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Robert Odei stellt neun sehr unterschiedliche Kurzgeschichten vor. Der Leser trifft auf skurrile Charaktere wie depressive Priester, Lebemänner mit Gedächtnislücken, Bürgerkriegs- Deserteure oder geisteskranke Eigenbrötler.
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Seitenzahl: 193
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Robert Odei
Gottes Zirkus
Neun Kurzgeschichten
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Anmerkung zu "Der Gärtner in uns"
Der Gärtner in uns
Anmerkung zu "Der Alte Feind"
Der Alte Feind
Anmerkung zu "boheme"
boheme
Anmerkung zu "Lili-Maus"
Lili-Maus kurz
Lili-Maus lang
Anmerkung zu "Gottes Zirkus"
Gottes Zirkus
Anmerkung zu "Ed"
Ed
Anmerkung zu "Eine Lektion in Moral"
Eine Lektion in Moral
Anmerkung zu "Sinistra"
Sinistra
Anmerkung zu "Winter Squash"
Winter Squash
Abschlusswort
Impressum neobooks
Diese Kurzgeschichte habe ich für einen Wettbewerb geschrieben. Das Thema lautete "Time of Crime". Krimi oder Thriller wurde gesucht.
Dies war eine Gelegenheit, endlich eine Idee, die ich seit längerem im Kopf herumtrug, auszuprobieren. Ich war neugierig darauf, inwieweit es mir erzählerisch möglich war, den Leser als Protagonisten in eine Geschichte einzubeziehen. Die meisten von uns kennen aus dem Deutschunterricht den Ich-Ehrzähler, den Allwissenden Erzähler und den Personalen Erzähler (der nicht allwissend ist). Mir wäre kein Buch bekannt, das sich einer wie auch immer gearteten Du-Erzählweise bedient. Das liegt womöglich daran, dass eine solche Erzählweise ausgesprochen geisteskrank klingen würde. Um keinen vollkommenen Schwachsinns- Text zu verfassen, entschied ich mich für eine Erzählung aus der Ich- Perspektive, in der ich den Leser direkt anspreche und möglichst dicht an die Handlung führe. Da ich als Schreiber zu sehr in die Geschichte involviert bin, kann ich nicht beurteilen, wie sehr sich ein (neutraler) Leser in die Geschichte einbezogen fühlt. Es ist Aufgabe des Lesers, das für sich herauszufinden.
Eines noch, manchen wird auffallen, daß dies die einzige Geschichte ist, an deren Schluss kein "Ende" steht.
Ich schlafe schlecht. Das sollten Sie wissen, bevor Sie über mich urteilen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Es ist nicht so, dass Sie sich ein Urteil erlauben dürfen. Ich wollte nur gesagt haben, dass ich nicht gut schlafe.
Nicht jeder Tag bringt diese Gereiztheit mit sich. Es gibt auch gute Tage, an denen ich meine Arbeit gerne verrichte. Nur ist heute kein solcher Tag. Wenn Sie mich begleiten wollen, sollten Sie Abstand nehmen. Stören Sie mich nicht, und wir werden miteinander auskommen. Sollte Ihnen etwas an meiner Arbeit missfallen...
...behalten Sie es für sich.
Wenn Sie sich nützlich machen wollen, setzen Sie einen Pott Kaffee auf. Ach was, ich mach´s selbst. Ihr Voyeure rührt doch keinen Finger. Stille Beobachter und so weiter. Ist klar.
Die Thermoskanne, in die ich den Kaffee fülle, ist schon stark zerbeult. Ich sollte sie gegen eine neue eintauschen. Das denken Sie vielleicht, doch ich sage, dass es nur wenige Dinge auf der Welt gibt, die einem ein Leben lang treu bleiben. Und noch weniger Dinge, die einem das Leben retten können. Also behalten Sie Ihre Meinung für sich.
Wenn ich aus dem Fenster sehe, die dunkle, dampfende Stadt betrachte, fühle ich mich gefangen in einem enormen Schnellkochtopf. Die Hitze nimmt niemals ab. Der Druck steigt in unerträgliche Höhen. Der Dreck, der Gestank, werden durch ein zu kleines Ventil gepresst, immer einen Hauch von der Explosion entfernt. Gut, der Vergleich hinkt. Aber Sie wollen keinen Dichter begleiten. Sie wollen mich begleiten.
