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"Goldköpfchens Lehrzeit" ist der vierte Band der dreizehnteiligen Kinderbuchreihe "Goldköpfchen" von Magda Trott, erschienen 1930.
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Seitenzahl: 171
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»Meine letzten Ferien!« Die siebzehnjährige Tochter des Apothekenbesitzers Wagner stand am Fenster ihres Zimmers und schaute in den Garten des Elternhauses hinab.
Dort waren zwei dreizehnjährige Knaben eifrig damit beschäftigt, aus Tüchern, Stöcken, Pappbogen und Strohmatten ein Zelt zu errichten.
Martin und Kuno, die Zwillinge, huldigten ihrem Lieblingsspiele; die Indianerhäuptlinge mußten einen neuen Wigwam haben, der später von der großen Schwester besichtigt werden sollte.
Bärbel war die »Weiße Blume der Prärie«, man plante an der Siebzehnjährigen einen Raub, denn ganz freiwillig beteiligte sich Bärbel nicht mehr an den Spielen der Brüder.
Seit es feststand, daß sie zum Herbst einen Beruf ergreifen würde, hielt es Bärbel Wagner für richtig, an den wilden Spielen der Brüder nicht mehr teilzunehmen.
Die Vorsätze wurden zwar rasch wieder vergessen, denn Barbara Wagner, die wegen ihres reichen, goldblonden Haares auch heute noch in der Familie und deren Freundeskreise das Goldköpfchen aus der Apotheke hieß, tollte und tobte gar gern durch das große Elternhaus, foppte und neckte die Brüder und stieg auch, wenn sie sich unbeobachtet wußte, über Hecken, Zäune, sogar hinauf in die Bäume.
Das war natürlich in Dresden bei der Großmutter nicht möglich gewesen. Aber hier, im kleinen Dillstadt, durfte sie sich ein wenig gehen lassen. Darum sehnte Bärbel stets die Ferien herbei, die sie daheim im Elternhause verbringen konnte. Bei Großmama Lindberg in Dresden war es freilich auch wunderschön. Bärbel liebte die alte Dame geradezu leidenschaftlich, die es wie selten eine verstand, mit der Jugend umzugehen und die Bärbels ganzes Vertrauen besaß.
Dennoch war die Ferienzeit im Elternhause ein Fest. Aber diese Ferien, die sonst fünfmal im Jahre das junge Mädchen von Dresden nach Dillstadt geführt hatten, waren nun ein für allemal beendet. Wenn die nächsten vierzehn Tage vergangen waren, mußte Bärbel nochmals nach Dresden auf das Gymnasium zurückkehren; dann aber begann die Lehrzeit in einem photographischen Atelier in der großen Elbestadt.
Das junge, schlanke Mädchen breitete die Arme weit aus. Photographin! Das war der Beruf, zu dem sich Goldköpfchen nach langem Überlegen entschlossen hatte.
Und was war der Grund hierzu gewesen?
Vor Jahresfrist hatte ihr der Vater einen kleinen Photoapparat geschenkt. Mit Feuereifer hatte Bärbel diese Liebhaberei betrieben; doch genügten ihr die eigenen Leistungen nicht. Das Verlangen, etwas Künstlerisches zu schaffen, wurde immer größer in ihr, jedes photographische Atelier lockte sie an, und schließlich hatte sie die Eltern gebeten, ihr zu gestatten, diesen Beruf zu ergreifen.
Apothekenbesitzer Wagner und seine Frau hatten es von jeher für das beste gehalten, ihre Tochter einem Berufe zuzuführen. Joachim, der um acht Jahre ältere Bruder Bärbels, war in Berlin als Ingenieur tätig, es war stets die Absicht Herrn Wagners gewesen, auch seine Älteste etwas lernen zu lassen.
Das war aber bei Goldköpfchen nicht ganz so einfach. Das Abiturium sollte gemacht werden, aber Goldköpfchen hatte dafür wenig Neigung und schlug den Eltern seit zwei Jahren in allen Ferien etwas Neues vor. Sehr gern hätte sie die Gärtnerei erlernt, ein andermal wollte sie eine berühmte Schauspielerin werden, auf einer Sommerreise hatte sie Einblick in einen Uhrmacherladen bekommen, und ein Vierteljahr lang trug sich Bärbel mit dem Gedanken, Uhrmacherin und Goldschmiedin zu werden. Aber auch diese Wünsche verblaßten wieder, und mit dem Photoapparat kam das Verlangen, sich der photographischen Kunst zuzuwenden.
