Grenzen und Strafen in Sozialer Arbeit und Sonderpädagogik -  - E-Book

Grenzen und Strafen in Sozialer Arbeit und Sonderpädagogik E-Book

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Beschreibung

In pädagogischen Debatten ist die Rede von Strafen, Sanktionen und Grenzen eher verpönt, bisweilen sogar tabuisiert. Dabei gehören insbesondere im Bereich der stationären Kinder-, Jugend- und Behindertenhilfe Grenzsetzung und Strafe für Praktikerinnen und Praktiker zum Alltag. Das Buch stellt den aktuellen Diskurs über Strafe, Grenzen und Erziehung in diesen Handlungsfeldern exemplarisch dar und gibt Einblicke in konkrete Sanktionspraxen sowie ihre Ambivalenzen. Aus den unterschiedlichen Perspektiven der Sozialen Arbeit und Sonderpädagogik heraus werden Ansätze aufgegriffen und weiterentwickelt, wie mit Grenzen, Grenzsetzungen und Strafe in der Praxis reflektiert und professionell umgegangen werden kann. "Das Buch stellt einen wichtigen (Wieder-)Einstieg in die gemeinsame Arbeit zweier pädagogischer Teildisziplinen zum einen sowie ein gern gemiedenes Thema, Strafe, zum anderen dar [...] - und damit wird hier ein ausgesprochen wichtiger Beitrag zur Diskussion in den Erziehungswissenschaften vorgelegt, als Initialzünder für weitere Schritte auf diesem Weg." Rezension von Prof. Dr. Roland Stein (Uni Würzburg), erschienen in "Sonderpädagogische Förderung heute" (Heft 1/2021, S. 106)

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Die Herausgeber*innen

 

Prof. Dr. Stefania Calabrese, Erziehungswissenschaftlerin, ist seit 2016 Dozentin an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Sie hat an der Universität Zürich Sozial- und Sonderpädagogik, Pädagogische Psychologie und Kriminologie studiert und in Erziehungswissenschaft promoviert. Ihre Schwerpunkte in Forschung, Lehre und Weiterbildung sind: Herausfordernde Verhaltensweisen von Menschen mit Beeinträchtigungen, agogische Aspekte bei schwerer und mehrfacher Beeinträchtigung und Lebensqualität und Bildung im Kontext von Behinderung.

 

Prof. Dr. Sven Huber ist seit 2013 hauptamtlicher Dozent an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Er hat an der Universität Wuppertal Sozialwissenschaften und an der Universität Bremen European Labour Studies studiert. Im Jahr 2013 hat er an der Universität Wuppertal im Fach Pädagogik promoviert. Seine aktuellen Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind: Abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle, Sozialpädagogik des Jugendalters und Heimerziehung.

Stefania CalabreseSven Huber (Hrsg.)

Grenzen und Strafen in Sozialer Arbeit und Sonderpädagogik

Verlag W. Kohlhammer

 

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-036648-0

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-036649-7

epub:     ISBN 978-3-17-036650-3

mobi:     ISBN 978-3-17-036651-0

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

 

Grenzen und Strafe aus sozial- und sonderpädagogischer Perspektive Einleitende Bemerkungen

Sven Huber & Stefania Calabrese

Reflexion

1      Sozialpädagogik in der flüchtigen Moderne Einige Bemerkungen zu Problemstellungen, Aufgaben und Grenzen

Sven Huber

2      Strafen und Disziplinieren: Verhandlungen um die Grenzen des Pädagogischen

Sophia Richter

3      Gesetz, Strafe und Wiedergutmachung

Bernd Ahrbeck & Bernhard Rauh

4      Pädagogische Grenzüberschreitung und sexueller Missbrauch

Jürgen Oelkers

5      Grenzen und Grenzsetzungen in der Behindertenhilfe Praxis, Handlungsmuster, Reflexionen

Ernst Wüllenweber

6      Über die Bearbeitung von Grenzen in der Heimerziehung Eine Erkundung in (sozial-)pädagogischer Absicht

Sven Huber

Konkretisierung

7      Keine Erziehung ohne Strafe? Disziplinierung und Kontrolle in der Heimerziehung

Zoë Clark & Ulrich Steckmann

8      Zum strafenden Charakter von Freiheitseinschränkenden Maßnahmen – Sichtweisen von Kindern und Jugendlichen mit sogenannter geistiger Behinderung

Mia Weithardt, Julia Heusner, Rita Bretschneider & Saskia Schuppener

9      Intra-institutionelle Grenzziehung am Beispiel der Intensivbetreuung in der Behindertenhilfe Ausgewählte Ergebnisse eines Forschungsprojekts

Stefania Calabrese & Pia Georgi-Tscherry

10    Punitive Haltungen und ihre organisationalen Bedingungen

Simon Mohr & Bettina Ritter

11    »Man muss ihm Grenzen setzen!« Grenzsetzungen von Mitarbeitenden gegenüber herausfordernden Verhaltensweisen von institutionell lebenden Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen Erkenntnisse aus einer videoanalytischen Studie

Stefania Calabrese

12    Erziehungs- und Verhaltensproblematiken von Mädchen und jungen Frauen in Kontexten von Erziehungshilfe, Justiz und Psychiatrie Aktuelle (De-)Thematisierungen von Gender zwischen Hilfe(n) und Zwang

Birgit Bütow

Autor*innenverzeichnis

Grenzen und Strafe aus sozial- und sonderpädagogischer Perspektive Einleitende Bemerkungen

Sven Huber & Stefania Calabrese

Sozial- und Sonderpädagog*innen, die sich mit den Themen Grenzen und Strafe auseinandersetzen (müssen), sind Enttäuschungen gewohnt. Manche sind enttäuscht darüber, wie die Themen Grenzen und Strafe in der Institution, für die sie tätig sind, verhandelt werden. Andere wünschen sich klar bestimmte Grenzen und vielfältige Möglichkeiten des Strafens, stellen dann aber enttäuscht fest, dass sich die daran geknüpften Erwartungen und Hoffnungen doch nicht erfüllen. So manche*r ist auch enttäuscht von der Erziehungswissenschaft, weil diese sich großteilig abgewöhnt hat, Grenzen und Strafe zu thematisieren. Um den Einstieg in den Band zu erleichtern, wollen wir mit etwas Erwartbarem beginnen, einer Enttäuschung also.

Enttäuschen müssen wir die besonders an Systematik interessierten Leser*innen. Diese erwarten Beiträge, für die sich jeweils zwei oder mehrere Kolleg*innen aus der Sozial- und Sonderpädagogik zusammentun, die dann die theoretisch-konzeptionellen Spezifika der jeweiligen Perspektive auf den Gegenstand des Beitrags ausbuchstabieren und schließlich systematisch und gegenstandsbezogen wechselseitige Anschlussmöglichkeiten bzw. Abgrenzungen aufzeigen. Stattdessen bietet der vorliegende Band eine Sammlung von Texten von Kolleg*innen aus der Schweiz, aus Deutschland und Österreich, die sich in pädagogischer Absicht auf unterschiedliche Facetten des Phänomenbereichs Grenzen und Strafe beziehen. Sozial- und sonderpädagogische Perspektiven stehen dabei eher nebeneinander und werden ergänzt durch allgemeinpädagogische und psychoanalytisch-pädagogische Einlassungen. Das Nebeneinander von sozial- und sonderpädagogischen Perspektiven verweist u. E. aber auf die Möglichkeit und Notwendigkeit eines Miteinanders auf der Ebene von Disziplin und Profession. Dabei geht es weder um wechselseitige Vereinnahmungsversuche, wie sie etwa von Sasse und Moser (2003, S. 339) beschrieben werden, noch um die Nivellierung von Differenzen. Vielmehr verdeutlicht das Nebeneinander der hier versammelten Texte, dass sich beide Perspektiven gegenseitig ergänzen und erhellen (können) (vgl. Müller & Schmid 2001), was keineswegs eine neue, aber eine zumindest auf disziplinärer Ebene wenig beachtete Erkenntnis darstellt. An entsprechenden Forderungen mangelt es indessen nicht: »Gefordert ist […] eine enge Kooperation und Interdisziplinarität, in welcher die spezifischen Kompetenzen beider Disziplinen zusammenfließen« (Loeken 2012, S. 364). Ein Grund dafür, dass sich die »verwandtschaftliche[n] und nachbarschaftliche[n] Theorie-Praxis-Bezugsverhältnisse« (Buchka 2009, S. 30) nicht ihrem Potential entsprechend entfalten, mag der sein, dass beide Disziplinen stark mit sich selbst beschäftigt sind. Die Sonderpädagogik bzw. Teile von ihr bemühen sich gegenwärtig um eine »Repädagogisierung des fachwissenschaftlichen Diskurses« (Willmann 2018, S. 205; vgl. Müller & Stein 2018), um eine (Wieder-)Aneignung pädagogischer Begriffe (vor allem Erziehung und Bildung) in Abgrenzung zu einer Entpädagogisierung der Disziplin, die die Psychologisierung und Therapeutisierung der Sonderpädagogik mit sich brachte.

