Grabesgrün - Tana French - E-Book
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Grabesgrün E-Book

Tana French

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Beschreibung

»Ich sehne mich nach der Wahrheit. Und ich lüge.« Er ist ein erfolgreicher Ermittler. Man vertraut ihm schwierige Fälle an. Er löst sie alle. Bis eine Leiche gefunden wird – an dem Ort, der seine tiefsten Ängste weckt ... In der Ausgrabungsstätte Knocknaree bei Dublin wird ein Mädchen tot aufgefunden, aufgebahrt auf einem Opferaltar. Der junge Ermittler Rob Ryan und seine Partnerin Cassie Maddox übernehmen den Fall. Doch alle Spuren führen nur tiefer in ein unergründliches Dickicht. Und niemand darf erfahren, was mit Ryan vor zwanzig Jahren im Wald von Knocknaree geschehen ist. »Fangen Sie mit diesem Buch nicht an, wenn Sie die Nacht gut durchschlafen wollen.« Publishers weekly

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Seitenzahl: 861

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Tana French

Grabesgrün

Kriminalroman

 

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

 

Über dieses Buch

 

 

»Sie dürfen nicht vergessen: Ich bin Ermittler. Unser Verhältnis zur Wahrheit ist grundsätzlich, aber rissig, verwirrend gebrochen wie gesplittertes Glas. Wahrheit ist das Kernstück unseres Berufs, das Endspiel bei jedem Zug, den wir machen, doch wir verfolgen sie mit Strategien, die sorgsam aus Lügen und Verschleierung und jeder Spielart von Betrug zusammengesetzt sind. Was ich Ihnen sagen will, ehe ich mit meiner Geschichte anfange, ist zweierlei: Ich sehne mich nach der Wahrheit. Und ich lüge.«

 

»In diesem Fall kann man wirklich mal wieder von Kriminal-Literatur sprechen.Tana Frenchs beinahe ausufernde sprachliche Fähigkeiten beschwören ganze Welten herauf.« WDR2»Einer der spannendsten, subtilsten und sprachlich ausgefeiltesten Kriminalromane des Jahres.« NDR1

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Tana Frenchstiefgründige, hochspannende Romane um Täter, Opfer und Ermittler aus ihrem Dubliner Universum finden sich regelmäßig auf den internationalen Bestsellerlisten und sind vielfach ausgezeichnet worden. Tana French wuchs in Irland, Italien und Malawi auf, machte eine Schauspielausbildung am Dubliner Trinity College und arbeitete für Theater, Film und Fernsehen. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Dublin.

 

Tana Frenchs Kriminalromane: ›Grabesgrün‹ ›Totengleich‹ ›Sterbenskalt‹ ›Schattenstill‹ ›Geheimer Ort‹

 

www.tanafrench.de

Inhalt

Widmung

Motto

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

Anmerkung

Danksagung

Für meinen Vater, David French, und meine Mutter, Elena Hvostoff-Lombardi

»Wahrscheinlich nur der freche schwarze Pudel von irgendwem. Aber ich hab mich immer gefragt … was, wenn Er es doch gewesen ist und Er befunden hat, dass ich es nicht wert bin?«

Tony Kushner: A Bright Room Called Day

Prolog

Stellt euch einen Sommer vor wie aus einem Fünfzigerjahre-Kinderfilm in ländlicher Kulisse. Er ist weit entfernt von Irlands kaum zu unterscheidenden Jahreszeiten, die für den Gourmetgaumen angerührt werden, keine Aquarelltöne mit einer Prise Wolken und weichem Regen. Nein, dieser Sommer ist vollmundig und verschwenderisch in einem warmen klaren Siebdruckblau. Dieser Sommer explodiert auf der Zunge und schmeckt nach Grashalmen, eurem eigenen sauberen Schweiß, nach Doppelkeksen, aus denen die Cremefüllung quillt, und geschüttelten Flaschen roter Limonade, dem klassischen Baumhauspicknick. Er prickelt euch auf der Haut, wie der BMX-Fahrradwind im Gesicht, wie Marienkäferbeinchen auf den Armen. Er erfüllt jeden Atemzug mit frisch gemähtem Gras und wehender Wäsche an der Leine. Er klingelt und sprudelt über vor Vogelgezwitscher, Bienen, Blättern und hüpfenden Fußbällen und Abzählreimen, Eins! Zwei! Drei! Dieser Sommer wird nie enden. Er beginnt jeden Tag mit dem Klingeln des Eiswagens und eurem besten Freund, der an die Tür klopft, beendet ihn mit einer langen, gemächlichen Dämmerung und den Silhouetten eurer Mütter, die euch von der Haustür aus über die Balzrufe der Fledermäuse hinweg zum Abendessen rufen. Es ist der Ewigsommer in all seiner schönsten Pracht.

Stellt euch einen ordentlichen kleinen Irrgarten von Häusern auf einem Berg vor, nur wenige Meilen von Dublin entfernt. Irgendwann, so verkündet die Regierung, wird daraus ein florierendes Vorstadtwunder werden, eine perfekt geplante Lösung für drängende Enge und Armut und überhaupt jedes städtische Übel. Vorläufig besteht das Ganze jedoch bloß aus einer Handvoll geklonter Doppelhäuser, die noch so neu sind, dass sie sich verschreckt und linkisch an den Hang klammern. Während die Regierung von McDonald’s und Multiplexkinos tönte, haben ein paar junge Familien – die den Mietskasernen und Außenklos entfliehen wollten, die von großen Gärten und Spielstraßen für ihre Kinder träumten oder sich mit einem Lehrer- oder Busfahrergehalt ein bescheidenes Eigenheim geleistet hatten – Kisten gepackt und sind über einen schmalen Feldweg mit einem Streifen Gras und Gänseblümchen in der Mitte zu ihrem strahlenden Neuanfang geholpert.

Das ist zehn Jahre her, und das diffuse Neonlichtflimmern von Ladenketten und Stadtteilzentren, das unter der Überschrift »Infrastruktur« herbeigeredet wurde, ist bislang ausgeblieben; nur dann und wann wettern Hinterbänkler im Parlament gegen angeblich zwielichtige Grundstücksgeschäfte. Noch immer lassen Farmer ihre Kühe auf der anderen Straßenseite weiden, und auf den benachbarten Hängen schaltet die Nacht nur eine magere Ansammlung von Lichtern ein. Hinter der Siedlung, wo die Zukunftspläne das Einkaufszentrum und den hübschen kleinen Park vorsehen, breiten sich eine Quadratmeile und Gott weiß wie viele Jahrhunderte Wald aus.

Kommt näher, folgt den drei Kindern, die über die dünne Membran aus Stein und Mörtel klettern, die den Wald von den Doppelhäusern fernhält. Ihre vorpubertären Körper sind stromlinienförmig und unverkrampft, wie leichte Flugapparate. Weiße Tattoos – ein Blitz, ein Stern, ein A – leuchten an den Stellen, wo die zurechtgeschnittenen Pflaster geklebt haben und die Sonne nicht hinkam. Eine Fahne aus weißblondem Haar flattert: einen Fuß aufgesetzt, ein Knie gegen die Mauer, rauf und drüber und weg.

Der Wald ist lauter Geflimmer und Gemurmel und Illusion. Seine Stille ist eine pointillistische Verschwörung aus Millionen winziger Laute – Rascheln, Flattern, namenlose abgehackte Schreie. In seiner Leere wuselt heimliches Leben, huscht immer knapp außerhalb des Blickfeldes vorbei. Vorsicht: Bienen schwirren in den Spalten im Stamm der gebeugten Eiche. Bleibt stehen und dreht einen x-beliebigen Stein um, und seltsame Larven ringeln sich gereizt, während ein emsiges Band aus Ameisen sich an eurem Knöchel hinaufwindet. In dem verfallenen Turm einer verlassenen Festung klammern sich Brennnesseln so dick wie euer Handgelenk zwischen den Steinen fest, und im Morgengrauen holen Kaninchen ihre Jungen unter dem Fundament hervor, damit sie sich auf alten Gräbern tummeln können.

Diesen drei Kindern gehört der Sommer. Sie kennen den Wald so gut wie die Kraterlandschaft ihrer aufgeschürften Knie. Stellt sie mit verbundenen Augen in irgendeine Mulde oder auf eine Lichtung, und sie fänden ohne einen Fehltritt den Weg hinaus. Das ist ihr Reich, und sie regieren es wild und gebieterisch wie junge Tiere. Sie klettern auf seine Bäume und spielen in seinen Winkeln Verstecken, den ganzen endlosen Tag lang und die ganze Nacht in ihren Träumen.

Sie stürmen in Legenden hinein, in Gutenachtgeschichten und Albträume, die Eltern wohl niemals hören werden. Die schmalen, vergessenen Pfade hinunter, die ihr niemals allein finden würdet, sie toben um die zerfallenen Steinmauern herum und ziehen Rufe und Schnürsenkel hinter sich her wie Kometenschweife. Und wer ist das da, der am Flussufer wartet, die Hände in den Weidenzweigen, dessen Lachen schwankend von den hohen Zweigen fällt, wem gehört das Gesicht im Unterholz, aus Licht und Laubschatten, das ihr aus den Augenwinkeln seht und das einen Wimpernschlag später wieder verschwunden ist?

Diese Kinder werden nicht heranwachsen, nicht in diesem Sommer und in keinem anderen. Dieser August wird sie nicht auffordern, versteckte Reserven an Stärke und Mut zu mobilisieren, um sich der komplizierten Erwachsenenwelt zu stellen und danach trauriger und weiser und in lebenslanger Freundschaft verbunden zu sein. Dieser Sommer hat andere Pläne für sie.