Anfangs nahmen die Eltern ihr temperamentvolles Töchterchen nicht ernst. Trotzdem benutzten sie jede Gelegenheit, über Berufsfragen mit der heranwachsenden Tochter zu sprechen, denn wenn Bärbel nun wirklich das Gymnasium nur bis Obersekunda besuchen wollte, mußte rechtzeitig überlegt werden, damit keine Zeit ungenutzt verstrich.
Aber Bärbel war bei ihrem Vorsatz geblieben. So hatte man nach Dresden an Frau Lindberg geschrieben, die sich auch sogleich bereit erklärte, in den dortigen großen Ateliers genaue Erkundigungen über diesen Beruf und seine Aussichten einzuziehen.
Der Plan, gleich zu Ostern in ein solches Atelier einzutreten, wurde nicht ausgeführt. Einmal hielt es Herr Wagner für richtiger, daß sein Töchterchen das Gymnasium noch weiter besuchte, das junge Mädchen sollte sich noch ein Weilchen prüfen, und zum anderen war gegenwärtig in den ersten Dresdener Ateliers keine Lehrstelle frei. Man hatte Frau Lindberg gesagt, daß man zum Oktober eine Lehrkraft einstellen wollte; wenn das betreffende junge Mädchen die Absicht habe, diesen Beruf zu ergreifen, müsse möglichst bald eine Anmeldung erfolgen.
Herr Wagner, der alle Berufsfragen außerordentlich ernst nahm, war daraufhin zu Ostern nach Dresden gefahren und hatte sich in dem ersten photographischen Hause Dresdens, im Atelier Brausewetter, nach allem genau erkundigt. Eine dreijährige Lehrzeit war notwendig, um den Beruf vollständig zu erlernen. Barbara konnte bei der Großmutter Wohnung behalten, mußte aber von früh bis zum späten Nachmittag mit einer kurzen Mittagspause fleißig lernen. Man forderte ein Lehrgeld für das erste Jahr, im zweiten erhielt das Lehrfräulein bereits ein kleines Taschengeld, das im dritten Jahre erhöht wurde.
Alles das, was Herr Wagner hier hörte, sagte ihm zu. Wenn sein Goldköpfchen wirklich so große Lust und Liebe zur Sache hatte, konnte es sich durch diesen Beruf einstmals auf eigene Füße stellen. Und das war es, was Herr Wagner erstrebte. Wohl brachte seine Apotheke in Dillstadt recht guten Nutzen, es fand sich vielleicht auch für dieses liebreizende Mädchen ein braver Gatte; aber alles das war nichts Sicheres. Geld konnte verlorengehen, eine glückliche Ehe konnte durch den Tod des Verdieners zerstört werden. Welch ein Glück für jede Frau, die dann in der Lage war, sich aus Eigenem eine neue Existenz zu schaffen. Diese sichere Grundlage sollte sein Goldköpfchen fürs Leben mitbekommen. Er würde darauf dringen, daß es seine dreijährige Lehrzeit durchmachte, selbst dann, wenn schon vorher ein Bewerber erschien. Herr Wagner hielt es gar nicht einmal für gut, seine Tochter so frühzeitig zu verheiraten. Erst sollte sein Goldköpfchen das Leben ein wenig kennenlernen, es blieb noch immer Zeit genug, die große Verantwortung einer Ehe auf sich zu nehmen.
Er schilderte seiner Tochter alle Schattenseiten dieses Berufes, malte ihr aus, daß Lehrjahre Schwerjahre seien, daß jetzt der Ernst der Arbeit an sie herantrete, daß man von ihr manches verlangen würde, was nicht immer ganz leicht sei, nämlich: sich zu fügen.
Aber sein Töchterchen erklärte mit leuchtenden Augen, daß es sich gerade zu diesem Berufe hingezogen fühle, daß sie mit Freuden lernen wolle.
