GOTTES KINO - R. A. Bartonek - E-Book

GOTTES KINO E-Book

R. A. Bartonek

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Beschreibung

Kann eine technische Erfindung zur Gefahr für die Menschheit werden?

Finanziert vom Milliardär Bent Miller ist unter der Leitung von Prof. Arno Rotter mit der Dicken Berta am Institut für Virtuelle Physik eine Teilchenanlage entstanden, die es ermöglichen soll, eine fremde Dimension zu öffnen. Die meisten Wissenschaftler, allen voran Rotter, wollen diese Öffnung nur im ungefährlichen subatomaren Bereich wagen. Es geht ihnen ausschließlich um den Nachweis der Existenz solcher Dimensionen, um die Vervollkommnung des physikalischen Weltbildes.

Miller jedoch ist das zu wenig.

Er hat nicht viele Millionen in die Anlage investiert, nur um dann die Abbildung von ein paar subatomaren Spuren auf einem Computer zu sehen. Vielmehr möchte er wenigstens einen Blick in die fremde Welt werfen. Insgeheim hofft er sogar, etwas von Gottes Reich zu sehen: Gottes Ort, davon ist er überzeugt, kann nur in einer anderen Dimension liegen...

 

Gottes Kino ist ein epischer Science-Fiction-Roman aus der Feder des deutschen Schriftstellers R. A. Bartonek (Jahrgang 1946).

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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R. A. BARTONEK

 

 

GOTTES KINO

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Der Romankiosk

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

GOTTES KINO 

Vorangestellter Epilog 

ERSTES BUCH: Die Zauberer 

ZWEITES BUCH: Reinkarnation 

Das Buch

 

 

Kann eine technische Erfindung zur Gefahr für die Menschheit werden?

Finanziert vom Milliardär Bent Miller ist unter der Leitung von Prof. Arno Rotter mit der Dicken Berta am Institut für Virtuelle Physik eine Teilchenanlage entstanden, die es ermöglichen soll, eine fremde Dimension zu öffnen. Die meisten Wissenschaftler, allen voran Rotter, wollen diese Öffnung nur im ungefährlichen subatomaren Bereich wagen. Es geht ihnen ausschließlich um den Nachweis der Existenz solcher Dimensionen, um die Vervollkommnung des physikalischen Weltbildes.

Miller jedoch ist das zu wenig.

Er hat nicht viele Millionen in die Anlage investiert, nur um dann die Abbildung von ein paar subatomaren Spuren auf einem Computer zu sehen. Vielmehr möchte er wenigstens einen Blick in die fremde Welt werfen. Insgeheim hofft er sogar, etwas von Gottes Reich zu sehen: Gottes Ort, davon ist er überzeugt, kann nur in einer anderen Dimension liegen...

 

Gottes Kino ist ein epischer Science-Fiction-Roman aus der Feder des deutschen Schriftstellers R. A. Bartonek (Jahrgang 1946). 

GOTTES KINO

 

  Vorangestellter Epilog

 

 

Als Tim die Augen öffnete, lag er neben seinem Fahrrad. Das linke Knie war zerschrammt, am Kopf klaffte eine blutende Wunde, der linke Arm zeigte bis zum Ellbogen Abschürfungen. Glücklicherweise schien nichts gebrochen. Am Fahrrad stand der Lenker schief, ein Teil des vorderen Schutzblechs hob sich verbeult zur Seite, der Sattel hatte sich verdreht. Tim richtete sich auf und drückte zwei, drei Minuten lang sein Taschentuch gegen die Schläfe. Dann zog er das Rad hoch und lehnte es gegen einen Baum. Er befand sich im Park, nicht weit entfernt von der Villa seines reichen Großvaters, dem auch das  Institut für Virtuelle Physik gehörte.

Es war nicht der erste Sturz des 13-Jährigen mit dem Fahrrad. Aber bislang wusste er danach immer, woran es gelegen hatte. Mal schwang er sich zu waghalsig in die Kurve, mal rutschte ihm das Vorderrad auf nassem Laub  weg, mal stieß er im Wald bei halsbrecherischem Tempo gegen eine Wurzel und flog über den Lenker. Doch merkwürdig - heute vermochte er nicht, sich an irgendetwas zu erinnern. Dafür schmerzte der Kopf wie verrückt.

Ein Blick auf die Armbanduhr sagte ihm, dass er zu dieser Vormittagsstunde eigentlich in der Schule sein müsste. Dort heimste seine kluge und fleißige Freundin Tina, die immer so viel wusste,  bestimmt gerade wieder ein Lob der Lehrerin ein. Oder war heute Sonntag? Wann war er losgefahren und mit welchem Ziel? Tim ängstigte die Leere in seinem Kopf, was zum Teufel war los mit seinem Gedächtnis? Nach einigen Versuchen, das Fahrrad zu richten, gab er es auf. Er schob es  in ein  Gebüsch und machte sich zu Fuß auf nach Hause.

Der Park war seltsam menschenleer. Nur in der Ferne liefen einige Personen, deren Aussehen ihm komisch vorkam. Von weitem wirkten ihre Köpfe spitz wie Mohrrüben, aber das lag vermutlich an kegelförmigen Hüten. Kamen die jetzt in Mode? Oder war gerade Karneval? Tim rieb sich die Stirn in der Hoffnung, seine Erinnerung zurückzugewinnen - vergebens. Jetzt blinkten die Arme dieser Leute in der Sonne wie Messer. Und einer der Büsche am anderen Ende des Parks bewegte seine Äste. Aber nein, das waren Beine, die aus dem dichten Gewächs herausragten. Welches Tier besaß solche nach vorn geknickten Beine, die, soweit Tim es aus dieser Entfernung zu erkennen vermochte, lang behaart waren? Ihm fielen Spinnen ein, doch waren die viel, viel kleiner, er konnte niemals von hier aus am anderen Ende des kleinen Parks eine Spinne erkennen.  

Das Problem musste im Kopf liegen. Der Sturz hatte wohl sein Gehirn mächtig durcheinander gerüttelt. Was er sah waren Halluzinationen. Ganz sicher. Was sollte es denn sonst sein? Immerhin wusste er Großvaters Villa ganz in der Nähe. Großvater würde sofort einen Arzt rufen, damit er die komischen Wesen vertreibe und Tims Gedächtnis wieder auf den richtigen Stand bringe. Der Junge machte sich auf den Weg. Als er sich noch einmal umdrehte, sah er, wie die Mohrrüben ihm nachschauten. Warum beobachteten sie ihn? Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie  über ihn lachten. Welch ein Unsinn! O, dieses verdammte Gehirn.   

Warum ließ es manches im Dunkeln und anderes nicht? Sein Gedächtnis wies zwar  Lücken auf, aber eben nur Lücken. Die Villa, Großvater, Tina, die Schule - das alles befand sich unversehrt in seinem Speicher. Er erinnerte sich sogar an einen Besuch im Fußballstadion. Ein gefoulter Spieler wurde vom Platz getragen. Hinterher hieß es, er liege mit einer schweren Gehirnerschütterung im Krankenhaus und könne sich an das Geschehen auf dem Rasen nicht erinnern.  Eine Gehirnerschütterung, so etwas musste es auch bei ihm sein, dachte Tim.

Nach 20 Minuten erreichte er das von einer Mauer umgebene riesige Grundstück seines Großvaters. Er wohnte schon lange bei ihm. Seine Eltern kannte er nur von Fotos. Er war erst ein Jahr alt, als sie ihre Leidenschaft, das Bergsteigen, mit dem Leben bezahlten. Eine Steinlawine riss beide in die Tiefe.  Der Großvater, Bent Miller, nahm den Jungen zu sich, schenkte ihm Liebe und Geborgenheit. Nach dem frühen Tod des Sohnes und der Schwiegertochter konzentrierte er seine ganze Fürsorge auf den Enkel. Nie kam es ihm in den Sinn, den Knaben fortzuschicken auf ein Elite-Internat, obwohl er zu den Reichsten der Reichen im Land zählte. Miller kannte genug  Fälle aus der vermögenden Elite, bei denen die Weggabe der Kinder einher ging mit großer Entfremdung.  Derlei mochte er nicht erleben.

So liebevoll er sich seinem Enkel widmete, so grantig konnte er sich Mitarbeitern gegenüber verhalten. Manchen galt er sogar als ausgesprochenes Ekel. Freundlichkeit macht nicht reich, lautete einer seiner Leitsätze. Im Privaten jedoch benahm er sich anders, suchte  Nähe und Wärme. Und wo sollte er die finden, wenn nicht bei Tim? Einzig der war ihm geblieben. Es bereitete ihm Freude, dem Knaben Wünsche zu erfüllen, aber er ging nicht auf jede Forderung ein. Der Alte besaß genug Weisheit, vor allem das wichtigste Bedürfnis eines Kindes zu befriedigen, das der Zuwendung und des Gesprächs. In dieser Hinsicht unterschied er sich von anderen Geldleuten, welche die Erziehung ihrer Kinder gern fremden Personen übertrugen.

Millers Vermögen wurde auf mehr als 100 Milliarden Euro geschätzt. Er glaubte an drei Dinge: Geld, Gott und die Wissenschaft, vielleicht auch an die Wissenschaft, Gott und Geld. Die Reihenfolge war Tim nie ganz klar geworden, allerdings interessierte ihn das wenig. Für ihn war Großvater der Gott und ein ebenso strenger wie großzügig liebevoller Halt.

