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mehrbuch-Weltliteratur! eBooks, die nie in Vergessenheit geraten sollten. Graf Petöfy ist einer der frühen Gesellschaftsromane Theodor Fontanes. Er handelt von der Ehe zwischen einer jungen, protestantischen, bürgerlichen Schauspielerin aus Norddeutschland und einem alten, katholischen, ungarischen Grafen. Erste Notizen zu dem Roman legte Fontane 1880 an.
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Seitenzahl: 274
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In einer der Querstraßen, die vom »Graben« her auf den Josephsplatz und die Augustinerstraße zuführen, stand das in den Prinz-Eugen-Tagen erbaute Stadthaus der Grafen von Petöfy mit seinem Doppeldach und seinen zwei vorspringenden Flügeln. Ein altmodisches Hochparterre, dazwischen ein Hof und ein etwas vernachlässigtes, den ganzen Bau nach vornhin abschließendes Eisengitter. Ging man an einem dunklen Tage hart an diesem Eisengitter vorüber und sah durch seine rostigen Stäbe hin auf den mit Kies bestreuten Vorhof, so gewann man den Eindruck, daß hier alles längst tot und ausgestorben sei; trat man aber umgekehrt auf das Trottoir der andern Straßenseite hinüber, so bemerkte man an allerlei kleinen Zeichen und nicht zum wenigsten an einem gedämpften Lichtschimmer, der abends durch die nicht ganz zugezogenen Gardinen fiel, daß, wenn nicht der ganze Bau, so doch die zwei vorspringenden Flügel desselben bewohnt sein mußten.
Und so war es auch.
Die beiden letzten Petöfys, Graf Adam und seine Schwester Judith, eine seit vielen Jahren verwitwete Gräfin von Gundolskirchen, bewohnten das Palais in getrennter Wirtschaftsführung und benutzten in Gemeinschaftlichkeit nur die dem Corps de logis angehörigen Repräsentationsräume.
Die »Gesellschaft«, die sich in diesen Räumen zu versammeln pflegte, war, je nachdem der Bruder oder die Schwester »invitiert« hatte, von sehr verschiedenem Gepräge.
Beide Geschwister gefielen sich nämlich in einem ausgesprochenen Protegieren, aber während die Protektion des Grafen der Kunst galt, galt die der Gräfin der Kirche, weshalb es weder ausbleiben noch überraschen konnte, daß sich in denselben Empfangsräumen eine sehr verschiedene Gesellschaftselite: die Wolter und der Kardinal von Schwarzenberg, abwechselnd bewegte. Nur selten, daß man eine Vereinigung beider Elemente wagte.
Graf und Gräfin waren jeder zu seinem Teil ebenso voll Hingebung wie voll Wohlwollen, und doch hätt es keiner allzu scharfen Beobachtung bedurft, um wahrzunehmen, daß die Protektion, in der sie sich ergingen, etwas von einer noblen Passion an sich trug. Sie fühlten eine gewisse Leere, wollten sie standesmäßig ausfüllen und trafen darnach unter dem, was ihnen zur Hand war, ihre Wahl.
Aber dieser Entstehung ihrer Passion waren sich beide seit lange nicht mehr bewußt und standen vielmehr in Aufrichtigkeit und gutem Glauben jeder an seinem Platz.
Es war Ende Januar, einer jener unfreundlichen Tage, wo der Himmel nicht weiß, ob er nebeln oder nieseln soll. Grau zogen die Wolken über die Dächer hin, und die stille Straße, darin das Petöfysche Palais gelegen war, war noch stiller als gewöhnlich. Aber vor dem Palais selber herrschte Leben, und nicht nur Azaleen, Rhododendren und andere hohe Topfgewächse, sondern auch allerlei Kästen und Futterale mit Musikinstrumenten und endlich Körbe, darin kunstvoll aufgetürmtes Gebäck die schrägstehenden Deckel wie zur Seite geschoben hatte, wurden abgeladen.
Kein Zweifel, der alte Graf gab heute sein Winterfest.
Inzwischen war die zwölfte Stunde herangekommen, das Gewölk zog ab, der Himmel begann zu blauen, und als angesichts dieser erfreulichen Zeichen ein in der Nähe wohnender Taubenzüchter ein Volk Tauben in die Luft steigen ließ, um den bevorstehenden Wetterumschlag aller Welt zu verkünden, fuhr vor dem Petöfyschen Palais ein elegantes Cabriolet vor.
In dem Hause gegenüber aber, in dessen erstem Stock ein großes Putz- und Konfektionsgeschäft war, erschienen sofort drei, vier Mädchenköpfe, junge Demoiselles, am Fenster und sahen neugierig auf den jungen Offizier, der eben die Zügel in die Hand seines Dieners legte.
»Ah, der Herr Neffe, Graf Egon!« rief eines der jungen Mädchen. »Und wie ihm der Attila sitzt! Ein Husar ist doch das Schönste.«
Niemand widersprach, entweder, weil man derselben Ansicht war, oder vielleicht auch, weil die Sprecherin ein für allemal als Autorität in derlei Dingen einschließlich aller Angelegenheiten des Hauses Petöfy galt; der junge Kavalier aber, der zu dieser Bemerkung über die Vorzüge von Husarentum und Attila Veranlassung gegeben hatte, wandte sich seinerseits vom Gitter her rasch auf das Portal zu, vor dessen Eingang ein pechschwarzer Walache stand, ein Ideal von einem Türhüter, groß und dick und mit zwei Schnurrbärten, von denen der eine, der kleinere, wie ein Dachreiter auf dem andern saß.