1

Eins dürfen sie nicht vergessen: Ich bin Ermittler. Unser Verhältnis zur Wahrheit ist grundsätzlicher Art, aber rissig, verwirrend gebrochen wie gesplittertes Glas. Wahrheit ist das Kernstück unseres Berufs, das Endspiel bei jedem Zug, den wir machen, und wir verfolgen sie mit Strategien, die sorgsam aus Lügen und Verschleierung und jeder Spielart von Betrug zusammengesetzt sind. Die Wahrheit ist die begehrenswerteste Frau der Welt, und wir sind ihre eifersüchtigen Liebhaber, die reflexartig jedem anderen auch nur einen flüchtigen Blick auf sie verweigern. Wir betrügen sie gewohnheitsmäßig, verstricken uns stunden-, ja tagelang in Lügen, und dann drehen wir uns zu ihr um und halten ihr das ultimative Möbiusband des Liebhabers hin: Ich hab das nur gemacht, weil ich dich so sehr liebe.

Ich habe einen Hang zur bildhaften Sprache, vor allem der beliebigen, gefälligen Art. Lassen Sie sich von mir nicht einreden, wir wären ein Haufen edler Ritter, die im edlen Wams hinter Lady Wahrheit auf ihrem Schimmel hergaloppieren. Was wir tun ist grob, derb und schmutzig. Eine junge Frau liefert ihrem Freund ein Alibi, wenn wir ihn verdächtigen, eine Bank überfallen und den Kassierer niedergestochen zu haben. Zuerst flirte ich mit ihr, sage, dass ich mir gut vorstellen kann, warum er gern zu Hause bleibt, wo er doch sie hat. Sie ist wasserstoffblond und schmuddelig, hat die ausdruckslosen, dumpfen Gesichtszüge von Generationen schlechter Ernährung, und insgeheim denke ich, wenn ich ihr Freund wäre, würde ich sie liebend gern gegen einen haarigen Zellengenossen namens Razor eintauschen. Dann erzähle ich ihr, dass wir markierte Scheine aus der Kasse in seiner edlen Trainingshose gefunden haben und er behauptet, sie wäre an dem Abend ausgegangen und hätte ihm die Scheine gegeben, als sie zurückkam.

Ich bin dabei so überzeugend, lege eine so zarte Mischung aus Unbehagen und Mitgefühl ob des Verrats ihres Freundes an den Tag, dass ihr Glaube an vier gemeinsame Jahre schließlich in sich zusammenfällt wie eine Sandburg, und während ihr Freund mit meinem Partner im Nebenzimmer sitzt und immer nur sagt: »Leck mich, ich war mit Jackie zu Hause«, erzählt sie mir heulend und rotzend alles (angefangen von dem Zeitpunkt, als er das Haus verließ, bis hin zu seinen sexuellen Defiziten). Dann klopfe ich ihr sachte auf die Schulter, reiche ihr ein Kleenex und eine Tasse Tee – und lasse sie die Aussage unterschreiben.

Das ist mein Job, und niemand entscheidet sich dafür, wenn er nicht eine gewisse natürliche Neigung zu den damit verbundenen Anforderungen hat – oder falls doch, hält er nicht lange durch. Was ich Ihnen sagen will, ehe ich mit meiner Geschichte anfange, ist zweierlei: Ich sehne mich nach der Wahrheit. Und ich lüge.

 

Folgendes las ich in der Akte, einen Tag, nachdem ich zum Detective befördert worden war. Ich werde wieder und wieder auf diese Geschichte zurückkommen, und das auf vielerlei Weise. Traurig, aber nicht zu ändern: Es ist die einzige Geschichte auf der Welt, die nur ich erzählen kann.

Am Nachmittag des 14.August 1984 spielten in dem kleinen Ort Knocknaree bei Dublin drei zwölfjährige Kinder – Germaine (Jamie) Elinor Rowan, Adam Robert Ryan und Peter Joseph Savage – auf der Straße, wo sie wohnten. Es war ein heißer, sonniger Tag, viele Nachbarn waren in ihren Gärten, und im Laufe des Nachmittags wurden die Kinder von zahlreichen Zeugen gesehen, wie sie auf der Mauer am Ende der Straße balancierten, Fahrrad fuhren und in einem aufgehängten Autoreifen schaukelten.

Damals wohnten noch nicht viele Familien in Knocknaree. Eine anderthalb Meter hohe Mauer trennte die Siedlung von einem ausgedehnten Waldstück. Gegen 15.00 Uhr ließen die drei Kinder ihre Fahrräder im Vorgarten der Savages zurück und sagten zu MrsAngela Savage, die gerade Wäsche aufhängte, sie würden zum Spielen in den Wald gehen. Das war nichts Ungewöhnliches, und sie kannten sich gut in diesem Teil des Waldes aus, daher hatte MrsSavage keine Bedenken, sie könnten sich verlaufen. Peter hatte eine Armbanduhr, und sie sagte, er solle um 18.30 Uhr zum Abendessen zu Hause sein. Dieses Gespräch wurde von ihrer Nachbarin, MrsMary Therese Corry, bestätigt, und mehrere Zeugen sahen, wie die Kinder über die Mauer am Ende der Straße kletterten und im Wald verschwanden.

Als Peter Savage um 18.45 Uhr noch nicht zu Hause war, rief seine Mutter bei den Müttern der beiden anderen Kinder an, weil sie ihn bei einem von ihnen zu Hause vermutete. Keines der Kinder war zurückgekommen. Peter Savage war normalerweise zuverlässig, doch zu diesem Zeitpunkt machten sich die Eltern noch keine großen Sorgen. Sie nahmen an, die Kinder hätten einfach die Zeit vergessen. Gegen fünf vor sieben ging MrsSavage zum Waldrand und rief nach den Kindern. Sie bekam keine Antwort.

Wieder zu Hause, aß sie mit ihrem Mann, MrJoseph Savage, und ihren vier kleineren Kindern zu Abend. Anschließend gingen MrSavage und MrJohn Ryan, Adam Ryans Vater, etwas tiefer in den Wald, riefen nach den Kindern und erhielten wieder keine Antwort. Gegen 20.25 Uhr, als es anfing zu dämmern, machten sich die Eltern allmählich Sorgen, die Kinder könnten sich verlaufen haben, und Miss Alicia Rowan (Germaines alleinerziehende Mutter) verständigte die Polizei.

Die Suche im Wald begann. Zu diesem Zeitpunkt bestand eine gewisse Befürchtung, die Kinder könnten weggelaufen sein. Miss Rowan hatte beschlossen, Germaine auf ein Internat in Dublin zu schicken, wo sie die Woche über bleiben und nur an den Wochenenden nach Knocknaree kommen sollte. Sie sollte zwei Wochen später dort anfangen, und alle drei Kinder hatte die Aussicht, getrennt zu werden, furchtbar aufgebracht. Eine rasche Durchsuchung ihrer Zimmer ergab jedoch, dass offenbar weder Kleidung noch Geld, noch irgendwelche anderen persönlichen Dinge fehlten. Germaines Sparschwein, das die Form einer russischen Puppe hatte, enthielt £ 5,85 und war unversehrt.

Um 22.20 Uhr entdeckte ein Polizist mit Taschenlampe Adam Ryan mitten im Wald; er stand an einer großen Eiche, Rücken und Handflächen fest gegen den Baum gepresst. Seine Fingernägel hatten sich so tief in den Stamm gegraben, dass sie in der Rinde abgebrochen waren. Anscheinend hatte er schon eine ganze Weile dort gestanden, aber nicht auf die Rufe der Suchenden reagiert. Er wurde ins Krankenhaus gebracht. Die Hundestaffel wurde alarmiert und verfolgte die Spur der vermissten Kinder bis zu einer Stelle nicht weit von dem Baum, wo Adam Ryan gefunden worden war. Dort verloren die Hunde die Witterung.

Als ich gefunden wurde, trug ich eine abgeschnittene Jeans, ein weißes T-Shirt, weiße Socken und weiße Turnschuhe. Die Schuhe waren blutbesudelt, an den Socken war weniger Blut. Eine Analyse der Fleckenmuster ergab, dass das Blut von innen nach außen durch die Schuhe gesickert war, bei den Socken umgekehrt von außen nach innen. Man folgerte daraus, dass das Blut in die Schuhe gelaufen war, als sie ausgezogen waren. Irgendwann später, als es schon anfing zu gerinnen, hatte ich die Schuhe wieder an, wodurch das Blut an die Socken gekommen war. Das T-Shirt wies vier parallele Risse von siebeneinhalb bis zwölf Zentimetern Länge auf, die vom linken Schulterblatt schräg nach unten über den Rücken verliefen.

Abgesehen von kleineren Kratzern an den Waden, Holzsplittern (wie sich herausstellte, von der Eiche) unter den Fingernägeln und leicht verkrusteten Schürfwunden an den Knien war ich unverletzt. Ungeklärt blieb, ob ich mir die Knie im Wald aufgeschürft hatte oder nicht, da die fünfjährige Aideen Watkins, die auf unserer Straße gespielt hatte, aussagte, sie habe gesehen, wie ich früher am selben Tag von der Mauer gefallen und auf den Knien gelandet war. Allerdings veränderte sich ihre Aussage beim erneuten Erzählen und wurde als unzuverlässig eingestuft. Außerdem war ich nahezu katatonisch: Fast sechsunddreißig Stunden lang machte ich keinerlei selbständige Bewegung und sprach noch weitere zwei Wochen kein einziges Wort. Als ich wieder sprach, konnte ich mich an nichts erinnern.