So war es denn beschlossen worden, daß Goldköpfchen am ersten Oktober in das Dresdener Atelier Brausewetter als Lehrling eintreten sollte. Bis dahin besuchte Bärbel noch das Gymnasium in Dresden und weilte im Augenblick zu den großen Ferien daheim im Elternhause.
Sie hatte manche Neckerei der Brüder gern eingesteckt.
»Ätsch – du wirst nun bald ein Lehrling,« hatte ihr Martin gesagt.
Wenn Goldköpfchen den jüngeren Brüdern etwas verwies oder wenn sie auf ihre Überlegenheit pochte, sagte Martin wegwerfend:
»Ein Lehrling weiß jar nischt, der hat uns nischt zu sagen!«
Kuno verglich die Schwester mit den Lehrlingen des Schuhmachers Lase, der der Apotheke gegenüber seine Werkstatt hatte. Wenn die vierzehnjährigen Buben die Werkstatt des Schuhmachers säuberten oder die reparierten Schuhe austrugen, wies Kuno mit dem Daumen über die Schulter und sagte:
»Genau so geht es dir auch! Den Dreck 'rausklatern, die Säuglinge, die photographiert werden, neu wickeln und wieder in anständige Aufmachung versetzen und die Bilder zu den hohen Herrschaften tragen. Vielleicht kriegst du 'mal 'nen Sechser als Trinkgeld.«
»Ihr seid dumm,« erwiderte Goldköpfchen darauf, »ich werde Lehrling in einem künstlerischen Atelier.«
»Da mußt du immer ›Bitte, recht freundlich!‹ schreien, wenn so'n vergnatzter oller Mann kommt, der sich über seine Frau geärgert hat. Nee, das wäre nischt für mich!«
»Das versteht ihr eben noch nicht; ich werde schon etwas Tüchtiges in meinem Beruf leisten. Und später, wenn ich fertig ausgelernt habe, mache ich in Dillstadt ein Atelier auf. Der Papa muß die Apotheke aufstocken, oben kommt mein Atelier mit Glasdach hin – –«
»Au – fein,« schrie Kuno, »und wir sind die Späher, wir kriechen auf den Glasscheiben herum und besehen uns die Leute von oben, die du knipst.«
»Das werde ich euch versalzen. Ich lasse das ganze Atelier mit schwarzen Sammetvorhängen abziehen. Ich photographiere auch mit künstlichem Licht, mache Farbenaufnahmen, oh, von weither wird man ins Atelier Wagner kommen, um sich künstlerisch lichtbilden zu lassen.«
Martin und Kuno lachten wieder aus vollem Halse, liefen davon; sobald aber die Schwester ihren Weg kreuzte, schrien beide:
»Lichtbildnerin, – künstlerisches Atelier mit schwarzen Sammetvorhängen, – verrückte Photographin!«
Heute war der große Plan ausgeheckt, die »Weiße Blume der Prärie« in das neue Zelt zu schleppen und darin gefangenzuhalten. Wenn man sich auch die ganzen Tage über neckte und ärgerte, hingen doch die Geschwister mit großer Liebe aneinander, und beide Knaben wollten es nicht zeigen, wie weh ihnen ums Herz war bei dem Gedanken, daß Goldköpfchen nun nicht mehr so häufig ins Elternhaus zurückkehrte. Darum war es ihnen auch gar nicht lieb, daß die Schwester diesen Beruf erwählte. Es wäre viel schöner gewesen, wenn ihr der Vater hier in Dillstadt irgendein Geschäft gekauft hätte. Das ernährte auch seinen Mann, das alte Fräulein Krause, das den Papierladen hatte, sollte mehrere hundert Mark auf der Sparkasse haben.
Kuno war zum Vater gegangen und hatte ihm den Vorschlag gemacht, für Bärbel lieber einen Laden zu kaufen. Da man ihn aber ausgelacht hatte, wagte er keine neuen Vorschläge mehr. So mußten sich die Brüder damit abfinden, daß die Schwester für die nächsten drei Jahre ein seltener Besuch im Elternhause sein würde. Die Versuche, der Schwester noch im letzten Augenblick die Lehrstelle zu verekeln, waren fruchtlos gewesen.