Die Sozialpädagogik hingegen ist denkbar weit entfernt von einer Repädagogisierung. Pädagogisches Denken erfährt in großen Teilen der Sozialen Arbeit geradezu Ablehnung, wird verdrängt durch sozialpolitisches Denken und ein sozialwirtschaftliches Profil (vgl. Winkler 2018b, S. 284; vgl. Winkler 2018a, S. 124). Das sozialpädagogische Problem bleibt allerdings weiterhin bestehen, stellt sich unter den Bedingungen einer spätmodernen Gesellschaft sogar in verschärfter Form:

»Sozialpädagogik hat zum einen mit der Frage zu tun, in welcher Gesellschaft die Menschen leben und aufwachsen; sie richtet zum anderen den Blick darauf, wie die Entwicklungsprozesse der Einzelnen (oder ganzer Gruppen) so möglich werden, dass sie nicht von Krisen überschattet, eingeschränkt oder gar verhindert werden – im Gegenteil, dass den Menschen gewahrt bleibt, dass sie autonom handeln, mündig bleiben« (Winkler 2018b, S. 290).

Die Frage, mit der sich die Sonderpädagogik primär beschäftigt, lautet, wie Bildung und Entwicklung bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Beeinträchtigungen im Kontext von behindernden Bedingungen ermöglicht und organisiert werden kann (vgl. Klauß 2011, S. 22 f.). Beiden Perspektiven geht es letztlich um eine pädagogische Perspektive auf beschädigte Subjektivität, darum, Möglichkeitsräume und Bedingungen für je subjektiv eigene und auch eigensinnige Lern-, Entwicklungs-, Bildungs- und Veränderungsprozesse zu eröffnen und zu gestalten. Beide wollen mithin dem Subjekt gerecht werden und beschäftigen sich mit den Lebens- und Bewältigungslagen von vulnerablen Personengruppen, womit im stationären Kontext z. B. Menschen mit kognitiven und/oder psychischen Beeinträchtigungen, Kinder und Jugendliche aus häufig schwierigen familiären Verhältnissen, abweichend bzw. verhaltensauffällig agierende Personen etc. gemeint sind.

Wolf (2007, S. 1; vgl. auch Huber & Kirchschlager 2019, S. 28 ff.) bringt etwas auf den Punkt, was darüber hinaus ebenfalls für beide gelten dürfte:

»Man kontrolliert und sanktioniert häufig, oft mit schlechtem Gewissen, solche Elemente eher hinter schönen Formulierungskonstruktionen verdeckend. Fragen Sie einmal Kollegen, ob sie bestrafen, ob sie soziale Kontrolle ausüben. Sie werden Beispiele eindrucksvollen Herumgeeieres bekommen«.

Damit ist der Phänomenbereich Grenzen und Strafe angesprochen. Beide bearbeiten Grenzen, d. h., sie schaffen Möglichkeiten für die Überschreitung von Grenzen, stellen gegebene Grenzziehungen in Frage. Gleichzeitig schaffen und setzen sie Grenzen, ggf. mit Hilfe von Strafe, beteiligen sich also an Grenzziehungen. Die Denkfigur der Grenzbearbeitung, wie sie von Fabian Kessl und Susanne Maurer (vgl. Kessl & Maurer 2010; Maurer 2018) für die Soziale Arbeit ausgearbeitet wurde, und an die von verschiedenen Autor*innen angeknüpft wird (vgl. Heite, Pomey & Spellenberg 2013; Bütow, Patry & Astleitner 2018; Huber & Kirchschlager 2019;  Kap. 1), ermöglicht sowohl der Disziplin als auch der Profession eine analytische Perspektive auf diese komplexe Pendelbewegung der Grenzbearbeitung. Grenze bzw. Grenzbearbeitung dient Kessl und Maurer dabei als Begriff und Metapher zugleich.

»Die Gleichrangigkeit bzw. Parallelität von Begriff und Metapher wird mit der Bezeichnung ›Denkfigur‹ bereits zum Ausdruck gebracht. Der metaphorische Charakter erscheint deshalb so wichtig, weil sich gerade durch die Unschärfe und Offenheit […], durch die – immer wieder neu konkret zu füllende – ›Wendbarkeit‹ des Bildes ›Grenze‹ auch immer wieder neue Eingriffs-, Einhak- und Ansatzpunkte für eine Auseinandersetzung ergeben« (Maurer 2018, S. 21).

Die Denkfigur der Grenzbearbeitung bietet den Autor*innen dieses Bandes keinen gemeinsamen konzeptionell-analytischen Ausgangspunkt für ihre Überlegungen. Allerdings beschreiben und analysieren manche von ihnen Grenzen eher im Sinne einer etwas unscharfen Metapher, andere eher im Sinne eines (operationalisierten) Begriffs. Dabei handelt es sich u. E. um kein Manko des Bandes, vielmehr wird durch das In- und Miteinander von Konkretisierung und relativer Unschärfe die Identifikation von anderen und neuen ›Einhakpunkten‹ ermöglicht. An anderer Stelle wäre darüber hinaus zu klären, inwieweit die Denkfigur der Grenzbearbeitung nicht nur einer Selbstvergewisserung über die Bedingungen und Möglichkeiten einer Kritischen (Sozial-)Pädagogik dienen kann, sondern auch als gemeinsamer Bezugsrahmen für eine intensivierte Verständigung zwischen der Sozial- und Sonderpädagogik fungieren könnte.

Betrachtet man, abgesehen von neueren Debatten über Grenzbearbeitung, die pädagogische Fachdebatte der letzten Jahrzehnte, wird deutlich, dass der adressierte Themenkreis, insbesondere natürlich die Strafe, tendenziell entpädagogisiert und tabuisiert wurde. Wenn dennoch über Grenzen und Strafe gesprochen wird, geschieht dies häufig aus ideologisch geprägten Positionen heraus. Es bilden sich Fronten in der (idealtypischen) Gestalt von Gegner*innen und Fürsprecher*innen heraus, und die Vertreter*innen der jeweiligen Seiten diskreditieren sich dabei der Tendenz nach gegenseitig. Die einen werden in diesem Prozess zu ›Kuschelpädagog*innen‹, die anderen zu ›reaktionären Erzieher*innen‹ stilisiert (vgl. Huber & Kirchschlager 2019, S. 10 ff.). Es sind dann z. T. hitzig geführte Debatten, in denen viel »grobes Geschütz« (Bittner 2010, S. 23) aufgefahren wird, und die wahrscheinlich viel zu tun haben mit dem Bedürfnis zu signalisieren, dass man auf der anderen, der ›richtigen‹ Seite steht (vgl. Foucault 1978, S. 192). Aktuelle empirische Befunde werden in diesem Zusammenhang kaum zur Kenntnis genommen. In einer stärker analytisch orientierten Perspektive sind diese Entwicklungen und Debatten, die mit einem eigentümlichen Zwang zur Positionierung innerhalb eines vermeintlich klar umrissenen Lagers einhergehen, nur wenig hilfreich. Denn mit Grenzen und Strafe wurden und werden sozial- und sonderpädagogisch bedeutsame Fragen angesprochen, die durchaus den Kern von Professionalisierungsbemühungen im Feld berühren. Zudem ist es so, dass auch und gerade für Praktiker*innen, insbesondere im Bereich der stationären Kinder-, Jugend- und Behindertenhilfe, diese Fragen und die mit ihnen verbundenen Ambivalenzen und Probleme zum Alltag gehören. Obschon also Grenzen und Strafe eine wesentliche Herausforderung für Disziplin und Profession darstellen, entziehen sich diese Phänomene u. E. im gegenwärtigen Fachdiskurs sowie auch in der Praxis häufig einer fundierten Analyse und differenzierten Reflexion.

