Der Mann, der unter der Brücke saß und Handharmonika spielte - Manfred Liedtke - E-Book

Der Mann, der unter der Brücke saß und Handharmonika spielte E-Book

Manfred Liedtke

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Beschreibung

Das Schicksal behält immer Recht, auch wo es scheinbar Unrecht tut. (Stefan Zweig) ... Taten und Worte ... Manchmal heilsam beides, mitunter zerstörend. Henriette von Flint, bekannte Violinistin, erlebt es. Eine Tat, nur acht Minuten während, zerstört ihre Ehe. Ein Roman, im Nachlass ihres Vaters entdeckt, hält Einzug in ihrem Leben. Vergessen wird er sein, und auftauchen im glücklichsten Moment ... Die Liebe, stets von Taten und Worten begleitet, begegnet Henriette aufs Neue und gänzlich unerwartet. Sie trifft Jean-Marc - jung, schön, talentiert -, glaubt den Worten nicht, zweifelt, und doch lässt sie sich hineinfallen in dieses Gefühl, begleitet von seiner, von ihrer Musik. Und dann die Worte, eine Frage, die alles ins Chaos stürzt: »Mein Gott, dann ist Jakob Ihr Vater?«

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Manfred Liedtke

Der Mann, der unter der Brücke saß und Handharmonika spielte

Erzählung

1. Auflage 2016

tredition GmbH, Hamburg

Dezember 2016

978-3-7345-8423-7 (Paperback)

978-3-7345-8425-1 (e-Book)

Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten

© 2016 Manfred Liedtke

Umschlag: Simone Söndgen • [email protected]

Coverbild: Simone Söndgen • [email protected]

Redaktion und Satz: Ulrike Rücker • [email protected]

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

»Wer sich Ziele setzt, geht am Zufall vorbei.«

(Stefan Zweig)

PROLOG

Und wieder hielt sie ihn in der Hand, den Roman ›Ungeduld des Herzen‹, die einzige nichtwissenschaftliche Publikation im Nachlass ihres Vaters, die sie mit allen anderen Büchern dem Antiquariat Gero von Puttkammer überantwortet hatte. Der Roman war retourniert worden, da er auf der Widmungsseite eine sehr persönliche Zueignung enthielt.

Erstaunlich: Ihr Vater hatte sie selbst hineingeschrieben; die zweite Strophe des Gedichts ›Eine verliebte Ballade für ein Mädchen namens Yssabeau‹ von François Villon.

Im tiefen Erdbeertal, im schwarzen Haar,

da schlief ich manches Sommerjahr

bei dir und schlief doch nie zu viel.

Ich habe jetzt ein rotes Tier im Blut,

das macht mir wieder frohen Mut.

Komm her, ich weiß ein schönes Spiel

im dunklen Tal, im Muschelgrund ...

Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund!

Fraglos ein Novum. Ihr Vater, der sich so gar nicht für Unterhaltungsliteratur interessierte – »Sachbuch ja, Belletristik nein«, pflegte er stets zu sagen –, war offenbar für die Liebe über den Schatten seines literarischen Geschmacks gesprungen. Auch erstaunte sie, warum der Roman im Bücherschrank ihres Vaters stand und nicht etwa in einer französischen Etagere. Nun aber, nach Begutachtung der Widmung und so, wie Henriette sie begriff, handelte es sich wohl um eine Amour fou zwischen ihrem Vater und einer Französin. Datiert war das Ganze mit ›Paris, 30. Juli 1963‹, und endete mit einem ›Je t'aime ma petite chérie – Jakob‹.

In Eile hatte Henriette den Roman zu den Erinnerungsstücken in einen der Umzugskartons geworfen. Ihr wurde die Zeit knapp, denn zwischen der Auflösung des väterlichen Haushalts in Köln und dem Abflug zu einer Konzertreihe in Argentinien blieb ihr nur ein Tag. Henriette, die erste Geige in einem Rundfunksymphonieorchester, wollte diesen Tag mit Paul in Warschau verbringen. Paul, Dirigent und Henriettes Ehemann, dessen gutes Aussehen mehr Auffallen erregte, als sein kompositorisches Talent, hatte eine vorübergehende Verpflichtung an der Opera Narodowa.

