf die Dauer nicht weiter! Nächstens muß Hermann lernen, Strümpfe zu stopfen. Arme Mutter, was magst du zu tun gehabt haben! Ob ich auch so viele Strümpfe zerriß?«

Von unten herauf wurde ein langgezogenes Pfeifen hörbar, dann stürmte ein zehnjähriger Knabe die Straße entlang, blaurot vom schnellen Laufen. Im Vorgarten blieb er stehen und schöpfte Atem, dann nochmals das schrille Pfeifen.

Frau Bärbel öffnete das Fenster.

»Hermann, komm einmal herauf!«

Der Gerufene kam, eilte auf die Mutter zu, umschlang sie stürmisch und tutete ihr so kräftig ins Ohr, daß Goldköpfchen erschrocken den Kopf zur Seite bog.

»Ich bin der FD-Zug, Mutti, der Paul ist nur der D-Zug. Mich haben sie zum FD-Zug gemacht. Oh, bin ich gerast!«

»Bei dieser Hitze, Hermann! Ordentlich blau siehst du aus! Das ist schädlich!«

»Faß mich mal an, Mutti, ich dampfe wie der FD-Zug.«

Hermann riß die Matrosenbluse auf, Bärbel sah das durchfeuchtete Hemd.

»Gleich gehst du ins Schlafzimmer und trocknest dich ab.«

»Der FD-Zug tropft unten auch. Ach, ich bin so schön naß. – Aber gerast bin ich, gerast –, wenn der Teufel neben mir hergelaufen wäre, er hätte es nicht geschafft. Und nun, Mutti, will ich dir noch was zeigen. Heute in der Turnstunde sind wir auf den Händen gelaufen. Paß mal auf, Mutti, ich kann es beinahe auch schon.«

Bevor Frau Bärbel etwas erwidern konnte, hatte sich Hermann einen Aufschwung gegeben; eine Sekunde lang stand er auf den Händen, dann schlugen die Beine nach vorn über, gerade in Bärbels Nähkorb hinein.

»O weh, Mutti, ich glaube, ich kann's noch nicht richtig.«

Garnrollen, Knöpfe, Nähnadeln, alles kollerte durcheinander auf der Erde herum.

Goldköpfchen wußte nicht recht, ob sie den durchnäßten Knaben erst zum Auflesen der Sachen anhalten oder ihn aus dem Zimmer schicken sollte, damit er sich umkleide. Aber die Gesundheit ging ihr wohl vor.

»Du reibst dich sofort ab, Hermann, dann kommst du wieder und sammelst den Nähkorb zusammen. – Halt – du läufst nicht noch einmal auf den Händen, laß den Unsinn!«

Hermann hatte einen neuen Versuch unternommen und war dem großen Spiegel bedenklich nahe gekommen, so daß Frau Bärbel für das kostbare Stück zitterte.

»Ich muß es lernen, Mutti. Jetzt fährt der FD-Zug in den Bahnhof.«

»Sssssssssst« – da war er weg. Ein paar Türen krachten, daß das ganze Haus zitterte, dann war Ruhe.

Bärbel hielt noch immer den durchlöcherten Strumpf in der Hand. Es würde nicht lange dauern, da kam Hermann zurück; dann sollte er ihr Rechenschaft geben. Inzwischen nahm sie seine Leinenbluse vor, weil der Ärmel ein wenig aufgerissen war.

Eine genauere Besichtigung des Stückes ergab, daß an dieser Bluse kein einziger Knopf mehr vorhanden war.

»Was machen die Bengel nur immer mit den Knöpfen? – Unerhört!« Auch darüber wollte die Mutter dann Auskunft haben. Sie nähte die Knöpfe doch so fest an, und immer wieder fehlten einige daran.

Kaum fünf Minuten später war Hermann wieder im Wohnzimmer und schickte sich an, alles in den Nähkorb zu sammeln. Er legte sich langsam auf die Erde und rutschte auf dem Fußboden hin und her.

»Wisch doch nicht mit dem Anzug das Zimmer auf, Hermann.«

»Ich bin ein Schwimmfisch, Mutti. Sieh mal her!«

Arme und Beine wurden gespreizt, das Rutschen begann erneut.