Der vorliegende Band ist unterteilt in zwei Abschnitte. Der erste Abschnitt ist überschrieben mit »Reflexion« und versammelt Beiträge, die sich aus einer eher theoretisch-konzeptionellen Perspektive mit dem Themenkomplex Grenzen und Strafe auseinandersetzen. »Konkretisierung« lautet dann die Überschrift des zweiten Abschnitts, der Beiträge zusammenführt, die auf der Grundlage empirischen Materials eine Auseinandersetzung mit Grenzen und Strafe leisten.

Der erste Abschnitt wird eingeleitet von Sven Huber. Er widmet sich in seinem Beitrag »Sozialpädagogik in der flüchtigen Moderne. Einige Bemerkungen zu Problemstellungen, Aufgaben und Grenzen« jenen Problemstellungen, Aufgaben und Grenzen einer Sozialpädagogik, die sich am Subjekt orientiert. Er stellt die Kollateralschäden der Anrufung des (spätmodernen) Subjekts als (radikal) autonomes und flexibles im Kontext entgrenzter gesellschaftlicher Dynamisierungs- und Beschleunigungsimperative heraus und diskutiert vor diesem Hintergrund alte und neue Aufgaben und Herausforderungen der Sozialpädagogik. Schließlich identifiziert er Grenzen und Verlegenheiten, mit denen sich das sozialpädagogische Projekt bei der Meisterung dieser neuen und alten Herausforderungen konfrontiert sieht.

In ihrem Beitrag »Strafen und disziplinieren: Verhandlungen um die Grenzen des Pädagogischen« beleuchtet Sophia Richter das erziehungswissenschaftliche Schweigen und Sprechen über Strafe. Sie zeichnet auf der Grundlage einer Analyse pädagogischer Lexika und Wörterbücher eine Geschichte der Transformation nach, einer Transformation des Phänomens der Strafe in den letzten hundert Jahren. Sie kommt zu dem Schluss, dass die erziehungswissenschaftliche Debatte über Strafe stark normativ aufgeladen sei, und macht Vorschläge, wie diese Normativität aufgebrochen werden könnte, um so neue Reflexions- und Verständigungsräume zu öffnen.

Bernd Ahrbeck und Bernhard Rauh setzen sich in ihrem Artikel »Gesetz, Strafe und Wiedergutmachung« mit dem Spannungsverhältnis von Freiheit und Grenzsetzung in der Erziehung auseinander. Aus psychoanalytisch-pädagogischer Perspektive und unter Bezugnahme vor allem auf Freud und Winnicott argumentieren die Autoren, dass eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber Strafe kaum rechtfertigbar sei und dass grenzsetzende pädagogische Organisationsformen eine ggf. wichtige, haltend-begrenzende Funktion haben können, allerdings nicht müssen, was sie am Beispiel der ›Konfrontativen Pädagogik‹ verdeutlichen. Die Autoren geben Auskunft über pädagogische Voraussetzungen der professionellen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die als besonders schwierig gelten, und bestimmen ein Verhältnis von Erziehung und Schuld.

Jürgen Oelkers thematisiert in seinem Beitrag »Pädagogische Grenzüberschreitungen und sexueller Missbrauch« die absolute Grenze einer jeden Pädagogik, jene der sexuellen Gewalt. Dafür setzt er sich mit der (erst) 2010 wegen sexueller Gewalt und Ausbeutung in die öffentliche Aufmerksamkeit geratenen Odenwaldschule und Teilen ihres Personals auseinander. Ihn interessiert dabei vor allem das Spannungsfeld zwischen der öffentlichen Wahrnehmung von außen bzw. der Selbstdarstellung, die mit pädagogischen Heilsversprechen, Ansehen und Bewunderung verbunden war, und dem realen Innenleben der Institution, das durch sexuelle Gewalt an Kindern durch viele Täter geprägt war, für welche das Label Reformpädagogik erfolgreich als Tarnung diente.

Ernst Wüllenweber beschäftig sich in seinem Artikel »Grenzen und Grenzsetzung in der Behindertenhilfe: Praxis, Handlungsmuster, Reflexionen« mit Beispielen aus der Behindertenhilfe. Dabei weist er darauf hin, dass das Thema Grenzen und Grenzsetzung weder in der Behinderten- bzw. Eingliederungshilfe noch in der Heil- und Sonderpädagogik eine explizite Rolle spielt. Im Artikel geht er auf drei Dimensionen ein, die jeweils unter den Gesichtspunkten von spezifischen Mustern erhellt werden: Grenzen und Grenzsetzungen im Umgang mit Selbstbestimmung und Empowerment, Grenzen und Grenzsetzungen im Umgang mit kritischen Verhaltensweisen und Verhaltensauffälligkeiten sowie der Umgang mit persönlichen Grenzen von Fachkräften.

Sven Huber fokussiert in seinem Beitrag »Über die Bearbeitung von Grenzen in der Heimerziehung. Eine Erkundung in (sozial-)pädagogischer Absicht« Fragen der Grenzbearbeitung in der Heimerziehung. Er stellt heraus, dass im aktuellen Diskurs über Grenzen vor allem mit einem absoluten und nicht mit einem relationalen Grenzbegriff gearbeitet wird, was zu Verkürzungen des komplexen Bedingungsgefüges von Grenzbearbeitung in der Heimerziehung führen kann. Grenzbearbeitung wird von ihm bestimmt als ein Ausbalancieren von Offenheit und Struktur, als ein ›Balanceakt‹, dessen aktuelle Herausforderungen und Schwierigkeiten (z. B. das sozialpädagogische Verstehen, die gemeinsame Arbeit an Normalitätsbalancen etc.) er exemplarisch vertieft.

Zoe Clark und Ulrich Steckmann diskutieren in ihrem Beitrag »Keine Erziehung ohne Strafe? Disziplinierung und Kontrolle in der Heimerziehung« zunächst konsequenzialistisch orientierte Rechtfertigungen von Strafe (in der Heimerziehung), die sie auf ihre Stärken und Schwächen hin reflektieren. Sie stellen fest, dass in einer demokratisch organisierten öffentlichen Erziehung, die Care-Beziehungen realisieren möchte und dafür auf Anerkennungsverhältnissen fußen muss, Strafen nur sehr eingeschränkt rechtfertigungsfähig sind. Auf der Grundlage empirischer Befunde geben die Autorin und der Autor Einblick in die Strafkultur unterschiedlicher Einrichtungen der Heimerziehung, die sich allesamt durch einen manualisierten und standardisierten Zugang zum Thema Strafe auszeichnen. In diesem Zusammenhang gehen sie auch auf die Rechtfertigungsmuster von Strafe und die vorfindbaren Adressat*innenbilder der Fachkräfte ein.

