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Wir haben versucht loszulassen. Das Damals, das Einst, das Früher zu vergessen. Doch die Vergangenheit ist unzerstörbar. Man kann sie unter einem Felsen vergraben, sie stößt trotzdem durch, wenn es an der Zeit ist. Markus Berger wird völlig unvorbereitet in seine Vergangenheit katapultiert - zum 13. August 1995, dem Tag, an dem er fast jeden Menschen verlor, der ihm wichtig war. So sehr er und seine Frau Emmi sich auch bemühten, alles Schreckliche hinter sich zu lassen, ist es nun an der Zeit, all die Ereignisse heraufzuholen, sie auszuleuchten bis in den letzten Winkel, sie aufzuklären, um am Ende vielleicht … vielleicht Frieden zu finden.
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Seitenzahl: 140
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Manfred Liedtke
Götterdämmerung auf Cayo Coco
Roman
Copyright: © 2019 Manfred Liedtke
Lektorat: Ulrike Rücker / [email protected]
Buchsatz: Erik Kinting / www.buchlektorat.net
Umschlaggestaltung: Manfred Liedtke
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
978-3-7482-9425-2 (Paperback)
978-3-7482-9426-9 (Hardcover)
978-3-7482-9427-6 (e-Book)
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
„Geschehen hat keine Umkehr.“
Prolog
Die Hitze im August 1995 war unerträglich. In jenen heißen Tagen – ich nenne sie die Tage der Heuchelei – war ich Leiter der Mordkommission in einer kleinen Stadt in Sachsen. Mein Name: Markus Berger.
Es waren die Tage nach dem 13. August 1995. Die Tage nach dem todbringenden Anschlag auf Eddys Theaterbar. Sie nannten es eine Gasexplosion! Sie sagten, das Anzünden einer Zigarette im Keller der Bar hätte die Explosion ausgelöst.
Sie haben euch belogen! Es gab kein Gas in diesem Haus. Der Versorger hatte die Gasleitung schon vor Jahren außer Betrieb genommen.
***
Die Vorstandswahlen des einflussreichen Heimatvereins sorgten im Sommer 1995 für reichlich Wirbel. Die Stimmung in der Stadt war aufgeheizt, so aufgeheizt wie die Tage und Nächte in diesem August. Die rechte Szene hatte Hochkonjunktur, und die kleine Bar mit integriertem Theater, in der eine nicht alltägliche Gesellschaft ihr Anderssein leben konnte, war immer wieder das Ziel rechtsextremistischer Übergriffe. Ohne die Folgen zu ermessen, hatte sich der transsexuelle Pianospieler und Freund des Barbesitzers dazu entschlossen, den Übergriffen ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Er kreierte ein Szenario, das zwangsläufig eskalieren musste …
Die zunehmende Gereiztheit der gesamten Bevölkerung in unserer kleinen Stadt machte uns Sorgen. Ein Streit um die Schließung des Truppenübungsplatzes und die nächtlichen Ruhestörungen, verursacht durch Panzer, die nachts durch die Stadt fuhren, hatten den politisch einflussreichen Heimatverein fraktioniert. Eine Vielzahl von Vereinsmitgliedern protestierte seit Anfang des Sommers für ein neues Umweltkonzept. Sie forderten, dass der Truppenübungsplatz – schon zu DDR-Zeiten ein Ärgernis – geschlossen würde und die Panzer nachts in den Kasernen zu verbleiben hätten. Eine flapsige Androhung des Ministers für Verteidigung war die Folge. »Panzer ohne Truppenübungsplatz gehe gar nicht! Sollte dieser Umweltblödsinn durchkommen, machen wir die Garnison dicht!« Das erhöhte die Gereiztheit in der Bevölkerung nur noch mehr. Diese nicht den gängigen Regeln der Höflichkeit adäquate Einlassung des Ministers schreckte nicht nur die Geschäftswelt auf, die von den Soldaten und deren Familien lebte, sondern auch die Zivilangestellten beider Kasernen. Ihnen drohte die Arbeitslosigkeit.
Dr. Martin Reinhardt, Parteivorsitzender des FNB, der rechtsautoritären Partei mit der Sehnsucht nach einem großen Führer, war zudem Vorstandsmitglied des Heimatvereins und sorgte in dem Streit für weitere Aufregung. Seine Kolumne in der Regionalausgabe einer Boulevardzeitung veranlasste den Vorstand des Vereins, sich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aufzulösen. Reinhardt hatte behauptet, im Verein finde eine Entseelung des deutschen Volkes statt. Der Verein gerate unter artfremden Einfluss. Denn eines der Vorstandsmitglieder sei ein in der Stadt ansässiger Geschäftsmann, der die Religion, die Traditionen und Lebensweise eines gläubigen Juden pflegte. Die erbitterte Debatte, die Reinhardt mit seinem Meinungsbeitrag auslöste, wurde auf die Straße getragen. Die Folgen waren Demonstrationen und Krawalle, die bis zu der Wahl eines neuen Vorstands, am 13. August 1995, anhielten.