Natürlich genoss der Knabe die nahezu unbegrenzten finanziellen Möglichkeiten, die ihm das Gefühl gaben, aus einer ganz besonderen Familie zu stammen. Er erlebte, wie andere vor Großvater buckelten, er trug teure Sachen namhafter Designer, besaß die leistungsstärksten Handys und Computer, und das nun kaputte Fahrrad hatte an die 3000 Euro gekostet. Wenn andere in den Ferien mit ihren Eltern campen fuhren, führte ihn die Urlaubsreise mit Großvaters Privatjet in die Südsee, nach Afrika oder Australien. In der Schule brachte ihm das nicht nur Freunde, sondern ebenso viele Neider ein. Auch der schönen Tina galt er lange Zeit nur als überheblicher Angeber.

Miller wusste um diese Gefahren für seinen Enkel, und er achtete sorgsam darauf, dass Tim sie nicht verstärkte, indem er etwa als Prahlhans abhob, Klassenkameraden mit Geld und  Geschenken zu beeindrucken suchte.  Über Geld spricht man nicht, Geld hat man, lautete eine seiner spöttischen Maxime. Deshalb wollte er nicht, dass sein Enkel andere mit in die Villa brachte. »Was die nicht haben, brauchen sie auch nicht zu sehen«, sagte er.   

Tim erreichte das große doppelflügelige Tor, welches im Verbund mit der Mauer Passanten den Blick auf die Villa und den sie umgebenden  Park versperrte. Gleich war er zu Hause, gleich würde Großvater einen Arzt rufen, damit der die Wunden versorgt und die Gehirnerschütterung behandelt. Wegen des Sturzes würde er ihm eher anerkennend als tadelnd mit dem Zeigefinger drohen. Denn der Alte hielt viel davon, wenn ein Junge etwas riskierte. »Feiglinge werden keine Männer«, pflegte er zu sagen.  Tim gefiel diese robuste Art der Zuneigung. Er würde keinen Ärger wegen des kaputten Fahrrades bekommen, er freute sich auf ein leckeres Mittagessen und den fast schon obligatorischen Eisbecher als Nachspeise. Was für ein Glück, solch einen Großvater zu haben.

Er klingelte, das Tor öffnete sich.

»Was willst du!?«, knurrte der Kerl am Portal schroff. »Hier wird nicht gebettelt.«

Tim staunte über so viel Dreistigkeit des Mannes  im Livree der Bediensteten seines Großvaters.  

»Sie sind wohl neu hier!«, schimpfte er. »Sonst wüssten Sie, wer ich bin und würden mir höflich begegnen. Hat man Ihnen das nicht beigebracht?«   

»Jetzt wirst du auch noch frech, Rotzlümmel!«, erregte sich der Wächter. »Mach dass du fortkommst, verdammte Göre!«

»Eher wird Großvater dich davonjagen.  Ich wohne hier.«

Der Kerl lachte. »Ganz bestimmt nicht. Und nun hau endlich ab, ehe ich handgreiflich werde.«

»Ich denke nicht daran, du wirst jetzt meinen Großvater anrufen. Und zwar schnell. Ein Wort von mir - und du fliegst.« In seiner Wut hielt es Tim nicht mehr für nötig, den Mann zu siezen.

»Wie heißt denn dein Großvater?«, kicherte der böse.

»Das müsstest du eigentlich wissen: Bent Miller. Dem gehört hier alles, der hat hier zu bestimmen - nicht du.«

»Bent Miller? Hast du wirklich gesagt: Bent Miller? Der reiche Sack, der so viel Unheil angerichtet hat? Den gibt es schon lange nicht mehr, bestimmt an die 100 Jahre. Da musst du dir eine andere Lügengeschichte ausdenken. Du willst doch bloß hier rein und was klauen. Scher dich zum Teufel!«

Tim verspürte einen kräftigen Tritt in seinem Hintern, das Tor schloss sich. Verwirrt stand er vor dem Anwesen, in dem er noch vor wenigen Minuten sein glückliches Zuhause gesehen hatte. Es fühlte sich an wie ein Sturz ins Bodenlose, denn er ahnte  plötzlich, dass er Großvater nie wieder begegnen würde. Ihm kamen die Tränen, ein heftiger Schmerz  schnürte ihm die Kehle zu. Es dunkelte, obwohl nach seiner Uhr bis zum Abend noch sechs bis acht Stunden Zeit blieben. Ein riesiger Planet, viel mächtiger als der eigene, tauchte am Horizont auf, stieg immer höher und schob sich vor die Sonne.

Unter anderen Umständen hätte Tim das großartige Himmelsschauspiel bewundert. Nun aber erfüllte es ihn mit Schrecken, denn die Welt, die er seine Heimat nannte, kreiste um keinen solchen Großplaneten. Von einem Jupitermond aus ließe sich wahrscheinlich solch ein  kosmisches Wunder  verfolgen, aber nicht von der Erde. Wo zum Teufel befand er sich?

Das Bild des Planeten erschreckte ihn so sehr, dass es Klick machte in seinem Kopf: Die Erinnerung kehrte zurück. Er war heute überhaupt nicht mit dem Fahrrad gefahren, er war nur daneben aufgewacht. Das zerbeulte Gefährt, den frechen  Wächter am Tor und die Spitzköpfe im Park - all das waren Zeichen seiner Verurteilung. Diese Welt hier hatte nichts mit der Erde zu tun. Denn dorthin durfte er niemals zurück. Niemals durfte ein Mensch erfahren, was er, Tim, gesehen hatte. Deshalb war er zum Tode verurteilt. Es war wohl die Rache der bösen Gedanken, die ihm am Ende seiner gefährlichen Reise noch einmal sein einstiges Zuhause vorgaukelten, ein Zuhause, das es gar nicht mehr geben konnte.  Sie spielten mit ihm, sie hatten ihn hier abgesetzt,  hielten ihm  Großvaters Anwesen vor die Nase und beobachteten, wie er reagierte. Wahrscheinlich hatte sie der Tritt in seinen Hintern ungemein erheitert. Ob sein einstiger Helfer, der Gedanke Max, auch lachte?

Es gab also keine Rückkehr auf die Erde! Tim würde den Ort, an dem er sich befand, niemals bestimmen können, vielleicht existierte dieses Land nicht einmal wirklich. Mit dergleichem Schwindel kannte er sich inzwischen aus. Schon einmal, in einer unerreichbaren Ferne, war ihm Großvaters Villa vor die Nase gesetzt worden. Aber selbst wenn der Ort hier eine Fiktion war, so musste Tim trotz allem hier sterben,  damit er endlich den Weg ging, der jedem Leben vorbestimmt war. Leider wusste er nur zu gut, dass dieser Weg ihn nicht zusammenführen würde mit geliebten Menschen, die ihm vorausgegangen waren. Er würde weder Tina noch seinem Großvater jemals wieder begegnen. Und er würde auch seine Eltern nicht kennenlernen.

Mit dem Planeten, der sich zunehmend höher schob,  kam starker Wind auf, der sich zum Sturm erhob. Die Bäume bogen sich gespenstisch, bald wirbelten Staub und Blätter, bald sogar Äste durch die Luft, Blitze zerfurchten den Himmel, es donnerte gewaltig,  sintflutartig stürzte der Regen herab. Tim war völlig durchnässt und fror erbärmlich. Wahrscheinlich ist es ein Blitz, der das Ende bringt, vermutete er. Seine Angst vor solch einem gewaltigen Stromschlag war groß, er wünschte sich einen sanfteren Tod.  Eine Böe brach das große Tor auf, vom Wächter war nichts mehr zu sehen.

Tim wollte die Chance nutzen, einen Unterschlupf vor der tobenden Natur zu finden. Er kannte sich aus in der Villa. Auch wenn diese mit Sicherheit nur eine Kopie des  Gebäudes war, so glich es doch dem ihm vertrauten zumindest äußerlich in allen Details. Er rannte, darin Schutz zu suchen. Vielleicht nahm die Kopie ihn auf, vielleicht fand sich sogar etwas Essbares. Tim hastete durch den Park auf die Villa zu. Er rannte und rannte, aber er kam ihr nicht näher. Immer wieder, wie auf einem Laufband, tat sich neuer Boden vor ihm auf.

Er vernahm zwischen dem Donnern ein lautes, höhnisches Gelächter. Dann wuchs das Gebäude  in die Höhe und Breite, es verlor seine Konturen und nahm die Form eines Wellenberges an, dessen Kamm bald einen Kilometer oder sogar noch mehr  emporragte. Diese gewaltige Wasserwand rollte mit ohrenbetäubendem Rauschen auf Tim zu. In ihr erkannte er ein zur Fratze verzerrtes Gesicht, das fast die ganze Welle ausfüllte. Es gehörte der ihm bekanntesten  Gestalt des Bösen.

Dann zerquetschte ihn die Welle. Er verspürte einen starken Schmerz, dann, endlich,  fiel er ins Zeitlose.

 

 

 

  

 

 

  ERSTES BUCH: Die Zauberer

 

 

Das Stadion war bis auf den letzten Platz gefüllt, 60.000 erwartungsfrohe Menschen fieberten an diesem  Sommerabend dem Ereignis entgegen, für welches die Karten binnen weniger als einer halben Stunde vergriffen waren. Obwohl schon der normale Eintrittspreis für die Gala des geheimnisvollen Zauberers Luzifius und seiner schönen Assistentin Amanda vielen als kleines Vermögen galt, blühte der Schwarzhandel mit den Tickets. Betuchte, die es sich leisten wollten,  zahlten bis zu 3000 Euro. Geld für Wunder, lautete die Devise. Denn das Magier-Duo wartete mit vollkommen unerklärbaren Spektakeln auf.