»Brausewetter,« sagte Martin ergrimmt, »was ist das schon für ein Name! Genau so wie Donnerwetter. Der Chef ist gewiß ein aufbrausender Mann, der dir eine Ohrfeige nach der anderen gibt. Nee, Bärbel, ich an deiner Stelle ginge nicht hin.«
Nun hatte man sich endlich damit abgefunden, doch beschlossen die Brüder, die Schwester während der letzten Tage ihres Hierseins noch recht kräftig zu ärgern. Goldköpfchen sollte noch lange an sie denken.
»Wenn sie erst in der ollen Dunkelkammer hocken muß, vergißt sie uns ganz. Na, das ist ein schöner Beruf, immerzu im Finstern sein zu müssen, mit 'ner roten Lampe unter der Nase.«
Das Indianerzelt war fertiggestellt. Nun galt es nur noch, die »Weiße Blume der Prärie« in den Garten zu locken. Vier Knabenaugen schauten zu Bärbels Fenster empor. Sie sahen die Schwester am Fenster stehen, man winkte ihr. Goldköpfchen beugte sich hinaus:
»Was wollt ihr denn?«
»Wir haben hier was ganz Seltenes, – hast du schon mal ein Tier mit acht Beinen gesehen? Die ersten vier sind weiß, die zweiten schwarz.«
»Was denn für ein Tier?« fragte Bärbel neugierig. »Liegt es still, – kann man es knipsen?«
»Komm nur rasch herunter!«
Bärbel griff nach ihrem Photoapparat und eilte, immer drei Stufen auf einmal nehmend, mit Getöse die Treppe hinab. Sie durchlief den Garten und stand vor dem Zelt.
»Wo ist denn das Vieh?«
»Komm nur – –«
Kuno ging mit gekrümmtem Rücken voran ins Zelt, Martin blieb draußen stehen. Bärbel folgte dem Bruder, den Apparat in der Hand.
»Wo ist es denn?« fragte sie leise.
Kuno war rasch hinter sie getreten. Jetzt stand er dem Ausgange ganz nahe.
»Wir haben dich doch nur gefragt, ob du schon 'mal solch ein Tier gesehen hast? – Wir haben es auch noch nicht gesehen.«
»Dummer Junge!«
Da war der Kuno schon aus dem Zelt hinaus, und als Bärbel ihm folgen wollte, als sie die beiden grauen Lappen, die die Tür bildeten, auseinanderschlug, standen beide Brüder vor ihr, ein jeder hielt eine Keule in der Hand, und Martin rief drohend:
»›Weiße Blume der Prärie‹, wage es nicht, dem Indianerhäuptling ›Geierklaue‹ zu entfliehen, er skalpiert dich auf der Stelle!«
Als aber Goldköpfchen trotzdem das Zelt verlassen wollte, fielen beide Brüder über die Schwester her und warfen sie mit vereinten Kräften zu Boden.
»Ihr seid wohl mondsüchtig?«
Aber »Geierklaue« schrie:
»Du bist gefangen und bleibst es!«
Goldköpfchen besah sich das Zelt und stellte fest, daß es ein leichtes war, auf der anderen Seite zu entfliehen, denn die Tücher waren nur lose über in den Erdboden geschlagene Pfähle gehängt. Wenige Augenblicke verhielt sich Bärbel schweigend, dann kroch sie rückwärts, um rutschend aus dem Zelte zu entkommen.
Kuno schaute durch die Lappen. In seinem Gesicht leuchtete es auf.
»Sie geht uns in die Falle,« flüsterte er. Währenddessen rutschte Goldköpfchen noch ein wenig weiter.
Da stürzten beide Brüder mit Geschrei ins Zelt, hastig schob sich Goldköpfchen noch weiter nach rückwärts – dann ertönte ein Aufschrei.
Die beiden Indianerhäuptlinge tanzten wie närrisch im Zelt umher, dann hielten sie es für ihre Pflicht, nach der »Weißen Blume der Prärie« zu sehen.
