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Magda Trotts Buchreihe 'PUCKI' besteht aus insgesamt 12 Bänden, die das faszinierende Leben der jungen Protagonistin Pucki und ihrer Abenteuer erzählen. Der literarische Stil von Magda Trott zeichnet sich durch ihre liebevoll gestalteten Charaktere und detailreiche Beschreibungen aus. Die 'PUCKI'-Reihe, die in den 1920er Jahren veröffentlicht wurde, fängt die Atmosphäre und die sozialen Veränderungen dieser Zeit auf eine authentische Weise ein und bietet einen einzigartigen Einblick in das Leben und die Herausforderungen von Mädchen in Deutschland zu dieser Zeit. Die Geschichten sind sowohl unterhaltsam als auch lehrreich und haben bis heute ihren zeitlosen Charme bewahrt.
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Seitenzahl: 2224
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Books
Durch den im Frühlingssonnenschein liegenden Garten des Försters Sandler schritt langsam und bedächtig die vierjährige Hedi. Der frische Wind blies die weißblonden Löckchen in das gerötete Antlitz, aus dem ein Paar strahlend blaue Augen schauten. Zärtlich wiegte sie auf den Armen ihr Puppenkind. Es war kein schönes Kind, es hatte eine abgeschlagene Nase und zerkratzte Wangen. Aber das machte nichts; Hedi liebte ihre Diana von ganzem Herzen. Ihr zur Seite trottete Harras, der braune Jagdhund. Er machte einen würdevollen Eindruck und schaute Hedi oftmals an, als wollte er sagen: Ich weiß genau, daß ich auf die Tochter meines Herrn aufpassen muß, weil unsere Pucki sehr übermütig sein kann. Habe ich sie nicht kürzlich aus dem Bach geholt, als sie die ersten Veilchen pflücken wollte?
»Oh – wie das alles wächst! – Sieh nur, Harras, wie das wächst!«
Die kleine Försterstochter betrachtete verzückt die kleinen grünen Blättchen an der Hecke, die den Garten umgab. Die blauen Augen richteten sich auf die hohen Kastanienbäume.
»Guck, Harras – so viele Lichtchen!«
Der Hund ließ einen knurrenden Laut hören. Da hob Hedi ihr Puppenkind empor und jubelte:
»Guck, Diana, alles wächst, alles wird groß, wir freuen uns!«
Mit tollen Sprüngen, immer den Hund zur Seite, jagte Pucki durch den großen Garten. Es war aber auch eine Lust, hier leben zu dürfen. Draußen der große, grüne Wald, in dem Harras tagaus, tagein umherlief, dann der prächtige Garten, das grünberankte Haus; man mußte sich in dieser Umgebung glücklich fühlen.
Und Hedi Sandler war glücklich. Wenn man sie fragte, so sagte sie jedem mit überlauter Stimme:
»Kein Vati, keine Mutti sind so schönes Spielzeug wie mein Harras – wir spielen immer sehr schön zusammen.«
Der Wald mit seinen hohen Bäumen war ihr ein lieber Freund. Jedes Tierchen, wenn es auch noch so unscheinbar war, wurde von ihr geliebt, an jedem Morgen gab es neue Freuden für das fröhliche, glückliche Försterkind.
Aber heute war es ganz besonders schön! Hedi hielt plötzlich im Laufen inne, hielt dem Hund die Puppe hin und sagte weich und zärtlich:
»Harras, du bist Vati, nimm dein Kind und schaukele es; die Mutti ist müde. – Oh, die Mutti hat das Kind den ganzen Tag tragen müssen. – Da, Harras, pack zu!«
Harras, der folgsame Hund, ließ sich das Puppenkind ins Maul legen und trug es seiner kleinen Gebieterin nach.
»Vati – morgen kommt der Osterhase und bringt dir Ostereier. – Vati, wir wollen unserem Kindchen auch ein Osterei schenken. Ein schönes Osterei! Und mir muß der Osterhase ein paar Holzpantoffeln bringen. – Harras, du darfst das Kindchen doch nicht so schütteln!«
Der Hund hielt sofort den Kopf still und schaute Hedi mit seinen klugen Augen an. Er kannte jeden Tonfall der Kinderstimme. Oft genug war er das Familienoberhaupt dieser merkwürdigen Familie.
Hedi klopfte Harras zärtlich auf den Kopf, dann griff sie nach seinen langen hängenden Ohren, streichelte sie zärtlich und sagte:
»Horch mal, Harras-Vati, ob vielleicht der Osterhase schon kommt? Du hast ja so große Ohren, du mußt ihn hören. – Weißt du, der Osterhase mit dem goldenen Schwänzchen! – Du kennst ihn doch? – Nun paß gut auf!«
Plötzlich brach der Hund in lautes Bellen aus, ließ das Puppenkind zur Erde fallen und lief davon. Mit einem Satz war er über die Hecke gesprungen und jagte hinein in den Wald.
Hedi ließ einen langen Seufzer hören, nahm die Puppe auf und drückte sie zärtlich an sich.
»Husch – ist der Vati weg! Aber die Mutti ist noch da. – Hat sich mein Kindchen sehr an die Nase geschlagen?«
Hedi wickelte die Puppe in die Schürze und begann mit wenig schöner, krähender Stimme zu singen: »Schlaf, Kindchen, schlaf, draußen steht ein Schaf.«
Der Gesang brach jäh ab. Das kleine Mädchen hob lauschend den blonden Kopf und sah auf der Straße den Vater daherkommen, der in seiner schmucken, grünen Uniform dem Forsthaus zuschritt. Wedelnd umsprang ihn Harras.
»Vati!«
Das Puppenkind flog im Bogen auf die Erde, mit ausgebreiteten Armen eilte die Vierjährige dem Vater entgegen.
»Hast du den Osterhasen mit dem goldenen Schwänzchen gesehen?«
»Natürlich – er hat mich auch gefragt, ob unsere Pucki auch ein artiges Mädchen ist.«
»O–o–o«, klang es gedehnt zurück. »Muß der Osterhase immer so was fragen? – Hat er mit dem goldenen Schwänzchen gewackelt, als du ihm sagtest, daß ich – ein artiges Mädchen bin?«
»Das habe ich ihm nicht sagen können, Pucki, denn artig bist du in den letzten Tagen gerade nicht gewesen.«
»Weil doch die Jungen immer so unartig sind, Vati, da muß doch Pucki auch unartig sein.«
»Wenn die Niepelschen Jungen ein bißchen wild sind, brauchst du als Mädchen doch nicht alles mitzumachen, Pucki! Aber nun komm ins Haus, Mutti wird schon mit dem Mittagessen warten. – Na, Harras, hast du auf Pucki auch gut aufgepaßt?«
Der Hund rieb den Kopf am Kleide des kleinen Mädchens, als wollte er sagen: Ich weiß schon, was ich zu tun habe.
»Vati, es ist furchtbar schwer, artig zu sein. Wenn ich erst groß bin, bin ich immer artig. Dann sitze ich den ganzen Tag auf dem Kohlenkasten bei der Minna und esse Schmalzschnitten mit Käse. Der Osterhase hat auch nicht gesehen, wenn Pucki unartig ist. – Sag, Vati, wird er morgen kommen?«
»Vielleicht!«
»Na, dann können wir ja froh sein.«
Förster Sandler war noch ein junger Beamter, der erst vor drei Jahren nach der Försterei Birkenhain gekommen war. Mit seiner schmucken, hübschen Frau lebte er sehr glücklich; die kleine Tochter machte dem jungen Ehepaar viel Freude. Hedi war aber auch ein sonniges, reizendes Mädchen, das in der ganzen Gegend beliebt war. In der Waldeinsamkeit aufgewachsen, kannte ihr Herzchen noch keinen Falsch. Schon jetzt zeigte sich ihre große Liebe zur Natur, zu den Tieren, und sie konnte sich mit Hühnern und Kaninchen genau so gut unterhalten und beschäftigen wie mit den drei Kindern des Gutsbesitzers Niepel, der seinen Besitz etwa eine halbe Stunde von der Försterei Birkenhain entfernt hatte. Wenn Niepel zur Stadt Rahnsburg fahren wollte, mußte er an der Försterei vorbei. Oftmals hielt er den Wagen dort an, um dem kleinen Blondköpfchen etwas Obst oder eine Süßigkeit zuzustecken. Erst vor wenigen Monaten war in seinem Hause ein kleines Mädchen angekommen. Seine drei Buben waren gleichaltrig und zwei Jahre älter als Hedi Sandler. Mit den Drillingen tobte das Försterkind oftmals umher. Es ließ sich geduldig necken, war aber auch für manchen lustigen Streich gern zu haben. Nun brachte der Frühling eine Änderung in das gewohnte Leben, da Paul, Walter und Fritz Niepel gleich nach Ostern zur Schule kamen.
Vor der Schule hatte Hedi Sandler geradezu Furcht. Alle drei Spielkameraden erklärten einstimmig, daß es dort fürchterlich zuginge. Sie warnten Hedi, nicht so rasch sechs Jahre alt zu werden, damit sie nicht auch dauernd in der Stube sitzen müsse, anstatt wie bisher draußen in Feld und Wald umhertollen zu können. Wenn auch die Eltern immer wieder erklärten, daß die Schule etwas sehr Schönes sei, so war Hedis Herz doch voller Mitleid mit den drei Knaben, für die die schöne Zeit des Spielens nun vorüber war.