»Jetzt möchte ich zuerst einmal von dir wissen, Hermann, wie es kommt, daß dieser neue Strumpf so viele Löcher hat.«

»Ja, Mutti, das kommt eben so. – Macht es dir viel Arbeit, die Löcher wieder zusammenzuflicken?«

»Natürlich.«

»Dann laß mich doch lieber ohne Strümpfe gehen, wie der Ernst, der hat auch keine an.«

»Wie kommen denn diese vielen Löcher in den neuen Strumpf?«

Eine Weile betrachtete der Knabe den Strumpf tiefsinnig; dann ging ein freudiges Leuchten über seine Züge.

»Au, Mutti, wir haben so schön gespielt. Einer war der Kaufmann, und wir sind die Ware gewesen. Ich war der Schweizerkäse. Da meinte der Martin, ein Schweizerkäse müsse Löcher haben. Da haben wir ein bißchen drin gebohrt.«

»In den guten Strümpfen? Du weißt doch, daß alles viel Geld kostet, daß Vati all das Geld erst verdienen muß. Darfst du dann absichtlich deine Sachen zerstören?«

»Ach, Mutti«, sagte Hermann, indem er Goldköpfchen umschlang, »du tust ja nur so, als ob du böse wärst. Ich kenne dich ja ganz genau.«

»O nein, Hermann, ich bin sehr böse, wenn du absichtlich deine Sachen zerreißt.«

»Bist du wirklich böse?«

»Wie ist es denn hier mit den Knöpfen? Wo tust du denn alle die Knöpfe hin?«

»Au, Mutti, das ist doch unser feines Spiel. Ich bin ein Auto; wir sind alle Autos, hier vorn ist der Motor, den kurbeln wir an. Sieh mal, Mutti, so!«

Hermann griff an einen Knopf seiner Jacke, begann ihn zu drehen. In demselben Augenblick fing er an, durch das Zimmer zu laufen.

»Jetzt kommt der zweite Gang, wir kurbeln noch einmal an.«

»Laß den Knopf los, Hermann!«

»Haha, Mutti, er ist schon ab!« Hermann hielt der Scheltenden den abgerissenen Knopf hin. »Panne – das Auto steht! Siehst du, Mutti, nun muß der Chauffeur doch nach einer anderen Kurbelung suchen. – Der Vati hat immer gesagt: ›Jungens, man muß sich zu helfen wissen.‹ Siehst du nun, daß ich mir zu helfen weiß?«

»Ich werde dir auch helfen, Hermann. Du kurbelst den Motor nicht mehr an. Vor acht Tagen hast du aus der Bluse ein ganzes Stück Stoff mit herausgerissen. Deine Mutti möchte auch gern hinaus in den Sonnenschein gehen. Aber sie kann es nicht, weil sie immerfort für euch zu nähen hat.«

»Weißt du, ich will dir was sagen: näh nicht!«

»Und ihr lauft zerrissen herum.«

Hermann richtete die blauen Augen auf die zürnende Mutter, kam langsam näher, schmiegte seinen Kopf an ihre Schulter und sagte innig:

»Sei mal nicht traurig, bist doch mein liebes Goldköpfchen!«

»Hermann!«

»Ja, ja, du bist und bleibst mein liebes Goldköpfchen.«

»Ich bin deine Mutti, Hermann«, sagte die junge Mutter ernst.

»Weißt du, Mutti«, Hermann sprang mit einem Satz auf ihre Knie, »ich finde es sehr schön, daß du meine Mutti bist, aber in der Schule sage ich niemals ›Mutti‹, da sage ich immer, daß ich daheim ein schönes, liebes Goldköpfchen habe. – Weißt du, Mutti, die anderen Kinder, die haben kein Goldköpfchen zur Mutti. Ich habe die Muttis vom Paul, vom Max, vom Erich und anderen gesehen. Ach nee, die möchte ich nicht haben. Ich möchte nur meine Goldköpfchen-Mutti.«

»Es ist nicht artig von dir, Hermann, daß du deine Mutti ›Goldköpfchen‹ nennst.«

»Der Vati tut es doch auch.«

»Ja, mein Junge, das darf der Vati, aber nicht du.«

»Schade«, meinte Hermann nachdenklich. »Wenn ich aber so groß bin wie der Vati, dann darf ich?«

»Bist doch ein dummer Junge, Hermann. Nun geh und sieh einmal nach, wo Jürgen und Erna geblieben sind.«