Das begann schon bei der Wahl des Veranstaltungsortes. Keiner der üblichen Trickkünstler wagte sich in ein Stadion, wo ihn das Publikum von allen Seiten unter die Lupe nehmen konnte. Sie alle benötigten eine nicht einsehbare Fläche, doppelte Böden und Wände, Spiegel, Vorhänge, Tücher, Falltüren, Kisten mit klappbaren Seiten und fast immer auch eine geheime Maschinerie. Für Luzifius und Amanda spielten derlei Voraussetzungen keine Rolle, sie kamen ohne all das aus. Die Medien überschlugen sich vor Bewunderung, nur mischten sich zunehmend besorgte Kommentare darunter, die in der Frage gipfelten, ob der Hexer und seine Gehilfin überhaupt von dieser Welt seien.

Gut abgeschirmt von der Menge, auf einigen der besten Logenplätze, saßen der alte Milliardär Bent Miller, sein 13-jähriger Enkel Tim, sein Sekretär Max und Professor Arno Rotter. Sie waren im Privatjet 400 Kilometer weit angereist, denn Miller wollte es nicht abwarten, bis die Zauberer auch in seiner Stadt auftraten. Rotter dagegen war vielleicht der Einzige im weiten Rund, der das Spektakel lieber verpasst hätte. Gerade jetzt, wo es in seinem  Institut für Virtuelle Physik jede Menge zu tun gab, um den  Dauerbetrieb der von ihm entwickelten neuen Teilchenanlage vorzubereiten, hatte ihn sein Geldgeber in die Zauberschau beordert. Das mochte verstehen, wer wollte. Unter normalen Umständen wäre er für die Einladung dankbar gewesen, denn es gab wohl keinen Physiker, der sich nicht für das Treiben der Magier interessierte. Aber wie sollte er das Hochfahren der Dicken Berta, wie die Maschine von den Mitarbeitern genannt wurde,  beschleunigen, wenn der Alte ihn gleichzeitig nötigte, dem Institut anderthalb Tage fernzubleiben? Wusste Miller überhaupt noch, was er wollte? War er es nicht, der ihn fast täglich zu mehr Tempo drängte?

Vor wenigen Jahren, am Anfang ihrer Bekanntschaft, hatte Rotter in dem mittlerweile 75-jährigen Milliardär den Mann gesehen, der als großzügiger Finanzier der Forschung etwas von seinem Reichtum an die Gesellschaft zurückgeben  will. Und er schätzte sich glücklich, dass Millers Wahl auf ihn fiel. Ohne die schier unerschöpflichen Mittel des Mäzens, der das private Institut kurzerhand aus der Insolvenz kaufte, hätte Rotter seine Anlage nie bauen können. Die Dicke Berta  sollte prüfen, ob außerhalb des für Menschen sichtbaren Raums weitere Dimensionen existieren. Das mathematische Hantieren mit zusätzlichen Räumen, beispielsweise in der Stringtheorie, war schon lange zu einem Steckenpferd vieler Astrophysiker geworden. Ein experimenteller Nachweis solcher Dimensionen schien aber unmöglich zu sein.  Rotter war davon besessen, das zu ändern. Je nachdem, wie die Sache ausging, konnte es ihm den Nobelpreis einbringen, schadenfrohe Lacher oder, falls er mit der Anlage Schaden anrichtete, sogar eine strafrechtliche Verfolgung.

Denn nach seinen eigenen Berechnungen war ein zu forscher Umgang mit der Dicken Berta keineswegs ungefährlich. Die Sache konnte einen unerwarteten, wenn nicht sogar schlimmen Verlauf nehmen, sofern Miller sich durchsetzte. Rotter wollte den Nachweis einer fremden Dimension im subatomaren Bereich der allerkleinsten Teilchen führen. Blieb der Spalt zu einer fremden Welt derart winzig, dann konnte nichts passieren. Dem Milliardär genügte das nicht. Es schien ihm wenig spektakulär, wenn der Einblick in die andere Dimension  nur von Sensoren  erkannt  und lediglich  Spuren davon mittels aufwendiger Analysetechnik sichtbar gemacht werden sollten. Enttäuscht ließ er Rotter wissen, er habe doch nicht mehrere hundert Millionen in das Projekt gesteckt, um sich am Ende lediglich mit der Darstellung von Teilchenspuren auf einem Bildschirm zu begnügen. Nein, er wollte hineinschauen in die andere Dimension, von der er hoffte, es könne sich um nichts Geringeres als Gottes Reich handeln.

Das wäre dann der Ort, den die Menschen Himmel nannten und der Miller schon deshalb zunehmend interessierte, weil er sein Alter in allen Gelenken spürte und ihm aus biologischen Gründen wohl nur noch wenige Jahre blieben. Wie ernst es ihm damit war, erkannte Rotter daran, dass gegen seinen Willen Leute im Institut eingestellt wurden, die wie dieser Ingenieur Dr. Justus Zwick offenbar eher geneigt waren, die Tür zur anderen Welt etwas weiter aufzustoßen, oder bei denen der Professor zumindest einen Hang zum Risiko vermutete. Dazu zählte er die Physikerin Vera Perl, die sich ihre Sporen an einem der großen Teilchenbeschleuniger verdient hatte und unmittelbar vor ihrer Berufung zur Professorin stand. Rotter brauchte weder Zwick noch Perl. Misstrauisch verfolgte er die Entwicklung. Plante der Milliardär etwa schon, ihn demnächst zu ersetzen?

Mit all seinem vielen Geld hatte sich Miller wunderbar im Hier und Heute eingerichtet. Im Diesseits blieb ihm kein Wunsch unerfüllt, er genoss, was die Menschen den Himmel auf Erden nennen. Aber das würde nicht so bleiben. Jeder neue Tag führte ihm die Endlichkeit des Lebens deutlicher vor Augen. Von all seinem Reichtum würde er nach dem Tode nichts mitnehmen können in die andere Welt, welche die Kirche den guten Christen versprach. Umso mehr beschäftigte ihn die Beschaffenheit dieses unsichtbaren Raumes. Glich er wirklich dem, was sich die Gläubigen unter dem Himmel vorstellten? Viel schlimmer war die andere Frage: Existierte er überhaupt oder war er nur ein Konstrukt religiöser Vorstellungen? Seit Jahrtausenden trieb die  Suche nach Antworten die Menschen in die verschiedenen Religionen. Denn jeder Glaube ersetzte fehlendes Wissen und machte den Gedanken an den Tod erträglicher, jeder Glaube war besser als gar keine Antwort. Keine Antwort, das hielt ein halbwegs intelligentes Wesen nicht lange aus.

Deshalb brauchte es einen Gott, es ging nicht ohne ihn. Und auch Miller glaubte an den Schöpfer. Andererseits kannte er als erfolgreicher Geschäftsmann sehr wohl den Unterschied zwischen Glauben und Wissen. In seinem ganzen beruflichen Leben hatte er sich nie damit begnügt, irgendetwas zu glauben. Erfolg war an Wissen geknüpft. Und er hatte sich stets internes Wissen verschafft - über die familiären Verhältnisse von Kontrahenten und Partnern, über Firmengeflechte und Finanzen, Interessenlagen, Kreditbelastungen sowie die Verwertbarkeit von Patenten. Er hatte Informanten und Lobbyisten bezahlt, Aktienkurse manipuliert, mit politischen und Werbekampagnen die öffentliche Meinungsbildung beeinflusst. Er hatte sogar, wenn es ihm nötig erschien, Menschen bestochen. Nur in der für ihn im Alter wichtigsten Frage, ob es nach dem Tod noch eine andere Welt gab, kam er nicht weiter. Aber jetzt, mit Rotters Dicker Berta, sah er eine Möglichkeit, endlich auch in diesem Punkt den Glauben - wenigstens ein Stück weit - durch Wissen zu ersetzen.  Miller wäre nicht Miller, würde er sich eine solche Chance durch übertriebene Ängstlichkeit entgehen lassen.  

Vor Jahren, als er von Rotters Forschungen erfuhr, horchte er auf. Damals existierten von der Teilchenanlage nicht viel mehr als Berechnungen und Darstellungen auf dem Computer. Doch Miller war fasziniert, in ihm reifte rasch die Idee, mit dieser Technik einen Zipfel des Himmels zu erwischen, einen Blick in Gottes Reich zu werfen. Er wollte diese Technologie, sie musste ihm gehören. Also ließ er seine politischen Verbindungen spielen und sorgte dafür, dass der Professor für sein Projekt die fest eingeplanten öffentlichen Fördermittel nicht erhielt. Und als Rotter mit seinem Institut deshalb pleite ging, sprang Miller bereitwillig als Finanzier ein. Nun endlich war es soweit, die Anlage befand sich in der Funktionsprüfung und sollte bald hochgefahren werden.

Wie fast jeden Tag, so erkundigte sich Miller auch heute beim Professor nach dem genauen Datum.

»Es würde schneller gehen, wenn Sie mich nicht hierher bestellt hätten«, antwortete Rotter genervt.

»Das holen Sie wieder auf. Vielleicht können Sie hier von den Zauberern lernen, die sollen ja Unerklärliches leisten«, sagte Miller mit einem ironischen Grinsen.

Es sollte ein Spaß sein, doch Rotter dachte: Der meint das ernst. Die Botschaft lautete: Wenn die Magier Unmögliches vollbringen, dann müsste er doch wenigstens in der Lage sein, die Grenzen des Möglichen zu erweitern. Und dieses Signal missfiel dem Professor außerordentlich.

»Ich weiß, worauf Sie spekulieren, Herr Miller«, erklärte er abweisend. »Vielleicht wäre es besser, Sie würden die Zauberer ins Institut einladen. Die bringen mir dann bei, wie ich meine  Anlage steuern muss.«

Nur für sich, in Gedanken, fügte er hinzu: Es wird dir alles nichts helfen. Die andere Welt, falls sie überhaupt existiert, wird sich dir nicht offenbaren.