»Noch zu Haus?« fragte der als Graf Egon und Neffe des Hauses bezeichnete junge Offizier und stieg, als der Walache gravitätisch sein »Ja« genickt hatte, die breite, nur wenig Stufen zählende Marmortreppe hinauf.
Ein langer Korridor lief auf das Frontzimmer zu, das von Graf Adam bewohnt wurde. Niemand erschien, um zu melden, auch Andras nicht, der erst sechzehnjährige Groom und Liebling, der seit kurzem an des erkrankten Kammerdieners Stelle den persönlichen Dienst beim Grafen hatte. So trat der Neffe denn unangemeldet ein, streckte sich ohne weiteres, den Oheim bei der Toilette vermutend, in einen Schaukelstuhl und musterte das Zimmer, das er von langher kannte, doch so genau zu betrachten nie zuvor Gelegenheit gehabt hatte. Der Charakter seines Bewohners sprach sich in allem aus und verriet gleichmäßig den Militär wie den Junggesellen und Theaterhabitué. Vor dem Fenster stand ein beinahe mannshohes Bauer mit einem Kakadu darin, während im übrigen alle Wände mit einer ganzen Galerie von Bühnengrößen, unter denen die Rachel den Ehrenplatz einnahm, überdeckt waren. Ebenso lagen Albums umher, auf deren einem in großer Golddruckaufschrift »Collection of beauties« zu lesen war.
Egon begann eben darin zu blättern, als er den kleinen, staffeleiartigen, immer das Neueste tragenden Ständer eines aquarellierten Blattes gewahr wurde. Neugierig trat er heran und sah nun, daß es die Wolter als Messaline war in jenem verführerischen Moment, wo sie den Sohn des Paetus auf einem Blumenlager empfängt.
Egon war noch in Bewunderung vertieft, als der alte Graf eintrat und den Neffen in einem eleganten Visitenanzuge, den er augenscheinlich eben erst angelegt hatte, begrüßte.
»Nun, Egon, zufrieden mit dem Bilde?«
»Süperb!«
»Mein ich auch. Makart hat sich hier selbst übertroffen. Ich ziehe diese Skizze seinen größeren Bildern vor. Überhaupt in dem, was Künstler Ausführung nennen, geht soviel von der Hauptsache verloren. Was der Moment schafft, ist immer das Beste. Byron hatte ganz recht, sich mit einem Tiger zu vergleichen, der alles gleich im ersten Sprunge packen müsse. Gleich oder gar nicht. So liegt es.«
»Die Fachleute denken meist anders darüber«, entgegnete der Neffe, der die Vorliebe des Oheims für Kunstgespräche kannte. »Hört man sie, so sollte man glauben, skizzieren könne jeder und Ideen haben sei so ziemlich das Trivialste von der Welt. Aber lassen wir das. Ich komme, nach deinen Befehlen zu fragen. Es wird heute getanzt werden. Für den Fall, daß du noch Aufträge hast, steh ich mit meiner ganzen Zeit zu Diensten. Ich habe mich beurlaubt und bitte dich, über mich zu verfügen.«
»Obligiert, Egon. Aber es ist alles im Gange, die Cotillonüberraschungen mit eingeschlossen, und das eine, was noch fehlt, muß ich selber beschaffen, oder sag ich lieber, in Ordnung bringen. Eben deshalb siehst du mich bereits gestiefelt und gespornt. Es handelt sich um die reizende Franz, die heute, Pardon, wenn ich etwas übertreibe, die Königin unseres Festes sein soll.«
»Sagen wir die Nouveauté.«
»Gut, auch das. ›Nouveauté‹: nicht übel. Und um diese Nouveauté soll ich kommen, weil es der unbedeutenden kleinen Stiglmayr, die geradeso hausbacken ist wie ihr Name, beliebt hat, sich einen Katarrh anzuschaffen oder eine Migräne. Nun soll die Franz statt ihrer spielen. Lies. Es ist zum Rasendwerden. Du siehst mich auf dem Wege zu ihr. Es wird sich doch unter den zwanzig jungen und alten Damen irgendeine Vertretung finden lassen, ohne gerade die Franz für diese Rolle heranzuziehen. Wirklich, so mal à propos wie möglich! Denn gerade heute hatt ich vor, sie deiner Tante Judith vorzustellen, woran mir, offen gestanden, liegt. Den Rest überlaß ich schließlich der Franz selbst, ihrer Klugheit und ihrer Anmut.«
»Anmut?«
»Ja; so sagt ich. Überrascht dich das Wort?«
»Einigermaßen. Um anmutig zu sein, ist sie nicht mehr jung genug. Es gibt eine Frauenanmut von vierzig, aber keine Mädchenanmut von sechsundzwanzig.«
»Du gehst höher hinauf, als die Galanterie gestattet, oder meinetwegen auch weiter zurück.«
»Und ich meinerseits fürchte nur, daß das Kirchenbuch noch weiter zurückgeht.«
»Oh, nichts davon. Es gibt nichts Gröblicheres als Kirchenbücher. Aber alt oder jung, ich habe sie gern und mag sie für mein Fest nicht entbehren, am wenigsten heut. Scheitert alles, so muß sie noch nach der Vorstellung erscheinen. Das dumme Ding von Lustspiel, das gegeben wird, kann doch höchstens vier Akte haben, vielleicht nur drei: gegen neun ist alles aus, und das Fräulein hat noch vollauf Zeit zur Toilette.«
»Wird aber angegriffen sein.«
»Um desto besser. Ich habe das beobachtet. Unsere Theaterdamen sind nie reizender als unmittelbar nach dem Spiel. Sie haben dann noch etwas von dem künstlerischen Hochflug und sind doch zugleich leise fatigiert von der Anstrengung. Dieser Kampf ist entzückend. Un peu languissant. Aber wem sag ich das?«