»Unten beim Onkel Forstrat.«

»So laufe hinunter und hole die Geschwister herauf. Dann dürft ihr noch ein wenig im Garten bleiben oder könnt zusammen ein Stückchen spazierengehen. Aber nicht weit, Hermann. Es ist so schöner Sonnenschein draußen. Du paßt gut auf Jürgen und Erna auf. – Willst du sehr brav und vernünftig sein, Hermann?«

»Freilich, Mutti!«

»Und dafür sorgen, daß den beiden Kleinen nichts zustößt?«

»Und ob! – Ich bin der FD-Zug und sause immer vorneweg.«

»Nein, Hermann, dann lasse ich dich nicht gehen. Dann bringst du Jürgen und Erna herauf. Vielleicht kann Mutti nachher noch ein wenig mit euch fortgehen.«

»Ich werd's schon machen, Mutti. Ich werde aufpassen. Das kleine Mädchen wird schon artig sein. Wenn nicht, puffe ich sie.«

»Aber, Hermann, du wirst doch nicht deine kleine Schwester puffen.«

»Kommst du dann mit spazieren?«

»Ja, aber erst muß ich noch eine halbe Stunde nähen.«

Wieder blickte Hermann nachdenklich auf die Hände der Mutter.

»Weißt du was, Gold – Goldmutti? Wir erfinden was. So was, was von alleine näht. Der Vati hat uns doch erzählt, daß es eine Maschine gibt, die ganz von allein Muster webt. Du mußt an deine Nähmaschine auch so was anschrauben. – Wollen wir jetzt was an deiner Nähmaschine erfinden?«

Bärbel wandte sich hastig nach rückwärts und breitete schützend beide Hände über die Nähmaschine aus.

»Nein, nein, laß nur deine Erfindungen bleiben, Hermann. An meiner Nähmaschine ist nichts mehr zu erfinden.«

»Dann will ich mich mal mit dem Vati darüber unterhalten. Vielleicht könnten wir doch noch was erfinden.«

»Schon gut, mein Junge. Jetzt geh hinunter zum Herrn Forstrat und hole die Geschwister. Ich werde nachher fragen, ob du mein braver Junge gewesen bist, auf den die Mutti stolz sein kann.«

»Kannst du sein, Mutti.« Dann wieder das schrille Tuten – Hermann stob aus dem Zimmer.

Als Goldköpfchen zehn Minuten später aus dem Fenster blickte, sah sie ihre drei Kinder durch das Gartentor gehen. Voran der siebenjährige Jürgen, der das dreijährige Schwesterchen an der Hand hielt, hinter beiden Hermann, mit der Kreiselpeitsche in der Hand. Sein lautes »Hü, hü, hott« schallte hinauf zu der Mutter, die lächelnd der kleinen Schar nachblickte.

Bärbel konnte unbesorgt die Kinder auf die Straße gehen lassen. Man wohnte etwas abseits, in einer ruhigen Gegend; nur selten verirrte sich um diese Tageszeit ein Wagen hierher. Außerdem hatte Harald von früh an darauf gedrungen, daß Hermann auf der Straße umsichtig wurde. Harald hielt es für richtig, den Kindern möglichst viel Bewegungsfreiheit zu lassen, um sie zu selbständigen Menschen zu erziehen.

Währenddessen zog Bärbel Faden um Faden durch die zerrissenen Strümpfe, nähte die fehlenden Knöpfe an, setzte kunstvoll einen neuen Hosenboden ein und legte schließlich die Arbeit zur Seite. Sie wollte sich jetzt auch ein wenig Erholung gönnen. In etwa einer Stunde kam Harald aus der Fabrik heim. Es würde nicht schwerfallen, die Kinder zu finden. Gemeinsam wollte man dann den Vater abholen.

Gerade im Begriff, den Hut aufzusetzen, hörte sie im Garten lautes Lärmen.

»Onkel Forstrat – Tante – Mutti – Fritz – kommt schnell, gleich geht es los!«

Bärbel eilte ans Fenster, beugte sich hinaus. Mit hochrotem Gesicht, voller Aufregung stand Hermann unten.