»Aber Hedi«, tadelte die Mutter, als das Kind das Zimmer betrat, »willst du mit so unsauberen Händen zu Tisch kommen?«
Die Kleine zog den blonden Kopf zwischen die Schultern und huschte aus dem Zimmer. Das Händewaschen war eine schreckliche Einrichtung. Der gute Harras brauchte sich nicht so oft zu waschen; nur die Miezekatze putzte sich den ganzen Tag mit den Pfötchen das Gesicht.
In der Küche war Minna, das Hausmädchen, gerade dabei, die Kartoffeln auszuschütten. Hedi legte die Hände auf den Rücken und schaute aufmerksam zu. Es sah so hübsch aus, wenn der Dampf aus dem Topf gekrochen kam.
»Wo hast du denn deine Pantoffeln?«
»Ins Zimmer geht man nicht mit Pantoffeln.«
»Wo hast du sie denn?«
Die Magd wies mit dem Kopf nach dem Flur. Richtig, dort standen die derben Holzpantoffeln, die immer so wunderschön klapperten, wenn Minna eiligen Schrittes durch den Hausflur ging. Hedi kauerte sich nieder und betrachtete die Holzpantoffeln mit geradezu liebevollen Blicken. Solche klappernden Pantoffeln wünschte sie sich schon lange. Sie war zwar schon mehrmals damit hingefallen, trotzdem war es herrlich, damit herumzulaufen. Auch jetzt schoben sich die kleinen Kinderfüße wieder in die großen Öffnungen und – klapp – klapp – klapp – ging es durch den Flur.
»Minna, wenn mir doch der Osterhase auch ein Paar Pantoffeln brächte, aber auch so große wie die hier.«
»Sollst du dir nicht die Hände waschen und zum Essen gehen?«
Mit einem bedauernden Blick nahm das kleine Mädchen Abschied von den geliebten Pantoffeln und stellte sie in den Winkel zurück. Dann tauchte es hastig die kleinen Hände in das mit Wasser gefüllte Waschbecken, trocknete sie am Handtuch ab und verzog das Gesicht.
»O je, Minna, das Handtuch ist schmutzig!«
Das Handtuch wies deutlich die Spuren der kaum gewaschenen Kinderhände auf. Hedi lief rasch ins Eßzimmer und setzte sich artig auf den Stuhl. Als sie aber den Löffel zur Hand nahm, bemerkte Hedi den strafenden Blick der Mutter.
»Solltest du dir nicht die Hände waschen, Pucki?«
»Sieh dir nur das Handtuch an, ich hab' gewaschen.«
Frau Sandler wies schweigend zur Tür, und beschämt mußte das Kind nochmals hinaus in die Küche gehen, um die Hände zu reinigen.
»Immer sind die ollen Hände schmutzig«, schmollte die Kleine. »Wenn ich erst groß bin und immerzu meine Gänseschmalzschnitte esse, wasche ich mir die Hände nicht mehr. – Der Paul hat auch immerzu schmutzige Hände.«
Der Ärger des kleinen Mädchens war bald wieder verflogen, als der Vater beim Mittagessen erzählte, daß heute nachmittag Frau Niepel vorüberkäme, da sie in der Stadt noch Besorgungen zu machen hätte.
»Mit 'nem weißen Pferdchen?« fragte Hedi interessiert.
»Ja, mit dem weißen Pferdchen.«
Hedi schlug erfreut die kleinen Hände zusammen. »Dann muß Hedi ein Stück Zucker für das weiße Pferdchen haben! – Vati, bringt der Osterhase dem weißen Pferdchen auch ein Osterei?«
»Pferdchen brauchen keine Ostereier.«
Das weiße Pferdchen beschäftigte Hedi den ganzen Nachmittag. Das Kind stand am Gartenzaun und wartete sehnsüchtig auf den Wagen. Endlich war es so weit. Mit einem Freudengeheul stürmte das Kind dem Gefährt entgegen.
Neben Frau Niepel saßen zwei sechsjährige Knaben, die eilig aus dem Wagen sprangen, als er vor dem Forsthaus anhielt. Es waren Paul und Walter, die die Mutter begleitet hatten.
Hedi blickte sich suchend um. »Wo habt ihr denn den dritten Bruder?«
»Kein Platz, er sitzt daheim. – Du, wir bleiben bei dir, bis Mutter aus der Stadt zurückkommt.«
»Ich will erst dem Pferdchen guten Tag sagen.«
Das Tier schien Hedi gut zu kennen; es hatte den Kopf nach ihm umgewandt.
»Es wackelt mit den Ohren wie mein Nuck! – Ach, du süßes Pferdchen – guten Tag!«
Unerschrocken reichte sie dem Pferd das Stück Zucker, das sie von der Mutter erbeten hatte.
»Wenn du morgen wiederkommst, Pferdchen, kriegst du ein Osterei.«
Inzwischen war auch Frau Sandler aus dem Haus getreten, um Frau Niepel herzlich zu begrüßen. Beide tuschelten leise zusammen, galt es doch, in der Stadt noch einige Osterbesorgungen zu machen, die die Kinder nicht zu hören brauchten. Trotzdem drangen einige Worte zu den beiden Knaben hinüber. Der blonde Paul, der recht zahlreiche Sommersprossen im Gesicht hatte, ließ ein lautes Lachen hören.
»Ich will ein Osterei, so groß wie die goldene Kugel in unserem Garten. Ein anderes will ich nicht! Bring mal so eins mit, Mutter. Der Ziegler hat welche.«
»Und mir eins aus Schokolade, noch viel größer«, rief Walter, der zweite der Drillinge.
»Wenn du den Osterhasen siehst, Tante, dann sage ihm doch, daß ich ein bißchen artig war.«
»Quatsch – Osterhase«, meinte Paul, »ich habe schon viele Hasen gesehen.«
»Mit goldenem Schwänzchen?« fragte Hedi.
»Quatsch! – Der Hase hat kein goldenes Schwänzchen.«
»Aber der Osterhase hat eins, und goldene Ohren, die immerzu wackeln, wenn er ein Ei legt.«
Paul und Walter lachten laut. »Bist du aber dumm! – Es gibt überhaupt keinen Osterhasen. – Der Konditor macht die Ostereier aus Schokolade und Marzipan. Mutter fährt jetzt zur Stadt und kauft beim Konditor die Ostereier. Aber – du bist eben ein kleines Mädchen, und kleine Mädchen sind immer dümmer als Jungens.«
»Du bist dumm!«
»Hahaha – sie glaubt noch an den Osterhasen! – Frage doch deinen Vater. Nu komm endlich zu den Ziegen!«
Hedi lief davon und stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor den Ziegenstall.
»Ich zeige dir die Ziegen nicht, du hast die Ziege beim letztenmal so am Schwanz gezogen, daß sie geschrien hat. – Die Ziege kann dich nicht leiden. – Geh weg!«
»Ich will aber die kleinen Ziegen sehen.«
Energisch schüttelte Hedi den Kopf. »Ich zeige sie dir nicht! Die Mutter von den kleinen Ziegen hat Angst, wenn du kommst. Und die Mutter hat mir gesagt, ich soll gut aufpassen auf die kleinen Ziegenkinder.«
Da beugte sich Paul nieder und riß von einem Baum einige kleine Zweiglein ab, an denen sich gerade die ersten Blüten zeigten.
»Ich bringe ihr was zu fressen. – Nun zeige mir die Ziegen.«
Über Hedis Gesicht glitt ein Schatten, sie wurde tief traurig. Die helle Kinderstimme zitterte vor Bewegung, als sie sagte:
»Nun hast du dem armen Baum weh getan – alles das sind doch seine Kinderchen, und später werden es mal Kirschen. – Man soll einem Baum nicht die Kinderchen nehmen. – Sieh doch, lauter kleine weiße Knöpfchen! – O weh, der arme Baum!«
»Wenn's weiter nichts ist! Ich reiße immer Blätter von den Bäumen.«
»Das sollst du aber nicht«, rief Hedi, »du würdest auch mächtig schreien, wenn ich dir die Haare ausreißen wollte.«
Paul lachte und griff erneut in die tief herabhängenden Zweige des Kirschbaumes. Doch da stand das kleine Mädchen neben ihm. Die kleinen Hände packten die blonden Locken des Knaben, und grimmig rief es aus:
»Wenn du noch mehr vom Baum abreißt, reiße ich dir auch die Haare aus!«
»Laß los!« schrie Paul.
Der andere Knabe stand mit einem ängstlichen Gesicht abseits und betrachtete die beiden Kämpfenden. Erst als Paul die Zweige des Baumes wieder losließ, sanken auch Hedis Hände herab.
»Ein böser Junge bist du doch! Und nun komm, jetzt zeige ich dir die kleinen Ziegen, aber anfassen darfst du sie nicht.«
»Ich will die Ziegen jetzt nicht mehr sehen. Wir haben viel mehr Kühe, Pferde und Schweine als ihr. Und wenn ich nach Hause komme, kann ich die Kühe alle an den Schwänzen ziehen. Da sagt niemand was, und es tut ihnen auch nicht weh.«
Hedi hatte die abgerissenen Zweige des Kirschbaumes aufgehoben und mitleidig betrachtet. Sie ging an den Stamm des Baumes und ließ liebkosend die Hände darüber gleiten.