Mia Weithardt, Julia Heusner, Rita Bretschneider und Saskia Schuppener stellen in ihrem Beitrag »Zum strafenden Charakter von Freiheitseinschränkenden Maßnahmen – Sichtweisen von Kindern und Jugendlichen mit sogenannter geistiger Behinderung« die strafenden Aspekte von Freiheitseinschränkenden Maßnahmen zur Diskussion. Ihre Ausführungen resultieren aus dem Forschungsprojekt Umgang mit herausfordernden Verhalten im Kontext stationärer Einrichtungen der Behindertenhilfe – Freiheitsbeschränkende und freiheitsentziehende Maßnahmen aus Sicht von Kindern & Jugendlichen, Eltern/Erziehungsberechtigten und Mitarbeiter*innen, wobei sie im Beitrag die Sicht auf Freiheitsbeschränkende Maßnahmen von Kindern und Jugendlichen fokussieren. Ausgehend von exemplarischen Perspektiven von drei institutionell lebenden Kindern und Jugendlichen mit sogenannter geistiger Behinderung stellen sie fest, dass die Grenze zwischen Freiheitsbeschränkenden Maßnahmen und Strafen oft fließend erscheint.

Stefania Calabrese und Pia Georgi-Tscherry diskutieren in ihrem Beitrag »Intra-institutionelle Grenzziehung am Beispiel der Intensivbetreuung in der Behindertenhilfe. Ausgewählte Ergebnisse eines Forschungsprojekts«, inwieweit eine intra-institutionelle Grenzziehung für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und massiven herausfordernden Verhaltensweisen durch das Setting der Intensivbetreuung erfolgt. Sie betten dabei ihre Ausführungen argumentativ in die Inklusionsbestrebungen im Kontext der Behindertenhilfe ein und verweisen darauf, dass inklusive Handlungsweisen in der Intensivbetreuung nicht durchgehend umsetzbar sind, wobei eine Grenze von Inklusionsbemühungen feststellbar ist.

Simon Mohr und Bettina Ritter verhandeln in ihrem Beitrag »Punitive Haltungen und ihre organisationalen Bedingungen« das Zusammenspiel von punitiven Haltungen von Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe und organisationalen Bedingungen der Einrichtungen, in denen sie arbeiten. Sie wenden sich gegen die Annahme, punitive Haltungen seien isoliert vom organisationalen Zusammenhang zu betrachten und markieren Parameter, die sanktionsbereite Haltungen begünstigen und verringern können. Die empirische Grundlage der Ausführungen ist eine umfassende Fachkräftebefragung bei freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe.

Stefania Calabrese fokussiert in ihrem Beitrag »›Man muss ihm Grenzen setzen!‹ Grenzsetzungen von Mitarbeitenden gegenüber herausfordernden Verhaltensweisen von institutionell lebenden Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Erkenntnisse aus einer videoanalytischen Studie« Prozesse der Grenzsetzung im institutionellen Kontext. Ihre Ausführungen beziehen sich auf ihr Dissertationsprojekt, in dem sie herausfordernde Situationen im Kontext der Behindertenhilfe videoanalytisch ausgewertet hat. Es zeigt sich, dass Mitarbeitende auf herausfordernde Verhaltensweisen der Klientel neben pädagogisch sehr adäquaten Herangehensweisen mitunter auch mit grenzsetzenden Handlungen wie bspw. räumlicher Separation, Mobilitätsbehinderungen und Abgabe von Medikation reagieren. Diese grenzsetzenden Verhaltensweisen der Mitarbeitenden werden im Beitrag unter Beizug von spezifischen Legitimationsargumenten diskutiert.

Birgit Bütow thematisiert in ihrem Beitrag »Erziehungs- und Verhaltensproblematiken von Mädchen und jungen Frauen in Kontexten von Erziehungshilfe, Justiz und Psychiatrie. Aktuelle (De-)Thematisierungen von Gender zwischen Hilfe(n) und Zwang« die vielfältigen Herausforderungen von Mädchen und jungen Frauen in diesen institutionellen Kontexten. Dabei stellt sie heraus, dass delinquente Mädchen und junge Frauen diese Institutionen oft an ihre Grenzen bringen und in der Folge in die nächste Einrichtung, oft mit erhöhtem Zwangscharakter, ›verschoben‹ werden. In ihrem Beitrag behandelt sie die Frage, wie diese Verschiebepraxis durchbrochen werden kann und wie geeignete Settings aussehen müssten.

Abschließend wünschen die Herausgeberin und der Herausgeber allen Leser*innen eine ertragreiche und hoffentlich spannende Lektüre und bedanken sich bei den Kolleg*innen herzlich für Ihre interessanten Beiträge.

Literatur

Bittner, G. (2010). Der Weg ins Leben – eine Polarreise »mit Karten von den oberitalienischen Seen« (S. Freud)? In M. Dörr, B. Herz (Hrsg.), »Unkulturen« in Bildung und Erziehung (S. 19–38). Wiesbaden: VS.

Buchka, M. (2009). Sozialpädagogik und Heilpädagogik. Eine Betrachtung über verwandtschaftliche und nachbarschaftliche Bezugsverhältnisse. In E. Mührel & B. Birgmeier (Hrsg.), Theorien der Sozialpädagogik – ein Theorie-Dilemma? (S. 33–44). Wiesbaden: VS.

Bütow, B, Patry, J.-L. & Astleitner, H. (2018) (Hrsg.), Grenzanalysen – Erziehungswissenschaftliche Perspektiven zu einer aktuellen Denkfigur. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.

Foucault, M. (1978). Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve.

Heite, C., Pomey, M. & Spellenberg, Ch. (2013). Ein- und Ausschließungspraktiken als Konstituierung von Grenzen. Soziale Passagen, 5, S. 245–257.

Huber, S. & Kirchschlager, S. (2019). Grenzen und Strafe in der Heimerziehung. Eine sozialpädagogische Studie. Opladen, Berlin, Toronto: Budrich.

Kessl, F. & Maurer, S. (2010). Praktiken der Differenzierung als Praktiken der Grenzbearbeitung. In F. Kessl & M. Plösser (Hrsg.), Differenzierung, Normalisierung, Andersheit. Soziale Arbeit als Arbeit mit den Anderen (S. 154–169). Wiesbaden: VS.

Klauß, T. (2011). Schwere und mehrfache Behinderung – interdisziplinär. In A. Fröhlich, Andreas, N. Heinen, T. Klauß & W. Lamers (Hrsg.), Schwere und mehrfache Behinderung – interdisziplinär. Impulse: Schwere und mehrfache Behinderung (S. 11–40). Oberhausen: Athena.

Loeken, H. (2012). Sonder- und Sozialpädagogik. Abgrenzung und Annäherung. In W. Thole (Hrsg.), Grundriss Soziale Arbeit (S. 361–365). Wiesbaden: VS.

Maurer, S. (2018). Grenzbearbeitung. Zum analytischen, methodologischen und kritischen Potenzial einer Denkfigur. In B. Bütow, J.-L. Patry & H. Astleitner (Hrsg.), Grenzanalysen – Erziehungswissenschaftliche Perspektiven zu einer aktuellen Denkfigur (S. 20–33). Weinheim, Basel: Beltz Juventa.

Müller, B. & Schmid, V. (2001). Der sozialpädagogische und der sonderpädagogische Blick auf deviante Jugendliche: Kasuistische Analysen. In V. Schmid (Hrsg.), Verwahrlosung – Devianz – antisoziale Tendenz. Stränge zwischen Sozial- und Sonderpädagogik (S. 217–240). Freiburg: Lambertus.

Müller, T. & Stein, R. (2018) (Hrsg.), Erziehung als Herausforderung. Grundlagen für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Sasse, A. & Moser, V. (2003). Welche Bildung? Disziplinäre Neuorientierungen in Sonder- und Sozialpädagogik (S. 339–348). In I. Gogolin & R. Tippelt (Hrsg.), Innovation durch Bildung. Beiträge zum 18. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Opladen: Leske + Budrich.