Das Blut an meinen Schuhen und Socken war A positiv – eine DNA-Analyse war 1984 in Irland noch nicht möglich. Auch ich hatte die Blutgruppe A positiv, aber die Schürfwunden an meinen Knien, obwohl sie tief waren, hätten nicht so stark geblutet haben können, um die Turnschuhe zu durchtränken. Germaine Rowans Blut war zwei Jahre zuvor wegen einer anstehenden Blinddarmoperation untersucht worden, und auch sie war A positiv. Peter Savages Blutgruppe war zwar nicht bekannt, aber da seine Eltern beide Blutgruppe 0 hatten, musste das bei ihm zwangsläufig auch der Fall sein. In Ermangelung weiterer Identifizierungsmöglichkeiten konnten die Ermittler nicht ausschließen, dass das Blut von einer unbekannten vierten Person oder von mehreren Personen stammte.

Die Suche wurde in der Nacht auf den 15.August und noch Wochen danach fortgesetzt – Freiwillige durchkämmten die Felder und Hügel der Umgebung, jeder Sumpf wurde erkundet, Taucher suchten den Fluss ab, der durch den Wald verlief – vergeblich. Vierzehn Monate später entdeckte MrAndrew Raftery, ein Anwohner, der im Wald mit seinem Hund spazieren ging, etwa sechzig Meter von dem Baum entfernt, an dem ich gefunden worden war, eine Armbanduhr. Die Uhr war unverkennbar – auf dem Ziffernblatt war ein kickender Fußballer, und der Sekundenzeiger hatte einen Fußball an der Spitze –, und Mr und MrsSavage identifizierten sie als die ihres Sohnes Peter. MrsSavage bestätigte, dass Peter die Uhr am Nachmittag seines Verschwindens getragen hatte. Es sah so aus, als wäre das Plastikarmband mit Gewalt von dem Metallgehäuse abgerissen worden. Möglicherweise hatte es sich an einem Ast verfangen, als Peter lief. Die Spurensicherung identifizierte etliche unvollständige Fingerabdrücke auf Armband und Ziffernblatt; alle stimmten mit den Vergleichsabdrücken von anderen Gegenständen überein, die Peter Savage gehörten.

Trotz zahlreicher Aufrufe seitens der Polizei und trotz des großen Medieninteresses blieben Peter Savage und Germaine Rowan spurlos verschwunden.

 

Ich ging zur Polizei, weil ich Detective im Morddezernat werden wollte. Meine Zeit während der Ausbildung und in Uniform – Templemore College, endlose komplizierte sportliche Übungen, in comicreifen Neonjacken in Kleinstädten Streife gehen, herausfinden, wer von den drei stadtbekannten Taugenichtsen das Fenster in MrsMcSweeneys Gartenlaube eingeschlagen hatte –, das alles war wie ein peinlicher Erstarrungszustand à la Ionesco, eine Feuerprobe der Langeweile, die ich aus irgendwelchen bürokratischen Gründen bestehen musste, um mir meinen Traumjob zu verdienen. Ich denke nie an diese Jahre und kann mich gar nicht mehr klar an sie erinnern. Ich schloss keine Freundschaften; für mich war meine Distanz zu dem gesamten Prozess ebenso unfreiwillig wie unvermeidlich, wie die Nebenwirkung eines Beruhigungsmittels, doch die anderen Cops deuteten sie als bewusste Arroganz, als gezielte Verhöhnung ihrer braven ländlichen Herkunft und ihrer braven ländlichen Ambitionen. Vielleicht stimmte das auch. Kürzlich stieß ich auf einen Tagebucheintrag aus meiner Ausbildungszeit, in dem ich meine Kommilitonen beschrieb: »Eine Herde von mundatmenden Hinterwäldlern, die in einem dermaßen dicken Klischeedunst herumwaten, dass man den Kohl und die Kuhscheiße und die Altarkerzen förmlich riechen kann.« Selbst wenn ich da einen schlechten Tag gehabt hatte, zeugt dieser Eintrag wohl doch von einem gewissen Grad an mangelndem Respekt für kulturelle Unterschiede.

Als ich es endlich ins Morddezernat schaffte, hing meine neue Arbeitskleidung – gut geschnittene Anzüge aus edlen Stoffen, die sich unter den Fingern fast lebendig anfühlten, Hemden mit hauchzarten blauen oder grünen Nadelstreifen, weiche Kaschmirschals – schon seit fast einem Jahr im Schrank. Mir gefällt die ungeschriebene Kleiderordnung. Sie zählt zu den Dingen, die mich gleich zu Anfang an dem Job faszinierten, neben der funktionalen, lakonischen Insidersprache. In einer der Stephen-King-Kleinstädte, in der ich nach der Polizeischule eingesetzt worden war, geschah ein Mord: ein alltäglicher Vorfall von häuslicher Gewalt, der heftiger eskaliert war, als selbst der Täter es erwartet hatte, aber da die vorherige Freundin des Mannes unter ungeklärten Umständen gestorben war, schickte das Morddezernat zwei Detectives zu uns. Sie blieben eine Woche, und die ganze Zeit behielt ich die Kaffeemaschine im Auge, wenn ich Schreibtischdienst hatte, um mir einen Kaffee zu holen, wenn die Detectives sich einen holten. Ich trödelte herum und lauschte dem routinierten, harten Rhythmus ihrer Gespräche: Wenn das Drogenscreening vorliegt, sobald wir den Obduktionsbericht haben, und so weiter. Ich kaufte mir wieder Zigaretten, damit ich einen Grund hatte, ihnen nach draußen zu folgen und ganz in ihrer Nähe eine zu rauchen, während ich blicklos zum Himmel starrte und zuhörte. Sie lächelten mir geistesabwesend zu, gaben mir manchmal mit einem abgegriffenen Zippo Feuer, ehe sie mich mit einem leichten Schulterzucken entließen, um sich wieder ihren ausgeklügelten Strategien zu widmen. Wir holen zuerst die Mutter, lassen ihn ein paar Stündchen zu Hause grübeln, was sie wohl erzählt, dann ist er wieder dran. Tatortbilder in den SOKO-Raum, dann schnell durch mit ihm, damit er keine Zeit hat, genauer hinzusehen.

Wenn Sie vermuten, dass ich Detective werden wollte, um das Geheimnis meiner Kindheit aufzuklären, dann liegen Sie falsch. Ich bin kein Don Quichotte. Ich habe die Akte einmal gelesen, an meinem ersten Tag, spätabends allein im Büro, im einsamen Licht meiner Schreibtischlampe (vergessene Namen hallten mir durch den Kopf wie Fledermäuse, während verblasste Kugelschreibernotizen bezeugten, dass Jamie ihre Mutter getreten hatte, weil sie nicht aufs Internat wollte, dass »gefährlich aussehende« Halbwüchsige abends öfter am Waldrand herumlungerten, dass Peters Mutter einen Bluterguss auf der Wange hatte), und danach nie wieder. Ich sehnte mich vielmehr nach diesen Rätseln, diesen fast unsichtbaren Strukturen, die wie Blindenschrift nur für den Eingeweihten lesbar sind. Die beiden Detectives vom Morddezernat, die damals in die Kleinstadt am Arsch der Welt kamen, waren wie Vollblutpferde, wie Trapezkünstler auf Hochglanz poliert. Sie spielten mit höchstem Einsatz, und sie waren Spezialisten auf ihrem Gebiet.

Das, was sie taten, war brutal, das wusste ich. Diese Menschen sind skrupellos. Dieses Beobachten mit kalten, wachsamen Augen, dieses behutsame Austarieren der Faktoren, bis der Selbsterhaltungsinstinkt eines Menschen zerbricht, das ist Grausamkeit in ihrer höchstentwickelten Form.

 

Bereits Tage bevor Cassie zu uns ins Dezernat kam, hatten wir von ihr gehört, wahrscheinlich schon, ehe ihr die Stelle überhaupt angeboten worden war. Unsere Gerüchteküche ist ungemein effizient. Die Arbeit im Morddezernat ist mit viel Druck verbunden, und wir sind nur zwanzig Leute. Sobald irgendein zusätzlicher Stressfaktor hinzukommt – einer geht, ein Neuer kommt, zu viel Arbeit, zu wenig Arbeit –, entsteht leicht eine Art kollektiver Hysterie, die sich in unübersichtlicher Cliquenbildung und hektischem Tratsch niederschlägt. Ich halte mich normalerweise aus so was raus, aber die Aufregung um Cassie Maddox war so unüberhörbar, dass selbst ich sie mitbekam.

Erstens einmal war sie eine Frau, was ein gewisses Maß an schlecht verborgener Empörung auslöste. Wir sind alle darauf dressiert, die böse Saat des Vorurteils zu verabscheuen, doch es gibt nun mal den hartnäckigen Hang, den Fünfzigerjahren hinterherzutrauern (selbst bei Leuten meines Alters; in einem großen Teil Irlands endeten die Fünfziger erst 1995, als wir mit einem Satz in die Thatcher-Ära der Achtziger sprangen), als man einen Verdächtigen noch mit der Drohung, seiner Mummy alles zu erzählen, so einschüchtern konnte, dass er lieber ein Geständnis ablegte, als die einzigen Ausländer im Land Medizinstudenten waren und die Arbeit ein Refugium darstellte, wo man vor zänkischen Frauen sicher war. Cassie war erst die vierte Frau, die im Morddezernat anfing, und wenigstens eine von den anderen war ein Riesenfehler gewesen, der legendäre Dimensionen annahm, als sie sich und ihren Partner in Lebensgefahr brachte, weil sie die Nerven verlor und einem gestellten Verdächtigen ihre Dienstwaffe an den Kopf warf.