»Hat er dir so viele Kinderchen fortgenommen, der böse Junge! Aber weine mal nicht, du kriegst wieder viele neue Kinderchen. Und die Kinderchen werden alle groß und werden rote Kirschen. Dann kommen sie zu uns und sagen: Eßt uns auf, wir wollen alle zu dir!«
»Was redest du immerzu?« fragte Walter.
»Und dann kommen die Sperlinge zu den roten Kirschenkindern und sagen: Wir möchten auch gerne was haben, und der gute Kirschbaum läßt sie essen und sagt: Ich will euch eine Freude machen, aber ihr müßt dann auch schön singen. Am Abend sitzen die Vögelchen alle zusammen und singen dem Kirschbaum ein Lied. Dann freut er sich und schläft bis zum anderen Morgen. Und in der Nacht kommt die Traumfee und erzählt dem Kirschbaum von den kleinen Sperlingskindern, die alle sehr froh sind, daß der Sperlingsvati ihnen eine Kirsche gebracht hat. Dann freut sich der Kirschbaum, pustet sich auf und macht die Kirschen noch viel größer.«
Walter Niepel betrachtete neugierig den Baum. Wenn er bei Hedi war, wußte die Kleine immer etwas Sonderbares zu erzählen. Das hörte er gern. Er wies auf gelbe Blümchen, die schon neugierig die Köpfchen aus der Erde gestreckt hatten.
»Kommt die Traumfee auch zu den gelben Blumen dort drüben?«
Hedi lief zu einem Busch Himmelschlüssel, kauerte sich nieder und winkte mit den kleinen Fingerchen den Gefährten heran.
»In jeder Nacht kommt ein Englein zu diesen Blümchen, denn sie kommen aus dem Himmel, darum heißen sie auch Himmelschlüssel.«
»Ach!«
»Ja – da ist der Diener vom lieben Gott mal hinter dem lieben Gott hergegangen, und als sich der liebe Gott umgedreht hat und sagte: Du, schließe mir mal ganz schnell die Türe zum Himmel auf, hat der Diener so einen Schreck bekommen, daß ihm die goldenen Schlüssel, pardauz – durch die Wolken gefallen sind, ganz, ganz tief herunter! Und dann haben sie sie gesucht. Aber Mutter Erde hat gesagt, daß sie aus den Schlüsseln ein Blümchen machen will. – Guck mal, so sehen die Schlüssel aus, die der liebe Gott braucht, um den Himmel aufzuschließen.«
»Sind nun die Schlüssel gerade in euren Garten gefallen?«
Hedi überlegte ein Weilchen, dann sagte sie ernsthaft:
»Ja – so wird es wohl sein.«
»Ich habe aber beim Schmanzbauern auch Himmelschlüssel gesehen. Sind dort auch die Schlüssel vom lieben Gott hingefallen?«
»Er wird wohl viele Schlüssel gebraucht haben, um in den Himmel zu gehen. Als nun die Schlüssel durch die Wolken fielen, sind die Englein gekommen und haben die vielen Schlüssel auseinandergepustet. Da sind auch ein paar Schlüssel zum Schmanzbauer gefallen.«
»Warum sind denn zu uns keine Schlüssel gefallen?«
Hedi wollte eben eine Antwort darauf geben, als sie ein lautes, ärgerliches Bellen des Jagdhundes hörte. Die Kleine schaute sich um.
»Ich glaube, der böse Junge ärgert schon wieder den guten Harras.«
Mit fliegendem Röckchen eilte das Kind durch den Garten. – Richtig, dort stand Paul und hatte dem Harras einen Bindfaden um ein Ohr gebunden. Der gutmütige Hund bellte zwar den unnützen Knaben an, versuchte mit der Pfote den Bindfaden zu lösen, aber es gelang ihm nicht. Als er Hedi kommen sah, sprang er seiner kleinen Beschützerin entgegen und hielt ihr das zugebundene Ohr hin.
»Oh, wie bist du garstig«, schalt das Kind, »na warte nur, mein Vati sagt, für alles, was man Schlimmes tut, bekommt man seine Strafe. Wenn du erst in der Schule bist, bindet dir der Lehrer auch die Ohren zu und knurrt dich an. Und keine Traumfee kommt zu dir, nur schwarze Männer, die fahren dir mit einem Besen ins Gesicht. Dann mußt du dich immerzu waschen.«
Doch Paul lachte nur zu den mahnenden Worten und schlenderte weiter durch den Garten, gefolgt von seinem Bruder und Hedi. Schließlich kamen alle drei an den großen Sandhaufen. Dort war aller Hader sogleich vergessen, ein lustiges Spiel begann und die Freundschaft war erneut geschlossen.
»Mutti, liebe Mutti, zieh mir nicht das alte Kleid an! Ich möchte heute keine Frau sein, sondern ein Junge.«
Frau Sandler schüttelte den Kopf. Das hübsche, neue Kleidchen schien keinen Eindruck auf Hedi gemacht zu haben.
»Du sollst niedlich aussehen, wenn du heute nachmittag zu Onkel und Tante Niepel fährst.«
»Mutti, bitte, bitte, ich möchte ein Junge sein. Ich hole mir meine Höschen.«
»Aber Hedi, du kannst nicht in den Spielhöschen zu Besuch gehen.«
»Ich kann schon, Mutti.«
»Warum willst du das neue Kleid nicht anziehen?«
»Weil der Paul dann sagt, daß ich ein dummes Mädchen bin. Bei Onkel Niepel dürfen wir auf die hohe Leiter kriechen. Und wenn ich dann ein Mädchen bin, lassen mich die Jungen nicht 'rauf. – Ich möchte heute ein Junge sein.«
»Du brauchst mit den drei Buben nicht immer mitzuklettern. Kleine Mädchen müssen artiger sein als Jungen.«
»Warum denn, Mutti?«
»Weil sie schon ein viel feineres Stimmchen haben und weil sie der liebe Gott nicht so kräftig geschaffen hat wie die Knaben.«
Die Vierjährige schlug ein lautes Lachen an, dann sagte sie mit tiefer Stimme:
»Ach, Mutti, so finster wie ich kann nicht mal der Paul sprechen. – Hör mal zu! – Und den Fritz habe ich neulich verprügelt. – Oh, ich hab' schon Kräfte. Der liebe Gott hat gemeint, ich bin ein Junge.«
»Du bist unser liebes, kleines Mädchen und sollst es bleiben. Ich möchte auch ein artiges kleines Mädchen haben, keinen Eigensinn, wie du manchmal einer bist. Du sollst doch später ein liebes Mädchen werden, das alle Menschen gern haben.«
»Ja, ich will auch eine liebe Mutti werden, so eine liebe Mutti, wie du eine bist. Mußtest du immer artig sein, Mutti, damit du eine so liebe Frau geworden bist?«
Frau Sandler streifte ihrer Tochter das hübsche Kleidchen über, um diesem Streit ein Ende zu machen. Hedi zog zwar ein Gesicht, doch darauf achtete die Mutter nicht. Dem kleinen Trotzkopf durfte sie nicht nachgeben, denn schon jetzt zeigte sich manches Mal, daß Hedi ihre Pläne und Absichten durchsetzen wollte. Frau Sandler war noch eine recht junge Frau, und sie bemühte sich, ihr Töchterchen zu einem braven Mädchen zu erziehen. Sie nahm es mit ihrer Aufgabe recht genau und achtete streng darauf, daß im Forsthause keine Unarten getrieben wurden.
Wenn Hedi wollte, konnte sie sehr lieb sein, das hatte sie am gestrigen Ostersonntag gezeigt, als sie beglückt die verschiedenen Ostereier suchte, die man ihr im Garten versteckt hatte. Nur am Abend stellte sie betrübt fest, daß ihr der Osterhase wieder keine Klotzpantinen gebracht hatte, wie Minna sie trug, wenn sie in den Ziegenstall oder zu der Kuh ging.
»Wenn ich morgen zu Tante Niepel gehe, bringt mir der Osterhase vielleicht dort die Klotzpantinen.«
Für Hedi war es immer eine große Freude, wenn sie mit dem kleinen Kastenwagen nach dem Niepelschen Gut geholt wurde. Dort hatte man das blondlockige Mädchen herzlich gern. Der Gutsbesitzer freute sich, wenn Hedi mit seinen drei Buben in Haus und Garten umhertollte. Freilich, wenn alle vier zusammen spielten, mußte man gut achtgeben, denn Paul war nicht immer verträglich, er ärgerte seine Spielgefährten recht gern.
Seit einigen Tagen war auf dem Gut ein neues Kinderfräulein angekommen. Das junge Mädchen war für heute beauftragt worden, die kleine Schar zu überwachen. Frau Niepel wollte sich inzwischen um die halbjährige Dora kümmern. Dieses Schwesterchen wurde von den Drillingen wenig geschätzt. Paul hatte verächtlich geäußert, daß er mit dieser Schreipuppe gar nichts anzufangen wisse. Ja, wenn es noch ein Bube gewesen wäre, der hätte sich wahrscheinlich von Anfang an ganz anders betragen. Aber ein Mädchen war eben ein Zimperling, der sogleich losbrüllte, wenn man ihm mit dem Finger auf die Nase tippte.