***
Ja, wir hatten die Gegebenheiten am Vormittag des 12. August 1995 völlig falsch eingeschätzt. Unsere ganze Aufmerksamkeit galt der Sicherheit bei der Vorstandswahl, die am nächsten Tag stattfinden sollte. Den Übergriff auf den Pianospieler Fred Krauss und die Nazischmiererei auf der Giebelwand der Bar hatten wir als einen der üblichen nazistischen Anschläge eingestuft. Erst nach Feststellung des Einbruchdiebstahls, der im Tohuwabohu der Aufregungen um den verletzten Pianospieler viel zu spät bemerkt wurde, war erkennbar, dass der gegenwärtige Anschlag eine andere Qualität aufzeigte als die Übergriffe in jüngster Zeit. Der Datenklau, eine neue Form des Diebstahls, machte uns die Folgen unmissverständlich klar. Mit den gestohlenen externen Festplatten, auf denen sich unverschlüsselt sensible Daten befanden, sollte Eddy Schön, der Eigentümer der Theaterbar, erpresst werden. Würde er die Bar nicht schließen, so ließen die Erpresser verlauten, würden sie die Daten der Gäste veröffentlichen.
Polizeidirektor Matthias Hansen und ich waren uns ziemlich schnell darüber einig: Egal wie sich Eddy Schön auch entscheiden würde, wenn wir die Festplatten nicht so schnell als möglich fanden, wäre dieser Übergriff der Schlussakt für die Theaterbar.
Reinhard war der Initiator dieses Einbruchdiebstahls, davon gingen wir aus. Es passte alles. Gebetsmühlenartig forderte Reinhardt auf den Veranstaltungen des FNB die Wiedereinsetzung des § 175 StGB, der 1994 ersatzlos gestrichen worden war. Für ihn aber wäre Homosexualität wider die Natur und sollte geahndet werden. Die Schließung der Bar, dieser widernatürlichen Einrichtung, war ihm eine Herzensangelegenheit.
Reinhardt mit unserem Verdacht zu konfrontieren, er sei der Mann hinter dieser politisch motivierten Straftat, war von Rechts wegen nicht möglich. Er genoss als Volksvertreter Schutz vor Strafverfolgung und nutzte dies aus. Um die politische Immunität, die er als Landtagsabgeordneter besaß, aufheben zu lassen, mussten dem Immunitätsausschuss des sächsischen Landtages konkrete Beweise vorliegen. Und die hatten wir nicht. Zudem hätte ein Aufhebungsverfahren Wochen gedauert. Genau das war unser Dilemma. Wir mussten unverzüglich handeln, aber wir durften es nicht! Uns waren gänzlich die Hände gebunden. Hinzu kam, dass Fred Krauss, Eddy Schöns transsexueller Pianospieler und unser Freund, seit dem Vormittag vermisst wurde. Wir wussten von Emmi, meiner Frau und Sekretärin bei Eddy Schön, dass Fred, aufgetakelt wie eine Fregatte, in eine Taxe gestiegen war. Und von Erna, Inhaberin der Imbissstube Suppenterrine, wussten wir, dass sie offenbar als Letzte noch mit Fred gesprochen hatte. Ja, hatte sie bestätigt, eine Taxe hätte laut bremsend vor ihrem Imbiss gehalten. Aufgeputzt wie eine Gräfin sei ihr Freund ausgestiegen und auf sie zugestürmt. Aufgewühlt habe er ihr erzählt, was bei Eddy vorgefallen war. Dann habe er einen Brief aus seiner Handtasche gekramt und gedroht, mit diesem werde er ein für alle Mal Schluss mit dem Naziterror machen. Er sei dann wieder in das Taxi gestiegen und davongefahren. So aufgebracht habe sie ihn noch nicht erlebt.
Bis in den späten Nachmittag des 12. August hatten Matthias und ich herauszufinden versucht, wo Fred sich aufhalten könnte. Außerdem haben wir uns über diesen mysteriösen Brief den Kopf zerbrochen. Was stand darin, was hatte Fred da in der Hand und wem wollte er damit drohen? Obwohl es greifbar vor uns lag, auf Reinhardt wären wir nicht gekommen. Fred und Reinhardt waren sich nie begegnet, sie kannten sich nicht und hatten sich folglich auch keine Briefe geschrieben – glaubten wir.
