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Wer glaubt, Frauen in Märchen seien nur schön, der hat weit gefehlt. Sie können sekundenschnell von der Sonne zum Mond wandern und Stroh zu Gold spinnen, sie schütteln Silber aus Bäumen und zähmen Bären, sie verhandeln mit Zauberern, Hexen und Fröschen, die sie nach Lust und Laune zu Prinzen schlagen. Die Schriftstellerin Felicitas Hoppe lädt dazu ein, auf einem Streifzug durch Grimms Märchenwelt die starke Seite jener Frauen zu entdecken. Mutig, klug und unbesiegbar – das sind Dornröschen, Rapunzel und Co.!
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Seitenzahl: 253
Grimms Märchen für Heldinnen von heute und morgen
Ausgewählt und mit einem Essay von Felicitas HoppeBebildert von Rosa Loy
Reclam
2019 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Coverabbildung: Rosa Loy, Weiß & Rot (2019)© Rosa Loy, VG Bild-Kunst, Bonn
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2019
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961519-6
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011213-7
www.reclam.de
Felicitas Hoppe
»In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön; aber die jüngste war so schön, dass die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien.«
So eröffnet das Märchen vom Froschkönig die berühmte Sammlung der Grimm’schen Märchen, deren Anfang ich bis heute auswendig kann. Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie meine Mutter uns daraus vorlas – drei Schwestern, zwei Brüdern im selben Bett – und wie ihre Stimme sich plötzlich triumphierend erhob, als die jüngste und schönste Königstochter den Frosch »aus allen Kräften wider die Wand« wirft, um ihn endlich seiner wahren Bestimmung zuzuführen.
Bis heute glauben wir alle fünf darum fest an die Macht und die Kraft der Verwandlung: dass man Mädchen bloß rechtzeitig wachküssen muss, damit sie bei Bedarf Frösche zu Prinzen schlagen, dass ihre Haare stärker als Seile sind, dass sie aus Türmen entkommen, durch Mauern gehen und furchtlos dunkle Wälder durchwandern, wenn es darum geht, ihre verfluchten Brüder zu retten und ins wirkliche Leben zurückzuholen. Denn Grimms Frauen sind nicht nur schön, sondern auch mutig und stark, von ihrer Klugheit gar nicht zu reden.
Aber allem voran ist es ihre strahlende Schönheit, die selbst die Sonne zum Staunen bringt. Schönheit ist die größte Ressource des Märchens, die unerschöpfliche Quelle seiner Energie. Doch Schönheit macht glücklich und traurig zugleich, sie bringt das Gute wie das Böse hervor, sie berührt und verführt, sie ist herrlich gefährlich; sie lässt Könige stolpern und ihren eigenen Töchtern verfallen, sie verwandelt Königinnen in böse Hexen und Schwiegermütter und macht einsamen Zwergen und alternden Wölfen unstillbaren Hunger auf Kinder.
Kein Zufall also, dass uns ein altes russisches Märchen das folgende Rätsel aufgibt: »Was ist Schönheit? Und der Soldat antwortet wieder unbeirrt: ›Das Brot‹, sagt er, ›ist die Schönheit.‹ – ›Falsch, Kamerad, Schönheit – das ist das Feuer.‹« Allerdings irrt der Soldat nur zur Hälfte, denn jedes Märchen ist zwar ein Spiel mit dem Feuer, doch grundsätzlich ist es auf Sättigung aus. Von lauter unerfüllbaren Wünschen grundiert, ist es andauernd auf der Suche nach Nahrung, nach guter Verdauung, nach Wärme, Licht und Erlösung, denn es will Wohlsein ins menschliche Leben bringen, weshalb seine Bilder ununterbrochen funkeln und schimmern.
»Im Märchen wird Gold gespuckt und werden Perlen geweint«, schreibt der russische Märchenforscher Andrej Sinjawskij. Und er fährt fort: »Diese Neigung ist der allgemeinen Vorliebe des Menschen für alles Glänzende und Farbige verwandt, die er mit der ungezählten Schar von Insekten und mit anderen Tieren teilt, die so empfindlich auf Licht […] reagieren.«
Was Wunder, dass uns die Schönheit des Märchens nach wie vor fasziniert, obwohl wir wissen, dass Schönheit nicht selten auch blind machen kann und dass wir, in ihre Betrachtung versunken, manchmal sogar den Verstand verlieren. Selbst unter dem scheinbar harmlosen Zeichenstift Walt Disneys bleiben Schneewittchen, Dornröschen und Aschenputtel Lichtgestalten der Weltliteratur; sie sind der unverzichtbare Teil unserer eigenen Wünsche, denn aller Aufklärung zum Trotz verkörpern sie unsere uralten Träume von Selbstoptimierung und Perfektion, obwohl uns der tägliche Blick in den Spiegel verrät, dass hinter den sieben magischen Bergen immer irgendjemand schöner sein wird als wir.