Ganz anders Hedi. Sie war zu Weihnachten bei Niepels gewesen und hatte erstaunt die große Puppe betrachtet, die im Wagen lag.
»Kannst du mir die Puppe nicht schenken«, fragte sie beim Abschiednehmen und legte beide Ärmchen um den Hals der geliebten Tante Niepel. »Meine Puppe ist schon kaputt, und die hier ist noch ganz neu.«
Seit dieser Stunde bettelte Hedi unaufhörlich, die Mutti möge ihr auch genau solch eine Puppe kaufen, mit Klapperaugen und einem Mund, der auf und zu machte. Sie wollte eine Puppe haben, die die Arme bewegen und schreien konnte. Auf diese Puppe freute sich Hedi auch heute. Freilich, das Umhertollen mit den drei Buben war auch nicht zu verachten. Besonders der kleine, zierliche Fritz war Hedi ans Herz gewachsen. Ihn nahm sie stets an die Hand, für ihn sorgte sie, wenn die Speise verteilt wurde, für ihn brauchte sie die Ellenbogen, wenn es galt, ihm einen Platz zu erkämpfen.
Sogleich nach dem Mittagessen kam der Kastenwagen mit dem weißen Pferdchen vor das Forsthaus gefahren. Der alte Kutscher betrat das Haus und meldete, daß alles zur Abfahrt fertig sei.
»Du darfst neben mir sitzen, Pucki, und nachher auch die Leine halten.«
Pucki streichelte erst das Pferd und hielt ihm ein kleines Schokoladenei hin.
»Weil doch halt Ostern ist, kleines Pferdchen.«
Doch das Tier verschmähte die Gabe. Es schnupperte nur ein wenig daran und wandte den Kopf ab.
»Willste nicht?« meinte Hedi, »na, dann ess' ich es allein.« Damit schob sie das Ei in den Mund.
Der Förster und seine Frau ermahnten Hedi, als sie neben dem Kutscher saß, recht artig zu sein.
»Das sind wir schon«, rief das Kind strahlend zurück. »Und nu: Hü-hott, jetzt fahren wir los!«
Es war eine herrliche Fahrt! Die Förstertochter kam sich sehr wichtig vor, als sie die Leine in den kleinen Händen hielt und mit hellem Stimmchen ihr »Hottehü, kleines Pferdchen« rief. Als aber der Kutscher einmal nach der Peitsche griff, fiel ihm Hedi in den Arm.
»Nicht schlagen, nicht das liebe Pferdchen schlagen! Ich werde ihm sagen, daß es nicht stehenbleiben darf. – Ach, es will auch mal ausruhen!«
Das Pferd, das den Weg schon gar oft gegangen war, schien heute keine Eile zu haben. Gerade das gefiel Hedi. Die Fahrt dauerte somit noch länger, und es gab nichts Schöneres, als hier oben zu thronen und das Pferdchen zu lenken.
Plötzlich brachen mit Indianergeheul hinter einem Busch die drei Niepelschen Buben hervor. Sie fielen dem Pferd in den Zügel, Fritz kletterte über die Deichsel auf den Rücken des Tieres, und die beiden anderen schwangen sich auf den Wagen. Man riß Hedi die Leine aus der Hand, und schon gab es den ersten Kampf, so daß der Kutscher besänftigend eingreifen mußte.
»Wenn du nicht ruhig bist«, sagte Paul zu seinem Besuch, »suche ich alle Ostereier weg, die der Vater im Garten versteckt hat.«
»Quatsch nicht«, meinte Walter, »du findest überhaupt keine Ostereier.«
»Doch – ich habe durch die Luke gesehen und weiß, wo sie versteckt sind.«
»Wo hat er sie denn versteckt?«
Paul lachte nur. »Das sage ich nicht!« –
Von Niepels wurde Hedi herzlich empfangen. Ihre erste Frage galt dem kleinen Schwesterchen.
»Kann's nu schon sprechen und mit uns spielen, Tante?«
»O nein, Hedi, Dora ist erst ein halbes Jahr alt. Sie kann noch nicht laufen und noch nicht sprechen.«
»O je, wie das lange dauert. – Muß sie immerzu auf dem Rücken liegen?«
»Wenn du zum nächsten Osterfest kommst, wird sie schon laufen können.«
»Na, dann tragen wir sie. Ich muß meine Puppen auch immer tragen, oder der Harras trägt sie. – Kann eure Diana das kleine Mädchen nicht auch herumtragen?«
Paul lachte schallend. »Machen wir! Die Diana muß den Schreihals tragen! – Nu komm mal mit, ich zeige dir jetzt – Pst – pst, nichts verraten – ich zeige dir, wo der Vater die Ostereier versteckt hat.«
Erst streichelte Hedi die kleine Dora, als sie jedoch zu schreien begann, schüttelte Hedi unwillig den Kopf.
»Tante, sie schreit zu viel. Meine Diana schreit nie, auch wenn ich sie mit dem Kopf mal tüchtig auf die Erde bumse.«
Dann trippelte sie auf den Zehenspitzen hinter Paul her. »Wir wollen ganz leise sein und allein die Ostereier finden.«
Im Garten wies Paul an die verschiedensten Stellen. »Dort liegt eins – dort liegt eins – und drüben im Gemüsegarten liegen noch hundert. Dort mußt du hingehen. Wenn wir nachher suchen, geh nur zuerst in den Gemüsegarten. Dort findest du hundert.«
»Hundert? Das ist sehr viel, nicht wahr?«
»Das ist ein großer Berg – soviel Eier kannst du gar nicht essen.«
»Ich werde mal jetzt schon ein bißchen suchen.«
»Nein, Hedi, bleib nur hier! – Sieh mal, dort kommt das neue Fräulein. – Ich mag es nicht, ich will kein Fräulein.«
Hedi legte beide Hände auf den Rücken und betrachtete mit kritischen Blicken das junge Mädchen, das ihr freundlich die Hand reichte.
»Du bist also das kleine Blondköpfchen vom Förster.«
»Ja – wer bist denn du?«
»Ich bin Fräulein Irma.«
»Soso – –«
»Nun willst du mit den Drillingen spielen?«
Hedi zog die Stirn kraus und schwieg.
»Du bist wohl allein daheim? Deine Mutti hat nur dich?«
»Nein, meine Mutti hat mich und den Harras.«
»So bist du die Älteste?«
»Nein, Mutti ist noch älter.«
Fräulein Irma lachte. »Nun, Drillinge hat sie wohl nicht, wie Tante Niepel.«
Einen Augenblick überlegte Hedi, dann sagte sie: »Nein, Mutti hat keinen Drilling.«
Sehr bald kam Onkel Niepel, der lachend erzählte, daß der Osterhase in den Garten für artige Kinder Ostereier gelegt hätte. Sie sollten nun suchen.
»Du, Onkel«, sagte Hedi mit frohem Lächeln, »der Paul hat mir gesagt, du hast die Eier hingelegt. – Nun ja, du hast wohl dem Osterhasen helfen müssen, weil er doch so viel zu tun hat. – Kommste auch noch mal zu uns und legst du in der Försterei auch noch mal Ostereier?«
»So so, der Paul hat dir das gesagt! Freilich, ich habe dem guten Osterhasen ein wenig geholfen. Doch nun lauf und suche recht aufmerksam am Tulpenbeet, dort liegt gewiß eins.«
Hedi lachte glücklich. »Das eine kann sich der Fritz holen, ich geh' in den Gemüsegarten, Onkel Niepel – dort liegen hundert.«
»Nein, mein kleines Mädchen, in den Gemüsegarten ist der Osterhase nicht gegangen, nur in den Blumengarten.«
»Das weißt du nicht«, flüsterte das Kind, »der Paul hat es gesehen, durch die Dachluke.«
»Da hat er was Falsches gesehen, Hedi. Geh nur in den Blumengarten, sonst findest du nichts.«
Doch das Mädchen schüttelte energisch den Kopf. »Ich geh' doch lieber in den Gemüsegarten und hole mir hundert Eier.«
Während die drei Buben in den Blumengarten stürmten, lief Hedi zu der Pforte, die den Blumengarten mit dem Gemüsegarten verband. Doch plötzlich machte sie halt und winkte Fritz, dem kleinsten der Drillinge, zu und flüsterte:
»Komm mit, im Gemüsegarten sind hundert Eier, und hier ist nur eins.«
Abermals suchte der Gutsbesitzer die beiden Kinder zurückzuhalten, doch Hedi lachte ihn strahlend an. Währenddessen stürmte Paul von einem Versteck zum anderen, so daß er vom Vater plötzlich festgehalten wurde.
»Sag mal, mein Junge, woher kennst du die Verstecke des Osterhasen so genau?«
Paul wollte sich aus den Armen des Vaters befreien, es gelang ihm aber nicht. So senkte er nur schuldbewußt den Kopf.