Egon wollte sich mit Rücksicht auf die Visite, die der Oheim noch vorhatte, von seinem Platz erheben, der alte Graf aber hielt ihn zurück und sagte:
»Noch ein Wort, ehe ich dich fortlasse. Du kennst Tante Judith besser als ich – Geschwister kennen sich eigentlich überhaupt nicht –, wogegen du des Vorzugs genießest, nur ihr Neffe zu sein, und so sage mir denn, glaubst du, daß wir der Tante die Franz plausibel machen, oder mit anderen Worten, daß ich ihr zumuten darf, sie bei nächster Gelegenheit in ihren petit cercle zu ziehen? Haben wir Chancen oder nicht? Judith ist im ganzen genommen ohne Standesvorurteile, was ich gerecht genug bin ihr als eine der wenigen Segnungen ihrer strengen Kirchlichkeit in Rechnung zu stellen. Jedenfalls bin ich mitunter überrascht, sie so zu sehen, wie sie ist. Aber eine Schauspielerin! Und nun gar noch eine solche! Ja, wenn es eine Tragödin wäre, Volumnia oder Arria oder mindestens die alte Galotti. Das Fach der Heldenmütter ist, wenn nicht geradezu sakrosankt, so doch immer mehr oder weniger zulässig, eine Respektabilitätsflagge, die das Fahrzeug deckt. Aber Liebhaberin, Soubrette! Soubrette, die reine Piratenflagge!«
»Doch wen soll sie rauben?«
»Vielleicht mich«, lachte der Oheim und fuhr dann fort: »Es gibt keine Torheit, deren sie mich nicht für fähig hält. Sie würde schließlich jede verzeihen, aber die tollste hält sie für möglich. Sie sieht in mir einen ewigen Jüngling und beweist mir, daß mein Leben eine Kette von Jugendtorheiten sei, ja, sie hat sich, glaub ich, in den Kopf gesetzt, eine Jugendtorheit werde auch mein Leben beschließen. Zuletzt wär es nicht das schlimmste. Jedenfalls gut ungarisch, und am Ende stirbt sich's besser jugendlich als ältlich.«
In diesem Augenblick hörte man Militärmusik, und der alte Graf erhob sich. »Ein Uhr. Es ist die höchste Zeit. Und nun mache der Tante drüben deinen Besuch und sondiere. Du mußt sehen, aus des Fräuleins Namen einigen Nutzen zu ziehen. ›Franziska Franz‹ – man kann kaum österreichischer aus der Taufe gehoben sein. Ist es nicht, als flattere der Doppeladler direkt über einem? Ich vertraue ganz deiner Klugheit. Und erzähl ihr auch, vielleicht käme Liszt; das macht sie guter Laune. Alles, was Pio Nono mit der Hand gestreift hat, ist gesegnet ein für allemal. Ich persönlich ziehe die Wolter vor.«
Und so sprechend, gingen sie den Korridor hinunter bis an die Marmortreppe, wo man sich rasch trennte, der alte Graf, um dem Fräulein, Graf Egon aber, um der Tante seinen Besuch zu machen. Alles, was er eben gehört hatte, ging ihm durch den Kopf, ohne daß es ihn geradezu verstimmt hätte, denn er liebte den Oheim wirklich und verzieh ihm gern und leicht seinen dann und wann etwas exzentrisch auftretenden Theaterenthusiasmus. Aber wenn dieser Enthusiasmus auch noch größer und seine Liebe zum Oheim geringer gewesen wäre – der Onkel war eben ein »Erbonkel« und mußte daraufhin um so vorsichtiger behandelt werden, als das durch die Tante repräsentierte Gundolskirchensche Vermögen ohnehin in einer steten Gefahr war, von der Familie fort – und irgendeinem kirchlichen Orden, sehr wahrscheinlich dem der Liguorianer, zuzufallen.
So verging der Vormittag.
Am Abend war das Fest, die junge Schauspielerin erschien und wurde der Gräfin Judith vorgestellt.
Aber ehe diese Vorstellung stattfinden konnte, hatte sich ein Zwischenfall ereignet, der, wenn nicht das Fest selbst, so doch die Stimmung desselben ernsthaft in Frage gestellt hatte.
Zu neun Uhr war geladen worden, und der alte Graf wartete schon der ersten Gäste, namentlich aber Judiths, als Egon in Begleitung zweier Freunde, der Grafen Pejevics und Coronini, erzherzogliche Adjutanten wie er, im Festsaal erschien und in sichtlicher Erregung auf den Oheim zuschritt. Dieser begrüßte die Herren mit der ihm eigenen Artigkeit, nahm aber an ihrer Haltung sehr bald wahr, daß etwas geschehen sein müsse.
»Was gibt es, Egon?«
»Gablenz...« Er stockte.
»Nur heraus. Ich ahne.«
»Hat sich erschossen. Eben hatten wir das Telegramm. Ich wollte nicht, daß dir unvorbereitet und inmitten deiner Gäste die Nachricht käme.«
Die beiden jungen Grafen bestätigten die Mitteilung.
Es war in einer kleinen, aus Lorbeer und Palmen arrangierten Nische, wo man das kurze Gespräch geführt hatte.
Der alte Graf antwortete nicht, stützte sich nur auf einen Marmortisch, der hier samt ein paar Stühlen stand, und machte dann eine Handbewegung, in der er die Herren aufforderte, sich zu setzen. Gleich darnach aber nahm er selber Platz und sah, während er an seinem weißen Bart drehte, stumm vor sich hin. Es war augenscheinlich, daß er mit seinen Gedanken abwesend war und momentan seiner Besucher vergaß.