»Mutti«, rief er hinaus, als er sie erblickte, »komm schnell! Gleich kracht die Brücke in die Luft!«

»Was ist los?«

»Gleich kracht die Brücke in die Luft! Weißt du, so wie damals, wo die Steine auseinandersprangen. – Mutti, komm schnell!«

»Was denn für eine Brücke? Warum kracht sie denn in die Luft?«

»Unser Direktor hat's eben gesagt. Wir waren an der Brücke, da hat er uns zugerufen, wir sollten fortgehen, weil die Brücke gleich in die Luft fliegt. – Mutti, komm schnell!«

Bärbel fuhr mit der Hand über die Stirn. Die Brücke? Freilich, die alte Brücke sollte schon lange abgerissen werden. Eigentlich war es doch undenkbar, daß man sie in die Luft sprengte.

»Das hat dir euer Direktor gesagt?«

»Jawohl, Mutti. Er kam vorbei, wir waren noch mit dem Max und dem Adalbert dort. Da hat er uns gesagt, wir sollen schnell fortgehen, weil die Brücke gleich in die Luft fliegt.«

»Das ist doch kaum glaublich«, ertönte von unten die Stimme des Forstrates. »Freilich, die Brücke ist alt. Ich denke, es ist das beste, ich gehe sofort einmal hin.«

»Ich gehe auch!« rief Frau Bärbel erregt. »Wenn sie die Brücke in die Luft sprengen, müßten sie doch absperren.«

»Ja, Mutti, es sind auch schon Leute gekommen. Da werden sie wohl das Zeug schon anbringen, womit sie die Brücke in die Luft knallen. Wie hieß es denn, Mutti?«

»Dynamit.«

»Na freilich, Mutti, sie bringen das Dynamit schon mit. – Und nun muß ich rasch wieder hin.«

»Warte, ich komme mit. Wenn nur den Kindern nichts geschieht!«

»Einen Augenblick, liebe gnädige Frau, ich komme auch mit!« rief der Forstrat. »Schließlich will man doch sehen, wie eine Brücke gesprengt wird.«

Goldköpfchen war ein wenig nervös geworden. Die Kinder waren vorwitzig. Aber es waren doch sicherlich Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden. Rätselhaft erschien ihr das alles freilich. Auch Harald hatte nichts davon erzählt, daß die alte Brücke gesprengt werden sollte. Kürzlich hatte er einmal geäußert, daß man die Brücke erneuern wolle. Aber so rasch ging das doch nicht.

In Begleitung des Forstrates machte sich Frau Bärbel auf den Weg. Unterwegs traf man Bekannte.

»Haben Sie schon gehört«, sagte Goldköpfchen, »daß man die alte Brücke sprengt?«

»Nein.«

»Die Kinder haben es mir soeben gesagt. Herr Direktor Pelzer hat sie von der Brücke gewiesen, das Sprengen soll sogleich beginnen.«

»Oh, dann kehren wir um und kommen mit.«

Und wieder traf man Bekannte.

»Direktor Pelzer sagte, daß die Brücke heute noch gesprengt wird. Es ist nichts bekanntgemacht worden, wir wollen trotzdem hingehen und zusehen.«

Als Bärbel mit dem Forstrat an der Brücke ankam, standen dort etwa hundert Menschen. In der vordersten Reihe Hermann mit Bruder Jürgen und Erna. Daneben andere Kinder, die in fieberhafter Ungeduld warteten, daß es nun endlich loskrachen werde. Auch zwei Schupobeamte waren anwesend. Sie ließen die Leute zwar ungehindert die Brücke passieren, wunderten sich aber anscheinend über den Menschenauflauf.

Bärbel drängte sich durch die Menschenmauer hindurch zu den Kindern. Von Vorbereitungen war nichts zu sehen. Aber rings um sie herum erzählten die Leute, daß die Brücke heute in die Luft fliege. Fachleute seien schon unterwegs. Sie müßten bald hier eintreffen, und auch mit den Absperrmaßnahmen würde sogleich begonnen werden.

Barbara Wendelin beruhigte sich wieder. Solange die Leute mit dem Sprengstoff noch nicht anwesend waren, bestand keine Gefahr. Aber jetzt rief eine Stimme, daß unten am Brückenpfeiler schon gearbeitet werde.

»Sie legen jetzt wohl das Dynamit.«

Bärbel faßte die Hände der Kinder fester. »Kommt, wir wollen gehen.«

»Aber, Mutti, wo denkst du hin«, sagte Hermann. »Das ist ein grandioses Schauspiel, sagen die Leute. Das sieht man nicht alle Tage. Wenn das Dynamit in die Luft geht, will ich dabei sein.«

»Und ich auch«, krähte Erna, die Dreijährige.