Hat man einmal begriffen, was Schönheit ist – nämlich Anziehungskraft und Gefahr in einem –, versteht sich von selbst, dass es ziemlich viel Mut braucht, um durch die dunkle Landschaft der Märchen zu wandern. Dabei lohnt es sich, den Frauen zu folgen, allen voran jenen kleinen Schwestern, die mutiger als alle anderen sind, weil sie die Gesetze von Zeit und Raum verachten und wissen, dass es zum Mond nur ein Katzensprung ist und zur Sonne nicht mehr als ein Atemzug. Bei Bedarf holen sie sogar die Sterne vom Himmel, schütteln Silber aus Bäumen und spinnen Stroh zu Gold, weil sie das passende Zauberwort kennen, auch wenn sie es gelegentlich, mit etwas Tücke und List, einem Rumpelstilzchen ablauschen müssen.
Doch allem voran sind sie auf Versöhnung und auf Gerechtigkeit aus, weil sie, allen Gegenbeweisen zum Trotz, fest daran glauben, dass das Gute belohnt und das Böse bestraft wird, damit die Welt eines Tages endlich wirklich so ist, wie sie tatsächlich sein soll. Doch so einfach kommen wir nicht davon. Denn wer sind hier wirklich die Guten und wer tatsächlich die Bösen, und auf wessen Seite schlagen wir uns?
Die Grimm’schen Märchen präsentieren uns ein so atemberaubendes wie verwirrendes Schattenboxen der Geschlechter und Klassen, in dem Menschen mit Tieren, Hexen und Zwergen ununterbrochen um Vorherrschaft kämpfen. Über Nacht kann ein Bauer zum König werden und ein König zum Bettler; eine Bettlerin setzt sich die Krone auf, ein Prinz versteckt sich im Bärenkostüm, eine allwissende Königin wird von einem Fuchs überlistet, eine Füchsin sucht listig nach einem jüngeren Mann, Brüder werden zu Rehen und Schwänen verwünscht, und Glückskinder fallen unter die Räuber, bis sie, wider Erwarten, am Ende doch noch zu Prinzen zu werden.
Alles ist möglich, aber nichts ist gesichert, Wunsch und Verwünschung fallen nicht selten in eins: Verlierer sind Sieger und umgekehrt, denn das Märchen ist weder märchenhaft noch fantastisch, weder wunderlich noch weltfern, nicht idyllisch noch süßlich, sondern: grausam. So grausam wie praktisch, konkret und direkt. Und alles andere als politisch korrekt.
Das Märchen lebt vom jenem kleinen gemeinen Unterschied, der nach wie vor unberechenbar bleibt, weil er, scheinbar grundlos, die einen begünstigt und die anderen verwirft. Denn all seiner Schönheit und seinem Glanz zum Trotz ist das Märchen die Urzelle realistischer Literatur, es folgt auf seine eigene, magische Weise der unerbittlichen Logik des grausamen Lebens – mehr Wirklichkeit ist nirgends zu haben!
Kein Wunder, dass der Weg zu Erfolg und Erlösung beständig mit Prüfungen, Qualen und unfreiwilligen Metamorphosen gepflastert ist, denn bekanntlich steht den menschlichen Wünschen immer irgendetwas im Weg: eine Dornenhecke, ein hässlicher Zwerg, ein böser Wolf, eine Schüssel mit Pech, ein Schlüssel, der sich nicht finden lässt, ein Zauberwort, das vergessen wurde, ein Rätsel, das nicht zu lösen ist und eine Haut, in der sich, auch beim besten Willen, nicht leben lässt, weil sie nun mal nicht die eigene ist; von all den unerledigten Hausarbeiten gar nicht zu reden.