Also folgen Sie mir. Und vergessen Sie die verdammte Thermoskanne nicht.
Schon mal mit einem dieser Lastenaufzüge gefahren? Wunderbare Apparate sind das. Wenn ich nach Hause komme, parke ich den Wagen rückwärts ein. Den Motor stelle ich ab und fahre mitsamt dem Wagen hoch in meine Wohnung. Diese Dinge sind es, die mir das Leben erträglicher machen. Der Camaro, die Wohnung, die Thermoskanne. Der ganze Rest kann von mir aus in dem großen Schnellkochtopf zu Schlacke verbrennen. In meinen Augen werden Sie kein Bedauern sehen.
An manchen Tagen verspüre ich den Drang, mit Vollgas aus dem Lastenaufzug zu brettern. Diesem Drang habe ich bisher widerstanden. Ich lenke den Camaro auf den Hinterhof und steige aus, um das Tor des Aufzuges herunterzulassen. Wäre eigentlich nicht nötig, da sich ohne den Schlüssel der Aufzug nicht bedienen lässt.
Während wir den Hinterhof verlassen, um auf die Straße zu gelangen, rufe ich mir ein paar Gesichter ins Gedächtnis. Leute, die wir heute treffen werden. Keine Angst, ich kenne die Straßen wie meine Westentasche. Könnte sogar blind fahren. Lehnen Sie sich zurück. Glauben Sie mir, diese Schalensitze werden Sie nicht mehr missen wollen.
Bevor ich mit meiner Arbeit beginne, muss ich kurz zum Obdachlosenasyl, mich zum Dienst melden. Dauert nicht lange. Ich parke den Wagen hier in der Nebenstraße. Bleiben Sie sitzen, bin gleich zurück. Drei Minuten.
Habe die Kollegen gegrüßt und die Stechkarte durchgezogen. Jetzt kann´s losgehen.
Merken Sie, wie gleichmäßig der Motor brummt? Hab´ ich selbst zusammengeschraubt. Wahre Kunst ist das. Wissen Sie, wenn sich das ganze Leben in Hinterhöfen und Seitenstraßen abspielt, rücken ganz andere Dinge in den Fokus unserer Wertschätzung. Ich denke nicht darüber nach, mal´ ich jetzt ein Bild oder schreib´ ich ein Buch? Das ist was für Leute, die Shopping Malls lieben und Boulevards. Nein, ich denke mir: Wie schraube ich mir ein Fahrrad zusammen, damit ich schneller zur Schule komme? Wo bekomme ich umsonst eine Ladung Fliesen, damit das Bad nach was aussieht? Wo rostet die Karosse eines Camaros vor sich hin, die ich aufpäppeln kann? Das sind die Fragen des Lebens. Verrückt, ich weiß. Ihr Typen seid ganz anders. Ihr denkt: Was lese ich denn am Wochenende? Wie rum bügel´ ich das Hemd? Soll ich dem Hund wirklich das teure Futter kaufen? Sie lachen, aber ich weiß Bescheid.
Hey, da sind wir schon. Sehen Sie den Kerl zwischen den Mülltonnen? Ja, der ist als erster dran. Kommen Sie, steigen Sie aus.
So sieht´s aus: Ich halte am Straßenrand. Bleiben Sie einfach hier und lassen Sie sich nicht anquatschen. Ich hole was aus dem Kofferraum und kümmer´ mich um meinen Freund Freddy. Locker bleiben. Sie werden schon genug mitbekommen.
Der Kofferraum ist voll mit Plastiktüten. Welche ich herausziehe ist egal. Sind alle gleich. Man braucht ein System, damit´s funktioniert.
Mit der Plastiktüte in der Hand gehe ich zu Freddy, dessen glänzende Augen unter der Wollmütze hervorstechen. Er weiß bereits, dass ich komme. Bin pünktlich, immer.
“Freddy, wie geht´s, mein Freund?”, frage ich ihn. Er richtet sich zwischen den Metallwänden der Müllcontainer auf und greift bereits nach der Tüte, bevor ich sie ihm reichen kann. Die Pappkartons, die er zum Isolieren seines Schlafplatzes braucht, sind zu sehr aufgeweicht, um noch gerade zu stehen. Werde ihm am Ende der Schicht neue Kartons besorgen. Notiz an mein Gehirn.