Außerdem war Cassie achtundzwanzig und hatte erst vor wenigen Jahren Templemore abgeschlossen. Das Morddezernat gehört zu den Elitedezernaten, in die niemand versetzt wird, der noch keine dreißig ist, es sei denn, er hat Beziehungen. Meistens verbringt man erst etliche Jahre als eine Art Springer, das heißt als Sonderfahnder für die Kleinarbeit bei aufwendigen Ermittlungen. Dann arbeitet man sich allmählich über andere Abteilungen nach oben. Cassie hatte nicht mal ein ganzes Jahr bei der Drogenfahndung vorzuweisen. Natürlich kursierte das Gerücht, sie würde entweder mit irgendwem von Einfluss ins Bett gehen, oder sie wäre seine uneheliche Tochter, oder – mit einer Spur mehr Originalität – sie hätte irgendein hohes Tier beim Drogenkauf erwischt und ihre Versetzung zu uns sei eine Art Schweigegeld.

Ich hatte keine Probleme mit dem Gedanken an Cassie Maddox. Ich war erst seit ein paar Monaten beim Morddezernat, aber mir missfielen die Machosprüche, das neidische Gerede über Autos und Aftershaves, die niveaulosen Witze, die mit dem Etikett »ironisch« gerechtfertigt wurden, was bei mir stets den Impuls auslöste, eine lange, oberlehrerhafte Definition des Begriffs Ironie vom Stapel zu lassen. Im Allgemeinen sind mir Frauen lieber als Männer. Außerdem hatte ich mit eigenen Unsicherheiten zu kämpfen, was meinen Status im Dezernat anging. Ich war fast einunddreißig, hatte zwei Jahre als Sonderfahnder und zwei Jahre in der Abteilung Häusliche Gewalt vorzuweisen, daher war meine Versetzung plausibler gewesen als die von Cassie, doch manchmal hatte ich das Gefühl, unsere Vorgesetzten hielten mich zwar für einen guten Detective, aber nur auf diese diffuse, undurchdachte Art, wie manche Männer eine große, schlanke Blondine für schön halten, selbst wenn sie ein Gesicht wie ein Truthahn mit Schilddrüsenüberfunktion hat: einfach nur, weil ich die Voraussetzungen erfüllte. Meinen gepflegten BBC-Akzent hatte ich mir in einem englischen Internat aus Selbstschutz angeeignet, und diese Britisierung nutzt sich nicht so schnell wieder ab. Obwohl die Iren wirklich jede Mannschaft unterstützen, die gegen England spielt, und obwohl ich eine Reihe von Pubs kenne, wo ich mir keinen Drink bestellen könnte, ohne gleich eins über den Schädel zu kriegen, glauben sie doch, dass jemand mit einem vornehmen britischen Akzent irgendwie intelligenter ist, gebildeter und überhaupt öfter im Recht. Außerdem bin ich groß, habe eine schlaksige Statur, die in einem gut geschnittenen Anzug schlank und elegant wirken kann, und sehe auf meine eigene schräge Art einigermaßen gut aus. Eine Castingagentur würde mich bestimmt als Detective besetzen, wahrscheinlich als den gewieften Einzelgänger, der furchtlos Kopf und Kragen riskiert und am Ende den Schurken zur Strecke bringt.

Mit so einem Typen habe ich praktisch nichts gemein, aber ich war mir nicht sicher, ob die anderen das auch gemerkt hatten. Manchmal, nach zu vielen einsamen Wodkas, stellte ich mir paranoide Szenarien vor, in denen der Superintendent herausfand, dass ich in Wahrheit ein Beamtensohn aus Knocknaree war, und mich prompt in die Abteilung für Geistigen Diebstahl versetzte. Ich hoffte, dass die Leute mich weniger beäugen würden, wenn Cassie Maddox erst im Dezernat war.

Als sie schließlich kam, war es fast ernüchternd. Aufgrund der wilden Gerüchte hatte ich jemanden im selben TV-Serienformat erwartet, mit Beinen bis zum Hals und Haaren wie aus der Shampoowerbung und möglichst noch im Catsuit. Unser Superintendent, O’Kelly, stellte sie bei der Besprechung am Montagmorgen vor. Und sie stand auf und sagte das Übliche, wie froh sie sei, bei uns arbeiten zu können, und dass sie hoffe, den hohen Anforderungen des Dezernats gerecht zu werden. Sie war knapp mittelgroß, hatte dunkle Locken und einen jungenhaften, schlanken Körper mit eckigen Schultern. Sie war nicht mein Typ – ich stehe eher auf mädchenhafte Frauen, zierlich und zart, die ich mit einem Arm hochheben und herumwirbeln kann –, aber sie hatte was: Vielleicht war es die Art, wie sie dastand, das Gewicht auf einem Bein, gerade und anmutig wie eine Turnerin; vielleicht war es auch nur das Geheimnis um ihre Beförderung.

»Ich hab gehört, ihre Familie sind Freimaurer, und die haben gedroht, das ganze Dezernat aufzulösen, wenn wir sie nicht nehmen«, sagte Sam O’Neill hinter mir. Sam ist ein stämmiger, fröhlicher und unerschütterlicher Mann aus Galway. Ich hätte nicht gedacht, dass auch er sich von dem Gerüchte-Tsunami mitreißen lassen würde.

»Ach, red keinen Blödsinn«, sagte ich, weil ich darauf hereinfiel. Sam grinste, schüttelte den Kopf und schob sich an mir vorbei zu einem Stuhl. Ich richtete den Blick wieder auf Cassie, die Platz genommen und einen Fuß auf den Stuhl vor sich gestützt hatte, ihr Notizbuch auf dem Oberschenkel.

Sie war nicht wie ein Detective vom Morddezernat gekleidet. Sie trug eine Cargohose, einen bordeauxroten Wollpullover mit zu langen Ärmeln und klobige Turnschuhe, und ich entnahm daraus die Botschaft: Schaut her, ich bin viel zu cool für eure Konventionen. Die leichte Feindseligkeit, die daraus erwuchs, steigerte ihre Anziehungskraft auf mich. Ein Teil von mir fühlt sich stark von Frauen angezogen, die mir auf die Nerven gehen.

In den folgenden zwei Wochen nahm ich sie nicht sonderlich zur Kenntnis, nur eben auf diese allgemeine Art, wie man jede ansehnliche Frau registriert, wenn man von Männern umgeben ist. Eingearbeitet wurde sie von Tom Costello, unserem angegrauten Veteranen, und ich untersuchte den Fall eines Obdachlosen, der auf der Straße totgeprügelt worden war. Das deprimierende Aroma seines Lebens hatte sich irgendwie auch über seinen Tod gelegt, und es war einer dieser Fälle, die von Anfang an hoffnungslos sind – keine Spuren, keiner hatte irgendetwas gesehen oder gehört, der Täter war vermutlich so besoffen oder high gewesen, dass er sich nicht mal mehr an die Tat erinnerte –, was meinen frischen Elan ein wenig trübte. Außerdem musste ich mit Quigley zusammenarbeiten, und das klappte nicht. Sein Humor beschränkte sich auf ein Woody-Woodpecker-Lachen, wenn er etwas lustig fand, und mir dämmerte allmählich, dass ich ihm nicht etwa deshalb zugeteilt worden war, weil er den Neuen freundlich behandeln würde, sondern weil sonst keiner etwas mit ihm zu tun haben wollte. Ich hatte weder die Zeit noch die Energie, Cassie näher kennenzulernen. Manchmal frage ich mich, wie lange wir wohl noch so weitergemacht hätten. Selbst in einem kleinen Dezernat gibt es immer Leute, bei denen man nie über ein Begrüßungsnicken auf dem Gang hinauskommt, einfach, weil man nie miteinander zu tun hat.

Wir kamen uns wegen ihres Motorrollers näher, einer ramponiert wirkenden, cremefarbenen Vespa Baujahr 81, die mich trotz ihres Klassikerstatus immer an eine gut gelaunte Promenadenmischung mit einem Border-Collie im Stammbaum erinnert. Ich nenne sie die Golfkarre, um Cassie zu ärgern; sie bezeichnet meinen verbeulten weißen Land Rover als Kompensationskutsche, dann und wann begleitet von einer mitleidigen Bemerkung über meine Freundinnen oder das Ökomobil, wenn sie rotznäsig ist. Die Golfkarre suchte sich einen besonders nassen, windigen Tag im September aus, um vor dem Präsidium den Geist aufzugeben. Ich fuhr gerade vom Parkplatz und sah die kleine tropfnasse Gestalt in der roten Regenjacke, die aussah wie Kenny aus Southpark, neben ihrem tropfnassen Roller stand und hinter einem Bus herschimpfte, der sie gerade nass gespritzt hatte. Ich hielt an und rief aus dem Fenster: »Brauchst du Hilfe?«

Sie sah mich an und schrie zurück: »Wie kommst du denn da drauf?«, und dann verblüffte sie mich, indem sie schallend loslachte.

In den fünf Minuten, die ich versuchte, die Vespa ans Laufen zu kriegen, verliebte ich mich in sie. In der viel zu großen Regenjacke sah sie aus wie eine Achtjährige, es hätten nur noch Gummistiefel mit Marienkäfern drauf gefehlt, und unter der roten Kapuze waren große braune Augen mit Regentropfen an den Wimpern und ein Gesicht wie das eines Kätzchens. Ich hätte sie am liebsten mit einem großen, weichen Handtuch vor einem prasselnden Kaminfeuer abgetrocknet. Doch dann sagte sie: »Lass mich mal – das Dings da muss man so rum drehen.« Und ich hob eine Augenbraue und sagte: »Das Dings da? Frauen und Technik, echt!«

Ich bedauerte die Bemerkung sofort – ich war noch nie gut in Frotzeleien, und wer weiß, hätte ja sein können, dass sie eine humorlose Radikalfeministin war, die mir im Regen einen Vortrag über Amelia Earhart halten würde. Aber Cassie warf mir einen bewusst koketten Seitenblick zu, klatschte die nassen Hände zusammen und sagte mit hauchiger Marilyn-Monroe-Stimme: »Ooooh, ich hab immer schon von einem strahlenden Ritter geträumt, der kommt und mich befreit! Aber im Traum sah er immer ziemlich gut aus.«

Was ich da sah, veränderte sich wie durch die klickende Drehung eines Kaleidoskops. Ich hörte auf, mich in sie zu verlieben, und fing an, sie richtig zu mögen. Ich warf einen Blick auf ihre Kapuzenjacke und sagte: »Oh mein Gott, sie haben Kenny getötet.« Dann lud ich die Golfkarre hinten in meinen Land Rover und fuhr Cassie nach Hause.