Willmann, M. (2018). Erziehungsschwierigkeiten im Fokus der Disziplin: der Fachdiskurs an den Universitätslehrstühlen in Deutschland von der Gründung bis zur Gegenwart. In T. Müller & R. Stein (Hrsg.), Erziehung als Herausforderung. Grundlagen für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen (S. 193–208). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Winkler, M. (2018a). Kritik der Inklusion. Am Ende eine(r) Illusion. Stuttgart: Kohlhammer.

Winkler, M. (2018b). Normalisierung als Verschwinden. Sozialpädagogik im Modernisierungsprozess. In U. Binder (Hrsg.), Modernisierung und Pädagogik – ambivalente und paradoxe Interdependenzen (S. 281–310). Weinheim, Basel: Beltz Juventa.

Wolf, Klaus (2007). Soziale Arbeit als Kontrolle? Dirty Work oder Kontrolle als Ressource? Zum Profil einer sozialpädagogisch legitimierten Kontrolle (https://www.bildung.uni- siegen.de/mitarbeiter/wolf/files/download/wissvortraege/soziale_arbeit_als_kontrolle.pdf?origin=publication_detail).

 

 

 

 

Reflexion

1          Sozialpädagogik in der flüchtigen Moderne Einige Bemerkungen zu Problemstellungen, Aufgaben und Grenzen

Sven Huber

Im Folgenden soll ein Weg zu einigen Grenzen der Sozialpädagogik gebahnt werden. Dafür wird ein Pfad angelegt, der aufgrund der hier gebotenen Kürze einige Abkürzungen aufweist. So manche kleine und große ›Sehenswürdigkeit‹ kann nur gestreift, manches kann gar nicht angeschaut werden. Zudem führt der Pfad in steiniges Gebiet, es besteht durchaus Stolpergefahr. Am Beispiel Kritischer Pädagogik wird dargelegt, wie das autonome und vernünftige Subjekt seinen Status als zu befreiendes verliert und stattdessen zu einer Leitfigur in spätmodernen Gesellschaften avanciert, die das Subjekt vor dem Hintergrund rasanter gesellschaftlicher Wandlungsprozesse vor allem als ein unternehmerisches anrufen. Daran anknüpfend werden (klassische und aktuelle) sozialpädagogische Problemstrukturen und Aufgaben bestimmt und in ein kritisches Verhältnis zu den gesellschaftlichen Wandlungs- und Entwicklungsprozessen in ihrer Bedeutung für die Subjekte gesetzt. Im Anschluss werden vier Grenzen und Verlegenheiten diskutiert, die das sozialpädagogische Projekt vor große Herausforderungen stellen.

1.1       Autonomie!

Die Absicht, Grenzen in kritischer Absicht zu thematisieren, wird heute vermutlich von vielen als Provokation gewertet, allerdings als eine, die nicht allzu ernst zu nehmen ist. Erinnert uns doch spätestens die Werbung freundlich, aber bestimmt daran, dass Grenzen gefälligst zu überschreiten sind. Die entsprechenden Produkte helfen dabei, also bitte keine Ausreden! Auch die in verschiedenen Formaten erscheinenden und kommerziell äußerst erfolgreichen Ratgeber der individuellen und kollektiven Selbstoptimierung versichern uns beständig, dass Grenzen (der Motivation, der Leistungsfähigkeit, der Konkurrenzfähigkeit, des Wachstums etc.) verschoben und letztlich nivelliert werden können. The Sky is the Limit! Man denke in diesem Zusammenhang bspw. auch an die (irdischen) Pläne der Verwertung von Rohstoff-Ressourcen des Mondes. Grenzen waren gestern. Sie verweisen auf Abhängigkeiten, Beschränkungen, Unselbständigkeiten etc. Der (spät-)moderne Blick auf die Welt hingegen »ist geprägt durch das Streben nach Emanzipation, Selbstbestimmung, Befreiung, Autonomie, Souveränität gegenüber allem, was uns gegenübertritt« (Rosa 2019, S. 41). Dieser Bezugnahme auf die Welt korrespondiert die wichtigste (spät-)moderne Selbstbeschreibung des Menschen, die als eines souveränen und autonomen Subjekts (vgl. Meyer-Drawe 1998).

1.2       Autonomie!?

Die Kritische Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft, deren Aufkommen auf 1964 zu datieren ist und deren Blütezeit nach 1968 beginnt (vgl. Tenorth 1999, S. 19), ist in diesem Sinne ein modernes Projekt, das den Zumutungen der traditionellen, von Zygmunt Bauman (2000, S. 35) als »schwere« und »solide« bezeichneten, Moderne im Namen von Emanzipation, Autonomie und Mündigkeit entgegentritt. (Ideologie-)Kritik und die Zielbestimmung einer Befreiung des Subjekts zu sich selbst sind die wesentlichen Antriebe des Projekts, das vor allem »die Frage nach dem Verwobensein von gesellschaftlichen Macht-, Bildungs- und Erziehungsprozessen aufgeworfen« (Masschelein 2003, S. 126) hat. Durchaus im Einklang mit der Kritischen Theorie geht sie davon aus,

»dass ihr Auftrag erfüllt und das menschliche Leiden beendet sei, sobald die individuelle Existenz aus den Klauen der eisernen Faust des von Routinen geprägten Lebens befreit, das stahlharte Gehäuse der totalitären, homogenisierenden und uniformistischen Moderne aufgebrochen und die Menschen aus diesem Käfig befreit seien« (ebd., S. 37).

Emanzipation wird als Befreiung des Subjekts aus unterdrückenden Verhältnissen und Bedingungen gedacht, die ein autonomes, selbstreflexives, rationales und kritisches Handeln verunmöglichen. Medium dieser Emanzipation ist vor allem Bildung, verstanden als »Bewusstseinsbildung« (Bünger 2013, S. 10) mit dem Ziel, ein Bewusstsein für die unterdrückenden Verhältnisse und die je eigene Lage in diesen zu entwickeln. Gelingt dies, so die Vorstellung, kommt das eigentliche, das wahre und vernünftige Subjekt zum Zug, dessen Vernunft überhistorisch und damit als unabhängig von gesellschaftlichen Machtverhältnissen konzipiert wird (vgl. Ribolits 2013, S. 24; Bünger 2013, S. 11). Die Kritische Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft erkennt mithin, orientiert an Idealen einer humanen Gesellschaft, die Grenze eines emanzipierten Daseins in den als unterdrückend charakterisierten Bedingungen (institutionalisierter Erziehung und Bildung) in der schweren Moderne und fordert, in Opposition zu diesen Bedingungen, die Befreiung des autonomen, vernünftigen und kritischen Subjekts im Namen einer aufgeklärten und mündigen Individualität und Gesellschaft.

In der gegenwärtigen Spätmoderne, die viele unterschiedliche Namen trägt, von Bauman (2000, S. 35) aber treffend als »flüssig« und »flüchtig« bezeichnet wird, scheinen diese Forderungen nach einem autonomen und kritischen Subjekt in eigentümlicher Weise aufgehoben und verwirklicht zu sein. Kritik, Autonomie, (performative) Souveränität, Selbstreflexion etc. sind geradezu unabdingbar für ein erfolgreiches Leben in der spätmodernen Gesellschaft geworden. Gefragt ist eine große Flexibilität und Kreativität im Umgang mit neuen Herausforderungen, lebenslange (Um-)Lern- und Innovationsbereitschaft, Mobilität usw. Man kann also sagen: was einst in Opposition zu den gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen in der schweren Moderne eingefordert wurde, wird im Rahmen der Macht- und Herrschaftsverhältnisse der späten, flüchtigen Moderne funktional, gar zu einer Voraussetzung spätkapitalistischer Vergesellschaftung. Das autonome, kritische und selbstreflexive Subjekt muss der flüchtigen Moderne nicht abgerungen werden, sie verlangt es. Auch sind Autonomie, Kritik und Selbstreflexion längst ins Zentrum jeden pädagogischen Programms vorgedrungen (vgl. Ribolits 2013, S. 25; Bünger 2013, S. 11 f.; Masschelein 2003, S. 129 ff.).