»Oh, ja!«, rief Tim. »Großvater, lade die Zauberer ein! Wo sind die jetzt überhaupt, wann geht es denn endlich los?«

»Die üben noch«, scherzte Max.

Der Alte lächelte, Rotter blieb ernst. Nicht mal hier gibt Miller Ruhe, ärgerte sich der Professor. Der Mann verkennt die Risiken, in seinem Wahn glaubt er wahrscheinlich sogar, wir könnten Gottes Ort finden. Dafür würde er wohl, wenn er könnte, vor nichts zurückschrecken. Verdrossen starrte Rotter hinunter auf den Rasen und spann seinen Gedanken weiter: Wenn ein Milliardär denkt, für Geld sei alles zu haben, dann kann dies zu gefährlichen Entscheidungen führen.

Auch deshalb fühlte er sich im Stadion nicht wohl. Was, wenn während seiner Abwesenheit im Institut jemand durchdrehte und die Anlage bedenkenlos hochfuhr? War es möglich, dass Miller ihn nur deshalb hierher beordert hatte? Dieser Dr. Zwick, der neue Günstling des Alten, schien ja alles recht locker zu nehmen. Glücklicherweise galt dieser Ingenieur eher als Praktiker und besaß schon deshalb unter den Wissenschaftlern wenig Rückhalt. Aber die Perl? Vorsichtshalber hatte Rotter heimlich den vielen neuen Technologien kritisch gegenüber stehenden Ökobund darüber informiert, die Anlage könne, gesteuert von einem Wahnsinnigen wie Zwick, durchaus Schaden anrichten. Die Ökos hatten daraufhin schon vor Zwicks Haus demonstriert. Der Professor lächelte finster.

»Was meinst du, Max, soll ich die Zauberer einladen?«, fragte Miller seinen Sekretär in heiterem Ton.

»Gewiss sollten Sie das, aber nur, wenn Sie sich eine Absage einhandeln wollen, Herr Miller.«

»Wetten, dass sie kommen? Ich werde sie zu einem Abendessen ins Institut bitten. Wir könnten direkt vor der Dicken Berta speisen.«

»O prima!«, freute sich Tim. »Aber wann kommen die jetzt endlich hier ins Stadion?«

Max ging nicht darauf ein, sondern antwortete seinem Herrn. »Ich wette dagegen, freilich ohne Geld. Wie Sie wissen, Herr Miller, bin ich ein armer Mensch. Sie bezahlen mich ja nicht so ausgiebig.«

Miller lachte. »Du kriegst immer noch zu viel.« Der etwas zu klein geratene bucklige und leicht hinkende Max war der Einzige, dem er jede Widerrede und sogar einige Frechheiten verzieh. Max und er, das war schon eine lange Geschichte.

»Ich werde Luzifius und Amanda eine Million Euro für die Teilnahme bieten. Das sollte wohl reichen. Sie sind natürlich auch eingeladen, Herr Professor. Es dürfte Sie bestimmt interessieren, was die Zauberer von Ihrer Erfindung halten.«

»Vielleicht können wir uns die ganze Wissenschaft sparen und durch Zauberei ersetzen«, erwiderte Rotter spitz.

»Genau, Herr Professor«, witzelte Max. »Auf jeden Fall ginge das schneller. Gerade ist mir klar geworden, was Ihrer Anlage fehlt: der Zauber.«

Ein Murmeln huschte über die Tribüne, denn es erschien jetzt Josef Kardinal Bachinger in seiner  schwarzen Soutane mit  Zingulum und Pileolus, den Miller ebenfalls ins Stadion eingeladen hatte. Aha, der Kirchenfürst interessiert sich für Zauberei, registrierte die Menge aufmerksam. Vielleicht würde die Kirche endlich Stellung beziehen zu all den dargebotenen Wundern. Dem Kardinal waren die vielen tausend auf ihn gerichteten Blicke sichtlich unangenehm. Am nächsten Tag ließ er verbreiten, er habe lediglich die freundliche Einladung Millers nicht ablehnen wollen. Das erschien glaubhaft, denn der Milliardär hatte gerade erst die Sanierung des Domdaches in Bachingers Diözese bezahlt. Entsprechend herzlich mit einer leichten Umarmung fiel die Begrüßung zwischen beiden aus.

Freundlich reichte der Kardinal auch  Max die Hand, dann wandte er sich lächelnd an Tim. »Und du bist bestimmt schon ganz aufgeregt?«

Der Junge nickte. Als Bachinger Rotter begrüßte, nahm sein Lächeln leicht spöttische Züge an. »Sogar die Wissenschaft huldigt der Zauberei? Geben Sie es zu, Professor, Sie stehen den Wundern ratlos gegenüber.«

»Und Sie, Eure Eminenz, wollen Sie sich dieses Teufelszeug wirklich zu Gemüte führen?«

»Woher wollen Sie wissen, ob es sich um Teufelszeug handelt? Ach ja, ich vergaß, mit derlei Dingen kennen Sie sich bestens aus. Schließlich sind Sie der Erfinder der modernen Höllenmaschine.«

»Davor bräuchten Sie doch keine Angst zu haben. Wie ich hörte, kommen  Kardinäle in den Himmel. Oder ist das neuerdings nicht mehr sicher? Das täte mir leid.«

»Sie sehen mich ohne Sorge. Das Paradies steht den Seelen gottesfürchtiger Menschen weit offen. Sie mit ihrer Maschine  können höchstens daran kratzen.«

»Soweit mir bekannt ist, tappen Sie beim Paradies ziemlich im Dunkeln. Ich frage mich schon lange, warum es keinerlei Rückmeldungen jubelnder Seelen gibt. Wollte Gott die Position seiner treuen Diener auf Erden kräftigen, so könnte er den Menschen  doch ein deutliches Zeichen schicken, wenigstens eine Mail.«

»Gott ist kein Postbote, verehrter Herr Professor.«

»Lassen Sie es gut sein, meine Herren«, mischte sich Miller vergnügt ein. »Ich habe Sie beide eingeladen in der Hoffnung, dass mir wenigstens einer von Ihnen nach der Vorstellung verraten kann, ob es sich tatsächlich um Zauberei und Teufelszeug handelt. In diesem Fall wäre die Frage der Zuständigkeit zu klären.«

»Himmlische Boten sind es gewiss nicht«, knurrte der Kardinal.

»Ja, davon hätten Sie ohne jeden Zweifel Kenntnis«, lästerte Miller. »Manche reden schon von Außerirdischen. Blödsinn, nicht wahr?« Und zu Rotter sagte er: »Ein Raumschiff wäre Ihren Kollegen Astronomen sicher nicht entgangen, Herr Professor. Oder sehe ich das falsch?«

»Dieses Mal haben Sie wirklich recht.«

»Aber es gibt doch Ufos, die tauchen auf und sind dann auf einmal plötzlich wieder unsichtbar«, mischte sich Tim ein.

Max strich dem Knaben über den Kopf und bemerkte grinsend: »Stimmt, Tim. Das mit den Ufos ist eine ziemliche Sauerei. Diese Außerirdischen wollen einfach nicht mit uns reden. Ich fürchte nur, die Zauberer sind in dieser Hinsicht kaum besser.«

Ein vieltausendfaches Raunen erfüllte jetzt das Stadion. Die Zuschauer erhoben sich, als ob sie auf diese Weise etwas näher bei  den Wolken sein  könnten, die hoch über dem Platz  auftauchten. Noch höher, weit über den Wolken, legte sich ein grauer Schleier vor die Sonne. Auch dieses Phänomen war von den Auftritten der Zauberer bekannt.

»Es geht los, es geht los!«, rief  Tim, klatschte aufgeregt in die Hände und sprang von seinem Sitz hoch.

Eine der Wolken verhielt sich ungewöhnlich, sie sank langsam herab und ließ sich als dichter Nebel auf dem Rasen nieder. Dann blitzte und donnerte es gewaltig, der Nebel  lichtete sich und gab die Sicht auf Luzifius in seiner schwarzen Lederkluft und die  wunderschöne  Amanda in ihrem weißen Kleid frei. Sie waren, wie es schien, mit der Wolke herabgestiegen. Und wie immer in der Öffentlichkeit trugen sie Masken. Die rote des  Luzifius zeigte dämonenhaft böse Züge, Amandas helle hingegen wirkte feenhaft weich und freundlich.

Miller wandte sich scherzhaft an den Kardinal: »Eure Eminenz, der Auftakt müsste ganz nach Ihrem Geschmack sein. Man könnte meinen, die sind direkt vom Himmel herabgestiegen.«   

Bachinger lächelte. »Der Himmel ist sicher nicht oben. Wenn er oben wäre, hätten die Australier keinen. Nicht wahr, Herr Professor?«

Rotter stichelte zurück. »Da haben Eure Eminenz ausnahmsweise mal ins Schwarze getroffen. Die Erde ist eben keine Scheibe, wie die Kirche lange behauptet hat.«

Nun öffnete sich am mittigen Rand des Fußballplatzes der Erdboden. Aus der Tiefe stieg eine Gruppe von 25 Musikern mit Blasinstrumenten empor. Die Truppe drehte wie eine Militärkapelle im Gleichschritt eine Runde durch das Stadion und schmetterte einen zackigen Begrüßungsmarsch. Dem Augenschein nach handelte es sich um Holzfiguren, die sich jedoch recht geschmeidig bewegten. Schließlich nahmen sie unweit der Zauberer Aufstellung.