“Sieh her”, sage ich und hole eine Packung Toastbrot hervor. Ich stelle sie neben Freddy, der lieber in der Plastiktüte wühlt. Es folgen Würstchen im Glas und Fertigfutter, das man nur aufreißen braucht. Freddy wird ungeduldig und schiebt meine Hand weg. Wie jedes Mal beginnt er zu quengeln.
“Beruhig dich. Ich hab´ was du willst. Ich denk doch an den alten Freddy.” Geduldig lege ich ihm eine Hand auf den dick eingepackten Unterarm, bis er aufhört zu drängen. Er kennt das Prozedere, er weiß, dass die Flasche ganz unten liegt.
“Hier hast du sie”, sage ich, und reiche ihm die Flasche Wodka. Tränen der Freude steigen in seine Augen. Er drückt mir die Schulter und lässt die Flasche unter unzähligen Lagen Kleidung verschwinden.
Freddy ist einer, der einem den Abschied leicht macht. Freddy will nicht reden. Und er will nicht jammern. Er ist froh, wenn er wieder allein sein darf.
Und, alles genau beobachtet? Dann auf zum Nächsten.
Sie werden schnell erkennen, wie meine Klienten drauf sind. Wir haben noch einige vor uns, manche werden laut sein und schimpfen. Andere werden mich zum Teufel wünschen oder mich nicht gehen lassen. Sie werden mich bespucken oder mit Müll nach mir werfen. Alles schon gehabt.
Die Sonne geht bald unter. Wir müssen einen Zahn zulegen. Wenn ich heute nicht alle finden kann, muss ich morgen die Route ändern. Dann komm ich in Verzug. Die nächste auf der Liste ist Lucy. Die ist schwierig. Nicht schwer zu finden, sondern schwierig im Charakter. Richtiger Problemfall. Werden ja sehen.
Jetzt schenken Sie mir mal einen Kaffee ein. Schleppen ja die Thermoskanne nicht umsonst den ganzen Tag mit sich rum, aber achten Sie auf die Sitze. Auch einen, hm? Sie trinken wohl nicht aus demselben Schraubdeckel? Soll mir recht sein.
Ich werde jetzt eine Weile herumfahren, bis wir Lucy finden. Achten Sie auf eine spindeldürre Frau mit fettigen Haaren. Sind ganz lang und schwarz. Sie selbst ist bleich wie ein Skelett. Mehr als das Skelett ist auch nicht übrig von ihr.
Hey, sorry wegen der Vollbremsung. Alles okay? Habe da hinten in der Gasse Lucy entdeckt. Sehen Sie den dampfenden Kanaldeckel? Ein Kerl steht bei ihr. Scheiße, die Tauschen was aus. Den Wichser kenne ich. Stuffs, oder so ähnlich, nennen die den. Der verkauft Ihnen Rattengift als Designerdroge.
Kommen Sie! Steigen Sie aus. Ich brauch Sie vielleicht, falls der Wichser ausrastet. Bleiben Sie einfach hinter mir und sagen Sie nichts. Wenn ich mit ihm nicht fertig werde und er komisch wird, ziehen Sie ihm die Thermoskanne über den Schädel. Was glauben Sie denn, weshalb die so zerbeult ist? Auf jetzt!
Sehen Sie ihn sich an. Wie selbstsicher er tut, wenn er es mit Frauen zu tun hat. Merkt nicht, das wir kommen, das lange Wiesel. Hören Sie, wie er auf Lucy einredet? Als würde er für den Teufel persönlich arbeiten.
Okay, er hat uns gesehen. Bleiben sie locker und sagen Sie nichts, dann kann er Sie nicht einschätzen.
“Verdaaamt”, jammert Stuffs auf. “Was machst du Penner denn hier?”
Lucy sieht mich jetzt auch. Ihre blutleere Unterlippe spannt sich vor Zorn. “Eh, Samariter, verschwinde hier. Kann ich mich nicht mal in Ruhe unterhalten, ohne dass du aufkreuzt?”
Während ich mich ihnen nähere, stecke ich die Hände in die Taschen meiner Sportjacke, in der Hoffnung, dass ich dadurch nonchalant wirke, und sie nicht merken, was ich vorhabe.