Das Leiden der Menschen an der Gesellschaft ist nach dem Ende der schweren Moderne allerdings nicht verabschiedet und Vorstellungen von einem »Vernunftsubjekt« (Bünger 2013, S. 11) werden fraglich. Es gilt die Annahme, »dass Autonomie nicht mehr einfach als Antithese von Herrschaft dargestellt werden kann, sondern als avancierte Form der Macht zu deuten ist« (Masschelein 2003, S. 130). Es waren dann insbesondere die Arbeiten von Michel Foucault (vgl. 2000) die dies deutlich gemacht haben, dass also das Subjekt nicht unabhängig von Macht- und Herrschaftsverhältnissen gedacht werden kann, sondern ein Effekt dieser (historisch variierenden) Verhältnisse ist, dass die Art und Weise, wie wir uns zu uns selbst, anderen und anderem in ein Verhältnis setzen nicht auf einen machtfreien Ort verweist, sondern auf eine spezifische Form der (Selbst-)Regierung. Foucault will darauf hinaus, dass ein Verständnis von Macht als Repression und Unterdrückung zu eng greift, und stellt dagegen die Produktivität der Macht heraus.

»Die Produktivität der Macht besteht nicht zuletzt darin, freie und selbstverantwortliche Subjekte durch Mechanismen der Disziplinierung, Normalisierung und Prüfung so hervorzubringen, dass diese gleichzeitig in Selbstpraktiken gründet« (Schäfer 2019, S. 131).

Die Frage, wie dies geschieht, mit welchen Anrufungen sich die Einzelnen gegenwärtig konfrontiert sehen und wie sie sich zu diesen positionieren, wird unter dem Titel der Subjektivierung diskutiert.

1.3       Subjektivierung in der flüchtigen Moderne

Dieser Hinweis auf die Frage der Positionierung des Subjekts deutet dabei bereits an, dass das Verhältnis von Anrufung und Reaktion darauf nicht deterministisch gedacht wird. Das Subjekt ist mithin kein Abbild oder eine reine »Vollstreckungsinstanz« (Redecker 2019, S. 145) seiner Anrufungen. Folgt man Bröckling (2004), lässt sich gegenwärtig ein spezifisches und dominantes Leitbild zeitgenössischer Subjektivität bzw. ein »hegemoniales Anforderungsprofil zeitgenössischer Subjektivierung« (Bröckling 2012, S. 131) identifizieren. Er spricht in diesem Zusammenhang von der Figur und Anrufung eines »unternehmerischen Selbst« (ebd.). Die Subjekte sollen sich selbst unternehmerisch denken und im Hinblick auf sich selbst und andere entsprechend handeln. Das unternehmerische Selbst wird im Modus der Überschreitung entworfen, Grenzen werden nicht akzeptiert da diese auf Stillstand verweisen, der im Wettbewerb um Aufmerksamkeit, Ressourcen, Anerkennung etc. Nachteile birgt. Das unternehmerische Selbst muss Chancen schnell erkennen und sie ergreifen, dabei bewusst Risiken eingehen, Ungewissheit als Chance erkennen und kontinuierliche Innovation und (Selbst-)Optimierung sicherstellen, um sich als möglichst eigenständige und einzigartige Marke positionieren zu können. Es wird als maximal unabhängig adressiert, als des eigenen Glückes Schmied und mithin als alleiniger Verantwortungsträger für den eigenen Erfolg, natürlich aber auch den eigenen Misserfolg (vgl. Bröckling 2004 & 2012).

Dieses Leitbild zeitgenössischer Subjektivität gründet in der flüchtigen Moderne, deren Chiffre die Fitness ist (vgl. Bauman 2000, S. 94 f.). Die schwere Moderne hatte die Chiffre der Gesundheit, wobei Gesundheit von Bauman verstanden wird als ein einigermaßen klar beschreibbarer körperlicher und psychischer Zustand, der viel mit der Einhaltung von Normen und Standards zu tun hat. Fitness hingegen beschreibt keinen irgendwie definierten Zustand, Fitness hat also keinerlei halbwegs klare Konturen. Bei der Fitness geht es gerade um die Überschreitung von Normen und Standards, die insgesamt an Bedeutung einbüßen.

»Sowohl aus der Perspektive der modernen liberalen Ideologie als auch in der individuellen Selbstwahrnehmung scheinen bindende soziale, religiöse oder kulturelle Normen kaum mehr zu existieren« (Rosa 2011, S. 229).

Begrenzungen werden kontinuierlich entgrenzt. Die flüchtige Moderne radikalisiert dabei die Operation mit Differenzen, sie erkennt im Gegenwärtigen nur ein (defizitäres) Transitionsmoment, ein bloßes Zeichen für die Möglichkeiten, auf die das Gegenwärtige verweist. Das Gestern wird damit zu einem Sinnbild für das Rückständige, das Heute zu einer zwar hinzunehmenden, dennoch aber möglichst schnell zu überwindenden Zumutung, und das Morgen zu einem Versprechen des Möglichen hinter dem Wirklichen. »Erwartungen und Erfahrungen trennen sich« (Treml 2000, S. 254) in diesem Prozess und die flüchtige Modernisierung spitzt den »Zwang zur Befreiung durch Auflösung des Bekannten, insoweit dieses als Fessel begriffen wird« (Anhalt & Welti 2018, S. 21; Herv. i. O.), zu.

Dieser Zwang zur Befreiung ist gleichsam ein Zwang zur Beschleunigung, da spätmoderne Gesellschaften für ihre Reproduktion auf Wachstum und Beschleunigung (vor allem des Waren- und Kapitalverkehrs, technischer Innovation etc.) angewiesen sind, wobei Phasen des ausbleibenden Wachstums das Beschleunigungsgebot nicht außer Kraft setzen, im Gegenteil: »Ohne Wachstum kommt es erst recht darauf an, schneller zu sein als die Konkurrenz, Innovation voranzutreiben und die Wettbewerbsfähigkeit mit allen Mitteln zu erhöhen« (Rosa 2019, S. 37). Arbeit muss unter diesen Bedingungen flexibler werden, ein für die schwere Moderne typisches tayloristisch-fordistisches Verständnis vom arbeitenden Menschen (System von Befehl und Gehorsam, Trennung Kopf- und Handarbeit etc.) greift nicht mehr. Wenn unternehmerische Risiken stärker auf die Beschäftigten verlagert werden (Re-Kommodofizierung) und die Subjektivität der Mitarbeitenden selbst zur Produktionsressource wird (vgl. Dörre 2003, S. 15), wenn die Handlungskette der flexibilisierten Produktion immer länger und die Umwelt und Arbeitsprozesse der Unternehmen immer komplexer werden (vgl. Kropf 2005), dann werden die Folgen unternehmerischer Entscheidungen zunehmend kontingent. Gefragt ist dann, keineswegs nur bei den Manager*innen, sondern auch und gerade in den atypischen und prekären Beschäftigungsverhältnissen, das unternehmerische Selbst, das Kontingenz vor allem als Zeichen für dahinter stehendes Mögliches erkennt und sich mit allem was es hat, auf die Imperative der Beschleunigung einlässt, um einen der umkämpften Plätze als Gewinner zu ergattern. Die Motivation dafür findet es beim Studium der wachsenden Zahl derer, die aufgrund welcher Unzulänglichkeiten auch immer aus dem »Beschleunigungsspiel« (Rosa 2011, S. 231) herausfallen, dabei aber nicht mehr notwendig mit Solidarität rechnen dürfen. Denn auch der aktivierende Sozialstaat (vgl. Ziegler 2008) erinnert diejenigen, die kurz- oder langfristig aus dem Beschleunigungsspiel ausscheiden oder ausgeschieden werden, bekanntlich daran, an ihrer ›Bestimmung‹ zu arbeiten, ein unternehmerisches Selbst zu werden.