Luzifius streckte seine Arme in die Höhe, die plötzlich von Feuer umgeben waren. Im Schein der lodernden Fackel  formte sich in der Luft, zuerst durchsichtig, dann immer festere Konturen annehmend, ein in der Länge geschlitzter Tisch, durch den eine   gewaltige Kreissäge lief. Der Zauberer ließ das Konstrukt langsam zu Boden gleiten, pustete das Feuer aus und schnippte mit den Fingern, griff dann mit bloßen Händen ins rasend schnell rotierende Sägeblatt und brachte es zum Stillstand.  Danach hob  er seine unversehrten Hände in alle Richtungen. Es folgte die erste gruselige Nummer, zu der er Besucher aufforderte, sich zu ihm zu gesellen. Tim raste sofort los, noch ehe ihn sein Großvater festhalten konnte. Schnell kamen an die 30 Personen zusammen. Sie gruppierten sich um den Tisch mit der riesigen scharf gezackten Scheibe.

»Wer von Ihnen besitzt den Mut, sich von mir durchsägen zu lassen?«, fragte Luzifius. »Den Knaben sortiere ich gleich aus, der ist zu jung für so ein schreckliches Ende.«

Tim erschrak nun doch. Plötzlich war da der Gedanke, der Zauberer könnte nicht nur böse aussehen, sondern auch böse sein. Luzifius griff eine Frau am Arm: »Sie vielleicht?« Die Angesprochene erbleichte, riss sich augenblicklich los und rannte auf die Tribüne zurück. »Oder Sie?«, wandte sich Luzifius an einen Mann, der ebenfalls eiligst verschwand. »Aber Sie sind mutig«, sprach der Zauberer nun einen älteren Herrn mit Hut an, der ablehnend den Kopf schüttelte.

»Meinen Hut können Sie durchsägen«, erwiderte er, nahm die Kopfbedeckung ab und reichte sie Luzifius. Der machte von dem Angebot augenblicklich Gebrauch, zerteilte den Hut mit der Säge und warf beide Hälften in die Luft. Dort trafen sie zusammen und verschmolzen unter dem tosenden Beifall des Publikums wieder zu einem Ganzen.

»Nun, sind Sie jetzt bereit?«, fragte der Magier den Mann. Dem gefiel die Säge trotzdem nicht, er winkte ab und schlurfte zurück auf seinen Platz.«

»Keine mutigen Männer«, stellte der Magier fest. »Also nehmen wir wieder die mutige Frau.« Seine Assistentin Amanda legte sich bereitwillig auf den Tisch und musste sich auf Geheiß des Zauberers von den Umstehenden betatschen lassen, damit hinterher niemand behaupten konnte, das Opfer sei eine Puppe gewesen. Auch Tim fasste mit der Hand über den weichen Körper Amandas. Kein Zweifel, sie war nicht nur wunderschön, sondern auch quicklebendig. Nur die Maske verlieh ihr etwas Fremdartiges.

Dann kreischte die Säge auf, ein gellender, markerschütternder  Schrei ertönte, Blut spritzte auf das weiße Kleid. Bald lag Amandas Körper wie ein Klumpen Fleisch zerteilt vor den Betrachtern. Tim packte das Entsetzen, ihm wurde schwarz vor Augen, seine Knie zitterten, er sank auf den Boden und hielt die Hände vors Gesicht. Im Stadion herrschte nun Totenstille, lähmende Angst breitete sich aus, obwohl jeder wusste, dass es bei dieser Vorstellung keine Tote geben würde. Luzifius hatte den Schnitt extrem sauber ausgeführt, weder Organe noch Muskelstränge oder Sehnen  hingen aus den nunmehr zwei  Körperhälften heraus. Einige aus der Gruppe, die als Zeugen der Aktion neben dem Sägetisch standen, erbrachen sich. Sanitäter kümmerten sich um sie und halfen auch Tim wieder auf die Beine. Schließlich wankten alle auf ihre Plätze zurück.

»Habe ich dir erlaubt, da runterzugehen?«, schimpfte Miller, als sich Tim kreidebleich neben ihn setzte.

»Widerlich«, entrüstete sich  der Kardinal.

»Stimmt«, sagte Miller. »Aber jetzt wird er die Frau wieder zusammenfügen. Eigentlich unmöglich. Rotter, was sagt die Physik dazu?«

Der Professor zuckte bedauernd mit den Schultern. »Sie sollten eher einen Mediziner fragen.«

»Also bedauerlicherweise sagt die Physik nichts«, stellte Miller fest.

»Was jetzt?«, tönte Luzifius. »Vor dem Stadion wartet schon die Polizei. Jeden Tag wollen mir diese Leute einen Mord anhängen. Aber die brauchen eine Leiche. Besser, sie finden keine.«

Er hob die Arme gen Himmel und zog eine weitere Wolke herab, die sich über den Schauplatz des Schreckens legte. Dann erneut ein Blitzen und Krachen - und hervor trat unversehrt die schöne Amanda in einem unbefleckten Kleid. Der Beifall, der das Stadion nun erfasste, war gewaltig, aber als er verhallte, blieb ein Gemurmel, in das sich neben Erleichterung und Furcht viele Fragen mischten. Allen saß der Schreck des soeben Erlebten in den Gliedern, nicht nur weil es grausam, vor allem weil es unerklärbar war.

Der Zauberer lächelte finster und setzte zum nächsten Spektakel an.

»Gefällt Ihnen meine Amanda? Wer so eine schöne Frau besitzt, der muss doch ständig befürchten, dass sie wegläuft, vor allem, wenn sie Angst vor der Säge hat. Nicht wahr, meine Herren, die Konkurrenz ist groß. Deshalb habe ich meine eigene Methode entwickelt, die Dame festzuhalten. Ich stecke sie einfach in die Jackentasche.«

Er drückte Amanda auf die Schultern, worauf sie immer mehr zusammenschrumpfte, bis sie auf dem Boden die Größe einer Maus erreichte. Wie eine Puppe hob er sie auf, hielt sie hoch und schwenkte sie triumphierend hin und her. »Können Sie meine Amanda noch sehen? Ich fürchte, für die Zuschauer auf den oberen Plätzen ist sie jetzt viel zu klein. Ein paar dürfen herunterkommen und sie aus der Nähe anschauen.«

Das halbe Stadion erhob sich, da warf Luzifius einen Blitz auf den Rasen - die Menge erstarrte vor Schreck.

»Ein paar, habe ich gesagt, nicht alle! Nehmen wir Block D, letzte Reihe.«

Einige von dort begaben sich hinunter, die meisten blieben sitzen: Der Blitz hatte seine Wirkung getan und viele der Neugierigen eingeschüchtert. Die Mutigeren auf dem Rasen durften Amanda der Reihe nach in die Hand nehmen.

»Aber Vorsicht!«, rief Luzifius. »Die Dame ist jetzt sehr zerbrechlich.«

Amanda fing nun an, auf den Handflächen der Besucher nach den Klängen der Kapelle zu tanzen. Der Magier formte seine Hände zu einem Kreis und verkündete, dies sei das Objektiv seiner ganz speziellen Kamera. Der Kreis warf Strahlen an eine Leinwand, wodurch das Bild der Tanzenden für alle im Stadion sichtbar wurde.  Nach einigen Minuten begehrte Luzifius seine Amanda zurück und schob sie in eine Tasche seiner Lederkluft. »Meine Herren, war das nicht schon immer ihr Traum: eine Frau, die sie einstecken, bei Bedarf herausholen und vergrößern können?«

Heiterkeit im Stadion.

»Unglaublich«, sagte Miller und klatschte begeistert in die Hände. Auch Tim taute wieder auf. Das war mal ein freundliches Wunder mit einer zwar geschrumpften, aber heil gebliebenen Amanda.

»Gefährlich«, murmelte dagegen der Kardinal  und wandte sich Rotter zu: »Oder sind Sie anderer Ansicht, Herr Professor?«

Der zuckte mit den Schultern. »Der Teufel ist immer gefährlich. Das müssten Eure Eminenz doch wissen. Der Magier nennt sich nicht ohne Grund Luzifius.«

Bachinger schüttelte den Kopf. »Solange Ihre Physik nicht erklären kann, wie die das machen,  müssten Ihnen diese Zauberer doch genauso unheimlich sein wie mir.«  

»Im Unterschied zur Religion entwickelt sich die Physik ständig weiter. Vielleicht hat das hier etwas mit Optik zu tun.«  

»Vielleicht? Das hört sich an wie die Kapitulation vor einem bösen Wunder.«

»Eure Eminenz, ich darf darauf hinweisen, dass Wunder in Ihren Geschäftsbereich fallen. Die Vollbringer sind von der katholischen Kirche häufig sogar heiliggesprochen worden. Meines Erachtens hätte sich dieser Luzifius eine solche Ehrung redlich verdient. Stattdessen nennen Sie ihn gefährlich. Ein Ungläubiger, der Wunder beherrscht, wie ärgerlich.«

»Ist das ein Heiliger?«, fragte Tim den Kardinal.

»Eher der Teufel in Person«, erwiderte der kühl.

»Der Teufel? Großvater, was meinst du, ist der Zauberer ein Teufel?  Dann würde es ja doch Teufel geben.«

»Das hat unser Kardinal nicht so gemeint.«

Tim hakte nach. »Wieso nicht? Wenn das der Teufel wäre, dann könnte doch der ganzen Welt Unheil drohen. Die Maske wirkt sehr böse, bestimmt ist das Gesicht darunter noch schrecklicher.«

Die Antwort blieb aus, die Schau ging weiter. Der Zauberer bückte sich und zog an einem Grashalm, der länger und länger wurde, bis er sich in einen Speer verwandelte. Luzifius riss ihn aus dem Boden und hob ihn triumphierend hoch.