VIER JAHRE SPÄTER

Während ihr Vater neben dem Grab ihrer Mutter in einem stilvoll bepflanzten und von Gärtnern gepflegten Grab auf dem Kölner Melaten-Friedhof seine letzte Ruhestätte gefunden hatte, waren Henriette und Paul von Köln-Lindenthal nach Hamburg gezogen. Der Karton mit all den Erinnerungen an ihren Vater lagerte seitdem ungeöffnet im Keller ihres Hauses in Hamburg-Uhlenhorst. Der Roman war vergessen. So auch das Rundfunksinfonieorchester, das Henriette bald nach ihrem Umzug verlassen hatte. Sie startete eine – nicht nur von Paul – beneidete Solokarriere. Paul, inzwischen Dirigent eines bekannten norddeutschen Sinfonieorchesters und nur noch auf dem Papier Henriettes Ehemann, hatte sich aus ihrer Liebe zu einander verabschiedet. Formvollendet, jedoch unbeugsam, hatte Paul sie gebeten, das Haus im Uhlenhorst zu verlassen. Sie hatte Pauls Entrüstung damals nicht verstanden. Er selbst kein schillerndes Beispiel ehelicher Treue, konnte Henriette die acht Minuten ihres Lebens nicht verzeihen. Acht Minuten, in denen ihr ein Flötist in der Toilette eines Flugzeugs das Fliegen verschönert hatte. Trotz seines eigenen Hangs zu One-Night-Stands konnte Paul nicht nachvollziehen, dass eine Konzertgeigerin, ansonsten nur der hehren Klangwelt verpflichtet, auch einmal ungezügelte Lust überfiel – und das auch noch in einer Flugmaschine.

Da saß sie nun in ihrer neuen Wohnung zwischen Umzugskartons, eine gut aussehende dreiunddreißigjährige, mit Musikpreisen ausgezeichnete Star-Geigerin, und dachte an Paul. Paul war ihr großes Frühlingserwachen gewesen – und jetzt? Vor ein paar Tagen war sie seiner Einladung zum Essen gefolgt, um die Scheidung mit ihm zu besprechen. »Warum dieser One-Flight-Stand, Henriette, warum gerade dieser Flötenspieler?«, hatte er sie gefragt. Sie war cool geblieben. »Wir waren eben in Stimmung«, war ihre Antwort gewesen, doch sein Blick hatte weiter Unverständnis gezeigt. »Mensch, Paul, er saß neben mir und seine Begeisterung für mich war ebenso wenig zu übersehen wie deine für Chiara Ferro, dieser italienischen Opernsängerin.« Nach Pauls Antwort: »Männer sind eben so, Männer müssen jagen«, hatte sie ihn angelächelt, sich erhoben, ihm die Serviette ins Gesicht geworfen und das Restaurant verlassen.

Rien ne va plus – außer einem guten Essen. Eine Floskel, der sich Henriette bediente, wenn ihr Leben aus dem Ruder lief – und das tat es zurzeit gewaltig. Reden mit Cesare und Völlerei, das war es, was sie jetzt brauchte. Lachend schlüpfte sie in ihre Sneakers, band sich ihr Haar zu einem Pferdeschwanz, prüfte auf dem Balkon die Außentemperatur. Beschloss, ihre Jacke dort hängen zu lassen, wo sie hing und fuhr durch die laue Sommernacht, ins La Strada, einem italienischen Restaurant in der Nähe des Hamburger Fischmarkts.

Es war keines jener Etablissements, in dem sich das maskuline Personal Antonio nennen lässt und der Wirt, ein Nichtitaliener mit norddeutschem Akzent, älteren Damen »Ciao bella« ins Ohr säuselte. Das La Strada war die Verkörperung sizilianischer Ursprünglichkeit und seit Jahren die Reparaturwerkstatt für Henriettes Seelenleben. Nicht nur die exzellente Cucina povera, der hervorragende Nero d’Avola, auch ihr Freund Cesare, der sizilianische Wirt, machte das La Strada für Henriette zu etwas Besonderem.

Begegnete man Cesare zum ersten Mal, dachte man zwangsläufig an die sizilianische Mafia. Cesare sieht nicht nur aus wie Marlon Brando als Don Vito Corleone in ›The Godfather‹, er benimmt sich auch so – »zum eigenen Vergnügen«, sagt er. Es gab reichlich Mutmaßungen nach der Eröffnung des Restaurants. Hauptsächlich über Cesares Flüge in die Mafiametropole Palermo. Doch als sich herausstellte, dass Cesare schwul ist, war es vorbei mit den Gerüchten, denn einen schwulen Mafioso konnte sich Hamburgs feine Gesellschaft einfach nicht vorstellen. Die Flüge nach Palermo blieben, das Gerede verstummte und Cesares La Strada wurde zum angesagtesten ›Italiener‹ der Hamburger High Society.

AUF ZU CESARE

Sie dachte an Paul. Nun vermiss ich diesen Scheißkerl auch noch, ärgerte sich Henriette, als sie auf dem Weg zu Cesare vom Klosterstern in die Rothenbaum-Chaussee einbog und dabei ihre Wut so kräftig an dem Gaspedal ihres Oldtimers ausließ, dass sie am U-Bahnhof Hallerstrasse von einem Peterwagen gestoppt wurde. »Sind Sie auf der Flucht?« Dämlicher geht’s nicht, dachte Henriette, reichte dem Beamten die verlangten Papiere und sagte: »Ich habe mein Pensum heute schon abgelacht, Herr Wachtmeister!«