***
Wir waren in Eddys Bar zusammengekommen. Vier, die auf ein Lebenszeichen ihres Freundes warteten. Wir sprachen kaum. Jeder von uns war in Sorge um Fred und versuchte, sich irgendwie zu beschäftigen. Eddy polierte Gläser, Emmi kramte in irgendwelchen Papieren. Matthias telefonierte mit Anne, seiner Sekretärin. Ich las desinteressiert in einem dieser bunten Blätter für hirnlose Frauen irgendetwas über Filmstars. Dr. Eva Wohlert-Neuss, Psychologin und enge Freundin von uns, war aus ihrer Praxis zu uns rüber in die Bar gekommen. Sie hatte sich nur kurz über den Stand der Dinge informiert und wollte wieder gehen. Die Türklinke schon in der Hand rief Eddy sie zurück. »Halt, Eva, bitte!« Erstaunt drehte sie sich zu ihm um. Was jetzt kam, bezeichnete Emmi später einmal als den Moment, in dem die Bombe platzte. Ohne Evas Erstaunen zu beachten, bemerkte Eddy relativ unbeteiligt und wie aus heiterem Himmel: »Dieser Brief, den Fred Erna gezeigt hat, wurde vor ungefähr fünfunddreißig Jahren geschrieben …« Er bückte sich hinter den Tresen und tauchte stöhnend mit einem neuen Geschirrtuch wieder auf. »… vom jungen Reinhardt.« Allein das war schon hochexplosiv. Doch was dann kam, war die Detonation: »Reinhardt ist bisexuell. Fred war einmal Reinhardts große Liebe!«
1. Kapitel
2018
Dreiundzwanzig Jahre später
»Richtig, Mahnke, heute wissen wir, dass die offizielle Erklärung der damaligen Landesregierung ein Ammenmärchen war. Sachsen stand 1995 vor einer Landtagswahl, da war dem damaligen Ministerpräsidenten eine Gasexplosion in Schöns Schwulenbar nützlicher als ein rechtsradikaler Anschlag. Sie wünschte vor den Landtagswahlen weder eine Diskussion über den Rechtsextremismus noch über die gleichgeschlechtliche Liebe. Je misstrauischer die Bürger gegenüber ihrer Regierung wurden, desto stärker versuchten staatliche Stellen, den Anschlag herunterzuspielen. Die liberalen Reformer in der CSP hatten an Einfluss verloren. Die Hardliner in der Partei nutzten die Gunst der Stunde und verständigten sich mit dem FNB auf eine Koalitionsaussage. Um diese Liaison mit der Neuen Rechten nicht zu gefährden, verschwieg, vertuschte man die Vorgänge und versorgte die Öffentlichkeit mit Unwahrheiten. Auf einer Landespressekonferenz hieß es lapidar: … Der Inhaber der Theaterbar und Freunde von ihm sind in dem schrecklichen Inferno zu Tode gekommen, darunter auch der verdiente Polizeidirektor Matthias Hansen, der den Betreiber der Bar aus Jugendtagen kannte. Unser Mitgefühl gehört den Angehörigen. Einen Anschlag schließt die zu ermittelnde Behörde aus.«
»Berger, Ihnen wurde unterstellt, Sie hätten sich zu stark von persönlichen Gefühlen leiten lassen, weil Freunde von Ihnen, wie der Polizeidirektor Matthias Hansen, bei dieser Explosion getötet wurden. Ihre Bewertung sei unqualifiziert gewesen und widerspräche grundlegend dem Bericht des Landeskriminalamtes Sachsen. Ihre kritische Haltung zu den Ermittlungen des LKA hätte nicht nur das Ansehen der ermittelnden Behörde beschädigt, sondern auch die Reputation des Doktor Martin Reinhardt, Vorsitzender des rechtspopulistischen FNB und designierter Innenminister von Sachsen. Das hätte Sie ihre Stellung gekostet und …«
»Mahnke, bitte! Sie kennen doch den Vorgang! Ich selber habe nach dem Wahlsieg dieser unseligen Koalition meine Entlassung eingereicht«, unterbreche ich ihn. »Sie wissen doch um meine Haltung. Unter einem Staatsminister der Neuen Rechten wollte ich nicht Polizist sein. Ich war Beamter und der Wahrheit verpflichtet! Es ist als ein solcher eben immer problematisch, recht zu haben, während die Regierung falsch liegt.«
»Und wie es sich gezeigt hat, haben Sie recht behalten.«