»Weiß jemand, wo der Weltrekord im Speerwerfen liegt?!«, rief er in die Runde. »Er liegt bei rund 100 Metern. Was für eine Ungerechtigkeit! Warum lassen diese Sportbeamten meine Würfe nicht gelten?« Er schleuderte das Gerät mit voller Wucht in den Himmel. Bald war es in den Wolken verschwunden. Doch siehe da, aus ihnen tauchten plötzlich sieben Speere wieder auf. Sie fielen herab und bohrten sich in einem Kreis rings um den Magier in die Erde.

Das Publikum applaudierte frenetisch. Tim sprang bewundernd hoch, der Kardinal jedoch saß wie versteinert, Rotter und Miller blickten ratlos drein. Es folgten weitere Nummern. Luzifius ließ am östlichen Fußballtor Zuschauer im Rasen verschwinden, am westlichen Tor tauchten sie aus dem Boden wieder auf. Sie vermochten danach nicht zu erklären, was ihnen geschah.

»In dem Stadion, wo ich vorige Woche war, haben sie danach alles aufgegraben, um den unterirdischen Tunnel zu finden«, lachte Luzifius höhnisch. »Und was haben sie gefunden? Nichts!«

Als nächstes warf er Samen auf die Erde. Binnen Sekunden wuchsen daraus Sonnenblumen, die nach wenigen Minuten eine Höhe von  zehn Metern erreichten  und auf Kommando die Farbe wechselten. Fette Karpfen sprangen aus einem Bassin in die Luft und flogen mehrere Runden durchs Stadion. Dann durften auch Besucher fliegen. Luzifius winkte aus den Wolken zwei Teppiche herab, von denen jeder fünf  Personen tragen konnte.

»Sie kennen das Märchen vom fliegenden Teppich? Bei mir gibt es keine Märchen! Der Junge, dem bei der ersten Nummer schlecht geworden ist, darf auch mitfliegen, ich denke, das wäre eine kleine Entschädigung.«

Tim stand auf, er zitterte vor Erregung und blickte fragend auf seinen Großvater. Der nickte, also schwebte der Knabe bald darauf mit in die Höhe, wobei er sich wie die anderen Fluggäste in den wackligen Untergrund krallte. Alle hatten Angst vor dem Herunterfallen, doch erwies sich dies als unnötig. Denn selbst als die Teppiche wie Karussells in bedenkliche Schräglage gingen, blieben alle wie angeklebt darauf haften.

Nach der Landung eilte Tim schnurstracks, diesmal mit Stolz erfüllt, hinauf zu seinem Großvater. Luzifius unterdessen warf wieder einen Blitz, der sich in den Rasen grub und dort in ein Gleis verwandelte, das in einen Tunnel mündete. Aus diesem kam tief aus der Erde fauchend eine buntbemalte Dampflok heraus, deren Frontteil aus einem großen hellen Gesicht mit schwülstigem Mund und halbkugelförmig unter langen Wimpern hervortretenden Augen bestand.

»Hallo Lotte«, begrüßte der Zauberer sie. »Was sagst du zu den vielen Leuten hier?«

In das Gesicht der Lok geriet Bewegung, die Augen rollten, die Lider öffneten und schlossen sich, der Mund begann zu sprechen: »Ein komisches Völkchen. Erst hat es mich wegen der Diesel- und Elektroloks in der Versenkung verschwinden lassen, nun ist es froh, wenn ich mich wieder zeige.«

Gelächter erfasste das Stadion, die Leute klatschten begeistert. »Toll!« rief Tim.

»Und wie geht es dir heute?«, fragte Luzifius weiter.

»Oh, nicht besonders. Du bist geizig und gibst mir schlechte Qualität zu fressen. Die Kohlen sind  wässrig, aber Wasser habe ich schon genug in meinem Kesselbauch.«

»Sag doch gleich, dass du lieber eine Fuhre Koks möchtest.«

»Ja, Koks ist knackig wie Würstchen.«

»Dann will ich meiner Lotte ihren Wunsch erfüllen.« Luzifius hob wieder die Arme gen Himmel, bis - wie aus einem Trichter - der Brennstoff vor das Gleis fiel. Sofort machte sich Lotte mit ihrem großen Maul daran, den Koks aufzufressen. Tim hielt sich vor Lachen den Bauch.

»Hm, das schmeckt«, frohlockte die Lok. Rasch stopfte sie alles in sich hinein, rülpste dann vernehmlich und erklärte: »So, jetzt bin ich vollgefressen, da möchte ich lieber wieder schlafen.« Schnaufend und stampfend rollte sie in den Tunnel zurück, der sich hinter ihr verschloss.

»Das war prima!«, rief Tim und schlug seinem Großvater vergnügt auf die Schulter. »Kann das der liebe Gott auch?«, wandte er sich an den Kardinal. Der lächelte gequält. Statt seiner antwortete Max voller Ironie: »Gott kann alles, aber nur in der Bibel.«

»Er ist gewiss kein Schausteller«, erwiderte der Kardinal gereizt.

Ein rasch lauter werdendes Dröhnen kündigte den letzten Akt der Schau an. Der würde, wie die meisten Zuschauer aus Zeitung und Internet wussten, wieder ein  blutiges Spektakel bringen. Qualmende Abgase hinterlassend rollte ein Panzer durch den Gang unterhalb der Haupttribüne mitten auf den Rasen. Vor Luzifius kam der Tank zum Stehen, der Motor heulte noch einige Male bedrohlich auf, bevor ihn der Zauberer mit einem Fingerschnipsen abschaltete. Einen Moment lang wirkte die plötzliche Stille unheimlich.

Luzifius strich mit der Hand zärtlich über den Koloss. »Was für ein schönes Stück!«, rief er. »Dicker Stahl, der Brummer wiegt 50 Tonnen. Wer davor steht, bekommt eine Ahnung davon, was Soldaten fühlen, wenn im Krieg solch eine Bestie brüllend auf sie zurollt. Manche wurden in ihren Schützenlöchern von Panzern regelrecht zermalmt. Glauben Sie mir, das ist nicht die beste Wahl, aus dieser Welt zu scheiden. Aber vielleicht gibt es hier im Stadion ja doch jemanden, der keine Angst vor Panzerketten hat und bereit ist, sich von diesem Gefährt hier überrollen zu lassen?«

Es war wie immer bei dieser Nummer eine rein rhetorische Frage. Niemand verspürte Lust, zerquetscht zu werden, niemand vermochte sich gegen den mächtigen Selbsterhaltungstrieb seines Körpers zu wehren, auch wenn der Verstand signalisierte, dass es  bei  dieser Vorführung wiederum unmöglich einen Toten geben durfte.

»Was habe ich doch für ein kluges Publikum«, lästerte der Zauberer. »Ehrlich, ich würde mich da auch nicht drunter legen. Aber wozu habe ich eine Frau? Ja, wo ist sie denn? Ach so, ich habe sie in die Tasche gesteckt.« Er zog Amanda heraus, hielt sie triumphierend hoch und fuhr fort: »So winzig geht es nicht, der Kopf sollte schon heil bleiben.«

Also stellte er sie auf den Boden und vollführte mit seinen Händen über ihr Kreisbewegungen, bis sich ein Luftwirbel bildete,  der Amanda  in eine rasende, nach oben wachsende Pirouette versetzte. Als die Assistentin ihre ursprüngliche Größe erreicht hatte, kam die Drehbewegung zum Stillstand. Lächelnd schritt Amanda auf die Haupttribüne zu und klatschte in die Hände, so das Publikum auffordernd, es ihr gleichzutun. Die Leute ließen sich nicht bitten, stürmischer Applaus brandete auf, ebbte jedoch schnell wieder ab. Denn was jetzt folgen würde, war ebenso schaurig wie bekannt. Der Panzer stand bereit, die Schöne zu zermalmen. Die Nummer war genauso unbegreiflich wie die Zaubereien mit der Dampflok, den Teppichen, den Speeren, den Sonnenblumen oder der Teleportation, aber sie war nicht so heiter und freundlich wie diese, sondern galt wie die Sägeszene als ekelerregend grausam. Das Zusammenfallen von Unerklärbarem und Scheußlichkeit  verbreitete Unbehagen und  Angst.

»Ist es nicht schade um sie?«, fuhr Luzifius fort. »Und natürlich findet sich im Stadion kein einziger tapferer Mann, der sie retten will. Meine Herren, das könnte sich lohnen. Also?«

Stille im Rund.

»Ich gebe ja zu, dass ich sie wieder zusammenflicke. Aber meine klugen Zuschauer fragen sich zu Recht, ob der Trick nicht schmerzhaft ist. So wie der mit der Säge. Trotzdem warte ich immer ab, ob es nicht doch einen Helden gibt, der dieser prachtvollen Schönheit die Pein abnimmt. Amanda würde sich bestimmt dankbar erweisen. Ein mutiger Kerl könnte heute berühmt werden.«

Luzifius schaute sich um. Es war wie immer. »Niemand? Tut mir leid Amanda, du wirst dich wieder in dein Schicksal fügen müssen. Bist du bereit?«

Sie nickte betont angstvoll, hob abwehrend ihre Hände und legte sich dennoch auf den Boden. Der Panzer ruckte an, nahm mit lautem Gebrüll Fahrt auf und rollte mit einer seiner Ketten direkt über Amandas Brust. Ein lauter Schrei, dann lag die Schöne wie ein blutiges Bündel im Stadion. Totenstille erfüllte das weite Rund.