Diese »Weiße Blume der Prärie« hatte im Eifer nicht bemerkt, daß im Rücken des Zeltes ein tiefer Graben ausgehoben worden war, den man ganz lose mit Brettern belegt hatte. In diesen Graben war Wasser getragen worden, das zwar schnell versickerte, doch war immerhin noch etwa zwanzig Zentimeter hoch nasser Schlamm darin. Und in diesem Schlamm lag die »Weiße Blume der Prärie«, bestrebt, sich daraus hervorzuarbeiten.
Das furchtbare Gebrüll der beiden Knaben lockte Apothekenbesitzer Wagner hinaus nach dem Garten. Ihm bot sich ein merkwürdiges Bild. Das erbitterte Goldköpfchen stand im Garten und warf mit feuchten Erdklößen nach den Brüdern, die, wenn sie getroffen wurden, gar nicht böse darüber zu sein schienen.
»Bärbel!«
Das sollte eine junge Dame von siebzehn Jahren sein! Über und über mit Schlamm bedeckt, ungestüm, wie der schlimmste Gassenbube.
Kuno und Martin hielten es für angebracht, sich rasch zu entfernen. So stand Bärbel allein dem Vater gegenüber, der tadelnd seine Große anschaute.
»Siebzehn Jahre,« sagte Herr Wagner. »Die zukünftige Inhaberin eines künstlerischen Ateliers! Geh hinauf, aber sieh dich vor, daß du die Treppe nicht gar zu schmutzig machst. Wenn dich die Mama in dieser Aufmachung erblickt, wird es ihr nicht gerade angenehm sein.«
»Wenn die Bengels so gemein sind!«
Bärbel war entlassen, aber Herr Wagner rief nach seinen beiden Söhnen. Sie saßen hinter dichtem Buschwerk und hatten erwartet, daß sich der Zorn des Vaters auf die beschmutzte Schwester entladen werde. An dem Ton der Stimme hörten beide, daß der Vater nicht gerade gut gelaunt war.
»Soll ich dreimal rufen? Sofort hervorkommen!«
Die beiden Indianer kamen langsam heran. Die Keule schleifte hinter ihnen drein.
»Sieh 'mal, Vater,« sagte Martin im Näherkommen, »Bärbel ist ein ungeschicktes Frauenzimmer. Man gibt sich einen Schwung, – wir in der Turnstunde würden einen Ansatz nehmen – –«
»Jawohl, mein Sohn, dein Vater nimmt auch einen Ansatz. Solche Rüpeleien dulde ich nicht!« Und schon hatten Kuno und Martin eine schallende Ohrfeige erhalten.
»Nun hinauf auf euer Zimmer und bleibt darin. Zum Abendessen will ich euch heute nicht sehen. Ihr bekommt die übliche Strafmahlzeit.«
Indianerhäuptling »Geierklaue« schritt mit gesenktem Kopfe voran, ihm folgte genau so kleinlaut der »Weiße Adler«.
Oben im Zimmer ergoß sich freilich der ganze Zorn der beiden Knaben über Goldköpfchen.
»Hätte sie trauernd und wehklagend im Zelt gesessen, wäre das alles nicht geschehen. Sie ist und bleibt eben nur ein dummes Mädchen.« – – –
Aber Goldköpfchen lachte die Zwillinge nur aus.
Trotz dieses Zwischenfalles war die Eintracht zwischen Bärbel und den beiden Brüdern bald wiederhergestellt.
Schließlich neigten sich auch diese Ferien dem Ende zu. Der letzte Tag, den Goldköpfchen im Hause der Eltern verbrachte, bedrückte sie. Aber Bärbel wollte natürlich diesen Abschiedsschmerz nicht zeigen und war heute übermütiger denn je.
Auch die Zwillinge belästigten jeden Menschen, der ihnen in den Weg kam. Apotheker Wagner drückte ein Auge zu, er kannte seine Kinder viel zu gut, um nicht zu wissen, wie es heute in ihnen aussah. Er hoffte, daß man seinem Goldköpfchen doch mehrfach einen kurzen Urlaub erteilen werde, auf daß es sich nicht gar zu sehr nach dem fernen Elternhause sehne. Er wollte diese Hoffnung aber nicht im Herzen seines Kindes erwecken, wußte er doch selbst nicht, ob sie sich nicht als trügerisch erwies.