Die schwitzende Vogelscheuche namens Stuffs tritt mir entgegen und stellt sich viel zu dicht vor mich. Er stinkt nach organischem Glibber. Hinter ihm beginnt Lucy, nervös auf und ab zu gehen, weil sie die Situation nicht richtig abschätzen kann.
“Ich scheiß dir gleich ins Maul”, sagt Stuffs. “Und wer ist das?”
Ich werfe einen Blick hinter mich, um zu sehen, ob Sie noch da sind.
“Das ist niemand”, sage ich.
“Ist mir auch egal. Wenn ihr nichts kaufen wollt, verpisst euch alle beide.”
Es fällt mir schwer, nicht vor Stuffs zurückzuweichen. Er ist eine Hand breit größer als ich und zwingt mich, den Oberkörper zurückzubeugen, um seinem Atem zu entgehen.
“Weißt du noch, was ich dir gesagt habe, Lucy? Was ich tun werde, wenn ich dich dabei erwische, dass du Drogen kaufst?”
“Hey”, sagt Stuffs. “Du sprichst mit mir und nicht mit der da. Also sieh mich an, du Arschloch.” Er stößt mir die Finger in die Brust und versucht, mich wegzuschieben. Es macht ihn rasend, dass ich an ihm vorbei mit Lucy spreche.
“Schmeiß das Zeug fort und lass dir dein Geld wiedergeben”, befehle ich ihr.
“Was, bist du jetzt Bulle geworden?”, höhnt Lucy.
Stuffs Körper glüht wie ein Kohleofen. Ich schwitze wegen seiner Körperwärme. Trotzdem, ich weiche nicht zurück. Auch als er beginnt, mit der Hand an meinem Schritt zu fummeln. Lucy sieht das und lacht mich aus.
Eine Schande, dass es so kommen muss. Ich seufze einmal schwer. Stuffs interpretiert das falsch und grinst so verdorben, wie es ein Mensch nur zustande bringt. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass seine Zähne, trotz ihrer hellen Farbe, kaum noch Zahnschmelz aufweisen. Wirkt, als hätte er sie abgefeilt. Für heute hat er ausgelacht. Er fühlt es ganz deutlich, als ich ihm das Knie in die Magengrube ramme.
Locker bleiben dahinten. Halten Sie sich einfach an der Thermoskanne fest. Die Situation ist unter Kontrolle, auch wenn Lucy vor Empörung schreit, und Stuffs würgt. Ich muss ihm noch eine verpassen, damit er auf Abstand geht. Ich weiß, dass das ziemlich schnittig aussieht, weil ich immer noch die Hände in den Jackentaschen habe. Sie werden gleich sehen wieso.
Ich rede auf Lucy ein, die nicht aufhört, mich zu verfluchen. Sie wirft mir Schimpfnamen an den Kopf, die ich noch nie gehört habe. Sie hat mich fast so weit, dass ich ihr eine reinhaue, aber ich kann Stuffs nicht aus den Augen lassen, solange ich ihn nicht ganz ausgeschaltet habe.
“Ich zeig dich an”, schreit Lucy. “Das ist Stalking, was du hier machst! Hilfe, Polizei!” Sie schreit und keift und lacht dabei. Die Freude bringt sie dazu, auf der Stelle zu hüpfen. Einen Moment lang denke ich, sie muss sich übergeben, doch sie beugt den Oberkörper vor, damit sie noch lauter schreien kann. “Vergewaltigung!”, brüllt sie.
“Hältst du jetzt mal das Maul?”, wimmert Stuffs. Er sammelt sich vom Boden auf und steht plötzlich mit einer Waffe vor mir. Mit der freien Hand wischt er sich das schmutzige Haar aus dem Gesicht. Wie eine Frau schiebt er sich eine lange Strähne hinter das Ohr.
Lucy verstummt beim Anblick der Waffe in seiner Hand. Eine Art fiebriger Vorfreude lässt ihre Augen aus den Höhlen treten.
Hey, jetzt nicht nervös werden. Sind Sie noch da? Nicht wegrennen.