Klagend schlug Luzifius die Hände über dem Kopf zusammen. »Dumm gelaufen«, jammerte er. »Der Panzer sollte eigentlich ganz dicht über sie hinweg schweben. Das verdammte Ding hat sich nicht an meine Befehle gehalten. Was mache ich denn jetzt? Mit diesem Körper, der einst so attraktiven war, kann ich nichts mehr anfangen. Zwei Hälften lassen sich zusammenfügen, aber Matsch ist Matsch, nicht reparabel.«

Obwohl die Zuschauer wussten, dass Luzifius eine Lösung präsentieren würde, hockten sie schweigsam und geschockt auf ihren Plätzen.

»O Herrgott, hilf!«, rief der Zauberer. »Ich brauche einen neuen Körper, und gib mir ihre Seele zurück!«

Spöttisch wandte sich Miller an den Kardinal. »Haben Sie gehört, der Teufel scheint mit dem lieben Gott in Verbindung zu stehen.«

Max setzte grinsend noch eins drauf: »Ich wette, dieser Luzifius ist selbst der Schöpfer. Der sitzt gar nicht so langweilig im Himmel herum, wie alle glauben.«

»Immerhin wäre das die gewünschte Erklärung«, frohlockte Rotter. »Das Göttliche zeigt sich teuflisch und widersteht der Physik.«

»Professor, die Kirche beharrt nicht mehr auf einer Hölle, aber Ihnen ist sie sicher«, spottete Bachinger zurück.

Am Himmel erschien ein gleißendes Licht, das sich zu einer Röhre formte, die wie ein Tornado-Rüssel bis auf den Boden reichte. Luzifius zog daraus eine neue Amanda heraus und legte sie neben den zermalmten Körper. Die neue Amanda glich der alten,  als die noch unversehrt war, bis aufs Haar. Aber sie lag wie tot am Boden und rührte sich nicht.

»Die Seele, wo bleibt die Seele?« wandte sich Luzifius gen Himmel. »Ah, da ist sie.« Er zog etwas aus der Röhre, was niemand sehen konnte, und er schwenkte es in den Händen, und alle hielten es für Luft. Dann nahm er das Unsichtbare, wie es schien, in den Mund, kniete sich neben Amanda und presste seinen Maskenmund auf ihren Maskenmund. Gleich darauf begann der Brustkorb des neuen Körpers  sich zu heben und zu senken, dann schlug Amanda die Augen auf, fasste Luzifius am  Arm und zog sich daran hoch. Der Zauberer zog den alten, zerquetschten Körper in die Röhre, die Lichterscheinung zog sich gen Himmel zurück, mit ihr verschwand Amandas einstige Hülle. Die Zauberer verneigten sich unter tosendem Beifall. Sie zogen eine Wolke herab und ließen ihr Publikum ratlos zurück.

Für Miller wie für die meisten Zuschauer war klar: Es handelte sich um Wesen nicht von dieser Welt.

 

 

 

Wissen und Glaube

 

 

Die untergehende Sonne zeichnete ein traumhaft schönes Bild an den abendlichen Himmel. Bent Miller, der es von einem Fenster seiner Villa aus genoss, schien es, als ob sie mit rot leuchtenden Fangarmen Wolken wie riesige Wattebausche am Horizont entlang zog. Ihre Strahlen spielten mit den locker-flauschigen Gebilden und tauchten das aus ihnen geformte gigantische Gebirge in vielerlei Farben von transparentem Purpur und Weiß bis hin zu undurchdringlichem Schwarz. Mit feinem Pinsel schuf der Stern ein bizarres Gemälde, wie es kein Künstler in dieser Vollendung jemals hinbekommen hätte. Zauberhaft Filigranes vereinte sich mit gewaltig Aufgetürmtem, erinnernd an eine überirdische, nachdenklich stimmende  Machtfülle. Der Milliardär berauschte sich an dem atemberaubenden Anblick, mit dem der scheidende Tag sein baldiges Ende ankündigte. Noch einmal, kurz, siegte das Licht und warf einen bunten Schleier über die heranschleichende Finsternis.

»Max, Tim, kommt her, schaut euch das an!«, rief er seinen Sekretär und seinen Enkel herbei, die gerade damit beschäftigt waren, eine uralte Katze zu füttern, deren Bewegungen bereits äußerst behäbig wirkten. Tim hatte sie in einem Korb mit heraufgebracht in den großen, mit antiken Möbeln, mittelalterlichen Waffen und Rüstungen ausgestatteten Wohnsaal, denn das Tier mied bereits jede Treppe. Er war in Sorge, es könnte ganz allein sterben, ohne seinen Beistand.

»So etwas Wunderbares würde es nicht geben ohne Gott«, fuhr Miller begeistert fort.

»Ja, gleich wird der Herr durch die Wolken schauen«, erwiderte Max belustigt. Wie stets reagierte er auf die religiösen Anwandlungen seines Herrn  mit Spott.

Ganz anders Tim. »Das sieht wirklich aus, als ob dort der Himmel ist«, sagte er staunend.

»Du weißt, wie der aussieht?«, fragte Max hämisch.

»Nein, aber so schön könnte er sein. Kommen da auch Tiere hin, ich meine unsere Mieze, wenn sie stirbt?«

»Das hat der Papst noch nicht entschieden«, grantelte Max.

Der Alte dagegen lächelte. »Kann schon sein. Wenigstens Miezes Seele sollte dort Eingang finden. Ich denke, wir dürfen solch ein wundervolles Panorama schon als Fingerzeig nehmen für die Existenz des Überirdischen. Wann je hat sich uns solch ein heller, von roten Strahlen durchfluteter Korridor aufgetan. Schaut nur, es ist der reinste Wahnsinn, wie er sich ins aufziehende Dunkel gräbt. Und da, an seinem Ende, sieht das nicht aus wie das Tor in die andere Welt?«

»Auf mich wirkt das wie verdunstetes Wasser, Wolken eben«, erwiderte Max trocken.  

Verärgert drehte sich Miller um. »Du bist und bleibst ein Banause. Leuten wie dir ist es vollkommen wurscht, ob etwas außerhalb unserer Welt existiert oder nicht.«

»Ich bitte vielmals um Verzeihung, Herr Miller. Mein kleiner Verstand erkennt nur ein gewöhnliches Abendrot.«

»Kann sein«, griff Tim ein, »aber es wäre toll, wenn Mieze in den Himmel kommt. Es gibt auf jeden Fall Seelen, der Luzifius hat doch der Amanda eine eingehaucht. Wieso glaubst du nicht daran, Max?«

»Weil es völlig egal ist, ob ich daran glaube oder nicht.«

»Es ist ihm wurscht, es ist ihm alles wurscht«, brummte Miller.

»Stimmt das, Max?«

Der erwiderte lächelnd: »Nicht mir, Gott ist es egal. Falls es ihn gibt, dann ist es ihm egal, ob ich an ihn glaube oder nicht. Was hat ein Gott davon, wenn ich an ihn glaube? Wenn er wollte, dass ich von ihm weiß und mich in einer ihm genehmen Weise verhalte, dann würde er es mir zu verstehen geben - aber gewiss nicht aus dem Mund von Priestern. Wieso denkt eigentlich die halbe Welt, dass ein Allmächtiger nicht imstande ist, sich selbst auszudrücken? Er könnte sich uns ohne weiteres mitteilen, uns eindeutige Nachricht schenken, von mir aus Flugblätter herabregnen lassen, Mails schicken oder sich in der Tagesschau melden. Auf diese Weise wäre er doch in der Lage, unser Verhalten am besten  zu lenken. Wenn er wollte. Aber er will nicht, wir sind ihm vollkommen egal. Oder er existiert überhaupt nicht.«

Verärgert drehte sich Miller um. »Du redest deinen üblichen Unsinn. Gott lässt sich nicht nach den Maßstäben der Menschen begreifen.«

»So ist es immer, Herr Miller. Wenn es keine logisch sinnvolle Erwiderung gibt, kommt das mit dem Unbegreiflichen. Bei anderen würde ich das dämlich nennen, bei Ihnen traue ich mich das nicht. Schließlich sind Sie ein großer und erfolgreicher Herr, gewissermaßen ein  Genie.«

»Verdammter Schleimer!«

Max fuhr fort: »Meine Religion ist die des Abwartens. Vielleicht macht uns der Tod klüger. Gibt es ein Danach, so werden wir es früh genug erfahren, gibt es keines, wäre das auch nicht schlimm, weil wir dann nicht mehr in der Lage sind, uns darüber zu beschweren. Ich jedenfalls habe es aufgegeben, unlösbaren Fragen nachzujagen.«

»Ach Max, jetzt wo diese Zauberer aufgetaucht sind, befassen sich alle mehr denn je damit«, erwiderte Miller.

»Und Sie erhoffen sich gleich heute Abend Antworten. Glauben Sie wirklich, dass   die Zauberer erscheinen? Ich stehe zu meiner Wette: Sie werden Ihrer Einladung zum Essen nicht folgen.«

»Vielleicht aber doch!«, rief Tim und bettelte: »Großvater, darf ich dabei sein? Bitte, bitte. Das sind doch Außerirdische! Ganz bestimmt sind das Aliens. Sie tragen Masken, damit wir ihr runzliges Gesicht nicht sehen.«

Der Alte lächelte. »Runzlig sind die Aliens im Kino. Was den heutigen Abend betrifft,  Tim, das geht nicht. Das wird ein wissenschaftliches Gespräch unter Erwachsenen. Wir werden dazu ins Institut hinüber gehen. Aber ich will dir eine Freude machen, du wirst die Zauberer noch einmal in Aktion erleben. Ich habe Karten für die Vorstellung in unserer Stadt gekauft.«

»Toll«, erwiderte Tim enttäuscht. »Ich möchte sie lieber heute bei uns erleben. Wieso darf ich das nicht? Max darf doch auch.«

»Ich habe es dir gerade erklärt. Es wird um wissenschaftliche und philosophische Fragen gehen, um die Beschaffenheit und die Erkennbarkeit der Welt. Der Ketzer Max soll mir dabei ruhig den Widerpart zum Kardinal geben. Ich bin neugierig, auf welche Seite sich die Zauberer stellen.«

»Schade«, klagte Tim eingeschnappt.