Martin und Kuno trugen seit Tagen Bonbons in ihren Taschen, die sie der Schwester mitgeben wollten. Die umhüllende Tüte war längst zerrissen, und da die Bonbons nicht mehr ansehnlich aussahen, wurden sie erst einmal gewaschen. Dann ließ man sich von der Köchin eine andere Tüte geben. Sie reichte den Knaben eine Zuckertüte, die aber energisch abgelehnt wurde.
»Nee,« sagte Martin, »haben Sie nicht was Kleines? So was Viereckiges?«
Die Köchin, die keine Ahnung hatte, zu welchem Zweck die Knaben die Umhüllung brauchten, schüttete kurzerhand den gemahlenen Pfeffer aus der Tüte aus und reichte sie Martin. Die noch feuchten Bonbons wanderten hinein, dann eilten die Knaben zu Goldköpfchen, das mit dem Einpacken seiner Sachen beschäftigt war.
Kuno reichte der Schwester die Tüte.
»Ein Andenken an uns,« sagte Martin.
Goldköpfchen roch an der kleinen Tüte, öffnete sie, sah die Bonbons darin, die mit feinem Pulver überzogen waren, ahnte den Zusammenhang, wollte auffahren, sagte aber schließlich:
»Wollt ihr nicht selbst 'mal davon kosten?«
»Sie sind für dich,« sagte Kuno in der ehrlichen Überzeugung, der Schwester etwas Liebes anzutun. Doch Goldköpfchen ahnte die Verkettung der unseligen Umstände nicht, dachte an einen neuen Schabernack, und so ergoß sich am Abschiedstage noch ein Strom des Unwillens über die Zwillingsbrüder. Erst als die Knaben die verschmähten Bonbons selbst in den Mund steckten, sahen sie ein, daß ihre gute Absicht zu Wasser geworden war.
Am nächsten Morgen schlug die Abschiedsstunde. Da Goldköpfchen schon häufig die Reise nach Dresden unternommen hatte, fuhr es auch heute allein. Herr Wagner hatte eine Karte zweiter Klasse gelöst, aber Goldköpfchen war dadurch wenig beeinflußt, die Trennung erschien ihm heute besonders schwer. Martin betrug sich auf dem Bahnhof so unartig, daß ihm vom Vater wieder mit Schwarzbrot und Buttermilch gedroht wurde, Kuno behauptete, ihm sei eine kleine Fliege in den Hals und ins Auge geflogen.
»Ich glaube, der Waschlappen heult sogar,« meinte Martin, als sich Kuno mit dem Handrücken über die Augen fuhr.
Das war zu viel für Kuno, er wollte nicht, daß man merkte, wie nahe es ihm ging, er stieß den Bruder so heftig in die Seite, daß er gegen den Vater taumelte und ihn beinahe umgerissen hätte.
»Döskopp!« schalt Martin.
Als sich endlich der Zug in Bewegung setzte, sah Goldköpfchen noch, wie sich Kuno und Martin in die Haare fuhren, wie der Vater trennend zwischen sie trat, um ihr darauf noch rasch einen Abschiedsgruß zuzuwinken.
Von den Zurückbleibenden war nichts mehr zu sehen. Goldköpfchen drückte sich in die Ecke des Wagens. Schon einmal war sie mit der Großmama Polsterklasse gefahren. Wie stolz war sie damals gewesen. – Und heute?
»Wenn man einen begräbt, macht man ihm auch alles sehr schön zurecht, – es ist heute auch wie ein Begräbnis. – Die Oktoberferien werden kommen, und ich kann nicht heimfahren. – Ich muß in die Lehre. Ach je – – wie ist das Leben schwer!«
Dann öffnete Goldköpfchen die Handtasche und schaute in ihr Geldtäschchen. Einen Zwanzigmarkschein hatte ihr der Vater diesmal besonders noch gegeben. Soviel Geld hatte sie noch niemals für sich besessen. Dieser Schein sollte ihr über den Abschiedsschmerz hinweghelfen. Sie betrachtete ihn so lange, bis der Zug wieder hielt und andere Reisende einstiegen. Dann steckte ihn Goldköpfchen schnell fort, und abermals gingen ihre Gedanken zurück in die schönen Ferientage, die nun nicht mehr kommen würden.