»Hast du vielleicht gelauscht?«
»Nein, Vater«, stammelte der Knabe, »ich habe es nur gesehen. Wenn ich doch grade in den Garten gucken mußte, kann ich doch nichts dafür.«
»Hast du der kleinen Hedi gesagt, daß sie im Gemüsegarten suchen soll? Wenn du alles gesehen hast, mußt du wissen, daß dort keine Eier versteckt wurden.«
»Vielleicht – vielleicht hat der richtige Osterhase dort Eier versteckt. – Es könnte doch sein, Vater.«
»Gib die Eier her. Einmal hast du mein Verbot nicht befolgt und bist hinauf auf den Boden geschlichen, zum anderen hast du deine kleine Freundin angeführt. Für solche Kinder hat der Osterhase keine Eier. Wenn das noch einmal passiert, mein Junge, nehme ich dich an den Ohren.«
Paul schaute auf die acht bunten Eier, die er in den Händen hielt.
»Ich hab' doch nur – – ich dachte – der Osterhase wird der Hedi ganz sicher Eier in den Gemüsegarten legen.«
»Nun gib die Eier her.«
Aus den Kinderaugen stürzten Tränen. »Vater, nur ein einziges Ei –«
»Kein Ei – marsch, gib die Eier her!«
Schluchzend wurden die gefundenen Eier abgeliefert.
»Und jetzt gehst du in den Gemüsegarten und rufst Hedi und den Bruder und sagst ihnen, daß du sie belogen hast. – Schäm dich, Paul, wie kann man so unaufrichtig sein! – Lauf und hole die beiden her.«
Mit schwerem Herzen schlich Paul hinüber. Gar zu gern hätte er sich diesen Weg erspart, doch er sah den Vater und wagte nicht, seinem Willen zu trotzen.
»Ihr sollt in den Blumengarten kommen«, fuhr Paul die beiden heftig an, »ihr sollt meine Eier bekommen – hier sind keine. Aber schnell sollt ihr kommen, sonst haut euch der Vater.«
Hedi und Fritz, die vergeblich gesucht hatten, schauten Paul an, der mit schmutzigen Händen die Tränen aus den Augen wischte.
»Hat er dich gehauen?« fragte Hedi.
»Nein – aber meine Eier hat er mir fortgenommen!« Heulend lief Paul davon.
Man sah ihn auch nicht mehr, als die Ostereier im Blumengarten gesucht und gefunden wurden.
Hedi jubelte über jedes Ei, das sie entdeckte; sie sorgte aber auch mit rührender Liebe dafür, daß Fritz nicht leer ausging. Mehrmals rief sie ihn an einen Strauch und tauschte vorher ein größeres Ei mit einem kleineren aus.
»Du freust dich doch auch, wenn du ein kleines findest? Ich möchte so gerne die großen behalten.«
Schließlich wurden die Süßigkeiten von Herrn Niepel gezählt und festgestellt, daß alle Eier gefunden waren.
»So, kleiner Blondkopf«, sagte der Gutsbesitzer, »nun bekommst du auch noch die acht Eier, die der Paul gefunden hat. Er geht heute leer aus, weil er unartig war.«
Hedis Herzchen wurde schwer. Wenn alle so große Freude hatten, mußte der Paul doch auch eine Freude haben. Vergeblich wanderten die Kinderaugen im Garten umher, aber Paul war nirgends zu sehen.
»Sind das alles meine Eier?«
»Jawohl, mein Kind.«
»Sie hat zu viele Eier«, klang es plötzlich schluchzend von Walters Lippen. »Sie hat so große Eier, ich will auch so große Eier!«
Hedi biß von einem Ei ein Stück ab und legte die andere Hälfte vor Walter nieder.
»Da hast du!«
»Ich will keine kaputten Eier, ich will große, richtige Eier!«
Auch jetzt mußte Onkel Niepel wieder den Streit schlichten. Die Tränen seines Sohnes versiegten bald, zumal im Kinderzimmer der Kaffeetisch gedeckt war und Fräulein Irma die Kleinen zum Essen rief.
Mit rotgeweinten Augen kam auch Paul herbei. Hedi ging auf ihn zu, legte beide Arme um seinen Hals und sagte:
»Brauchst nicht zu weinen, ich schenke dir Eier, ich habe genug. Komm, such dir aus.«
Als Paul aber nach dem größten griff, hielt sie rasch die Hände darüber.
»Das kannst du haben, und das – und das – – aber das hier nicht.«
Schließlich gab sich Paul zufrieden; er meinte jedoch, Hedi sei ein dummes Mädchen, das er nicht leiden könnte.
Nach dem Kaffeetrinken schlug Fräulein Irma vor, ein Kreisspiel zu spielen. Doch die Drillinge lehnten energisch ab. »Wir gehen lieber in die Ställe. Hedi kommt mit.«
»Ach ja!« jauchzte das Kind, »zu den vielen Kühen und den lieben Schweinchen!«
»Ihr werdet doch nicht in den Kuhstall gehen, die Kühe können euch schlagen.«
Paul lachte auf. »Du hast immerzu Angst, Fräulein Irma! Oh – sie hat immer Angst, sie streichelt nicht mal die Pferde.«
»Ihr sollt nicht in die Ställe gehen!«
Lachend stürmte die kleine Schar davon. Sie lachten noch lauter, als sie Fräulein Irma sahen, die scheltend auf der Verandatreppe stand.
Erst ging es zu den Schweinen. Die Hühner interessierten die kleine Hedi zu wenig, denn Hühner gab es auch im Forsthaus. Doch die vielen Schweine, die nebeneinander in dem Stall standen, waren für Hedi eine riesige Freude.
»Hm –« sagte sie, indem sie in vollen Zügen die Luft einzog, »das riecht hier noch schöner als der Wald.«
Paul hatte keine Ruhe, er wollte weiter zu den Kühen. So kletterte Hedi von der Schweinebucht herab und lief mit den Knaben zum Kuhstall. Der Schweizer, der dort beschäftigt war, hob warnend den Finger, als Hedi schnurstracks auf den großen Bullen zuging.
»Dort geh nicht hin!«
Das Kind blieb stehen, hielt dem Tier ein Bündel Stroh entgegen und sagte mit seiner hellen Stimme:
»Komm ruhig, ich tu' dir nichts, du brauchst dich nicht zu fürchten.«
Der Schweizer paßte gut auf, denn dem Bullen war nicht zu trauen. Gar zu leicht konnte ein Unglück passieren. Paul erklärte zwar, er fürchte sich nicht, nur der Schweizer sei ein Angstmeier!
Ganz plötzlich erhob der Bulle den Kopf. Die Kette klirrte, und er ließ ein lautes Brüllen hören. Da stürmte Paul zurück, riß in seinem Schreck Hedi um, die in das schmutzige Stroh fiel und laut zu schimpfen begann.
»Du böser Junge, du – – du bist ein Angstmeier!«
Doch zog sie es vor, aus der Nähe des Bullen zu gehen und lieber die Kühe zu besuchen, die sich streicheln ließen.
»Jetzt gehen wir zu den Pferden und zum Hinkeldei«, schlug Paul vor.
»Hinkeldei?« fragte Hedi, »ist das auch ein Pferdchen?«
»Du Dummsack! – Das ist der neue Knecht. – Paß mal auf, wie der läuft.« Paul stolzierte über den Hof, dabei knickte er mit dem linken Bein tief ein und rief: »Hopp-la, hopp-la, hopp-la – – So geht er, unser Hinkeldei.«
»Warum geht er so?«
»Er kann nicht anders gehen, er hat mal das Bein zerbrochen.«
»Hat er es wieder geflickt? – Unser Männe hatte sich auch mal das Bein gebrochen, aber er geht nicht hopp-la, hopp-la. – Vati hat dem Männe ein Tuch ums Bein gewickelt, und dann ist es wieder richtig gewesen. – Hat der Hinkeldei nicht auch ein Tuch ums Bein gewickelt?«
»Komm, ich zeige dir den Hinkeldei.«
»Der Vater hat doch gesagt, du sollst nicht so reden«, meinte Fritz.
Doch Paul hörte nicht auf die mahnenden Worte, er hinkte den anderen lustig voran, hinein in den Pferdestall.
Dort stand ein junger Bursche, den Hedi noch nie bei Niepels gesehen hatte. Er hatte ein Gesicht mit mehreren Narben, große abstehende Ohren und war nicht gerade schön zu nennen. Trotzdem machte Hedi einen artigen Knicks und sagte freundlich:
»Weidmannsheil, Herr Hinkeldei.« Sie erinnerte sich, daß der Vati immer diesen Gruß gebrauchte. Da er sie ermahnt hatte, artig zu sein, wollte sie es dem Vati nachtun. Aber der Knecht schien von dieser Begrüßung nicht erfreut zu sein. Er gab keine Antwort und wandte sich ab. Hedi wartete, daß er einige Schritte gehen möchte. Gar zu gern hätte sie gesehen, wie man mit einem zerbrochenen Bein gehen konnte. Doch erst nach längerer Zeit wurde ihr Wunsch erfüllt.
Wahrhaftig! – Der Mann ging immer schief auf der einen Seite. Hedi hätte ihn gar gern gefragt, doch machte er ein so unfreundliches Gesicht, daß sie sich nicht traute, etwas zu sagen. Erst viel später, als die Kinder wieder draußen im Hof waren und von Fräulein Irma angstvoll in Empfang genommen wurden, wagte sie zu fragen.
»Es ist häßlich vom Paul, den armen Menschen zu verspotten. Wenn der Knecht das Unglück hatte, vom Baum herabzufallen und das Bein zu brechen, darf man darüber nicht lachen.«
»Ich lache doch«, rief Paul vorlaut und schrie aus Leibeskräften, daß es über den Gutshof schallte: »Hinkeldei – – Hinkeldei!«
»Ärgert er sich darüber?« fragte Hedi.