“Ich mach euch beide kalt”, sagt Stuffs. Das Grinsen ist ihm vergangen, umso ernster nehme ich seine Drohung. Er hebt die Waffe auf meine Augenhöhe. So wie ich das sehe, hat er die kleine Pistole selbst gebaut. Es ist nicht mehr als ein Stück Rohr mit einem simplen Abzugsmechanismus daran. Solche bauen sie im Knast. Passt nur eine Kugel rein. Das ist schon mal ein Vorteil für mich, falls ich es schaffe, der einen Kugel auszuweichen. Diese selbstgebauten Pistolen sind herrlich ungenau. Man muss schon Glück haben, um auf drei Meter Entfernung einen Menschen zu treffen. Allerdings ist Glück nichts worauf ich mich verlasse.
“Wirf das Spielzeug weg, Stuffs. Ich warne dich nur einmal.”
Die talgige Strähne fällt ihm erneut ins Gesicht, und er muss sie ein weiteres Mal zur Seite streichen, damit er auf beiden Augen sehen kann. Die Bewegung lässt ihn unwachsam werden, und diesen Moment nutze ich.
Mit einem lauten Knall platzt meine Jackentasche nach außen. Flammen lecken kurz über das feuerfeste Material, um sofort zu verlöschen. Im selben Moment zerplatzt ein Backstein in der Mauer hinter Stuffs.
Meine rechte Hand fühlt sich an, als hätte ich sie in offenes Feuer gehalten. Heißer Rauch strömt aus dem Loch in meiner Jacke. Ich rühre mich nicht, sondern beobachte Stuffs, um zu sehen, ob er begriffen hatte. Der Lauf seiner primitiven Pistole sinkt nach unten, als er an seinem Bauch hinabschaut. Ein großer roter Spritzer wächst auf seiner weißen Polyesterjacke. Auf das qualvollste gekränkt sieht er mich an. Bevor er auf die Knie fällt, hebt er die Pistole und drückt aus nächster Nähe ab.
Die Waffe in seiner Hand ist so hohl, dass sie kaum einen Knall verursacht. Rauch platzt nach allen Seiten heraus. Unmöglich zu sagen, ob eine Kugel den Lauf verlässt. Ich spüre nichts, also hat er mich verfehlt. Dafür höre ich hinter mir ein metallisches Pling!
Oh nein! Ich wirbele herum. Es tut mir leid! Mir ist nicht in den Sinn gekommen... Bleiben Sie ruhig. Die Kugel hat die Thermoskanne getroffen. Sie haben sie fallengelassen. Aber...
Sie sind nicht getroffen. Wie...?
Und da höre ich Lucy fallen. Keine zwei Meter neben der Stelle, an der Stuffs mit dem Gesicht nach unten liegt. Lucy liegt auf dem Rücken und schnappt nach Luft. Unter ihr breitet sich eine dunkle Pfütze aus, die sich unaufhaltsam mit Stuffs´ größerer Pfütze verbinden wird.
Während ich zu Lucy stürze - während ich versuche, das kleine schwarze Loch in ihrem Brustbein zuzuhalten, wird mir die Ironie dieser Situation bewusst: Hätte Stuffs eine richtige Pistole gehabt, hätte die Kugel die Thermoskanne durchschlagen. Bedanken Sie sich bei Ihrem Schöpfer.
Und während Lucys Schnappen nach Luft kraftloser wird, denke ich an das Versprechen, das ich ihr gab: Ich werde jeden erschießen, der dir schadet. Bedenke das, wenn du wieder einen Dealer triffst. Du tötest diese Dealer genauso, als würdest du ihnen eine Waffe an den Kopf setzen.
Ich weiß, was Sie denken. Sie glauben, Sie wären aus dem Schneider, weil Sie keine Waffe abgefeuert haben. Falsch gedacht.
Lucys Herz tut seine letzten drei Schläge: Po-Poch... po-poch...
...po...
Es ist vorbei, und mir bleibt nichts weiter zu tun, als ganz dicht an Sie zu treten. Ich schwitze. Seit drei Wochen habe ich mich nicht rasiert. Mein Atem wird nicht der frischeste sein, wenn ich Sie frage:
Wer von uns kann behaupten, nicht getötet zu haben?