»Du verpasst nichts«, sagte Miller. Dann wandte er sich an seinen Sekretär: »Etwas  Fantasie könnte dir nicht schaden, Max.  Mich jedenfalls stimmt ein solch prächtiges Farbenspiel am Himmel nachdenklich, auch wenn ich seinen natürlichen Ursprung kenne. Ich nehme es als ein Zeichen dafür, dass die Grenze zwischen Traum und Realität eine fließende sein könnte so wie die zwischen den realen und den virtuellen Teilchen, also jenen, die aus dem Nichts entstehen. Gewiss haben wir nicht in den biblischen Himmel gesehen, aber solch ein Bild  beflügelt meine Vorstellungen, da entsteht in meinem Kopf so etwas wie die Erinnerung an jenen Ort, wo er wohnen sollte, der Herr allen Seins.«

»Wirklich, Sie erinnern sich?«, krähte Max belustigt.

Miller ärgerte sich über den Spott. Grantig erwiderte er: »Nur Einfaltspinsel gehen diesem Thema aus dem Weg. Die anderen grübeln.«

»Und? Bringt es was? Jetzt sind wir schon soweit, auf Zauberer zu hoffen. Die kommen bestimmt vom Schöpfer der Welt persönlich.«

»Unsinn.  Gott schickt keine Zauberer. Andererseits: Was sie uns vorführen übersteigt jedes irdische Maß.«

»Ja, ja, Herr Miller. Gott schickt keine Zauberer. Schließlich haben wir schon den Papst und all die Priester, Rabbiner und Imame, das müsste reichen. Aber unheimlich sind uns diese Magier doch.«

»Du gebärst dich heute wieder mal als Ketzer, Max. Mit all diesen Fragen hängt etwas zusammen, was kluge Leute den Sinn des Lebens nennen. Interessiert dich das nicht?«

»Großvater, was ist  der Sinn des Lebens?«, platzte Tim dazwischen.

»Das weiß niemand so genau«, antwortete Max. »Bei diesem Thema ist der Dummheit Tür und Tor geöffnet. Die meisten Leute sind diesbezüglich denkfaul und nehmen begierig auf, was ihnen vorgekaut wird. Deshalb haben die Religionen keine Mühe, die Suche nach dem Sinn durch angeblich gottgewollte Verhaltensregeln zu ersetzen. Sie stricken den Menschen Schöpfer, jede Religion macht es ein wenig anders, aber jede liefert wie der Pizzabote frei Haus und immer so garniert, dass sich darauf ein Machtgefüge errichten lässt. Im Preis enthalten ist bei allen ein großes Versprechen für die Zeit nach dem Tode. Dabei müsste es doch dem größten Trottel irgendwann auffallen, dass er die Einhaltung des Versprechens nicht kontrollieren kann.«

»Aber es gibt doch einen Himmel«, versteifte sich Tim.

Miller nickte. »Ich denke schon, sagen wir, ich hoffe es. Er lässt sich von der Erde aus nur nicht nachweisen. Beim Sinn des Lebens geht es um die Frage, was der einzelne Mensch erreichen will. Diese Frage muss jeder für sich beantworten. Es geht aber auch um die Frage, ob die Existenz der ganzen Menschheit einem höheren Zweck dient. Es ist unter diesem Aspekt nicht egal, ob es einen Himmel gibt oder nicht.«

»Stimmt das, Max?«

»Dein Großvater ist ein kluger Mann.  Wenn ich mal ganz bescheiden ergänzen darf, dann ist aus meiner niederen Sicht vom einstigen Himmel der Propheten rein gar nichts geblieben. An seiner Stelle befinden sich viele Trilliarden Sterne. Und da die meisten Sterne Planeten und diese Monde haben, ist die Zahl der Himmelskörper noch viel größer.«

»Weshalb habe ich mir nur so einen Heiden angeschafft«, knurrte Miller, der die Widerspenstigkeit seines Sekretärs durchaus mochte.  

»Was ist denn nun mit den Seelen, kommt Mieze in den Himmel oder nicht!«, maulte Tim.

Max lachte: »Das wüsste ich auch gern. So ein Himmel wäre gar nicht schlecht, vor allem wenn ich dort meinen Buckel und mein Hinkebein gegen ordentliche Teile eintauschen  könnte.  Ich wette, dein Großvater hofft, dass ihm die Zauberer solche Fragen eher beantworten können als der Herr Professor Rotter mit seiner Dicken Berta.«

Miller fühlte sich ertappt und reagierte schroff: »Lass mein Institut aus dem Spiel, du Narr! Die Wissenschaft hat den alten Himmel zerstört, nun soll sie gefälligst einen neuen schaffen. Wir wollen nachschauen, ob es Dimensionen gibt, die wir nicht sehen können, Tim. Früher dachten die Menschen, der Himmel sei über den Wolken. Aber dort sind wirklich nur endloser Raum und Sterne. Gott dürfte wohl kaum auf einem  Planeten sitzen, der eine dieser Trilliarden fremden Sonnen umkreist. Dann befände er sich ja in keiner anderen Lage als wir. Wie sollte er auf die von dort aus gar nicht erkennbare Erde schauen, wie könnte er  Einfluss auf uns nehmen, wie uns helfen? Wenn es den Himmel gibt, an den ich glaube, dann befindet er sich in einer anderen Dimension.«

»Wo kann die denn sein?«, fragte Tim. »Ich weiß, dass die Dicke Berta danach suchen soll, aber vorstellen kann ich mir das nicht.«

Miller nickte. »Es ist auch nicht einfach. Vielleicht kann ich es so erklären: Wenn du dich hier umschaust, siehst du alles, was sich hier im Saal befindet - der große Tisch, die Stühle, das Fenster, die Sesselecke, die Rüstungen, die alten Waffen, die Gemälde, das Parkett. Aber du siehst den Raum darunter nicht. Der Saal hier ist deine Dimension, der Raum darunter, überhaupt alle anderen Räume, sind nicht deine Dimension, es sind fremde, von hier aus unsichtbare Dimensionen.«

»Da gehe ich einfach die Treppe runter.«

Miller und Max lachten.

»So einfach ist es bei den richtigen Dimensionen nicht. Zwischen denen existiert keine Treppe. Oder sagen wir so, wir haben noch keine gefunden. Mit der Teilchenanlage im Institut suchen wir danach. Aber ob wir das schaffen, ist unsicher. Vor diesem Hintergrund ist es schon interessant, wenn Zauberer Dinge beherrschen, die aus dem Verständnis unserer eigenen Dimension völlig unerklärlich sind. Ich denke, dass dieser Luzifius und seine Assistentin Amanda vielleicht all den Professoren einiges an Wissen voraus haben. Es muss noch etwas geben neben den uns bekannten Naturgesetzen. Du bist ja selbst auf einem Teppich geflogen.«

»Ja, das war toll.«

Miller nickte. »Und ich wüsste gern, wie das funktioniert. Dem Max ist es natürlich  wurscht.«

»Warum denn, Max?«

Für den Sekretär war es an der Zeit zu kapitulieren. »Sie haben wie immer recht, Herr Miller. Ich werde meine geringen Fähigkeiten besser auf die Küche und den Transport der Köstlichkeiten ins Institut richten. Wir wollen doch nicht, dass sich unsere Gäste ihre Mahlzeit am Ende selbst herbeizaubern müssen.  Denn falls dem Schöpfer angesichts der Unendlichkeit des Alls der Blick für die Erde verloren ging, dann fehlt dem Braten möglicherweise der himmlische Segen. Gestatten Sie also, mich zu entfernen.«

»Schwirr ab!«

Miller war ein wenig die Stimmung verdorben. Wieder einmal hatte es sich gezeigt, was den einfachen vom gehobenen Mann unterschied: Der eine nahm die Welt, wie er sie zu Gesicht bekam, der andere zermarterte sich den Kopf über ihre wahre Beschaffenheit. Und die war schwer erkennbar und hatte sich im Verständnis der Menschen bereits erheblich gewandelt. Galt die Erde einst als Scheibe und später als Mittelpunkt der Welt,  so blieb ihr jetzt nur noch die Rolle des Staubkorns in einem praktisch grenzenlosen Universum. Nun warfen Physiker zusätzlich die Frage auf, ob es nicht mehrere, vielleicht sogar unendlich viele dieser Universen geben könnte. Aber gerade darin bestand auch die Chance. Die Menschen mussten Gottes Ort in einer anderen Dimension, einer anderen Welt, einem anderen Universum suchen, einem, das ganz anders aufgebaut war.

Je näher sich der alte Miller seinem eigenen Ende wusste, desto mehr wälzte er solche Fragen. In einer Welt der Unendlichkeit verlor die Menschheit ihre  Einzigartigkeit, in solch einer Welt musste es allein der Wahrscheinlichkeit halber Milliarden ähnliche Zivilisationen geben. War Gott für sie alle zuständig? Welche Zeit blieb ihm dann noch, sich einem einzelnen Wesen zu widmen, das sich mit Gebeten an ihn wandte? Statistisch betrachtet gar keine. Dieser Gedanke beunruhigte den Alten. Der Kardinal Bachinger, den er gelegentlich mit solchen Fragen provozierte, ließ sich höchst ungern auf das Thema ein und dozierte, der Mensch neige dazu, sich selbst zu überhöhen, indem er versuche, Gott zu verstehen. So oft er sich darum bemühe, so oft werde er daran scheitern.