1.4       Sozialpädagogik in der schweren und der flüchtigen Moderne

Die Sozialpädagogik ist ein Kind der schweren Moderne, sie entsteht in Reaktion auf die strukturellen Probleme dieser Moderne. Mennicke (1926, S. 329) spricht in diesem Zusammenhang von einer »sozialpädagogische[n] Verlegenheit«, die bereits aus den frühen Modernisierungsprozessen selbst erwächst. In Traditionen gründende Lebensformen verlieren an Bedeutung, der Industriekapitalismus setzt neue Arbeits- und Vergesellschaftungsmuster durch, Gemeinschaftsbezüge verlieren an Bedeutung, »Entwurzelung« (Bauman 2000, S. 43) wird mit fortschreitender Individualisierung soziales Schicksal und Identität wandelt sich von einer »›Vorgabe‹ zu einer ›Aufgabe‹« (ebd.).

»Wurde der Mensch in der alten vormodernen Gesellschaft sozial festgehalten und ihm kaum Spielraum gelassen, aus den übermächtigen Kontrollstrukturen auszubrechen, so wird er nun, so ist Mennicke zu verstehen, immer wieder in riskanter Offenheit freigesetzt« (Böhnisch 2018, S. 70).

Die sozialpädagogische Verlegenheit der schweren Moderne trifft dabei auch und vor allem Kinder und Jugendliche, und bezieht sich auf die sich rasch wandelnden strukturellen Bedingungen des Aufwachsens, die unter den Vorzeichen von Entwurzelung, Freisetzung und Individualisierung selbst prekär werden. »Die moderne Gesellschaft ist demnach sozialpädagogisch verlegen, weil die Bedingungen erst geschaffen werden müssten, in denen Kinder und Jugendliche eine ihren Bedürfnissen und sozialen, kulturellen und ökonomischen Anforderungen entsprechende Sorge, Erziehung und Bildung erfahren« (Rätz, Schröer & Wolff 2014, S. 263). Der Sozialpädagogik geht es in diesem Sinne um eine kritische Perspektive auf Gesellschaft. Pädagogisch ist diese Perspektive insofern, als sie die Frage fokussiert, wie je gegenwärtige Gesellschaftsformationen Bedingungen des Aufwachsens organisieren, wie also Gesellschaft Möglichkeiten des Lernens, der Erziehung, der Bildung und der Entwicklung eröffnet oder verstellt. Die i. d. R. institutionell vermittelte Bereitstellung und Organisation dieser Möglichkeiten und Bedingungen ist eine Aufgabe der Sozialpädagogik. Der gemeinsame Fluchtpunkt dieser Bemühungen ist das Subjekt in seiner je konkreten Entwicklungs- und Bildungsbewegung. Sozialpädagogik nimmt »den anderen in seinem praktischen Verhältnis zur Welt wahr und versucht ihn anzustoßen zur Veränderung gegenüber dieser; sie will ihm die Strukturveränderung zeigen und ihn befähigen, mit dieser umzugehen, ihm etwas beibringen, mit dem mögliches Handeln subjektiv erfahrbar wird« (Winkler 2018a, S. 1361; Herv. i. O.).

An dieser Aufgabe hat sich auch in der flüchtigen Moderne nichts geändert, im Gegenteil. Die sozialpädagogische Verlegenheit besteht fort und hat sich, wie weiter oben zumindest stichwortartig angedeutet wurde (forcierte Individualisierung und Freisetzung, Anrufung als eigenverantwortlicher Unternehmer, Veränderung der Arbeitswelt, Beschleunigung etc.) radikalisiert. Radikalisiert meint in diesem Zusammenhang, dass die Dynamik und Geschwindigkeit der flüchtigen Modernisierung »noch Restbestände sozialer und kultureller Sicherheit erodiert, aber oft ignoriert, in welchem Masse die Menschen auf die Stabilität ihrer Lebensverhältnisse existenziell angewiesen sind« (Winkler 2018b, S. 301). Eben dies kennzeichnet die sozialpädagogische Verlegenheit der flüchtigen Moderne. Mit der Radikalisierung der Steigerungs-, Dynamisierungs- und Beschleunigungsimperative gehen Restbestände lebensweltlich vermittelter Sicherheit und Stabilität einher. Damit werden eben jene Ressourcen angegriffen, die zur Bewältigung eines (flüchtigen) Lebens in spätmodernen Gesellschaften notwendig wären (vgl. Börner, Oberthür & Stiegler 2018, S. 241; Rosa 2011, S. 228). In diesem Sinne findet Sozialisation nun als »De-, wenn nicht sogar als A-Sozialisation statt« (Winkler 2018c, S. 105). Gesellschaft wird in der Folge vermehrt als zynische und bedrohliche ›Veranstaltung‹ wahrgenommen. Die Subjekte werden in den schillerndsten Farben und großer Emphase als autonome, verantwortliche und souveräne Entrepreneure angerufen, der Boden aber, die materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen also, auf dem diese Anrufung eine empirische Gestalt bekommen könnte, wird ihnen gleichzeitig unter den Füssen weggerissen. Aus dieser paradoxen Situation erwachsen Erfahrungen der Erschöpfung, Burnout und Depression werden zu zentralen Ausdrucksformen dieser Erfahrungen (vgl. Petersen 2018, S. 45 f.).

Diese lebensweltlichen Erschütterungen (be-)treffen wiederum natürlich auch und gerade Kinder und Jugendliche, die zunehmend »ungebremst an soziale und kulturelle Anforderungen angeschlossen werden. Sie sind von früh an ungeschützt einer Konsumwelt wie den Vorstellungen und Lebensweisen ausgesetzt, die bislang exklusiv für Erwachsene gegolten haben« (Koerrenz & Winkler 2013, S. 165). Damit büßen die Grenzen zwischen Jugend- und Erwachsenkultur vermehrt an Geltungskraft ein. Das Jugendmoratorium, verstanden als Phase der »Entkoppelung von Sozialisations- und Produktionslogik« (Böhnisch 2018, S. 43), erodiert mit der forcierten Vergesellschaftung der Kindheits- und Jugendphase zunehmend, unternehmerische Anrufungen der Eigenverantwortung und Optimierung erreichen verstärkt auch Kinder und Jugendliche (vgl. Ecarius et al. 2017, S. 18 ff.). Das Lernen wird beschleunigt, mithin verdichtet und intensiviert. Die (sozialen, kulturellen, technischen etc.) Gegenstände, auf die sich diese Lernprozesse beziehen, verändern und verflüchtigen sich allerdings häufig rasend schnell, so dass Kinder und Jugendliche im Rahmen von Aneignungsprozessen vermehrt mit Instabilität und Unsicherheit konfrontiert sind (vgl. Winkler 2006a, S. 208 f.). So wird auf eine eigentümliche Art und Weise bereits im Kindes- und Jugendalter der Nährboden für umfassende Entfremdungsprozesse gelegt, für eine Entfremdung »von unserer Fähigkeit, uns die Welt in ihren räumlichen, zeitlichen, sozialen, handlungspraktischen und dinglichen Dimensionen ›anzuverwandeln‹« (Rosa 2011, S. 249).