Auch diese Kurzgeschichte habe ich für einen Wettbewerb geschrieben. Man muss die Vorgaben nicht unbedingt kennen, um die Geschichte zu verstehen, aber ich führe sie der Vollständigkeit halber an: 1. Das Thema lautete "Der Fluch des Colorado River". 2. Western trifft auf übernatürliche Elemente. 3. Maximal 25.000 Anschläge.
Man könnte denken, dass die Mischung aus Western und Horror bzw. übernatürlichen Elementen etwas selten Dagewesenes ist, was einem viel Raum für Spekulation und Phantasterei lässt. Doch wenn man in dieser Hinsicht ein wenig belesen ist, weiß man, dass das Western- Genre bereits mit jeder erdenklichen Art von Übernatürlichem gekreuzt wurde. Es gibt Western mit Zombies, Robotern, Außerirdischen, Geistern, Monstern, Dinosauriern, Vampiren und Zeitreisenden. Also wo bitte konnte ich noch nach neuen Ideen schürfen? Um ehrlich zu sein, fiel mir das Schreiben dieser Geschichte recht schwer. Das mag zum Teil am Zeitdruck gelegen haben und zum Teil an der Tatsache, dass ich mich noch nie am Western- Genre versucht habe. Zudem stand ich vor einem zivilisatorischen Problem: Ich kannte Cowboys und Indianer nur aus klischeebeladenen Fernseh- Western und von Plastikspielzeug. Ich brauchte eine ganze Woche der intensiven Recherche, um auch nur ein annähernd plausibles Bild der Protagonisten zu zeichnen. Und das für eine Geschichte, die so wenige Seiten einnimmt.
Letzten Endes würden sie durch den Canyon reiten. Das hatte Tucker entschieden.
Und sie würden vor Sonnenaufgang reiten, weil Jeb Hunter das sagte. Tagsüber riskierten sie, bei lebendigem Leibe gesotten zu werden, darum war es klüger, die schmale Schlucht zu verlassen, bevor die Sonne senkrecht über ihnen stand.
John Gates, der dritte im Bunde, hatte gar nichts gesagt. Er wusste, dass seine Weggefährten taktischer dachten als er, darum wartete er für gewöhnlich ab, dass Tucker und Jeb sich auf eine Vorgehensweise einigten und ihm dann sagten, was zu tun war. Hätten sie verlautbart, auf dem Rücken eines Condors über die Schlucht segeln zu wollen, hätte Gates sich aufgemacht, einen der großen Vögel zu fangen und zu satteln. Gates Loyalität ging weit genug, Tucker Harrington bis in die präkambrischen Eingeweide Arizonas zu folgen.
Der Ritt selbst erwies sich als ein Gezeitenbad der Extreme. Der Wind, der nachts durch die Schlucht pfiff, war kalt genug, die sonnenverbrannten Männer zittern zu lassen. Die Schluchtwände zu beiden Seiten strahlten jedoch eine Hitze ab, die die Männer zum Schwitzen brachte, wenn der Wind nachließ. Es ärgerte Gates, dass ihm Schweiß den Rücken hinabfloss, und er dachte bereits darüber nach, wie er vom Sattel steigen sollte, ohne einen feuchten Fleck auf dem Leder zu hinterlassen.
Coyoten begleiteten sie, seitdem sie das erste Mal den Geruch des im Lagerfeuer zubereiteten Essens erschnüffelt hatten. Gates hasste diese Tiere, und zu gerne hätte er auf sie geschossen, doch im Zwielicht des morgendlichen Rittes, konnte er sie nicht ausmachen.
Etwa zur Mittagszeit des nächsten Tages musste Jeb Hunter absteigen, um seinem Pferd zwei Kaktusnadeln aus der Vorderhand zu ziehen. Er tätschelte den Hals des schlanken braunen Pferdes und holte seine Feldflasche aus dem Sattelpack. Gates zählte jeden Schluck, den Jeb machte, drei waren es an der Zahl, bevor dieser die Flasche wieder verstaute.
Das Pökelfleisch war ihnen bereits am Tag zuvor ausgegangen.
“Der Fluss ist nicht mehr weit”, sagte Tucker, und gab damit das Signal zum Weiterreiten.
Gates überlegte indessen, ob er sich an einer der Kakteen versuchen sollte, die hier überall wuchsen, jede prall gefüllt mit Wasser.