»Recht behalten ja, aber kein Recht bekommen. Der Anschlag, das Märchen von der Gasexplosion, wurde auch nach dem Scheitern der rechtskonservativen Regierung weder offiziell untersucht noch dementiert. Diese Lüge hat in Sachsen immer noch einen erschreckenden Grad an Beständigkeit. Dass sich Ihr politisches Magazin für diesen Vorgang 1995 nicht interessiert hat, wundert mich heute noch! Nur die Boulevardpresse argwöhnte und hat an eine Gasexplosion nicht glauben wollen. Ihr Magazin, Mahnke, hat über andere nazistisch motivierte Anschläge im Osten wie auch im Westen seitenweise berichtet. Warum nicht über diesen? Vielleicht hätte das einiges verändert. Jetzt darüber lamentieren zu wollen, ist wohl ein bisschen zu spät! Seit über zwanzig Jahren regiert die CSP wieder alleine in Sachsen. Hat sich da etwas geändert? Nein! Diese Regierung lässt weiterhin das Ewiggestrige zu. Ein großer Teil der rechten Szene Sachsens hat zwar ihre Springerstiefel ausgezogen, weniger unappetitlich sind sie aber deswegen nicht geworden. Wie sieht es denn in diesem Großdeutschland heute aus, mein lieber Mahnke? Rechtspopulistisch klassifizierte Organisationen veranstalten vaterländische Spaziergänge. Wollen die Regierenden am Galgen sehen. Sie zünden weiterhin Flüchtlingsunterkünfte an und grölen sich bei den hypertonischen Konzerten mit Stahlgewitter, TreueOrden oder Blutzeugen ihre Naziseele aus dem Leibe. Und wir geben seit siebzig Jahren jeden 9. November im Bundestag ein ›Nie wieder‹ zum Besten. Und das Ergebnis? Aufs Neue sitzt eine Nazipartei in deutschen Parlamenten und scheißt auf das kollektive Erinnern! Das, Verehrtester, das ist die gallebittere Wahrheit.«
Mahnke nimmt seine Brille ab, schließt die Augen und reibt sich mit beiden Zeigefingern die Nasenwurzel. »Berger, ich verstehe ja Ihren Unmut. Aber es war eben nicht so wie in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen oder wie in Mölln. Laut Pressestelle der sächsischen Landesregierung, Sie haben es ja eben erwähnt, war es eine Gasexplosion im Keller einer Bar. Nicht mehr und nicht weniger! Kein Anschlag! Gut, wir haben uns auf die Aussage der Pressestelle verlassen. Wir haben nicht nachgehakt! Das war unser Fehler! Wir waren zu besoffen davon, über Geschichte zu schreiben. Unser großes Thema war die Vereinigung von Ost- und Westdeutschland. Und danach das Auseinanderdriften beider deutscher Staaten. Der Bürger, hüben wie drüben, wollte die Mauer zurück, sie noch höher wiederaufbauen, davor einen breiten Wassergraben ziehen – und Krokodile rein. Das war nach fünf Jahren Wiedervereinigung von dem Jubel geblieben! Dazu kam der Zerfall des Ostblocks. Was interessierte uns da eine Gasexplosion in einer sächsischen Schwulenbar? Das war im Höchstfall einen Splitter wert.«
***
Hans Mahnke und ich – zwei Freunde, die sich mit ihrem Nachnamen anredeten. Die trotz großer Vertrautheit bei dem förmlichen Sie geblieben waren. Nach dem tödlichen Anschlag auf Eddys Theaterbar wollte ich kein Du, keine Nähe, keine Freundschaften mehr. Die Distanz schützte mich vor einem weiteren Verlust, nahm mir die Angst vor der vermeintlichen Gewissheit, dass ich die Person verliere, zu der ich eine Bindung aufbauen würde. Freunde gab es für mich nur noch auf alten Fotos in meinem Büro, gerahmt und an der Wand hängend.
»In Ordnung«, meinte Mahnke lapidar, als ich sein angebotenes Du mit dieser Begründung ablehnte. Es sei zwar nicht einleuchtend, denn eine innere Verbundenheit bleibe eine innere Verbundenheit, ob nun mit einem Sie oder einem Du. Er verstand mich dennoch und akzeptierte es.
***
Mahnke wirkt auf mich nervös. Sein Besuch sei nur ein kurzes Vorbeischauen bei einem Freund, wie er mir weismachen will. Doch ich bin sicher, den altgewordenen Chefredakteur eines politischen Magazins bedrückt etwas. Aber was? Entweder er rückt jetzt damit raus oder ich werde deutlich.