»Er war dir lieb und wert«, nahm Egon, dem die Situation peinlich zu werden anfing, endlich das Wort.
Aber der Graf verharrte noch immer in seinem Schweigen. Erst nach einer Weile war es, als ob er erwache. »Lieb und wert, sagtest du, wohl, aber das sagt nicht genug. Er war mein Freund, das sagt mehr.« Und dabei flogen ihm die Lippen. »Ich weiß, es wird viel gegen ihn gesagt werden, und es ist viel gegen ihn zu sagen, oder doch manches. Aber gegen wen nicht? Er war ein vollkommener Kavalier und hielt es mit dem Wort: ›Ich marchandiere nicht.‹ Und an dem Festhalten an diesem Wort ist er zugrunde gegangen. Hätt er mit dem Ehrenpunkte marchandieren können, er lebe noch.«
»Unter allen Umständen ein beklagenswerter Aus gang«, antwortete Graf Coronini, dem die Verteidigung in ihrem Überschwang und zum Teil auch in einer Verkennung des Tatsächlichen offenbar mißfiel. »Ein beklagenswerter Ausgang, und um so beklagenswerter, als der Zweck, um dessentwillen so gehandelt wurde, nicht erreicht wird. In gewollter Wahrung seiner Ehre hat er sie nur aufs neue bloßgestellt.«
Ein scharfer Blick, der den jungen Grafen traf und in nicht geringe Verlegenheit brachte, schoß in diesem Augenblick aus dem von Natur schon etwas geröteten Auge des alten Petöfy. Zugleich aber nahm dieser wieder das Wort und sagte: »Graf Coronini, Pardon, aber dem Ernste solcher Fragen ist mit Alltagsbetrachtungen und einer landläufigen Moral nicht beizukommen. Ich bin mit Ihrem Vater, dem Grafen, jung gewesen, ein halb Jahrhundert liegt dazwischen, und so müssen Sie mir, einem alten Grognard, diese Sprache zugute halten. Es ist ein tiefes und schönes Wort, das Wort von der süßen Gewohnheit des Daseins; alles, was lebt, hängt auch am Leben, und nur der geht, der gehen muß. Unter den vielen Bücherweisheitssätzen, die mir von Grund aus zuwider sind, steht der von der besonderen Feiglingschaft derer, die das Pistol in die Hand nehmen, obenan. Nach dem bißchen Lebensweisheit, das ich mir anzueignen in der Lage war, hört das Pistol auf, wo die Feigheit anfängt, und hört die Feigheit auf, wo das Pistol an fängt. Wer es in die Hand nimmt, ist durch schwere Kämpfe gegangen. Achtung vor dem Unglück! Und nun gar der Ehrenpunkt; die Ehre! Jeder, der überhaupt davon hat, weiß allein, wo sie für ihn liegt oder nicht liegt. Bitten wir Gott insgesamt, daß der Kelch der Erniedrigung, welchen Inhalts er auch sein möge, gnädiglich an uns vorübergehe; wenn er aber doch kommt und der, der ihn trinken soll, ihn nicht trinken mag und gewaltsam und für immer seine Lippen dagegen schließt, so denk ich, wir respektieren den Toten und sein Tun.«
Graf Coronini, den eine glückliche Leichtlebigkeit auszeichnete, sprach in gewinnendster Weise sein Bedauern über das ihm entschlüpfte Wort aus, und als wenige Minuten später unter einem raschen Zustrome der Saal sich zu füllen begann, zeigte sich's, daß der kleine Disput ein Glück für den Verlauf des Festes gewesen war. Der alte Graf, eine durchaus nervöse Natur, hatte sich in seiner Philippika gegen Graf Coronini nicht nur den aufsteigenden Groll, sondern vor allem auch die voraufgegangene schmerzliche Bewegung von der Seele heruntergeredet und ließ nun als Wirt bis zum letzten Geigenstriche nichts von seiner gewöhnlichen Liebenswürdigkeit vermissen.
Seit jener Soiree war eine volle Woche vergangen, und selbst die jungen Demoiselles in dem gegenüber gelegenen Konfektionsgeschäfte hatten den anfänglich unerschöpflich scheinenden Gesprächsgegenstand als erledigt außer Kurs gesetzt, um sich in ihrer Eigenschaft als Chorus des Hauses Petöfy neuen intrikaten Fragen zuzuwenden.
Es war Abend, nicht mehr ganz früh, und der Gaskronleuchter, der mit seinen Milchglasglocken über dem Arbeitstische hing, brannte schon seit Stunden.
»Ich weiß etwas«, sagte Resi, die heute wie gewöhnlich den Chorführer machte.