»Gewiß, mein Kind, so etwas darf man nicht sagen.«
»Hinkeldei – Hinkeldei«, höhnte Paul weiter.
»Sei still«, meinte Hedi, »wenn es ihn doch ärgert, wollen wir es nicht mehr sagen. Wenn er schon das Bein gebrochen hat, wird er sehr traurig sein.«
»Das ist mir einerlei, mir macht es Spaß!«
»Ach, Paul, ich schenke dir auch noch ein Osterei, ein großes, goldenes. Mutti sagt immer, man darf kranke Leute nicht ärgern.«
»Seht mal alle her!« Paul hinkte erneut über den Hof und machte es so drollig, daß die beiden Brüder hell lachten. Sinnend stand das kleine Mädchen daneben. Das Verhalten des Spielgefährten mißfiel ihr. Sie erinnerte sich, daß einmal ein Mann mit einem Arm ins Forsthaus gekommen war. Sie hatte damals staunend gelacht, weil der eine Ärmel der Jacke leer herunterhing. Aber Vater und Mutter waren darüber sehr traurig gewesen. Sie hatten ihr erzählt, daß es ein großes Unglück sei, wenn ein Mensch seine Glieder nicht richtig gebrauchen könnte. Daran dachte das Kind in diesem Augenblick.
Wie ein Pfeil schoß Hedi vor, warf sich auf Paul und trommelte mit beiden Fäusten auf seinem Rücken herum.
»Du bist ein garstiger Junge! Wenn er ein kaputtes Bein hat, so trauert er darüber, dann ärgert er sich, und du sollst ihn nicht ärgern.«
»Laß mich in Ruhe!«
Fräulein Irma war genötigt, auch jetzt wieder die beiden Kampfhähne zu trennen. Mit drohend erhobener Faust ging Paul davon.
»Ich kann dich überhaupt nicht mehr leiden! Du brauchst gar nicht mehr herzukommen.«
Als man später im Garten saß, fehlte Paul. Er war auf einen Baum geklettert und warf mit trockenen kleinen Ästen nach den Spielenden. Von Zeit zu Zeit rief er Worte herunter, die Hedi aufs neue ärgerten.
Plötzlich ein Schrei – ein dürrer Ast, auf den sich der Knabe geschwungen hatte, brach herab, Paul stürzte mit ihm in die Tiefe. Das Kinderfräulein lief entsetzt herbei, gefolgt von den anderen. Sie wollte Paul aufrichten, da stieß er laute Schmerzensschreie aus.
»Mein Bein – mein Bein!«
Hedi fühlte inniges Mitleid; Paul verzerrte das Gesicht so sehr, er mußte wirklich heftige Schmerzen haben.
»Komm, halte dich an mich.«
Fräulein Irma versuchte den Knaben aufzurichten, doch schon wieder klangen seine lauten Schreie:
»Mein Bein, au, mein Bein!«
Herr Niepel und seine Frau hörten die Wehrufe und kamen gelaufen. Vorsichtig befühlte der Gutsbesitzer den Knöchel seines Sohnes.
»O weh«, meinte er besorgt, »ich glaube, es ist ein Bruch.«
Hedi wurde blaß vor Schreck. Vor wenigen Minuten hatte Paul über das gebrochene Bein des Knechtes gespottet, hatte laut über den Hof den Namen Hinkeldei gerufen. Der Knecht war auch einstmals vom Baum gefallen, nun ging er sein Leben lang hopp-la, hopp-la.
Sie starrte auf das Bein, hob schüchtern den Kopf und fragte leise:
»Muß er nun auch immer ein Hinkeldei sein?«
Vorsichtig wurde der verunglückte Knabe ins Gutshaus getragen. Es überlief das kleine Mädchen kalt und heiß, wenn es das klägliche Schreien Pauls vernahm. Und noch ängstlicher wurde es ihr ums Herz, als es hieß, man hätte nach dem Arzt telephoniert, er solle sofort aus Rahnsburg kommen, weil das Bein gebrochen sei.
Auch die Brüder waren traurig. Sie drückten sich in einem Winkel zusammen. Die Kinder malten sich die Zukunft Pauls in den schrecklichsten Farben aus.
»Nun ist er auch ein Hinkeldei«, meinte Walter.
»Aber ganz abgebrochen hat er sich das Bein doch nicht«, meinte Hedi, »es hing noch dran, ich hab' es gesehen.«
»Nun kann er nicht in die Schule gehen.«
»Hat der es gut!«
»Ach nein – der Paul hat es gar nicht gut. Das gebrochene Bein tut ihm mächtig weh. Und dann ist er immer ein Hinkeldei, und die anderen lachen über ihn.«
»Sie werden alle hinter ihm herrufen: Hinkeldei – Hinkeldei!«
»Das dürfen sie nicht«, rief Hedi kampfbereit, »dann haue ich sie!«
So saßen die Kinder wohl eine volle Stunde besorgt zusammen. Der Arzt kam und ging wieder, erst dann durften die drei hinein zu dem blassen, weinenden Spielgefährten.
»Ich will es nicht wieder sagen«, schluchzte Paul. »Nun bin ich schwer gestraft. – Es hat so weh getan!«
»Wirst du nu immer ein Hinkeldei sein?«
»Ich weiß nicht – ach, es tut so weh!«
Während die beiden Brüder das Zimmer wieder verließen, zog Hedi ein Stühlchen heran und setzte sich an das Bett des Kranken.
»Weine nicht, Paulchen, ich schenke dir auch ein Osterei. Und du wirst auch nicht immer ein Hinkeldei sein. Unser Männe hat sich auch mal das Bein gebrochen, und er ist auch kein Hinkeldei. Der Vater hat ihm das Bein geflickt, jetzt springt er wieder in der Stube und im Wald umher. – Mußt nicht weinen, Paulchen, ich bin ja hier.«
»Es tut doch so weh!«
»Soll ich dir eine Geschichte erzählen? Dann tut es nicht mehr so weh. Von der Traumfee oder der Waldfee?«
»Nun muß ich so lange im Bett liegen – –«
»Dann brauchst du nicht in die Schule«, flüsterte Hedi dem Knaben zu. »Die anderen müssen hin, und du kannst zu Hause bleiben. – Paulchen, ich komme immerfort zu dir und erzähle dir was Schönes. – Willst du?«
Mit einem verlegenen Blick schaute Paul auf das kleine Mädchen, das er vor kurzem gescholten hatte. Jetzt empfand er es wohltuend, daß Hedi neben ihm saß und lieb mit ihm sprach. Dabei hatte er sie doch wegen der Ostereier belogen.
»Bist du mir böse?«
»O nein – du hast doch ein zerbrochenes Bein, da werde ich dir doch nicht böse sein. – Nu schlaf recht schön, ich will dir was vorsingen.«
»Wenn nur das Bein nicht so weh täte.«
»Wenn ich singe, tut es nicht mehr weh.« Dann begann die Kleine von dem schwarzen und dem weißen Schaf zu singen. Doch Paul hatte kein Verlangen, die Augen zu schließen. – Schließlich kam die Mutter herein, die gerührt an der Tür stehen blieb, als sie Hedi sah, die dem Spielkameraden mit einem Handtuch die Augen auswischte, weil er wieder zu weinen begonnen hatte.
»Du sollst doch nicht weinen, sonst weine ich auch.«
Frau Niepel schloß die kleine Hedi gerührt in die Arme und küßte das Kind zärtlich.
»Du bist ein braves Krankenmütterchen; Paul ist dir sehr dankbar dafür. Wirst du ihn nun auch öfters besuchen? Er muß lange im Bett bleiben.«
»Ja, ich besuche ihn so lange, bis er kein Hinkeldei mehr ist.«
Als Hedi am heutigen Tage Abschied nahm, drückte ihr Paul herzlich die Hand wie nie zuvor.
»Ich habe dich gern, Pucki, ich werde auch nicht mehr häßlich zu dir sein. Komm bald wieder!«
Sie versprach es. Dann fuhr sie sorgenvoll auf dem kleinen Wagen nach dem Forsthause zurück.
»Du mußt recht langsam fahren, sonst bricht sich das weiße Pferdchen auch ein Bein. – Oh, es war sehr schlimm!«
»Ist ihm recht geschehen, dem Paul! Der liebe Gott hat ihn gestraft.«
Hedi warf einen sorgenvollen Blick zum blauen Himmel hinauf.
Als Hedi gegen Mitternacht erwachte, schien der Mond in vollem Glanz auf ihr Bett. Ein Weilchen blinzelte das Kind zum Himmel hinauf, dann entfuhr ihm ein tiefer Seufzer. Was mochte wohl der arme Paul machen, der mit so großen Schmerzen im Bett lag? Morgen, wenn wieder die Sonne schien, wollte Hedi zu ihm fahren, am Bett des kleinen Freundes sitzen und ihn trösten.
Das Kind warf sich unruhig hin und her. Schließlich kletterte es aus dem Bettchen und trippelte ans Lager der Mutter. Sie schlief, und Hedi betrachtete beim Mondenschein das liebe, freundliche Gesicht.