Die Rückreise nach Dresden an dem heißen Augusttage sagte Goldköpfchen nicht zu. Ihm war so eigentümlich weh ums Herz, daß es am liebsten ein wenig geweint hätte. Aber Bärbel meinte, daß eine junge Dame, die die Absicht habe, einstmals ein eigenes künstlerisches Atelier zu eröffnen, nicht so albern sein dürfe. Da sie allein im Abteil war, begann sie zu pfeifen, im Koffer herumzusuchen, alles ein wenig in Unordnung zu bringen, was sorgfältig hineingelegt war, um dann wieder gelangweilt zum Fenster hinauszusehen, ob die Umsteigestation nicht bald erreicht sei.
Endlich war es soweit. Bärbel hatte einen viertelstündigen Aufenthalt, ehe der D-Zug einlief, und da sie Durst bekommen hatte, ging sie nach dem Wartesaal, um dort eine Limonade zu trinken. Dabei fiel ihr ein, daß sie sich eigentlich ihr Reisefläschchen, das längst geleert war, neu füllen könnte. Sie überlegte. Wasser wurde zu warm. Ob sie es wohl mit etwas Wein versuchte? Am Nebentisch saßen einige Damen, die Rotwein tranken. Das imponierte der Apothekerstochter riesig, sie bestellte sich daher auch ein Glas Rotwein, das sie in das kleine Fläschchen zu füllen versuchte. Es gelang nicht recht, Bärbel goß den größten Teil auf die Erde. Eben wollte sie sich aus einer Papierserviette einen Trichter drehen, als ihr Blick auf die große Bahnhofsuhr fiel.
Lieber Himmel, zwei Minuten vor halb. Der D-Zug fuhr um halb ab. Da mußte er doch schon eingefahren sein. Bärbel winkte den Kellner heran, der mit einem mißbilligenden Blick das betropfte Tischtuch und den nassen Fußboden besah.
»Wann geht der D-Zug nach Dresden?«
»Der fährt in einer Minute ab.«
»Barmherzigkeit,« rief Bärbel so laut, daß alle Gäste des Wartesaales auf das erschreckte junge Mädchen blickten. Bärbel griff nach dem Koffer, wollte hinausstürmen, doch jetzt hielt sie der Kellner zurück.
»Bitte, zahlen!«
»Kommen Sie mit,« schrie ihn Bärbel an. »Wenn ich im Zuge sitze, bekommen Sie alles.«
»Neunzig Pfennige,« sagte der Kellner.
Bärbel stellte den Koffer wieder nieder, riß die Handtasche auf, einige Kleinigkeiten fielen auf die Erde, dann holte Bärbel aus dem Geldtäschchen ein Markstück hervor.
»Hier, aber jetzt lassen Sie mich rasch gehen.«
»Bitte, der Spiegel und der Taschenkamm.« Der Kellner reichte dem aufgeregten jungen Mädchen die aus der Handtasche entfallenen Gegenstände. Bärbel hatte keine Zeit, sie einzustecken, behielt sie in der Hand, stürmte aus dem Wartesaal und hielt in ihrer Erregung dem Bahnbeamten statt der Fahrkarte den Taschenspiegel hin.
»Nein, nein, Fräulein,« lachte der Beamte freundlich, »den will ich nicht.«
»Barmherzigkeit, – wo – – mein Zug fährt ab, – auf Ehrenwort, ich habe eine Fahrkarte!«
Sie suchte, – da wies der Beamte auf das kleine Seitentäschchen und sagte: »Da steckt sie.«
»Mein Zug, – mein Zug,« jammerte Bärbel.
»Laufen Sie nur recht schnell, dann bekommen Sie ihn noch.«
Bärbel stürmte davon. Der Koffer schlug sie mehrfach an die Schienbeine, doch Bärbel achtete der Schmerzen nicht. Da stand der Zug. Ein Bahnbeamter hatte sie bemerkt, riß die Tür des letzten Wagens auf.
»Nun rasch!«