 

Sie hatte ein Studioapartment (so nennen Vermieter ein möbliertes Zimmer) im obersten Stock eines heruntergekommenen Jahrhundertwendehauses in Sandymount. Es war eine stille Straße, und die weißen Schiebefenster boten Aussicht über die Dächer bis zum Sandymount Beach. In dem Zimmer standen Holzregale, vollgestopft mit alten Taschenbüchern, ein tiefes altes Sofa in einem giftigen Türkiston und ein großes Futonbett mit Patchworkdecke. Es gab keine Bilder oder Poster, eine Handvoll Muscheln und Steine und Kastanien lagen auf dem Fensterbrett.

Ich erinnere mich kaum an irgendwelche Einzelheiten unseres ersten Abends, und Cassie sagt, dass es ihr ebenso ergeht. Ich erinnere mich an ein paar Themen, über die wir sprachen, einige wenige glasklare Bilder, aber ich könnte keine einzelne Äußerung mehr wiederholen. Das kommt mir eigenartig vor, und manchmal, in gewissen Stimmungen, scheint es mir fast magisch, weil es den Abend in die Nähe jener amnesischen Trancezustände rückt, die im Laufe der Jahrhunderte Feen oder Hexen oder Aliens zugeschrieben wurden und aus denen niemand unverändert zurückkehrt. Doch diese verlorenen Zeitnester sind normalerweise ein Einzelerlebnis. Die Vorstellung, dass zwei Menschen so etwas gemeinsam erleben, lässt mich irgendwie an Zwillinge denken, die mit blinden Händen langsam in einen schwerelosen und wortlosen Raum greifen.

Ich weiß, dass ich zum Abendessen blieb – ein Essen fast wie bei Studenten, frische Pasta und Sauce aus dem Glas, heißer Whiskey in hohen Tassen. Ich weiß, dass Cassie einen klobigen Schrank öffnete, der fast eine ganze Wand einnahm, und ein Handtuch herausholte, mit dem ich mir die Haare trocknen sollte. Irgendwer, vermutlich sie, hatte Bücherregale in diesen Schrank eingebaut. Die einzelnen Bretter waren unregelmäßig verteilt und mit einem kunterbunten Durcheinander von Sachen gefüllt: Ich konnte nicht alles erkennen, aber da waren angeschlagene Emailtöpfe, marmorierte Notizbücher, weiche pastellfarbene Pullover, Berge von beschriebenem Papier. Wie der Hintergrund einer Hütte in einer alten Märchenillustration.

Woran ich mich erinnere ist, dass ich sie schließlich fragte: »Und wie bist du zum Morddezernat gekommen?« Wir hatten darüber gesprochen, ob sie sich schon eingelebt hatte, und ich fand, dass ich die Frage ziemlich locker und beiläufig hatte fallen lassen, aber sie grinste mich verschmitzt an, als würden wir Dame spielen und sie hätte mich bei dem Versuch erwischt, von einem ungeschickten Zug abzulenken.

»Wo ich doch eine Frau bin, meinst du?«

»Ich meinte eher, wo du doch so jung bist«, obwohl ich natürlich beides gemeint hatte.

»Gestern hat Costello mich ›mein Junge‹ genannt«, sagte Cassie. »›Alle Achtung, mein Junge.‹ Dann ist er rot geworden und hat rumgestottert. Ich glaube, er hatte Angst, ich zeige ihn an.«

»Wahrscheinlich war es ein Kompliment«, sagte ich.

»So hab ich’s auch aufgefasst. Er ist eigentlich ganz lieb.« Sie klemmte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und streckte die Hand aus. Ich warf ihr mein Feuerzeug zu.

»Irgendjemand hat erzählt, du warst undercover als Nutte eingesetzt und bist dabei einem von den Oberbossen begegnet«, sagte ich, aber Cassie warf mir das Feuerzeug zurück und schmunzelte.

»Quigley, nicht? Mir hat er erzählt, du wärst ein Spitzel vom MI6.«

»Was?«, sagte ich entrüstet und tappte schnurstracks in meine eigene Falle. »Quigley ist ein Schwachkopf.«

»Ach nee, ehrlich?«, sagte sie und fing an zu lachen. Ich musste auch lachen. Diese Spitzelgeschichte wurmte mich – wenn das einer für bare Münze nahm, würde mir keiner mehr irgendwas erzählen –, aber irgendwie amüsierte mich die absurde Vorstellung von mir als James Bond.

»Ich bin aus Dublin«, sagte ich. »Den Akzent hab ich mir auf dem Internat in England angewöhnt, deshalb red ich so. Das weiß dieser gehirnamputierte Blödmann ganz genau.« Und das stimmte. In meiner ersten Woche im Dezernat hatte er mich dermaßen hartnäckig mit der Frage genervt, was denn ein Engländer bei der irischen Polizei mache – wie ein Kind, das einen in den Arm kneift und »Warum? Warum? Warum?« quengelt –, dass ich endlich meine Verschwiegenheitsregel brach und ihm die Erklärung lieferte. Anscheinend hätte ich mich einfacher ausdrücken sollen.

»Wie ist das so, mit ihm als Partner zu arbeiten?«, fragte Cassie.

»Wie eine Einbahnstraße ins Irrenhaus«, sagte ich.

Irgendetwas, ich weiß bis heute nicht, was, veranlasste Cassie, ihre Meinung zu ändern. Sie lehnte sich zur Seite, wechselte ihre Tasse in die andere Hand (sie schwört, da hätten wir noch Kaffee getrunken, und ich würde mir nur einbilden, dass es heißer Whiskey mit Nelken und Honig war, weil wir den dann den ganzen Herbst über tranken, aber ich bin mir sicher, ich erinnere mich genau an den würzigen Nelkengeschmack auf der Zunge, den berauschenden Dampf) und zog ihr Oberteil bis knapp unter die Brust hoch. Ich war dermaßen verblüfft, dass ich einen Moment brauchte, ehe ich begriff, was sie mir da zeigte: eine lange Narbe, noch immer rot und geschwollen und mit Nadeleinstichen gesäumt, die sich am Rippenbogen entlangzog. »Ich bin niedergestochen worden«, sagte sie.

Es war so naheliegend, dass ich mich schämte, weil keiner von uns auf die Idee gekommen war. Ein im Dienst verletzter Detective darf sich seinen Arbeitsbereich aussuchen. Vermutlich hatten wir diese Möglichkeit übersehen, weil es sich normalerweise wie ein Lauffeuer herumspricht, wenn ein Cop niedergestochen wird. Aber wir hatten kein Wort gehört.

»Mein Gott«, sagte ich. »Wie ist das passiert?«

»Ich war hier in Dublin an der Uni undercover«, sagte Cassie. Das erklärte sowohl ihre Kleidung als auch die Informationslücke – Undercoverarbeit verlangt strengste Geheimhaltung. »Deshalb hab ich’s so schnell zum Detective gebracht. Auf dem Campus wurde im großen Stil Rauschgift verkauft, und die Drogenfahndung wollte rausfinden, wer dahintersteckt, also brauchten sie Leute, die als Studenten durchgehen konnten. Ich hab als Doktorandin in Psychologie angefangen. Ich hab mal ein paar Semester Psychologie studiert, ehe ich nach Templemore ging, also hatte ich den Fachjargon drauf, und ich sehe jung aus.«

Das stimmte. Ihr Gesicht hatte eine Klarheit, wie ich sie noch bei niemandem sonst gesehen hatte. Die Haut war porenfrei, wie bei einem Kind, und ihre Gesichtszüge – breiter Mund, hohe, runde Wangenknochen, Stupsnase, lange geschwungene Brauen – ließen andere im Vergleich zu ihr verwischt und unscharf wirken. Ich glaube, sie trug niemals Make-up, nur einen rötlichen Lippenbalsam, der nach Zimt roch und sie sogar noch jünger aussehen ließ. Wahrscheinlich hätten nur wenige sie als schön bezeichnet, aber ich hatte schon immer eher den Hang zu Maßgeschneidertem als zu Markenklamotten, und es bereitete mir weitaus mehr Vergnügen, sie anzusehen als diese geklonten blonden Busenwunder aus den Illustrierten.

»Und ist deine Tarnung aufgeflogen?«

»Nein«, sagte sie empört. »Ich hab rausgefunden, wer der Hauptdealer war – dieses hirntote, reiche Jüngelchen aus Blackrock, das natürlich BWL studierte –, und ich hab mich über Monate regelrecht an ihn rangeschmissen, über seine bescheuerten Witze gelacht, seine Referate Korrektur gelesen. Dann hab ich den Vorschlag gemacht, ich könnte doch bei den Studentinnen dealen, weil die bestimmt weniger Hemmungen hätten, von einer Frau Drogen zu kaufen. Er fand die Idee gut, alles lief prima, ich machte erste Andeutungen, dass es einfacher wäre, wenn ich selbst Kontakt zu dem Lieferanten hätte, als das Zeug immer nur über ihn zu kriegen. Aber dann fing unser kleiner Dealer an, ein bisschen zu viel von seinem eigenen Zeug zu koksen – das war im Mai, und er hatte Prüfungen vor der Nase. Er wurde paranoid, meinte, ich wollte sein Geschäft übernehmen, und ist mit dem Messer auf mich los.« Sie trank einen Schluck. »Aber erzähl Quigley nichts davon. Die Operation läuft noch, deshalb dürfte ich eigentlich gar nicht darüber reden. Lass dem armen Trottel ruhig seine Illusionen.«

Insgeheim war ich unheimlich beeindruckt, nicht nur, weil sie niedergestochen worden war (schließlich, so sagte ich mir, hatte sie ja nichts bemerkenswert Mutiges oder Kluges getan, sondern war einfach nur nicht schnell genug ausgewichen), sondern auch von dem dunklen, aufregenden Gedanken an Undercoverarbeit und von der Beiläufigkeit, mit der sie die Geschichte erzählte. Ich habe hart daran gearbeitet, mir die Aura gleichmütiger Gelassenheit anzueignen, und ich erkenne genau, wenn so etwas echt ist.