»Was?«
»Die Franz ist heute bei der alten Gräfin drüben. Ganz intim. Kleiner Zirkel. Bei dem Grafen in der Soiree neulich, nun, das war nicht viel. Aber bei der Gräfin, die so fromm ist, das bedeutet etwas. Was wohl Pater Feßler dazu sagen mag?«
»Ja, der«, unterbrach eine Kleine, nach innenhin Verwachsene, von der Resi mit Vorliebe zu sagen pflegte, der liebe Gott hab ihr eine Stufe ins Kleid genäht. »Ja, der, der Feßler! Ein schöner Mann, dem könnt ich alles beichten. Und es übergruselt mich ordentlich, wenn ich bloß daran denke.«
»Du?« lachten alle. »Du? Was beichtest du denn?«
Als aber die Heiterkeit sich wieder gelegt hatte, sagte eine dritte: »Ja, der Feßler! Sage, Resi, du hörst ja das Gras drüben wachsen, wie kommt der nur ins Petöfysche Haus? Er ist ja doch ein Steirer, und drüben ist alles ungarisch.«
»Oh, nicht doch«, antwortete die Gefragte. »Nicht alles; nur halb. Auf der linken Seite, wo der Graf wohnt, da freilich ist alles ungarisch, aber auf der rechten, wo die Gräfin wohnt, ist alles deutsch. Und der Graf und die Gräfin sind auch immer im Krieg.«
»Aber sie sind doch Geschwister, oder sind sie nicht?«
»Gewiß sind sie. Graf Adam und Gräfin Judith und die Gräfin Eveline, die die schönste war und nun tot ist, die waren Geschwister. Und waren alle drei rabiat ungarisch und die beiden jungen Gräfinnen am meisten. Ich weiß es von dem alten Koloman Czagy, des Grafen Kammerdiener, der jetzt krank auf Schloß Arpa liegt, weil er die Gelbsucht hat, er soll ganz abgemagert sein und aussehen wie eine Zitrone. Ja, von dem weiß ich es. Als dann aber die Gräfin Judith den alten Gundolskirchen und die Gräfin Eveline den schönen Asperg heiratete, den Vater von dem jungen Grafen, da war es mit dem Rabiatischen und dem Ungrischen vorbei. ›Nix mehr Magyar.‹ Und beide wurden gut steirisch. Und von daher schreibt sich auch der Feßler.«
Pater Feßler, als dies Gespräch geführt wurde, saß bereits drüben in dem kleinen Salon der Gräfin, in dem mehrere Lampen brannten, aber alle mit einem durch Bilderschirme gedämpften Licht. Diese Lichtschirme waren eine Spezialität des Salons und spielten eine Rolle darin, insonderheit einer, der auf der einen Seite die Correggiosche Nacht und auf der andern die büßende Magdalena von Carlo Dolci zeigte. Alles machte den Eindruck von Behagen und Stille. Dicke Teppiche lagen ausgebreitet, und ein feiner Parfüm wie von Ambra war in der Luft. Er schien von einem Lämpchen zu kommen, das auf einem Ecktisch stand und mit einer kleinen blauen Flamme brannte. Darüber hing der Gundolskirchensche Lieblingsheilige, der heilige Florian.
Es schien, daß der Pater eben aufbrechen wollte. Die Gräfin hielt ihn aber zurück und sagte: »Nein, lieber Freund, Sie müssen noch bleiben und den Tee mit uns nehmen. Es liegt mir daran. Und doch andererseits...«
Er verbeugte sich, um seine Zustimmung auszudrücken.
»Und doch andererseits«, wiederholte die Gräfin, »bin ich in einiger Sorge vor Ihrer Kritik. Es entgeht Ihnen nichts, und ich fürchte, Sie werden allerlei sehen und hören müssen, was Sie, das mindeste zu sagen, nur wenig angenehm berühren kann. Denn um was wird es sich handeln? Um Rivalitäten und Theaterintrigen. Aber ich konnt es meinem Bruder, dem Grafen, nicht abschlagen und mocht auch nicht.«
Feßler schien hier unterbrechen zu wollen, aber die Gräfin fuhr fort: »Und dann ist sie Lutheranerin oder Kalvinistin, oder was weiß ich, und wird also sehr wahrscheinlich an der ewig wiederkehrenden protestantischen Ungezogenheit kranken, ihre ketzerischen Naivitäten in einem Tone vorzutragen, als ob ein Appell unmöglich sei.«
»Lassen wir sie, meine Gnädigste«, sagte der Pater. »Ich für meine Person habe nichts lieber als diesen Ton und vergnüge mich immer wieder, die verlorengegangenen oder doch in Abfall geratenen Kinder unserer Kirche von kirchlichen Dingen reden zu hören, von Dingen also, die sie nicht verstehen und doch auch wieder sehr gut verstehen. Es ist immer unterhaltlich und lehrreich. Und am unterhaltlichsten und lehrreichsten erscheinen mir allemal diese Preußen in ihrer rechthaberischen Ausgesprochenheit und ihrem ehrlichen Glauben an eine preußische Verheißung mit dem Alten Fritzen als Gott oder wenigstens als Nationalheiligen. Ich habe viel gegen sie zu sagen und nehme sie, wie sich von selbst versteht, als unsere geschworenen und allerechtesten Feinde, zugleich aber doch als solche, denen gegenüber mir das sonst so schwierige ›Liebet eure Feinde‹ nie sonderlich schwer geworden ist. Sie haben etwas Anregendes und überhaupt manches vor uns voraus. Und darunter sogar Großes.«
»Und das wäre?«
»Beispielsweise die Freiheit. Nicht die politische, die nicht viel, und auch nicht die soziale, die noch weniger bedeutet, aber die innerliche. Sie prüfen die Dinge, sind kritisch und leben selbständig aus sich heraus. Und das ist ein Heilsweg; ja, lassen Sie mich hinzusetzen: unter richtiger Voraussetzung der einzige Weg, der zum Heile führt.«
Die Gräfin sah ihn verwundert an, Feßler aber fuhr fort: »Sie sind überrascht, gnädigste Gräfin, und doch bin ich Ihrer schließlichen Zustimmung sicher. Es gibt eine höchste Lebensform, und diese höchste Lebensform heißt: ›in Freiheit zu dienen‹. Das Dienen aus bloßem Zwang heraus ist tot, und erst aus einem selbstgewollten, weil als unerläßlich erkannten Verzicht auf die Freiheit erblüht uns der echte, welterlösende Glauben. Aber um auf die Freiheit verzichten zu können, dazu muß man sie vorher haben. Sie haben ist das Erste, sich ihrer begeben das Zweite. Den ersten Schritt hat der Protestantismus getan. Vermag er auch den zweiten Schritt zu tun, den Schritt zu Rückkehr und freiwilliger Unterordnung unter das Gesetz, so haben wir in ihm das Ideal. In hoc signo vinces. Da liegt die Zukunft, das Geheimnis einer höher potenzierten Welt.«
Als die Gräfin eben antworten wollte, wurde der als Portière dienende Teppich zurückgeschlagen, und die junge Dame, die zu diesem Gespräche wenigstens mittelbar die Veranlassung gegeben hatte, trat ein und schritt rasch und mit einem leisen Anfluge von Verlegenheit auf die Gräfin zu. Diese hatte sich erhoben und bot ihr die Hand, die die junge Schauspielerin mit Devotion küßte. Dann verneigte sie sich gegen den Geistlichen, der sich mit erhoben hatte, während die Gräfin vorstellte: »Pater Feßler – Fräulein Franziska Franz.