In schlimmeren Fällen verhängt das Märchen jahrelange Rede- und Lachverbote und stellt seinen Frauen Scheiterhaufen und glühende Pantoffeln in Aussicht. Gewinnen kann nur, wer furchtlos und mutig genug ist, auf dem Weg durch den Wald der wirklichen Welt seine eigenen Lieder zu pfeifen, wo es nur so wimmelt von bösen Räubern und wilden Tieren, von schwachen Vätern und feigen Brüdern, von unberufenen Königen und ratlosen Prinzen. Denn genau wie in der wirklichen Welt geht es auch im Märchen immer ums Ganze, es geht um Leben und Tod.
Doch auch von Frauenseite drohen stets und ständig aktive Gegnerschaft und Gefahr: arrogante Prinzessinnen, neidische Schwestern, intrigante Mütter, Schwiegermütter und Großmütter, die auf undurchsichtige Weise meistens das Böse, dann aber wieder überraschend das Gute wollen, selbst wenn ihr Enkel der Teufel persönlich ist. Ganz zu schweigen von jenen Eltern, die seit mehr als zweihundert Jahren noch immer nicht wissen, was sie mit ihren Kindern anfangen sollen.
Doch während die einen davon viel zu viele haben (Hänsel und Gretel sind nur zwei davon), können die anderen einfach keine bekommen und zahlen jeden erdenklichen Preis dafür. Das Märchen ist der Spiegel unserer unstillbaren Sehnsucht nach dem persönlichen Glück in einer grundsätzlich verkehrten Welt, mit deren Einrichtung offenbar irgendetwas nicht stimmt. Da hilft im Zweifelsfall nur der richtige Wunsch! Aber wie wünscht man richtig?
Davon singen Mädchen und Frauen nicht nur im Märchen seit Jahrhunderten immer dasselbe Lied. Unter der Knute der Grimm’schen Moral sind sie scheinbar zu Meisterinnen der Selbstverleugnung und des passiven Widerstands geworden, die sehr genau wissen, wie man strategisch und taktisch jene Plätze im Haus und bei Hof verteidigt, die längst für andere vorgesehen sind. Doch in Wahrheit bestechen sie bis heute durch Tugenden, die längst aus der Mode gekommen sind, an Wirksamkeit aber wenig verloren haben: durch Standhaftigkeit, Ausdauer Geduld und Güte.
Das richtige Wünschen setzt nämlich nicht nur Mut und Klugheit voraus, sondern auch Liebe, Vorausschau, höchste Diplomatie und natürlich praktisches Denken. Auf den ersten Blick scheinbar dienstbar und schwach, erweisen sich die Frauen der Grimms in der Mehrzahl der Märchen als die geheimen Drahtzieherinnen der ganzen Geschichte. Ob schön oder hässlich, arm oder reich, alt oder jung, ob in der Haut von Mensch oder Tier – lauter Frauen, die das Schicksal allesamt foppt, bis sie am Ende beschließen, das gebratene Hühnchen einfach selbst zu verspeisen: Das kluge Gretel weiß genau, wie das geht.
Allerdings geht die weibliche Klugheit weit über die Lust auf gebratene Hühner hinaus, wie die Intelligenz der Tochter eines Bauern beweist: »Ach, hätt ich doch meiner Tochter gehört!«, ruft der verprellte Bauer, der nicht weiß, wie er den Zins auf das geliehene Land an seinen König zurückzahlen soll. Seine Tochter weiß es tatsächlich besser. Sie braucht nicht mehr als vier Seiten, um Vater und König rhetorisch zur Strecke zu bringen, weil sie weiß, dass Pferde keine Kälber bekommen und dass man auf trockenem Land keine Fische fängt.
»Also musste sie vor den König kommen […], er wollte ihr ein Rätsel aufgeben, wenn sie das treffen könnte, dann wollte er sie heiraten.« Natürlich löst sie das Rätsel im Handumdrehen, wie man im Original nachlesen kann, in dem uns, selten genug, ein König begegnet, der die Klugheit der Frau ihrer Schönheit vorzieht, weil er weiß, was viele Frauen bis heute nicht wissen: dass sich Mut und Klugheit in Schönheit verwandeln.
Allerdings ist weibliche Klugheit nicht immer von Erfolg und Erkenntnis gekrönt. Die kluge Else, mein unangefochtenes Lieblingsmärchen, legt den zweifelhaften Beweis dafür ab, dass ein Übermaß an Phantasie in der Regel wenig von Nutzen ist und wie hohe Begabung durch praktische Zähmung an der Außenwelt scheitert, denn Else »sieht den Wind auf der Gasse laufen und hört die Fliegen husten«. Darauf ihr zynischer Bräutigam Hans: »Mehr Verstand ist für meinen Haushalt nicht nötig«, worauf er sie bei der Hand packt und Hochzeit mit ihr hält.