»Weißt du, Mutti, was ich möchte«, meinte Jürgen. »Ich möchte mich mitten auf die Brücke setzen, mich gut festhalten und dann – hoppla, hoch in die Luft!«

»Jetzt – jetzt kommen sie!«

Aller Augen schauten dem Gefährt entgegen. Von Mund zu Mund ging die Kunde: sie kommen! Ein Drängen, ein Stoßen entstand.

Ein Geschäftswagen kam langsam näher, der Schupo mußte ihm einen Weg durch die Menge bahnen.

»Was ist denn hier los?«

»Die Brücke wird gesprengt.«

Man wartete. – Dann kam wieder ein Wagen. Ein großer, roter Wagen, der spie das Wasser nach beiden Seiten, löschte den Staub und hielt an, weil er durch die Menschenmenge nicht fahren konnte.

»Siehst du, Mutti, das ist der Sprengwagen, dann geht es los, dann legen sie das Dynamit.«

»Die Brücke wird gesprengt!« Bärbel wiederholte mehrmals diese Worte. Leise fragte sie Hermann: »Was hat dir Direktor Pelzer gesagt?«

»Wir sollen weggehen, weil die Brücke in die Luft kracht.«

»Hat er euch gesagt, sie kracht in die Luft? Was habt ihr denn gemacht, waret ihr hier auf der Brücke?«

»Wir haben Regenwurm gespielt und Löcher gebohrt. Oh, das hat aber schön gestaubt. Dann kam der Direktor, da hat er gesagt, wir werden uns schmutzig machen.«

»Ja, das hat er gesagt!« rief Jürgen. »›Schmutzfinken!‹ hat er gesagt.«

»Und dann hat er gesagt«, fuhr Hermann fort, »wir sollten lieber weggehen, auf die Wiese, hier würden wir uns noch dreckiger machen, und dann hat er gesagt, daß die Brücke in die Luft kracht.«

»Daß die Brücke gesprengt wird, hat er gesagt, ja?«

»Ich werd's dir mal sagen, Mutti.« Hermann reckte sich, legte eine Hand auf den Rücken, fuhr mit der anderen an die Augen, als wolle er die Brille geraderücken, machte dann ein paar langsame Schritte vorwärts, schob die Unterlippe ein wenig nach vorn, räusperte sich und sagte, ganz im Tonfall des Direktors: »Kinder, Kinder, was seid ihr für Schmutzfinken! – Hm, hm – aber macht, daß ihr fortkommt, sonst werdet ihr noch unsauberer. Die Brücke wird gleich gesprengt werden. – Hm, hm.«

Dann stolzierte Hermann mit langsamen Schritten nochmals vor der Mutter her, wandte den Kopf zurück und rief erneut: »Geht nur heim, habt ihr's gehört? Die Brücke wird gesprengt. – Und dann, Mutti, dann habe ich mich angekurbelt und bin wie der Teufel zu dir gelaufen, denn du solltest doch auch sehen, wie die Brücke in die Luft kracht.«

Goldköpfchen schaute ihren Ältesten an. Sie wußte im Augenblick nicht recht, ob sie lachen oder dem Knaben einen Verweis erteilen sollte. Schon seit langem hatte sie an Hermann dessen fabelhaftes schauspielerisches Talent bewundert. Hermann hatte die seltene Gabe, alle Menschen, die ihm begegneten, nachzuahmen. In der Schule blieb kein Lehrer verschont. Oft genug hatte er der Mutter erzählt, daß er bald diesen, bald jenen Studienrat nachahme, daß er die Mitschüler schon oftmals angeführt habe. Die Pause hatte er einmal abgekürzt, indem er mit der Stimme des Direktors oben aus einem Fenster rief: ›Kommt rasch herauf!‹ Der Schulhof hatte sich geleert, lachend hatte Hermann die Schüler in Empfang genommen und dafür allerdings eine Tracht Prügel bekommen.

»Ja, Mutti, er hat uns gesagt, daß die Brücke in die Luft kracht, und er muß es wissen.«

Hinter Frau Bärbel ertönte jetzt lautes, dröhnendes Lachen. Das war der Forstrat.