Er lächelt sie an. »Gut, dann kommen wir doch gleich zum ernsten Teil.«

»Darum möchte ich Sie auch dringend bitten!«

»Haben Sie Alkohol getrunken?«

»Ich komme nicht von einem Besäufnis, ich fahre zu einem!«

»Ja, gnädige Frau, wer seinen Kummer fleißig begießt, dem gedeiht er auch ... Also, die Geschwindigkeitsüberschreitung von 20 km/h bei Erstmaligkeit kostet Sie 70 Euro.« Noch im Sprechen füllte er den Strafzettel aus und reichte ihn ihr samt der Papiere. »Und schon sind wir fertig. Dann noch einen gedeihlichen Abend.«

»Danke, den werde ich haben, Herr Wachtmeister.«

»Polizeihauptwachtmeister, bitte! Und immer schön dran danken: Die größte Gefahr im Straßenverkehr ist ein Auto, das schneller fährt, als seine Fahrerin denken kann.«

»Sie sind ja ein Quell an Weisheit! Darf ich Sie nach Ihrem Namen fragen, Polizei-Haupt-Wacht-Meister?«

Schmunzelnd reichte er ihr seine Karte.

»Ihr Vorname ist Paul?« Henriette besah sich den Polizisten prüfend, als würde sie ihn mit dem altvertrauten abgleichen, und lachte unvermittelt laut auf. Und lachend fragte sie ihn: »Kann ich jetzt weiterfahren?«

»Natürlich!« Er tippte mit dem rechten Zeigefinger kurz an seine Schirmmütze und wünschte ihr gute Fahrt.

Oh mein Gott, dachte sie und startete ihren Mercedes 190SL. Sie hätte diesem Sprücheklopfer gerne noch den Stinkefinger gezeigt, doch sie hatte nicht das geringste Verlangen, von ihm ein zweites Mal angehalten zu werden. Jetzt brauche ich meinen Mendelssohn, beschloss sie und fuhr kurz hinter der Hartungstraße in eine Parkbucht. Sie suchte, fand und schob sie in den Player, die CD mit dem Violinenkonzert in e-Moll op.64. Kein Musikstück konnte Henriette so mit Sanftmut erfüllen wie dieses – und sanftmütig wollte sie sein, wenn sie das La Strada betrat und Cesare umarmte.

Sie drehte die Lautstärke etwas auf. Das Allegro molto vivace liebte sie. Zufrieden mit sich fuhr sie den Gorch-Fock-Wall hoch und pfiff auf alle Pauls dieser Welt.

Erstaunt sahen die letzten Konzertbesucher, die aus der Laeiszhalle kamen, dem roten Sportwagen hinterher. Zwei ältere Damen, untergehakt, blieben stehen. »Mendelssohn«, sagte die eine. »Wie schön«, sagte die andere und zeigte auf den Vollmond, der über Planten un Blomen stand. Sie hakte sich noch etwas fester bei ihrer Freundin ein. »Was für ein wunderschöner Abend!«

DER KLATSCH

Ab Frühjahr bis in den Herbst hinein betreibt Cesare für den gehobenen Touristen eine Außengastronomie, ausgestattet mit exklusiven Outdoor-Lounge-Möbeln und beheizbaren Sonnenschirmen. Die tourende Provinz-Snobiety lässt sich hier gern einmal bei Kaffee und Kuchen mit dem Smartphone fotografieren, um das so entstandene Bild umgehend an ›liebe Freunde‹ zu versenden. Was, wohlgemerkt, der hanseatischen Gediegenheit durchaus widerspricht, denn: Hamburgs Upperclass speist nicht outside, weder bei Tage noch am Abend. Hamburgs Upperclass diniert in wohltemperierten Räumen an reservierten Tischen. Obwohl der eine oder andere ehrwürdige Hamburger Kaufmann, auf Wunsch seiner Geschäftsfreunde, den Salat schon mal sommers unter Cesares Sonnenschirmen verspeist, bleibt es dann dennoch hanseatisch gediegen beim Vornamen und Sie – dem sogenannten Hamburger DU.

Sollte George Clooney mit seiner Entourage bei Cesare auftauchen, er würde das La Strada traumatisiert verlassen. Die Damen der ehrwürdigen Senatoren, Kaufleute, Schiffsmakler, Banker und Reeder würden ihm keine Beachtung schenken. Hanseatische Gediegenheit zeigt keine Neugier in der Öffentlichkeit – dafür umso mehr im Privaten. In ihrer Beauty-Welt, im Golfklub oder beim Tennis gilt uneingeschränkt das Gegenteil. Ohne Neugier ist das Leben nicht lebenswert, und Klatsch, bis hin zur Intrige, ist ein Laster, das erfreut.

Paul wäre von Henriettes Treiben über dem Atlantik ahnungslos geblieben, hätte er sich nicht eine Gesichtspackung bei Make & Up, Hamburgs Top-Werkstatt für Body-Renovierungen, auflegen lassen.

Henriette ähnelte nicht nur der Schauspielerin und ehemaligen Kommissarin aus dem Frankfurter Tatort, Nina Kunzendorf, Henriette verhielt sich auch wie diese Kommissarin. Zu burschikos für die jungen, zu unworthy