Ich erwarte seit einer halben Stunde schon meinen Bruder, den Grafen«, fuhr die Gräfin fort, während sie die junge Dame neben sich einlud. »Er ist sonst die Pünktlichkeit selbst. Bis zu seinem Erscheinen, liebes Fräulein, werden wir uns also mit Pater Feßler einzurichten haben. Glücklicherweise sind Sie lange genug in Wien, um zu wissen, daß die Jesuiten, um das Schrecklichste vorwegzunehmen, aller Schrecklichkeit unerachtet, doch sehr umgängliche Leute sind. Und die Liguorianer eifern ihnen wenigstens nach. Nicht wahr, Pater Feßler?«
Dieser lächelte, während Franziska nicht zögerte, das Wort »umgänglich«, das ihr sehr apropos ausgesprochen worden war, geschickt aufzugreifen, um nun ihrerseits daran anknüpfend die »Tugend der Umgänglichkeit« als eine spezifisch wienerische zu preisen.
»Ich hör es gern«, erwiderte die Gräfin, »daß Ihnen unser Wien gefällt. Es ist nicht immer so. Das norddeutsche Wesen ist doch sehr anders.«
»Sehr anders«, wiederholte die junge Schauspielerin. »Gewiß. Aber vielleicht liegt gerade hierin der Grund, daß sich das Norddeutsche zu dem Wienerischen hingezogen fühlt, denn das Wienerische hat neben dem Vorzuge der Umgänglichkeit auch noch andere Vorzüge, die das in den Schatten stellen, was gelegentlich mit zu viel Güte gegen uns als unsere besondere Tugend betrachtet wird. Wir empfinden tief das Unausreichende des bloß Angelernten. Eine Sehnsucht nach dem Einfacheren, Natürlicheren regt sich beständig in uns, und diese Sehnsucht ist vielleicht unser Bestes.«
Ein freundlicher Blick Feßlers, der mit feinem Ohre heraushörte, daß all das, wenn nicht selbständig gedacht und gefühlt, so doch wenigstens aufrichtig nachempfunden war, streifte die Künstlerin, die, nunmehr ihrerseits durch diesen Blick ermutigt, in ihrem Thema fortfuhr:
»Und diese sich in gefällige Formen kleidende Natürlichkeit, die Wien so zweifellos vor uns voraushat, woher kommt sie? Wenn mich nicht alles täuscht, so spricht die Kirche dabei mit, die ja von alten Zeiten her die Formen des Lebens bestimmte, die Kirche samt den Dienern der Kirche. Pater Feßler wolle mir nach einer nur nach Minuten zählenden Bekanntschaft eine solche Liebeserklärung in Überfallsform freundlichst zugute halten. Aber dabei muß es auf jede Gefahr hin bleiben, außer Ihrer schönen Kaiserin hat Wien nichts, das mich so sympathisch berührte wie seine Geistlichkeit, Jesuiten und Liguorianer mit eingeschlossen.«
Das Erscheinen des alten Grafen, der sich lebhaft und beinahe hastig entschuldigte, die Stunde so schlecht gehalten zu haben, unterbrach das Gespräch. Graf Egon war mit ihm. Eine Vorstellung fand nicht statt; man kannte sich bereits von der Soiree her.
»Oh, nichts von Entschuldigungen!« sagte die Gräfin, als beide Herren ihre Plätze genommen hatten. »Wir haben dich, um die Wahrheit zu gestehen, nicht vermißt, auch Egon nicht, am wenigsten in dieser letzten Minute, wo wir in der bevorzugten Lage waren, Confessions entgegennehmen zu können. Und du weißt ja, Bruder, wieviel uns Confessions bedeuten! Unser lieber Gast sprach nämlich mit Vorliebe von Wien und nicht bloß von Wien, sondern auch von Liguorianerpatres, was dich vielleicht am meisten überraschen wird. Ob auch erfreuen?«
»Mich erfreut alles, was unsere liebe Freundin sagt oder tut, und selbst Feßler wird mir in diesem Falle zustimmen.«
Dieser nickte.
Die junge Schauspielerin aber warf einen Blick auf Egon, dessen Gegenwart sie befangen zu machen schien, und sagte dann, während sie den leichten Ton ihres voraufgegangenen Geplauders wiederzugewinnen trachtete:
»Fast muß ich fürchten, mich mit meinen Confessions ins Komische gestellt zu haben. Aber mein Rollenfach, das das Naive wenigstens streift, mag mich entschuldigen. Unser Beruf gibt uns schließlich unsern Ton und unsere Haltung.«
»Und wenn nun das Naive vielleicht Ihre Naturanlage wäre?« scherzte der alte Graf.