»Mein Gott«, sagte ich nochmal. »Ich wette, die haben ihn nach der Festnahme ordentlich in die Mangel genommen.« Ich selbst habe noch nie einen Verdächtigen geschlagen – ich finde das unnötig, es genügt, wenn sie denken, du könntest es tun –, aber es gibt Kollegen, die das machen, und jeder, der einen Cop verletzt, kann sich auf ein paar Blutergüsse gefasst machen.

Sie zog amüsiert eine Augenbraue hoch. »Haben sie nicht. Das hätte die ganze Operation gefährdet. Sie brauchen ihn, um an den Lieferanten ranzukommen. Also haben sie einfach eine Neue auf ihn angesetzt.«

»Aber willst du denn nicht, dass er aus dem Verkehr gezogen wird?«, sagte ich, entnervt von ihrer Ruhe und dem unangenehmen Bewusstsein meiner eigenen Naivität. »Er hat dich niedergestochen.«

Cassie zuckte die Achseln. »Im Grunde hatte er ja nicht ganz unrecht: Ich hab so getan, als wäre ich seine Freundin, weil ich ihn drankriegen wollte. Und er war ein kaputter Drogendealer. So reagieren kaputte Drogendealer nun mal.«

Danach wird meine Erinnerung wieder diffus. Ich weiß, dass auch ich bei ihr Eindruck schinden wollte, und weil ich keine Messerstecherei oder Schießerei zu bieten hatte, erzählte ich ihr die lange und ausufernde und größtenteils wahre Geschichte, wie ich einmal, als ich noch in der Abteilung für Häusliche Gewalt war, einen Mann, der mit seinem Baby von einem Hausdach springen wollte, überreden konnte, von da oben runterzukommen (ehrlich, ich muss ein bisschen betrunken gewesen sein: noch ein Grund, warum ich so sicher bin, dass wir heißen Whiskey tranken). Ich erinnere mich an ein hitziges Gespräch über Dylan Thomas, glaube ich, bei dem Cassie auf dem Sofa kniete und gestikulierte, während ihre Zigarette im Aschenbecher verqualmte. Wir nahmen uns gegenseitig auf die Schippe, witzig, aber zögerlich, wie schüchterne Kinder, die einander umkreisen, und nach jeder Frotzelei taxierten wir insgeheim ab, ob wir nicht eine Grenze überschritten oder irgendwelche Gefühle verletzt hatten. Die Cowboy Junkies liefen, und Cassie sang leise mit schöner, rauer Stimme mit.

»Hast du die Drogen tatsächlich an Studentinnen verkauft?«, fragte ich später.

Cassie ging Wasser aufsetzen. »Manchmal«, sagte sie.

»Ist dir das nicht gegen den Strich gegangen?«

»Mir ist alles an der Undercoverarbeit gegen den Strich gegangen«, sagte Cassie. »Alles.«

 

Als wir am nächsten Morgen zur Arbeit kamen, waren wir Freunde. So einfach war das: Wir hatten, ohne zu überlegen, den Samen gesetzt und fanden beim Aufwachen eine schöne große Pflanze vor. In der Frühstückspause fing ich ihren Blick auf und machte eine Handbewegung, als würde ich rauchen. Wir gingen nach draußen, setzten uns im Schneidersitz an die beiden Enden einer Bank, wie Buchstützen. Am Ende der Schicht wartete sie auf mich, schimpfte dabei vor sich hin, wie lange ich brauchte, um meine Sachen zusammenzusuchen (»Als würde man auf Paris Hilton warten. Vergiss deinen Eyeliner nicht, Schatz, sonst muss der Chauffeur nochmal zurück, ihn holen«), und sagte auf dem Weg die Treppe hinunter: »Bier?« Ich kann nicht erklären, welche Alchemie einen einzigen Abend in das Äquivalent von jahrelanger Freundschaft verwandelte. Ich kann nur sagen, dass wir mit einer Sicherheit erkannten, die keinen Raum mehr für Verblüffung ließ, dass wir auf derselben Wellenlänge waren.

Sobald Costello sie fertig eingearbeitet hatte, wurden Cassie und ich ein Team. O’Kelly sträubte sich zunächst – ihm war nicht wohl dabei, zwei Neulinge zusammenzutun, und außerdem musste er einen neuen Partner für Quigley finden –, aber ich hatte eher durch pures Glück als durch kluge Ermittlungen jemanden gefunden, der zufällig aufgeschnappt hatte, wie ein anderer damit prahlte, den Obdachlosen getötet zu haben, daher hatte ich bei O’Kelly einen Stein im Brett, und das nutzte ich weidlich aus. Er warnte uns, dass er uns nur die einfachsten und die hoffnungslosen Fälle zuteilen würde, »nichts, was echte Polizeiarbeit verlangt«, und wir nickten ergeben und dankten ihm erneut, wohl wissend, dass Mörder nicht so rücksichtsvoll sind, komplizierte Verbrechen nur dann zu begehen, wenn wir dienstfrei hatten. Cassie räumte ihre Sachen in den Schreibtisch neben meinem, und Costello musste sich mit Quigley abfinden, wofür er uns noch wochenlang wie ein gequälter Labrador traurige, vorwurfsvolle Blicke zuwarf.

 

Während der folgenden zwei Jahre erarbeiteten wir uns, so glaube ich zumindest, einen guten Ruf innerhalb des Dezernats. Wir nahmen uns den Verdächtigen in dem Totschlagsfall vor und verhörten ihn sechs Stunden lang – obwohl die Tonbandaufnahme, wenn man jedes »Ach, Scheiße, Mann« löschen würde, höchstens vierzig Minuten dauern würde –, bis er gestand. Der Mann war ein Junkie namens Wayne (»Wayne«, sagte ich zu Cassie, als wir ihm eine Sprite holten und durch den Einwegspiegel zusahen, wie er an seinen Pickeln herumdrückte. »Wieso haben seine Eltern ihm nicht gleich bei der Geburt auf die Stirn tätowieren lassen: ›Keiner in meiner Familie hat je den Hauptschulabschluss geschafft‹?«), und er hatte den als Beardy Eddie bekannten Obdachlosen erschlagen, weil der ihm seine Decke geklaut hatte. Nachdem er sein Geständnis unterschrieben hatte, wollte Wayne wissen, ob er jetzt die Decke zurückhaben könne. Wir übergaben ihn den uniformierten Kollegen und sagten, die würden sich darum kümmern. Dann kauften wir eine Flasche Champagner, fuhren zu Cassie und unterhielten uns bis sechs Uhr morgens und kamen verlegen und noch immer leicht beschwipst zu spät zur Arbeit.

Wir durchliefen die zu erwartende Phase, in der Quigley und ein paar von den anderen mich eine Zeitlang fragten, ob ich was mit ihr hätte und wenn ja, ob sie scharf wäre. Als sie endlich begriffen, dass ich nicht mit ihr schlief, spekulierten sie, sie sei wahrscheinlich lesbisch. Irgendwann hatte Cassie es satt und stellte die Dinge klar, indem sie zur Weihnachtsfeier in einem schwarzen, schulterfreien Cocktailkleid sowie in Begleitung eines bullig attraktiven Rugbyspielers namens Gerry erschien. In Wahrheit war er ihr Vetter zweiten Grades und glücklich verheiratet, aber er hatte Cassie gegenüber einen starken Beschützerinstinkt, und es machte ihm nichts aus, sie einen ganzen Abend lang anzuhimmeln, wenn das ihrer Karriere förderlich war.

Danach verstummten die Gerüchte, und die Leute kümmerten sich nicht weiter um uns, was uns nur recht war. Genau wie ich ist Cassie kein besonders geselliger Mensch, auch wenn sie einen anderen Eindruck macht. Sie ist lebhaft und immer zu einem Scherz aufgelegt und kann mit jedem nett plaudern, aber wenn sie die Wahl hatte, war sie am liebsten mit mir allein zusammen. Ich übernachtete oft auf ihrem Sofa. Unsere Aufklärungsrate war gut und wurde immer besser. Irgendwann drohte O’Kelly nicht mehr damit, uns zu trennen, wenn wir mal mit dem Papierkram hinterherhingen. Wir waren im Gerichtssaal, als Wayne wegen Totschlags verurteilt wurde (»Ach, Scheiße, Mann«). Sam O’Neill zeichnete eine blöde kleine Karikatur von uns als Mulder und Scully (irgendwo hab ich die noch), und Cassie pappte sie an ihren Computer neben einen Aufkleber mit dem Spruch »Böser Bulle! Kein Leckerchen!«.