Weh dem, der Hochzeit mit einer Künstlerin hält, die nicht weiß, wie man Haushalt und Handwerk regiert. Die kluge Else nimmt im Kosmos der Grimms einen irritierenden Sonderplatz ein, ihre überbordende Vorstellungskraft ist weder dem Märchen, noch dem Handwerk des Lebens gewachsen. Sie flieht in den Traum, schläft auf dem Feld bei der Arbeit ein und wird von den Schellen des praktischen Alltags geweckt, die sich in die Schellen ihres eigenen Wahnsinns verwandeln: »Bin ich’s oder bin ich’s nicht?«
Auf der Suche nach einer Antwort wird sie buchstäblich in die Irre geleitet, denn als »die Leute das Klingen der Schellen hörten, wollten sie nicht aufmachen, und sie konnte nirgend unterkommen. Da lief sie fort zum Dorfe hinaus, und niemand hat sie wiedergesehen.« Genau wie im wirklichen Leben, bleibt auch im Märchen das glückliche Ende jenen Frauen vorbehalten, die dazu in der Lage sind, selbst ihre schrecklichsten Träume in handfeste Ware zu verwandeln.
Vermutlich spielen deshalb Requisiten, im so konkreten wie übertragenen Sinn, im Märchen eine ganz besondere Rolle, und es ist sicher kein Zufall, dass die Spindel sein liebstes Werkzeug ist, denn hier fallen Handwerk und Mundwerk, Praxis und Erfindung in eins. Bei Licht besehen spinnen im Märchen nämlich fast alle, Frauen wie Männer, nur dass die Frauen ihr Handwerk besser verstehen. Das macht ihre Schönheit und Klugheit aus, ihre Kraft, ihren Mut und jenen unermesslichen Reichtum, den nur spinnende Frauen hervorbringen können.
Im Märchen vom Rumpelstilzchen fügen sich Spindel und Spinnen zu einem Botenbericht aus der Welt eines Handwerks, das von Unterwerfung und Überwindung erzählt. Denn das Rumpelstilzchen, dessen wahre Existenz wir bis heute nicht kennen, ist nicht weniger Opfer als die verkaufte Tochter des Müllers, der bis heute glaubt, dass sich Stroh zu Gold spinnen lässt. Die Geschichte ist kompliziert und vertrackt, alles hängt an einem einzigen Faden, auch das Kind, das zu backen und brauen ist. Aus Angst vor Verlust schickt die Müllerin alias Königin Boten über Stadt und Land, um den Namen des Erpressers dingfest zu machen.
Botenberichte spielen im Märchen nicht zufällig eine besondere Rolle, denn das Märchen ist permanent unterwegs und damit immer auf der Höhe der Zeit. Und auch die Märchenfrau ist nicht von Haus aus häuslich. Rein statistisch betrachtet, geht sie sogar weit häufiger als ihre Väter und Brüder durch den dunklen Wald und verkehrt dabei weitaus klüger mit den Gefahren der Natur. Es ist das Schwesterchen, nicht das Brüderchen, das den vergifteten Brunnen von der Quelle des frischen Wassers trennt, es ist das Rotkäppchen, das, gegen den Rat seiner Mutter, den abenteuerlichen Um- und Abweg sucht, weil es endlich echten Wölfen begegnen will, es sind Schneeweißchen und Rosenrot, die wissen, wie man Bären bewirtet und die Bärte eitler Zwerge beschneidet. Und es ist ein Mädchen, das, allen Männern voran, mit Sonne, Mond und Sternen konferiert und auf allen Planeten zu Hause ist.
Beim Wiederlesen der Grimm’schen Märchen staunt man in jeder zweiten Zeile über die Klugheit und Gewandtheit der Frauen, über ihren entwaffnenden Witz und über den Charme, mit dem sie Bestien und Monstern begegnen, über ihre praktische Intelligenz, ihre juristische Schlagfertigkeit, über ihre Freude am Argument, ihr handwerkliches Können, über ihr erschreckend gutes Gedächtnis und die unersättliche Kraft ihres Wünschens; und man staunt über ihren Willen zu einer Macht, die, wie die Frau eines Fischer beweist, Segen und Fluch zugleich sein kann.