»Das ist es leider nicht. Ich bilde mir wenigstens ein, überlegend und beinahe berechnend zu sein, eine nüchterne norddeutsche Natur. Und wenn sich mir meine Wünsche erfüllen, so werd ich eine Kaufmannsfrau.«
»Das werden Sie nie«, warf Egon kurz und mit großer Bestimmtheit ein. »Angenommen selbst, meine Gnädigste, daß Sie's in Ihrer Charakteraufrechnung in jedem Einzelpunkte getroffen hätten, in der Summa: ›Kaufmannsfrau‹, sicherlich nicht.«
»In der Summa sicherlich nicht«, wiederholte der alte Graf. »Egon spricht, als ob er einen Zahlkellner reprimandieren wollte. Summa, Fazit, Addition. Ich bitte dich, von welcher Welt ziehst du den Vorhang! O diese moderne Jugend! Etwas unselig Geschäftliches ist in Sprache, Bilder und Anschauungen eingedrungen. Ein Unglück, daß sich unsere Jugend dem Theater so sehr entfremdet.«
Feßler lächelte.
»Sie lächeln, Feßler, und wollen andeuten, alles moderne Weltenunglück, das in Ihren Augen natürlich sehr anders aussieht als in den meinigen, komme von etwas ganz anderem her. Aber glauben Sie mir, die Kirche tut es nicht, und unter allen Umständen läßt sich auf dem ihrem Zepter unterstellten Gebiete jede Stunde gründlich und erfolgreich nachexerzieren. Nur bei der Kunst heißt es: ›Was Hänschen nicht lernte, lernt Hans nimmermehr‹, während es doch zum Fromm- und Christlichwerden eigentlich nie zu spät ist.«
»Und doch empfiehlt es sich, vor Toresschluß damit anzufangen.«
Alles lachte, nicht zum wenigsten der alte Graf, der in übermütiger Laune fortfuhr: »Vor Toresschluß sagen Sie, Feßler. Bah, in diesen heiligen Hallen, in denen man die Rache nicht kennt und kaum die Sünde, kann von ›vor Toresschluß‹ überhaupt nie die Rede sein. Ja, Judith. Ein Gefühl, als ob in deinem Salon tagaus, tagein zelebriert werde, kann ich nie loswerden, und daran ist neben anderem die kleine Ambralampe schuld, der ich mich beständig versucht fühle das Lebenslicht auszublasen. Aber sie steht ja direkt unterm Schutz des Gundolskirchenschen Spezialheiligen, und so bin ich mir nie sicher, ob ich sie nicht allen Ernstes als eine halbe Ewige Lampe anzusehen habe.«
Das Eintreten eines Dieners unterbrach ihn; Couverts wurden gelegt und Gläser gestellt, ohne daß im übrigen die Plätze gewechselt worden wären. Auch eine Zeitung kam, und während Franziska mit dem Pater, Egon aber mit der Tante sprach, tat der alte Graf einen Blick in das Wochenrepertoire.
»Seh ich recht, man hat den ›Zriny‹ wieder hervorgesucht, beiläufig nicht die schlechteste Wahl. Et voilà mes amis, die Helene Zriny. Aber wissen Sie, meine Gnädigste, daß ich Ihnen ernstlich zürne, mir gerade das verschwiegen zu haben, mir, Ihrem Verehrer und Freunde!«
»Vielleicht aus Sorge.«
»Wie das?«
»Ich bange mich vor der Rolle.«
»Dann freilich sind Sie verloren. Denn Sie werden dann das nicht treffen, was in dieser Rolle das meiste bedeutet: das Nationale. Sich fürchten ist das Unungrischste von der Welt. Aber Sie werden sich nicht fürchten, und wenn Ihnen doch vielleicht ein paar Anwandlungen kommen, so wird der Elan Ihres Talents groß genug sein, Ihr Temperament zu zwingen und siegreich mit fortzureißen. Oh, daß Sie Magyarin wären!«
»Ungefähr das Schmeichelhafteste, mein liebes Fräulein«, unterbrach hier lächelnd die Gräfin, »das Ihnen im Hause Petöfy gesagt werden kann. Denn mein Bruder erklärt Sie damit auf halbem Wege für würdig, eine Magyarin zu sein, er würde sonst die Tatsache, daß Sie's nicht sind, nicht so lebhaft beklagen. Und dabei sind Sie mutmaßlich ohne jede Vorstellung von dem Vollgewicht einer solchen Ehrenbezeugung und kennen überhaupt nichts von Ungarn als den Attila unserer Husaren.«
»O doch, doch; das Fräulein kennt und weiß mehr, viel mehr, und sie soll uns selber sagen, was sie von Ungarn weiß.«
»Es ist nicht viel und wohl eigentlich zuwenig, wenn ich bedenke, daß ich nun schon ins dritte Jahr eine Wienerin bin, und außerdem hinzurechne, daß Wien, ich möchte sagen, die Vorhalle von Ungarn ist, die Tempelstufe.«
Der Liguorianer, ein ausgesprochener Steirer, freute sich des kleinen Spottes und Egon kaum minder. Der alte Graf aber gab sich das Ansehen, als nähme er's ernsthaft, und sagte: »Vorhalle, Tempelstufe; davon dürfen unsere Wiener nichts hören, die sich das Herz der Welt bedünken. Im übrigen schuldet uns das Fräulein immer noch ihren Bericht über Ungarn, und ich kann ihr ein Examen rigorosum auf diesen Punkt hin nicht ersparen, schon weil ich recht behalten möchte.«