Mit einem Schulterzucken, das wohl Resignation ausdrücken soll, setzt er sich. »Deutschland ist ein anderes Land geworden, Berger. Seit dieser Pseudologe die USA regiert, hat sich die Welt sichtbar nachteilig geändert – mit verhängnisvollen Auswirkungen.«
»Dann schreiben Sie darüber, Mahnke, und klagen Sie nicht nur. Sehen Sie hier.« Ich setze meine Brille auf, nehme Das Journal von meinem Schreibtisch, blättere in ihm, zeige auf eine Kolumne und lese eine kurze Passage daraus vor: »Welch eine Pointe der Geschichte, den Deutschen fällt jetzt die Aufgabe zu, dem Faschismus die Stirn zu bieten und den neuen Führer im Weißen Haus niederzuringen.«
Ich lege das Heft zurück auf den Schreibtisch, nehme meine Brille ab und sehe Mahnke an. In diesem Augenblick ahne ich, was er will. »Mahnke, Sie haben die Absicht, einen alten Hut wieder aufzudämpfen? Mann, Sie kennen doch meine Einstellung: Pilzgerichte und etwas Vergangenes sollte man nicht aufwärmen. Geschehen hat keine Umkehr, auch wenn man noch so viel darüber quatscht!«
Er lacht. »Nicht gleich schäumen, Berger. Ich möchte dieses Mal nicht eine von Ihren Geschichten, ich möchte Ihre Unterstützung! Ein Korrespondent in Rio de Janeiro bittet Sie über mich, ihm bei einem Nachruf zu helfen!«
»Bei einem Nachruf?«
Ungläubig sieht mich Mahnke an. »Sie wissen es nicht?«
»Was? Was soll ich nicht wissen?«, frage ich Mahnke etwas genervt.
»Frau Doktor Wohlert-Neuss wurde ermordet. Die brasilianischen Behörden haben in einer Pressekonferenz mitgeteilt, dass sie am vorigen Mittwoch im Badezimmer ihrer Wohnung in Rio tot aufgefunden wurde.«
»Ermordet?«
»Ja. Haben Sie das denn nicht gelesen, Berger? Das stand doch in jeder Dorfpostille.«
»Emmi und ich waren in der Türkei, das Wetter war hier so …«
»Berger, was ist mit Ihnen …?«
Ich halte mich am Schreibtisch fest. Plötzlich ist das Einst wieder da! Der Anschlag, die Bilder, die Trauer um unsere Freunde und diese Wut und Hilflosigkeit, aber auch die Pressekonferenz aus dem Jahr 2003. Ich muss mich setzen. Emmi und ich hatten seit einigen Jahren keinen Kontakt mehr zu Eva … Also in Rio de Janeiro hat sie ihre letzten Jahre verbracht. Hat also auch die Jesusstatue, die auf dem Corcovado hoch über Rio de Janeiro thront, Eva nicht beschützen können? Tinnef, würde sie sagen, könnte sie jetzt meine Gedanken lesen. Ich habe sie und ihr Tinnef immer vermisst. Tinnef war ihr Lieblingswort. Das passte zu dieser Frau, die immer wusste, was sie wollte, und vor allem, was nicht. Ihr typischer Galgenhumor machte ihr das Leben nach dem Anschlag erträglich. Doch ihre wahre Größe verdankt sie zwei schlichten Eigenschaften: Anstand und Haltung. Der Anschlag von 1995 hatte sie in einen Zustand sprachlosen Entsetzens, in eine stumme abgrundtiefe Betrübnis gestürzt. Sie war die Einzige von unseren Freunden, die den Anschlag überlebt hatte – traumatisiert und mit schweren Verletzungen im Gesicht. Sie war eine Frau, mit der ich mich auf eine Weise unterhalten konnte, wie es nur unter besten Freunden möglich ist. Aber sie konnte nicht loslassen. Sie hatte durch Reinhardt leiden müssen. Hatte Luisa, ihre große Liebe, und ihren besten Freund, Matthias Hansen, bei dem Anschlag verloren. Sie verachtete Reinhardt zutiefst.
Das Glas Wasser, das mir Mahnke reicht, tut gut. Ich stehe wieder fest auf meinen Beinen und mit Mahnke vor seinem alten Renault.
»Überlegen Sie es sich, Berger! Ich stehe Ihnen da gern mit Rat und Tat zur Seite. Der Nachruf von einem Freund geschrieben hätte eine ganz andere Qualität.« Mahnke legt seine Hand auf meinen Arm. Erfreut, dass es mir wieder besser geht, verabschiedet er sich und steigt in seinen Wagen, schließt die Tür, lässt den Motor an und winkt noch einmal. Dann fährt er Richtung Elbdeich.
***