Zwei weitere Stunden vergingen in diesem jahrmillionen alten Glutofen, bis sich endlich vor ihnen eine Lücke zwischen den Canyonwänden zeigte. Beim Anblick des sich öffnenden Canyons stieg in Gates ein Gefühl auf, als wäre er durch alle Schichten der Hölle geritten, um endlich der Tore des Paradieses ansichtig zu werden. Und doch vermieden es die drei Männer, ihre Pferde anzutreiben, um endlich ins Freie zu gelangen. Das letzte, was sie jetzt brauchten, waren drei Pferde, die an Hitzschlag starben.
“Hört ihr es?” fragte Gates.
“Yeah”, sagte Jeb. Auch er hörte das Rauschen des Großen Flusses. Er nahm den Hut ab und fächelte sich damit Luft zu.
Das letzte Stück des Weges aus dem Canyon heraus, lockerten sie die Zügel und ließen ihre Pferde das Tempo selbst bestimmen. Kaum schneller als zuvor ritten sie die abschüssige Strecke hinab zum Flussbett. Sie traten aus der namenlosen Nebenschlucht heraus und fanden sich zwischen den enormen Sedimentwänden des Grand Canyon wieder. Die Sonne erstrahlte in neuer Intensität, und die Luft schwoll vor Feuchtigkeit.
Tucker Harrington, ihr Anführer, erreichte als erster ebenen Boden. Hinter ihm folgten Jeb und dann Gates. Sie vermieden es, sich um einen Punkt zu scharen, und verteilten sich stattdessen im Feld. Ruhigen Blickes sondierten sie die Umgebung, bevor sie Meldung machten.
„Norden ist sauber, Sarge“, berichtete Jeb, der kleiner und breiter gebaut war als Tucker. Er hielt die feuervernarbten Hände am Sattelknauf. Rechts davon ragte der Kolben seines Revolvergewehres hervor.
„Süden ebenfalls“, meldete Gates.
Sergeant Tuckers matte Augen suchten indessen das lange Band grüner Vegetation ab, das sich entlang des Großen Flusses erstreckte. Minutenlang saß er regungslos im Sattel, bevor er sagte:
“Hier leben Menschen.”
Jeb und Gates folgten seinem Blick und entdeckten dieselben Zeichen wie er: mehrere Trampelpfade und ein kleines Feld mit Maispflanzen zwischen den Pinyon-Kiefern und den Creosote- Büschen. Nur einen Augenblick später regte sich etwas zwischen den Pflanzen. Ein einzelner mannshoher Strauch bewegte sich eine Winzigkeit gegen den Wind.
“Ihr wisst was zu tun ist”, sagte Tucker. “Setzt die Hüte ab und haltet die Hände still. Wir ziehen das durch wie gewohnt.”
Mehr Anweisungen musste er nicht geben. Es war nicht das erste Mal, dass die Männer während ihrer Reise auf Navajos oder Hopis trafen.
Die Pferde trugen sie näher an das versteckte Dorf heran. Gates wusste, dass die Indianer sich zeigen würden, bevor die drei Männer ihrem Dorf zu nahe kamen. Und Sekunden später trat ein Navajo- Junge zwischen den Büschen hervor, um sich ihnen in den Weg zu stellen.
Sie zügelten die Pferde, und Tucker sprach in seinem befehlsgewohnten Ton:
“Verstehst du mich?”
Aus einem nicht ganz nachvollziehbaren Grund beunruhigte Gates die Jugend des Navajos. Der Junge konnte keine fünfzehn Jahre auf dem Buckel haben. Es kostete ihn sichtbar Mühe, sich vor Tuckers Pferd aufzubauen, ohne vor Angst zu zittern. Sein rotbraunes, babyglattes Gesicht trug einen Ausdruck weinerlichen Stolzes, der ihn mädchenhaft wirken ließ. Offenbar war er keiner zivilisierten Sprache mächtig, da er weder auf Englisch noch auf Spanisch Antwort gab.
“Wir ziehen weiter, wenn ihr uns etwas Proviant gebt”, versuchte es Tucker ein letztes Mal in den beiden Sprachen, die er beherrschte, doch es war zwecklos. Der Navajo- Junge starrte das Pferd an, weil er sich kaum traute in Tuckers graue Augen zu blicken.