Im Rückblick denke ich, dass Cassie für mich zum genau richtigen Zeitpunkt aufkreuzte. In meiner romantisch verklärten Vorstellung vom Morddezernat waren solche Dinge wie Quigley oder Klatsch und Tratsch oder endlose, unergiebige Vernehmungen von Junkies mit einem Sechs-Worte-Vokabular nicht vorgekommen. Ich hatte mir ein spannendes, intensives Leben erträumt, in dem alles Kleinliche und Lästige weggeätzt wurde von einer dermaßen elektrisch aufgeladenen Bereitschaft, dass förmlich Funken flogen, und die Wirklichkeit hatte mich verunsichert und enttäuscht wie ein Kind, das ein glitzerndes Weihnachtsgeschenk auspackt und bloß Wollsocken findet. Ohne Cassie wäre ich vielleicht so geworden wie dieser Detective bei Law and Order, der Magengeschwüre hat und hinter allem ein finsteres Ränkespiel der Regierung wittert.

2

Den Fall Devlin ergatterten wir an einem Mittwochmorgen im August. Laut meinen Unterlagen war es 11.48 Uhr, daher waren alle anderen gerade Kaffee trinken. Cassie und ich spielten Worms auf meinem Computer. »Ha«, sagte Cassie, hetzte einen ihrer Würmer mit einem Baseballschläger auf meinen und klatschte ihn von einer Klippe. Auf dem Weg nach unten Richtung Ozean schrie mein Wurm mich an: »Du blödes Muttersöhnchen!«

»Ich hab dich gewinnen lassen«, sagte ich.

»Aber klar«, sagte Cassie. »Ein richtiger Mann könnte schließlich niemals von einem kleinen Mädchen besiegt werden. Das weiß sogar der Wurm: Nur ein minischwänziger, testosteronfreier Warmduscher könnte –«

»Zum Glück bin ich mir meiner Männlichkeit so sicher, dass ich mich nicht mal ansatzweise bedroht fühle von deiner –«

»Kscht«, sagte Cassie und drehte meinen Kopf Richtung Monitor. »Braver Junge. Sei still, schau hübsch aus und spiel mit deinem Wurm. Sonst tut’s ja keiner.«

»Ich glaub, ich lass mich irgendwohin versetzen, wo es schön ruhig zugeht, zum Sondereinsatzkommando beispielsweise«, sagte ich.

»Beim Sondereinsatzkommando brauchst du Reaktionsschnelle, Süßer«, sagte Cassie. »Wenn du erst nach einer halben Stunde weißt, was du mit einem imaginären Wurm machen sollst, wollen die dich bestimmt nicht bei einer Geiselnahme dabeihaben.«

In diesem Augenblick kam O’Kelly ins Büro gepoltert und fragte: »Wo sind denn alle?« Cassie haute blitzschnell auf die ALT-Taste. Einer von ihren Würmern hieß O’Smelly, und sie hatte ihn absichtlich in hoffnungslose Situationen geschickt, um genüsslich zuzusehen, wie er von explodierenden Schafen ins Nirwana befördert wurde.

»Pause«, sagte ich.

»Ein Archäologenteam hat menschliche Überreste gefunden. Wer ist frei?«

»Wir übernehmen das«, sagte Cassie, stieß sich mit dem Fuß von meinem Stuhl ab und rollte zu ihrem Schreibtisch zurück.

»Wieso wir?«, sagte ich. »Kann die Pathologie das nicht machen?«

Archäologen sind gesetzlich verpflichtet, die Polizei zu verständigen, wenn sie in einer Tiefe von bis zu zweieinhalb Metern menschliche Überreste entdecken. Irgendein superschlauer Mörder könnte ja auf die Idee gekommen sein, sein Opfer in einem Grab aus dem vierzehnten Jahrhundert zu verbuddeln, damit es hoffentlich als mittelalterlich eingestuft wird. Wahrscheinlich ist man der Ansicht, dass jeder, der es schafft, unbemerkt zweieinhalb Meter tief zu graben, schon allein für diese Energieleistung eine gewisse Anerkennung verdient. Polizei und Rechtsmedizin werden in ziemlich regelmäßigen Abständen zu solchen Fundorten gerufen, wenn durch Erosion und Absinken des Erdreichs ein Skelett dicht an die Oberfläche gekommen ist, aber meistens handelt es sich dabei bloß um eine Formalität. Es ist relativ leicht, zwischen alten und jüngeren Überresten zu unterscheiden. Detectives werden nur unter besonderen Umständen angefordert, zum Beispiel, wenn eine gut erhaltene Moorleiche einer frischen Leiche zum Verwechseln ähnlich sieht.

»Diesmal nicht«, sagte O’Kelly. »Es handelt sich um eine frische Leiche. Jung, weiblich, sieht nach Mord aus. Die Kollegen vor Ort haben uns angefordert. Es ist in Knocknaree, Sie müssen also nicht dort übernachten.«

Mit meiner Atmung passierte irgendetwas Seltsames. Cassie hörte auf, Sachen in ihre Tragetasche zu stopfen, und ich spürte, wie ihr Blick für den Bruchteil einer Sekunde zu mir herüberhuschte. »Sir, tut mir leid, wir können im Augenblick keine weitere Mordermittlung übernehmen. Wir stecken mitten in der McLoughlin-Sache und –«

»Das hat Sie auch nicht gestört, als Sie dachten, Sie könnten sich jetzt einen schönen Nachmittag machen, Maddox«, sagte O’Kelly. Er kann Cassie nicht leiden, und zwar aus einer Reihe von verblüffend banalen Gründen – ihr Geschlecht, ihre Kleidung, ihr quasi heldenhafter Einsatz –, und diese Banalität stört sie weit mehr als seine Abneigung. »Wenn Sie Zeit für einen Landausflug hatten, dann haben Sie auch Zeit für eine Mordermittlung. Die von der Spurenermittlung sind schon unterwegs.« Und weg war er.

»Scheiße«, sagte Cassie. »Scheiße, dieses kleine Arschloch. Ryan, es tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung, dass –«

»Ist schon in Ordnung, Cassie«, sagte ich. Eine von Cassies besten Eigenschaften ist, dass sie weiß, wann sie die Klappe halten und einen in Ruhe lassen soll. Eigentlich war sie mit Fahren an der Reihe, aber sie suchte mein Lieblingszivilfahrzeug aus – einen 98er Saab, der sich wunderbar fährt – und warf mir die Schlüssel zu. Im Auto holte sie ihre CD-Mappe aus der Tasche und reichte sie mir. Der Fahrer bestimmt die Musik, aber ich vergesse meistens, welche mitzubringen. Ich entschied mich für die erstbeste CD, die einen harten, hämmernden Bass hatte, und drehte sie laut auf.

Seit jenem Sommer war ich nicht mehr in Knocknaree gewesen. Ich kam ins Internat, wenige Wochen, nachdem Jamie hätte gehen sollen – allerdings nicht auf dasselbe. Meins war in Wiltshire in England, so weit weg, wie meine Eltern es sich leisten konnten – und als ich Weihnachten zurückkam, waren wir nach Leixlip auf der anderen Seite von Dublin umgezogen. Als wir auf der Schnellstraße waren, musste Cassie die Straßenkarte rausholen und die richtige Ausfahrt suchen. Anschließend dirigierte sie uns über holprige Nebenstraßen mit Grasböschungen und wild wuchernden Hecken, die über die Scheiben kratzten.

Natürlich habe ich mir immer gewünscht, ich könnte mich erinnern, was damals im Wald passiert ist. Die wenigen Menschen, die von der Knocknaree-Sache wissen, schlagen mir irgendwann unweigerlich vor, ich sollte es mal mit einer Rückführung unter Hypnose versuchen, aber die Vorstellung stößt mich ab. Ich stehe allem, was auch nur einen leichten Esoterikgeschmack hat, argwöhnisch gegenüber, und zwar wegen der Leute, die so etwas machen. Irgendwie scheinen sie alle zu der Sorte Menschen zu gehören, die einem auf Partys die Ohren damit vollquatschen, wie sie entdeckt haben, dass sie Überlebende sind und das Recht haben, glücklich zu sein. Ich fürchte, ich könnte nach der Hypnose mit dieser Glasur aus selbstzufriedener Erleuchtung aufwachen, wie ein Siebzehnjähriger, der gerade Kerouac entdeckt hat und anfängt, Fremde in Kneipen zu bekehren.

 

Das Ausgrabungsgelände war ein großes Feld an einem flachen Hang. Es war bis aufs nackte Erdreich aufgerissen und von archäologischen Spuren durchzogen – Gräben, riesenhaften Ameisenhaufen aus Erde, etlichen Containern, verstreuten Überresten unbehauener Steinmauern, wie die Fundamente eines verrückten Irrgartens –, sodass es surreal wirkte, wie nach einem Atomkrieg. Auf einer Seite wurde es von einem dichten Baumbestand begrenzt, auf der anderen von einer Mauer, über die akkurate Hausgiebel lugten und die von den Bäumen bis zur Straße verlief. Ziemlich weit oben an dem Hang und in Nähe der Mauer drängten sich die Kriminaltechniker hinter blauweißem Polizeiabsperrband. Wahrscheinlich kannte ich jeden Einzelnen von ihnen, doch die Situation transformierte sie – weiße Overalls, emsige behandschuhte Hände, namenlose empfindliche Instrumente – in etwas Fremdartiges, Bedrohliches, irgendwie CIA-Ähnliches. Die wenigen erkennbaren Dinge wirkten so solide und beruhigend wie aus einem Bilderbuch: direkt an der Straße ein niedriges, weiß getünchtes Cottage, vor dem ausgestreckt ein schwarz-weißer Hütehund lag. Ein steinerner Turm, von Efeu umrankt, dessen Blätter im schwachen Wind bebten. Licht flirrte auf der Oberfläche eines dunklen Flusses, der eine Ecke des Feldes durchschnitt.