Deutlich wird also: an der sozialpädagogischen Aufgabe hat sich nichts geändert, sie stellt sich in radikalisierter Form. Auch ändert die diskutierte ›Entzauberung‹ des Subjekts, welche die Pädagogik nachhaltig irritiert, nichts an der Zentralstellung des Subjekts in der Sozialpädagogik. Die Irritation der Pädagogik scheint dabei vor allem in einer spezifischen Lesart dieser ›Entzauberung‹ zu gründen, in jener nämlich: »Das Subjekt eignet sich die Welt an und nicht umgekehrt« (Böhnisch 2018, S. 42). Mit der weiter oben skizzierten Perspektive der Subjektivierung wird hingegen deutlich, dass diese Lesart, nach der sich nun die Welt das Subjekt einverleibt, in die Irre führt. Es gibt keine Umkehrung in dem Sinne, wie sie von Böhnisch angedeutet wird, vielmehr gibt es ein Sowohl-als-Auch. Damit ist das von der Sozialpädagogik adressierte Subjekt nicht mehr das sich selbst völlig transparente Subjekt, das zu seiner Eigentlichkeit hin zu befreien wäre. Es ist ein begrenzt unterworfenes und gleichermaßen ein begrenzt autonomes Subjekt, das in seiner Doppelbewegung der Aneignung (bzw. Anverwandlung) und Distanzierung von Welt in den sozialpädagogischen Blick gerät, insofern diese je individuelle, konkrete und eigenwillige Doppelbewegung behindert bzw. verhindert und Subjektivität beschädigt wird.

Dieser sozialpädagogische Blick ist institutionell vermittelt und kommt entsprechend an pädagogisch inszenierten Orten zum Tragen, Sozialpädagogik meint damit immer auch ein Ortshandeln (Winkler 2011). Eingedenk der skizzierten Herausforderungen der flüchtigen Modernisierung muss der sozialpädagogische Ort den Subjekten die Möglichkeit zur Aneignung bzw. Anverwandlung des Ortes geben, damit die Orte »mehr auslösen als nur ein Gefühl des Übergangs, des Durchlaufs, des Dazwischen und Uneigentlichen, sondern auch des Angekommenseins, des Wohlfühlens, des Nichtaustauschbaren« (Treml 2000, S. 263). Sozialpädagogische Orte wollen Distanz schaffen, wollen den Subjekten andere Erfahrungen ermöglichen, »als es die Subjektivierungsweisen einer Norm und deren Führungs- oder Wahrheitsregimes mit sich bringen« (Bünger 2019, S. 110). Sie wollen Entwicklungsprozesse anregen und rahmen, einen anderen Blick auf sich selbst und soziale Zusammenhänge ermöglichen. Dafür eröffnen sie Zeit-, Möglichkeits- und Anerkennungs-Räume, um neue Handlungsmöglichkeiten zu erschließen und zu erproben, was i. d. R. mit Konflikten einhergeht. So manche Erprobung stellt sich als Herausforderung für das Miteinander heraus. Gleichwohl können die Subjekte im Wissen darum, dass Entwicklungsprozesse nicht konfliktfrei zu haben sind, mit Nachsicht und Fehlerfreundlichkeit rechnen. Darüber hinaus ermöglichen sozialpädagogische Orte die Erfahrung einer Kontinuität »des kleinen Sozialen« (Winkler 2015, S. 223; Herv. i. O.), die Erfahrung von gemeinschaftlichen Zusammenhängen und Solidarität und Geborgenheit also (vgl. Winkler 2011). Sozialpädagogische Orte betonen damit die konstitutive Bedeutung zwischenmenschlichen Angewiesenseins.

Ein Schritt in eine neue Richtung, die Entwicklung einer neuen Sichtweise, ein Lernen, sei es ein Neu-Lernen oder Um-Lernen etc. – Dies geschieht gerahmt und gefördert durch den sozialpädagogischen Ort, allerdings nicht quasi von allein, also als Leistung eines autonomen Subjekts. Natürlich kann Entwicklung letztlich nur durch das Subjekt selbst vollzogen werden, dieser Prozess muss allerdings erzieherisch begleitet, eingefordert und gewürdigt werden (vgl. Stenger 2015, S. 80). Erst Erziehung ermöglicht Lern- und Veränderungsprozesse und realisiert sich im Spannungsfeld von Tradition bzw. Überlieferung und Zukunftsfähigkeit. Erziehung bringt die Heranwachsenden auf der einen Seite in ein Verhältnis zu den historisch gewachsenen, sozialen und kulturellen Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Anrufungsformen einer Gesellschaft. Dazu muss Erziehung anregen und ermuntern, allerdings auch (an-)leiten und verbieten. »Ein Teil der Zumutung des Erziehens besteht auch darin, dass das Symmetriegebot aus fürsorglichen Gründen verletzt werden muss« (Reichenbach 2018, S. 43). Auf der anderen Seite schafft Erziehung gerade durch die Vermittlung jener Ausdrucksformen wieder Distanz zu diesen. »Man zeigt Kinder und Jugendlichen etwas, damit sie es kennen, damit sie mit ihm umgehen können. Das bedeutet, dass sie zugleich gegenüber diesem freigestellt werden« (Winkler 2018c, S. 137). Erziehung fordert auf zur Selbsttätigkeit, das Ortshandeln will diese dann stabil rahmen und will dem Experimentieren mit dem Alten und Neuen Raum geben. Erziehung eröffnet in diesem Prozess die Möglichkeit der Bildung, Erziehung muss als Voraussetzung für Bildung gefasst werden (vgl. Winkler 2006b). Bildung bezeichnet dabei einen Distanzierungsprozess, der es dem Subjekt erlaubt, eigene Selbst- und Weltbilder und die damit verbundenen (Selbst-)Gewissheiten zu distanzieren und in Frage zu stellen. Sie markiert »den Moment des Fraglich-Werdens, in dem ein Verhältnis zu den ambivalenten Zu-Mutungen und Aktivierungsformen entsteht« (Bünger 2013, S. 19). Wir haben allerdings gesehen, dass die flüchtige Moderne »den irritierenden Teil des Bildungsprozesses, d. h. die Auslösung von Reflexion durch Entfremdung, in ihre Struktur aufgenommen« (Herzog 2006, S. 564; Herv. i. O.) hat. Damit sind Bildungsprozesse weder notwendig kritisch noch zwingend affirmativ, vielmehr sind Affirmation und Kritik gleichzeitig mit dem Begriff der Bildung verbunden, der sich damit kaum vereindeutigen lässt (vgl. Ecarius et al. 2009, S. 255).

Sozialpädagogik geht es um die Autonomie und Mündigkeit der Subjekte, was angesichts der Tatsache, dass Autonomie und Mündigkeit zum zentralen Anforderungsprofil unternehmerischer Subjektivität gehören, eine einigermaßen schwierige Angelegenheit ist. Wir haben gesehen, dass die entsprechenden Anrufungen geradezu als Motor von Entbettungs-, Entfremdungs- und Erschöpfungsprozessen fungieren können. Dagegen macht Sozialpädagogik ein Verständnis von Mündigkeit stark, das die in den gegenwärtigen Anrufungen des Subjekts enthaltene Verherrlichung und Verklärung der Autonomie distanziert und verdeutlicht, dass jedes selbstbestimmte Leben eingelassen ist in vielfältige Formationen der Angewiesenheit und Abhängigkeit. Mündigkeit selbst wird dabei also weder als eine Art herrschaftsfreier Zustand noch als pädagogisches Leitbild einer Vervollkommnung des Subjekts idealisiert, vielmehr wird das In- und Miteinander von Autonomie und Fremdbestimmung in den Blick genommen. Mündigkeit und Unmündigkeit werden somit als zwei Seiten einer Medaille und nicht als zwei entgegengesetzte Pole verstanden (vgl. Rieger-Ladich 2002, S. 170 ff.). In diesem Sinne verbindet der Begriff der Mündigkeit »das Streben nach Überschreitung der existierenden Grenzen mit der Anerkennung der Angewiesenheit auf andere« (ebd., S. 176) und zielt ab auf »die Fähigkeit, die Differenz von Souveränität und Unterworfensein zu gestalten« (Meyer-Drawe 1998, S. 48). Erziehung kann als zwingende Voraussetzung, als Bedingung für die Möglichkeit der Gestaltung jener Differenz betrachtet werden, während sich der Prozess der Gestaltung selbst als Bildungsbewegung des Subjekts fassen lässt.

1.5       Grenzen des sozialpädagogischen Projekts