»Nun, ich gebe gern, was ich weiß«, entgegnete das Fräulein, »und ich unterscheide deutlich zwei Grade der Erkenntnis: einen romantischen und einen lyrischen. Das sind freilich keine rechten Unterscheidungen, denn die Romantik kann lyrisch und die Lyrik kann romantisch sein; aber ich bitte nichtsdestoweniger, es gelten zu lassen.«
»O gewiß«, sagte die Gräfin. »Also das Romantische.«
»Ja, damit fing es an. Es war, als ich noch ein Kind war und auf unserem Kirchplatze, gerade vor unserer Tür, alljährlich zweimal die Jahrmarktsbuden standen: Buden mit Naschwerk und Pfefferkuchen und dazwischen allerlei Bänkelsänger und Leiermänner. Und immer wo solch ein Leiermann stand, stand auch eine buntbemalte Leinewand, auf der eine Geschichte, meist in zwölf Bilderfeldern, abgebildet war. Auf dem ersten Bilde lag die Welt allemal in bürgerlichem Frieden, und eine junge Mutter beugte sich über ein Wiegenkind; auf einem der Mittelbilder trat dann in gebotener dramatischer Steigerung ein schwarzer, bärtiger Mann aus einem Waldesdunkel hervor und an die junge, zufällig des Weges kommende Mutter heran, während auf dem zwölften und letzten Bilde Mal für Mal ein Gerüst aufgeschlagen war mit einem niedrigen Stuhl darauf, und auf eben diesem Stuhle saß der bärtige Mann aus dem Waldesdunkel. Aber jetzt mit verbundenen Augen und einem Rotmantel mit dem Schwerte hinter sich. Und wenn ich dann dem Liede, das dazu gesungen wurde, begierig und angstvoll zuhörte, so vernahm ich jedesmal, das sei geschehen im schönen Ungarlande zwischen Stuhlweißenburg und Debreczin, und ich darf wohl sagen, ich kenne bis diese Stunde keine Stadt und keinen Namen, die mir so mit Schreck und Grusel imprägniert erschienen wie diese beiden.«
»Ei, das beklag ich, meine Gnädigste«, sagte der Graf. »Da wird unser altes Schloß Arpa darauf verzichten müssen, Sie je in seinen Mauern zu sehen, denn Stuhlweißenburg ist unsere nächste große Stadt.«
»Oh, ich hab es auch überwunden. Und Ungarn selbst hat es mich überwinden gelehrt.«
»Mit Hülfe der zweiten Epoche?«
»Ja, die gnädigste Gräfin erraten es; mit Hülfe der zweiten Epoche. Da war ich in einer Pension. Aber ich war schon fast erwachsen und in Vorbereitung auf das, was aus mir werden sollte. Da hatten wir von Zeit zu Zeit auch Deklamierübungen, und bei solcher Gelegenheit war es, daß eine Mitschülerin von mir ein Lied von Lenau vortrug.«
»Ah, von Niembsch!«
»Ich kannte Lenau schon. Er ist überhaupt sehr beliebt in Norddeutschland, und den ›Teich, den regungslosen‹, in den der Mond seine ›bleichen Rosen‹ flicht, kennt jedes dreizehnjährige Mädchen und jubelt in ihrem kleinen Herzen, wenn die berühmte Stelle von dem ›süßen Deingedenken‹ kommt, am meisten aber, wenn sie zum Schluß erfährt, daß dies süße Deingedenken auch ein ›stilles Nachtgebet‹ gewesen sei.«
Feßler lächelte vor sich hin, und auch die Gräfin, die nach Art aller vornehmen alten Damen eine Vorliebe für kleine Gewagtheiten hatte, war ganz enchantiert und nickte dem Bruder zu.
»Wohl, ich kannt ihn also«, nahm Franziska wieder das Wort. »Aber speziell das Gedicht, das an jenem Tage deklamiert wurde, das kannt ich nicht, und als es zu Ende war, war ich so hingerissen, daß ich auf die Mitschülerin zustürzte und sie umarmte und küßte, was mir beiläufig einen nachträglichen Verweis zuzog.«
»Und wie hieß es?«
»Ich weiß es nicht mehr sicher, aber ich glaube fast, es hieß ›Nach Süden‹. Und vielleicht erkennen Sie's, wenn ich Ihnen den Inhalt in aller Kürze skizziere.«
»Wir bitten darum.«
»Es leitet sich mit einer Gewitterschilderung ein, und die halb schon wieder von Licht durchglühten Wolken ziehen südwärts auf Ungarn zu. Der Dichter selbst aber folgt dem Zuge dieser Wolken und begleitet ihr Südwärtsziehen mit dem sehnsuchtsvollen Ausrufe: ›Ja, nach Süden steht mein Herz!‹«
»Und nun?«
»Und nun, auf dem dunklen Hintergrunde der Wolken, erwächst ihm fatamorganaartig ein Heimatsbild: ein Waldtal und ein Mühlbach, und an dem rauschenden Mühlbach erblickt er die Geliebte, die, sein eigenes Sehnsuchtsgefühl erwidernd, in Verlangen nach ihm aussieht und Wind und Wellen um ihn befragt. Aber Wind und Wellen ziehen weiter und weigern ihr die Antwort, und das Lied selbst verklingt in der wunderbaren Strophe:
Dunkler wird der Tag und trüber,
Lauter wird der Lüfte Streit –
Hörbar rauscht die Zeit vorüber
An des Mädchens Einsamkeit.«