»Schläfst du sehr schön, Mutti? – Ist die Traumfee bei dir?«
Frau Sandler schlug die Augen auf und blickte erschrocken auf den kleinen Hemdenmatz, der in helle Freude ausbrach, als er die Mutter wach sah. Der Vater wurde gleichfalls munter.
»Aber Hedi, was willst du denn, du sollst schlafen.«
»Ach, Vati, der Mond ist auf mein Bett gefallen und hat mir zugelacht. – Ob der Paul auch den Mond sieht?«
»Unser kleiner unartiger Puck bist du wieder einmal. Marsch ins Bett!«
»Mutti – warum nennst du mich manchmal Hedi und dann wieder Puck? Der Paul heißt doch immer nur Paul?«
»Weil du wie ein kleiner Waldgeist nachts umherläufst. Gerade so, wie es der andere Puck getan hat.«
»Welcher andere Puck, Mutti?«
Hedi machte den Versuch, ins Bett der Mutter zu steigen, doch Frau Sandler wehrte ab.
»Geh zurück in dein Bettchen und schlafe, sonst erkältest du dich, und es könnte schlimm ausgehen.«
»Es geht nicht schlimm aus, Mutti, wenn ich in deinem Bett bin.«
»Morgen früh«, sagte der Vater streng, »darfst du kommen. Jetzt marsch zurück ins Bett!«
»Erzählst du mir morgen früh von dem anderen Puck?«
»Ja – doch nun schlafe.«
Hedi kletterte zurück in ihr Bettchen, blinzelte dann nochmals hinauf zum Mond und sagte:
»Guck mal, Mutti, der Mond macht heute ein liebes Gesicht.«
»Er wird gleich ein böses Gesicht machen, wenn du nicht still bist.«
Zehn Minuten später schlief das Kind wieder, wachte aber auf, als draußen die ersten Vöglein ihr Frühlingslied sangen. Auch jetzt spähte Hedi zu den Betten der Eltern hinüber; sie warf sich hin und her, um Vati und Mutti zu wecken. Gar zu gern hätte sie die Geschichte von dem anderen Puck gehört, jenem Waldgeist, der auch ihren Namen trug.
Kaum hatte die Mutter die Augen aufgeschlagen, da war das Kind da und kletterte in ihr Bett.
»Du bist wirklich ein kleiner Irrwisch«, tadelte die Mutter.
»Ich bin Hedi-Pucki. – Erzähle mir die Geschichte vom Pucki.«
»Nun paß mal gut auf«, sagte der Vater. »Als du noch viel kleiner warst als heute, bist du schon solch unruhiges Mädchen gewesen und hast deine Mutter nachts nicht ruhen lassen. Dann bist du uns am Abend öfters in den Wald gelaufen, und wir haben dich gar oft suchen müssen. Gerade so macht es der kleine Waldgeist Puck, der die Menschen Tag und Nacht nicht in Ruhe läßt und allerlei Streiche ausdenkt, die meistens schlimm ausgehen.«
»Oh – Vati, ich denke mir keine Streiche aus.«
»Na, na, Hedi – du hast schon allerlei Tollheiten angestellt. Und gut ging es auch nicht immer aus.«
»Hast recht, Vati, gestern hab' ich den Paul mächtig verprügelt; da war er so böse, daß er auf einen Baum kletterte, und dann ist er 'runtergefallen, und das Bein ist nun kaputt. – Das ist auch nicht gut ausgegangen.«
»Du mußt daher diese tollen Streiche in Zukunft unterlassen, Hedi.«
»Da bin ich dann aber kein Pucki mehr, und ich möchte gern euer Pucki bleiben.«
»Aber unser artiger Pucki, der seine Mutter nicht so ärgert, wie es der Waldpuck getan hat.«
»Was hat er denn gemacht?«
»Er sitzt auf den Bäumen, wirft mit Kienäpfeln und Eicheln, seine Mutter hat es ihm schon oft verboten, doch er hört nicht darauf. Darum hat sie ihn auch nicht wachsen lassen. So ist er immer ein ganz kleiner Junge geblieben.«
»Ich möchte aber ganz groß werden.«
»Groß werden nur artige Kinder.«
»Ach nein, Vati, Onkel Niepel hat gesagt, seine Jungens sind furchtbar unartig, und der Paul ist auch schon groß.«
»Na, der Paul, der paßt zum Pucki, er ist wie der Mucki.«
»Wer ist Mucki?«
»Die Waldfrau hatte außer dem Pucki noch ein zweites Kindchen, ein sehr eigensinniges Kindchen. Dem wuchs auf der Stirn ein Muckenhorn. – Du hast auch manchmal Mucken, das weißt du doch?«
»Wächst mir auch ein Horn auf der Stirn?«
»Bis jetzt noch nicht. – Aber dem Mucki von der Waldfrau ist das Horn gewachsen.«
»Kann man den Mucki auch mal sehen?«
»Solch kleine Waldgeister sind für uns Menschen meistens unsichtbar. Wenn aber ein Kind mal sehr unartig ist, kommt der Mucki, tippt es auf die Stirn, und dann wächst ihm auch solch ein Horn.«
»Wie den Ziegenböckchen.«
»Ich denke, unsere kleine Hedi wird ein liebes Mädchen sein, keine tollen Streiche machen wie Pucki und auch nicht so eigensinnig sein wie Mucki.«
»Ich möchte gar zu gern die Kinder von der Waldfrau mal sehen. Vati, nimmst du mich bald mal mit in den allerdunkelsten Wald?«
»In unserem Wald ist kein Pucki und auch kein Mucki.«
»Na«, sagte Hedi erleichtert, »dann kann er ja auch nicht kommen und mit dem Finger auf die Stirn tippen. – Dann ist's ja gut.«
»Na, na, sieh dich nur vor. Der Mucki kommt schnell mal durch die Luft geflogen, und wenn du unartig bist, kann es schlimm ausgehen.«
»Wird schon nicht schlimm ausgehen«, beharrte Hedi. Aber den ganzen Vormittag über dachte sie doch an die Kinder der Waldfrau. Heute nachmittag, wenn sie wieder zum Paul fuhr, wollte sie ihm von den beiden Waldgeistern erzählen.
Der Vater, der mit Harras in den Wald gegangen war, kam heute früher als sonst heim.
»Biste schon da, Vati?«
»Ja, mein Kind, Onkel Oberförster wird sogleich kommen, er will den Vati sprechen.«
»Mit dem Auto?«
»Wahrscheinlich.«
»Oh – dann darf ich wieder drücken, und es tutet!«
»Das sollst du nicht, Hedi.«
»Wenn er's doch so furchtbar gern hat, er lacht dann immer.«
Zehn Minuten später fuhr Oberförster Gregor bei dem Forsthaus vor. Er war ein freundlicher, älterer Herr, der das kleine Mädchen zur Begrüßung hoch emporhob und hin und her schwenkte.
»Darf ich mal drücken?«
»Du meinst an der Hupe? – Na ja – komm!«
Hedi strahlte, als sie die Hupe wohl zwanzigmal nacheinander ertönen lassen durfte. Schließlich kam der Vater hinzu, und der Spaß hatte ein Ende. Während die beiden Herren im Forsthause saßen, schlich das Kind erneut hinaus, kletterte über den verschlossenen Wagenschlag und begann abermals mit dem herrlichen Konzert. Die Mutter kam herbei und untersagte dem Töchterlein diese Spielerei.
»Das Auto gehört dem Onkel Oberförster. Du wirst die Hupe entzweimachen. Komm heraus, man darf nicht an die Sachen anderer Leute gehen.«
Sehr betrübt folgte Hedi der Mutter, die die Kleine nochmals eindringlich ermahnte, die Autos nicht zu berühren.
»Es würde dir auch nicht gefallen, Hedi, wenn ein anderer deine Spielsachen nähme.«
»Ein Auto ist aber kein Spielzeug, Mutti, sondern ein großer Wagen.«
Große Freude gab es am heutigen Vormittag für das kleine Mädchen. Oberförster Gregor erklärte sich bereit, die Kleine nach dem Niepelschen Gutshause zu fahren, dort abzusetzen und nach einer halben Stunde, in der er eine Besichtigung vorzunehmen hatte, wieder ins Forsthaus zurückzubringen.
»Du kannst dich gleich nach deinem kranken Spielkameraden umsehen«, sagte der Vater. »Wer weiß, ob heute eine Gelegenheit wäre, hinaus aufs Gut zu fahren.«
Hedi war überglücklich. Sie durfte direkt neben dem Oberförster ganz vorn sitzen, durfte an der Hupe drücken und sogar einmal das Steuerrad anfassen, an dem der Onkel drehte.