– Turnschuhfersen in die Ufererde eingesackt, Laubschatten fleckig auf einem roten T-Shirt, Angeln aus Ästen und Kordel, Schläge nach Mücken. Leise! Du verscheuchst die Fische! –

Hier, auf diesem Feld, war vor zwanzig Jahren der Wald gewesen. Nur der Baumstreifen war noch davon übrig. Ich hatte in einem der Häuser hinter der Mauer gewohnt.

Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich schaue selten irische Nachrichten. Die bringen ohnehin nur das ewig gleiche Gewäsch von den ewig gleichen Politikern, die mit Augen wie Soziopathen sinnloses statisches Rauschen von sich geben, wie das unverständliche Gebrabbel, wenn man eine 33er-LP mit 45 Umdrehungen abspielt. Ich halte mich an ausländische Nachrichtensendungen, bei denen mir der räumliche Abstand zumindest die tröstliche Illusion verschafft, dass es zwischen den diversen Akteuren doch noch gewisse Unterschiede gibt. Ich hatte vage mitbekommen, dass irgendwo bei Knocknaree Ausgrabungen stattfanden und dass diese umstritten waren, aber weder die näheren Einzelheiten noch der genaue Ausgrabungsort waren in mein Bewusstsein gedrungen.

Ich hielt auf einem Parkplatz gegenüber den Containern, zwischen dem Van der Spurenermittlung und dem dicken schwarzen Mercedes von Cooper, unserem Gerichtsmediziner. Wir stiegen aus, und ich überprüfte kurz meine Waffe: sauber, geladen, gesichert. Ich trage ein Schulterhalfter; alles andere kommt mir plump vor, zu exhibitionistisch. Cassie dagegen sagt, plump oder nicht, wenn du einen Meter fünfundsechzig bist und jung und eine Frau, ist ein bisschen offenkundige Autorität nicht zu verachten, deshalb trägt sie einen Gürtel. Die Diskrepanz tut uns oft gute Dienste: Die Leute wissen nicht, wer beängstigender ist, die zierliche Frau mit der dicken Pistole oder der offenbar unbewaffnete Bursche, und solange sie darüber nachdenken, sind sie abgelenkt.

Cassie lehnte sich gegen den Wagen und fischte ihre Zigaretten aus der Tasche. »Auch eine?«

»Nein, danke«, sagte ich. Ich kontrollierte mein Halfter, zog die Gurte straff, vergewisserte mich, dass keiner verdreht war. Meine Finger kamen mir dick und unbeholfen vor, wie losgelöst vom Körper. Ich wollte nicht von Cassie hören, dass der Mörder, wann immer er auch das Mädchen getötet hatte, wohl kaum hinter einem Container lauerte und mit vorgehaltener Waffe gestellt werden musste. Sie legte den Kopf in den Nacken und blies den Rauch in die Äste über uns. Es war ein typischer irischer Sommertag, aufreizend spröde, mit Sonne zwischen treibenden Wolken im böigen Wind und bereit, von einer Sekunde auf die andere in strömenden Regen oder sengende Hitze oder beides umzuschlagen.

»Na los«, sagte ich. »Auf in den Kampf.« Cassie drückte die Zigarette an ihrer Schuhsohle aus, schob die Kippe zurück in die Packung, und wir überquerten die Straße.

Ein Mann mittleren Alters in einem ausgefransten Pullover stand verloren zwischen den Containern herum. Als er uns erblickte, erhellte sich seine Miene.

»Detectives«, sagte er. »Sie sind doch die Detectives, nicht? Dr.Hunt … ich meine, Ian Hunt. Ausgrabungsleiter. Wo möchten Sie gern – also, im Büro oder bei der Leiche oder …? Ich kenn mich da nicht aus. Wie so was abläuft.« Er gehörte zu den Menschen, die man automatisch als Witzfigur sieht: der sprichwörtliche zerstreute Professor.

»Detective Maddox, und das ist Detective Ryan«, sagte Cassie. »Wäre es möglich, Dr.Hunt, dass einer Ihrer Mitarbeiter Detective Ryan einmal die gesamte Anlage zeigt, während Sie mich zu der Leiche bringen?«

Du Miststück, dachte ich. Ich fühlte mich zittrig und benommen zugleich, als hätte ich einen kolossalen Kater und versucht, ihn mit zu viel Koffein zu bekämpfen. Die hellen Flecken von Glimmer in dem aufgewühlten Boden waren blendend grell, tückisch und fiebrig. Mir war nicht danach, beschützt zu werden. Aber eine der unausgesprochenen Regeln zwischen Cassie und mir lautet, dass wir uns in der Öffentlichkeit nicht widersprechen. Manchmal nutzt einer von uns das aus.

»Äh … ja«, sagte Hunt und blinzelte uns durch seine Brille an. Irgendwie machte er den Eindruck, als würde er ständig Sachen verlieren – linierte Blätter, zusammengeknüllte Taschentücher, halb ausgepackte Halspastillen –, und das, obwohl er gar nichts in der Hand hielt. »Ja, natürlich. Die sind alle … Na ja, normalerweise machen Mark oder Damien die Führungen, aber Damien ist ja … Mark!« Er rief das mit Blick auf die offene Tür eines Containers, und ich sah kurz etliche Leute, die um einen Tisch saßen: Armeejacken, Sandwiches und dampfende Tassen, Erdklumpen auf dem Boden. Einer von ihnen warf ein paar Spielkarten auf den Tisch und erhob sich schwerfällig von einem Plastikstuhl.

»Ich hab allen gesagt, sie sollen drinbleiben«, erklärte Hunt. »Ich wusste nicht … Beweise. Fußspuren und Fasern.«

»Das war sehr gut, Dr.Hunt«, sagte Cassie. »Wir werden uns bemühen, den Tatort so schnell wie möglich zu räumen, damit Sie wieder an die Arbeit können.«

»Uns bleiben nur noch ein paar Wochen«, sagte der Mann in der offenen Containertür. Er war klein und drahtig, und mit einem dicken Pullover hätte er fast kindlich zart gewirkt. Aber er trug ein T-Shirt, eine verdreckte Cargohose und schwere Stiefel, und unterhalb der Ärmel waren seine Muskeln kompakt und sehnig wie bei einem Federgewichtsboxer.

»Dann führen Sie meinen Kollegen am besten sofort herum«, entgegnete Cassie.

»Mark«, sagte Hunt. »Mark, der Detective möchte alles gezeigt bekommen. Das Übliche, du weißt schon, die ganze Ausgrabung.«

Mark beäugte Cassie noch einen Moment, dann nickte er. Offenbar hatte sie irgendeinen Test bestanden. Dann konzentrierte er sich auf mich. Er war Mitte zwanzig, trug einen langen, blonden Pferdeschwanz und hatte ein schmales, verschlagen wirkendes Gesicht mit auffällig grünen, bohrenden Augen. Männer wie er – Männer, die sich anscheinend nur dafür interessieren, was sie von anderen halten, nicht, was andere von ihnen halten – haben mich schon immer verunsichert. Sie verfügen über eine allumfassende Sicherheit, die mir das Gefühl gibt, unfähig zu sein, affektiert, ohne Rückgrat, am falschen Ort in den falschen Klamotten.

»Sie sollten sich Gummistiefel anziehen«, sagte er und bedachte meine Schuhe mit einem süffisanten Blick: Quod erat demonstrandum. »Wir haben noch welche im Geräteschuppen.«

»Danke, es geht schon«, sagte ich. Mir war klar, dass es auf archäologischen Ausgrabungen wahrscheinlich tief verschlammte Gräben gab, aber ich würde mich keinesfalls zum Narren machen und mit meiner Anzugshose in die abgelegten Gummistiefel anderer Leute gestopft hinter diesem Burschen herstapfen. Ich wollte etwas – eine Tasse Tee, eine Zigarette, irgendetwas, das mir einen Vorwand lieferte, mich fünf Minuten ruhig hinzusetzen und zu überlegen, wie ich das durchstehen konnte.

Mark zog eine Augenbraue hoch. »Wie Sie wollen. Hier entlang.«

Er ging zwischen den Containern hindurch, ohne sich umzusehen, ob ich ihm folgte. Cassie grinste mich erstaunlicherweise an, als ich mich in Bewegung setzte – ein schadenfrohes Reingefallen!-Grinsen, das mich ein bisschen aufmunterte. Ich zeigte ihr unauffällig den Mittelfinger.

Mark führte mich quer über einen schmalen Pfad zwischen Aufschüttungen und Steinhaufen hindurch. Er ging wie ein Kampfsportler oder Wilderer, mit langen, leichtfüßigen, eleganten Schritten. »Mittelalterlicher Abwassergraben«, sagte er und deutete irgendwohin. Ein paar Krähen flatterten von einer verlassenen Schubkarre voll Dreck hoch, stuften uns als harmlos ein und machten sich wieder daran, in der Erde herumzupicken. »Und das ist eine neolithische Siedlung. Hier haben seit der Steinzeit mehr oder weniger ununterbrochen Menschen gelebt. Bis heute. Sehen Sie das Cottage da drüben, das ist achtzehntes Jahrhundert. Einer der Orte, wo sie den Aufstand von 1798 geplant haben.« Er warf mir einen Blick über die Schulter zu, und ich hatte den absurden Impuls, ihm meinen englischen Akzent zu erklären und ihm mitzuteilen, dass ich nicht nur Ire war, sondern direkt hier aus der Gegend kam, also bitte. »Der Typ, der jetzt da drin wohnt, stammt von dem Typ ab, der es gebaut hat.«

Wir hatten den steinernen Turm in der Mitte der Ausgrabungsstätte erreicht. Durch Lücken im Efeu waren Schießscharten zu sehen, und auf einer Seite war die Mauer halb verfallen. Er kam mir vage, frustrierend vertraut vor, aber ich konnte nicht sagen, ob ich mich tatsächlich an ihn erinnerte oder bloß wusste, dass ich mich an ihn erinnern sollte.