»Fürchtest du dich nicht, wenn wir durch den Wald fahren?«
»O nein, wir fürchten uns nicht, Onkel.«
»Wenn aber ein Hirsch oder ein Reh kommt?«
Hedi lachte. »Das sind gar liebe Tierchen, sie haben mich gerne.«
»Wenn aber der Schornsteinfeger kommt – fürchtest du dich dann?«
»Wir fürchten uns nicht, Onkel Oberförster. Alle die lieben grünen Bäume passen auf, daß Hedi nichts passiert.«
»Bist du aber ein tapferes kleines Mädchen. Das ist brav von dir. Du spielst wohl sehr gern mit den Niepelschen Jungen?«
»O ja, sehr gern!«
»Vielleicht bekommst du auch nächstens ein kleines Brüderchen oder ein Schwesterchen. Dann brauchst du nicht erst auf das Gut zu fahren, dann kannst du daheim mit dem Brüderchen tollen.«
»Aber dann möchte ich ein Brüderchen, so wie der Fritz ist, nicht so einen frechen Jungen wie der Paul.«
»Erst bekommst du ein ganz kleines Brüderchen, noch viel kleiner als die Dora.«
»Nein, Onkel, so klein möchte ich es nicht, dann schreit es immer gleich wie die Dora. Ich möchte ein Kindchen haben, mit dem ich gleich Verstecken spielen kann. Wir gehen dann zusammen in den Wald.«
»Deine Mutti will erst ein ganz kleines Kindchen haben.«
»Ach, die Mutti ist sehr gut, ich werde ihr sagen, wir möchten gleich ein großes Kindchen, dann wird sie es schon machen.«
»Du mußt auch mit einem kleinen Schwesterchen zufrieden sein, Hedi.«
»Dann möchte ich schon lieber ein Paar Klotzpantinen und kein Schwesterchen, das immerzu schreit. – Oder ein Schmalzbrot von der Gans mit ohne Wurst.«
»Du hast recht merkwürdige Wünsche, kleines Mädchen. – Nun schau, gleich sind wir da.«
Hedi griff nach der Hupe und ließ sie mehrmals laut ertönen. Lachend hob der Oberförster das Kind aus dem Wagen, begrüßte Frau Niepel herzlich und sagte, daß er die Kleine bei seiner Rückkehr in einer knappen Stunde wieder abholen würde, um sie zurück ins Forsthaus zu bringen.
Paul war sehr erfreut, als er die Spielgefährtin erblickte. Der Arzt hatte tatsächlich einen Knöchelbruch festgestellt und das Bein des Knaben in Gips gelegt. Selbstverständlich schmerzte der Bruch, und Paul begann erneut zu weinen, als er mit Hedi sprach.
»Na, weine mal nicht«, tröstete ihn das Kind, »vielleicht komme ich morgen mit meinem Bruder her; dann spielen wir zusammen.«
»Wo hast du denn einen Bruder?«
»Onkel Oberförster hat es gesagt, daß wir uns einen Bruder anschaffen, aber gleich einen großen, der mit uns spielt. Der wird sich freuen, wenn er in dem schönen grünen Wald ist.«
Hedi erzählte dem Kranken eingehend von der Waldfrau, von Mucki und Pucki. Außerdem dachte sie sich noch andere schöne Geschichten von den beiden Kobolden aus. Das machte sie immer so.
»Wenn du wieder gesund bist, suchen wir Pucki und Mucki, Paul. Oh« – sie horchte auf – »da ist schon der Onkel Oberförster, es tutet.«
Mit betrübtem Gesicht stürmte Hedi davon. Doch es war nicht der Wagen des Oberförsters. Es war ein kleineres Auto von grauer Farbe, aus dem zwei Herren stiegen. Hedi verbarg sich hinter der Haustür; die beiden Männer mit den langen Bärten flößten ihr doch ein wenig Unbehagen ein. Auch Fritz kam neugierig herbeigelaufen; Hedi hielt ihn fest.
»Das sind zwei schlimme Männer«, flüsterte sie.
Die Herren wurden von dem Gutsbesitzer begrüßt und in sein Arbeitszimmer geführt. Es handelte sich um zwei Händler aus der Stadt, die zu Niepel herauskamen, um einen geschäftlichen Abschluß zu machen.
»Du –«, sagte Fritz, »wir wollen mal tuten.«
»Wir dürfen nicht. Mutti hat gesagt, wir sollen kein Auto anfassen, es würde uns auch nicht gefallen, wenn jemand unsere Puppen anfaßt und damit spielt.«
»Aber wir können doch ein bißchen gucken?«
Hedi schielte nach den Fenstern des Wohnhauses hinüber. »Sie sehen uns und schimpfen.«
Die beiden Kinder standen in der Haustür und betrachteten das Auto, das so ganz anders war wie das des Oberförsters.
»Was er wohl da hinten in der Klappe haben mag? – Du, ich möchte die Klappe mal aufmachen«, meinte Hedi.
Es handelte sich hier um einen kleinen Wagen, der einen sogenannten Notsitz hinten hatte. Diese Klappe regte die Phantasie der Kinder auf das höchste an. Was mochten die beiden Männer dort hineingesteckt haben?
»Wo sind sie denn, die Männer?« fragte Hedi.
»Ich werde mal ein bißchen drücken. Wenn sie nicht kommen, sind sie weit weg. Manchmal geht der Vater mit den Männern über den Hof und in die Ställe. – Wollen wir mal drücken?«
»Guck doch mal, wo Onkel Niepel ist!«
In diesem Augenblick öffnete sich eine Tür, und wieder huschten die beiden Kinder in ihr Versteck.
»Kommen Sie, wir gehen hinüber nach der Scheune«, sagte der Gutsbesitzer.
Hedi kniff den Spielgefährten vergnügt in den Arm. Um zur Scheune zu gelangen, mußte man über den großen Hof, das war sehr weit.
»Ob wir uns nu mal die Klappe ansehen?«
Fritz war mutiger als Hedi; er kletterte auf den Wagen. Vom Vordersitz aus war es möglich, den großen Deckel, wie Hedi sagte, aufzuheben.
»Guck«, rief Fritz voller Begeisterung, »hier geht es ganz tief 'runter. – Kriech mal 'rein, dann mache ich die Klappe zu.«
Zwei neugierige Kinder beugten sich interessiert über den Notsitz.
»Kriech doch mal 'rein«, meinte Fritz. »Wollen mal gucken, was da unten ist.«
Kopfüber kroch das kleine Mädchen über den Sitz in das Loch hinein.
»Au, fein«, rief Hedi, »hier unten ist es ganz schwarz. – Komm, wir spielen Verstecken.«
»Wenn die Räuber kommen und die Indianer, so finden sie uns nicht. Hörst du sie schon? Es sind Wölfe, die brüllen. Wir müssen ganz still sein.«
Auch Fritz verschwand unter der Klappe, die über den Kindern zufiel. Es war einfach herrlich, hier völlig ungesehen im Wagen zu sitzen.
»Jetzt sind die Räuber schon nahe«, flüsterte Fritz. »Du bist meine Frau, dich wollen sie holen. Ich aber beschütze dich.«
Nun begann ein erregtes Flüstern. Die beiden freuten sich, daß die Räuber sie nicht fanden. Schließlich meinte Hedi:
»Nun sind sie weg, nun wollen wir wieder 'rauskriechen.«
Gerade als sie die Klappe öffnen wollten, klirrte zu ihren Füßen etwas. Erschrocken hielt Hedi den Atem an.
»Haben wir was kaputt gemacht?«
Die Kinder beugten sich tiefer; sie faßten in Scherben und in eine Flüssigkeit.
»O weh«, meinte Hedi erschrocken, »was wird nun werden? Wenn die schwarzen Männer kommen – – es wird schlimm werden!«
Am liebsten hätte sie geweint. Die Ermahnungen der Eltern fielen ihr ein. Erst heute früh hatte die Mutti davon gesprochen, daß ein schlimmer Streich mitunter übel ausgehen könne, daß man ein Auto in Ruhe lassen soll.
»Wir wollen schnell wieder 'raussteigen«, meinte Fritz. Er wollte die Klappe öffnen, aber ... »Der Vater!«
Die Kinder hörten, daß der Gutsbesitzer mit den beiden Herren zurückgekommen war und im Vorgarten stand. Das Herz klopfte den beiden stürmisch. Wenn die Männer die Klappe aufmachten – – Es war nicht auszudenken!
Hedi klammerte sich an den Arm des Freundes; regungslos verharrten beide in dem dunklen Versteck.
»Meine Hand ist wie Honig«, sagte Hedi. – »Es klebt alles fest.«
»Sei still!«
Angstvolle Minuten vergingen. Die Männer standen mit dem Vater am Wagen. – Jetzt begann der Wagen zu wackeln, die beiden Männer stiegen ein – Hedi wollte schreien, doch kein Laut kam ihr über die Lippen.
Immer enger drückten sich die beiden Kinder aneinander. Was eben noch im Spiel gesagt worden war, erschien ihnen grausame Wirklichkeit. Vorn saßen zwei Räuber, alte, große Räuber mit langen, schwarzen Bärten. Sie entführten das Pärchen.
»Mach doch die Klappe auf«, sagte Fritz mit tränendurchzitterter Stimme.
»Nein, laß die Klappe zu«, flüsterte Hedi.
»Ich hab' Angst!«
»Ich auch!«
»Sie fahren uns fort – – wir werden sagen, sie sollen anhalten.«
Leise und behutsam wurde die Klappe ein wenig geöffnet. Vier verängstigte Kinderaugen schauten heraus. – Richtig, direkt vor ihnen saßen die beiden Männer. Sollte man sie antippen und bitten: Laßt uns frei, wir wollen auch niemals wieder das Auto anfassen!
»Die kleinen kann ich nicht leiden«, sagte der eine der Männer laut.
Leise schloß sich die Klappe. »Haste gehört«, flüsterte Fritz, »er mag kleine Kinder nicht. – Wie wird es uns ergehen.«