Doch unterm Strich kämpfen sie, genau wie meine Mutter, alle gegen denselben Gegner, gegen die Angst vor verordneter Pflichterfüllung und um den uns alle erlösenden Kuss, der uns zu unserer wahren Gestalt hin befreit. Denn selbst hinter den sieben magischen Bergen müssen wir bis heute beweisen, dass man Schwäche in Stärke verwandeln kann und dass wir die Besten, Schönsten und Tüchtigsten sind: schön wie die Sonne, klar wie die Wahrheit, mutiger als jeder Soldat, klüger als jeder König, tüchtig wie Tagwerk und strahlender als das Märchengold selbst.
Was fängt man mit so viel Möglichkeit an? Die Antwort der Grimms liegt auf der Hand: Man ruft sie zur Ordnung, man ordnet sie unter, man versucht, sie zu zähmen, man bringt sie auf Linie. Jedes Märchen ist ein Zähmungsversuch der Welt und der Frauen, die ihr eine andere neue Gestalt geben wollen. Doch die Requisiten halten ihnen die Treue: Rotkäppchens Korb, Schneeweißchens und Rosenrots Schere, die im Untergrund zertanzten Schuhe der Prinzessinnen, die bis heute nicht heiraten wollen, das Spinnrad der verkauften Tochter des Müllers, Dornröschens blutige Spindel und der abgeschnittene kleine Finger, mit dem sich die Schwester der sieben Raben Zugang zum Haus ihrer Brüder verschafft.
Heute lesen wir diese Geschichten anders. Nicht nur, weil uns das Handwerk abhandengekommen ist und weil uns Zauber und Magie von gestern erscheinen, sondern weil wir mehr als geneigt, ja inzwischen fast dazu genötigt sind, aus jeder weiblichen Tugend eine weibliche Not zu machen. Doch das bringt uns den Frauenfiguren nicht näher; beim Wiederlesen der Grimm’schen Märchen kommen wir ziemlich schnell zu dem Schluss, dass wir, egal ob Mann oder Frau, ob Mensch oder Tier, ob Zwerg oder Hexe, alle in ein- und demselben Märchenboot sitzen.
Denn bei Licht besehen ist das Märchen bis heute nicht auf Entmachtung, nicht auf Geschlechter- und Klassenkampf aus, sondern auf Verwandlung und auf Erlösung. Es sucht keinen Platz in der wirklichen Welt, sondern nach einer anderen Welt, nach einem Reich, das nicht da ist, sondern erst kommt. Statt Könige von ihren Thronen zu stoßen, träumen all seine Protagonisten unablässig davon, endlich selber die Krone zu tragen. Genau deshalb küsst es Prinzessinnen wach und macht Bauerntöchter zu Königinnen. Dabei geht es ihm allerdings weder um Reichtum, noch um Gewinn oder Vorherrschaft, sondern um das eigene höchst persönliche Glück, eine bis heute unbestimmbare Größe.
Die Suche nach dem persönlichen Glück hat bekanntlich wenig mit Revolutionen zu tun, sie ist nicht auf die Menschheit, sondern auf die privaten Wünsche der Menschen gerichtet, die nach wie vor unerfüllbar sind: ein Haus, ein Stück Land, ein jüngerer Fuchs, eine Krone für alle. Reichtum und Glück sind weder in Schönheit, noch in Mut oder Klugheit zu messen, und schon gar nicht in Silber und Gold. Auch die Beherrschung des Handwerks ist kein Schlüssel zum Glück.
Denn im Zweifelsfall pfeift das Märchen auf Wissen; auf der Suche nach seinem eigenen Namen setzt es auf Vertrauen und Intuition, auf die eigene und einzig wahre Geschichte, mit der wir unser Dasein behaupten, weil wir sehr genau wissen, dass wir Prinz und Frosch in einer Person sind und immer noch darauf warten, geküsst zu werden, um endlich zu werden, was wir wirklich (tatsächlich) sind.
Dass der Weg zur Erlösung ein Umweg ist und ständiger Wiederverwandlung bedarf, weiß das Märchen besser als wir. Wer anfängt, die Märchen der Grimms von vorne zu lesen, und dabei nicht vergisst, woher sie kommen – nämlich aus einer anderen, einer vorgrimmschen Welt, in der längst war, was bis heute nicht ist –, stößt auf eine Welt überraschender Möglichkeiten, die unseren Wunsch nach einer gerechten Ordnung auf faszinierende Weise in Frage stellt.
Genau wie mein Vater, der, sobald meine Mutter das Buch aus der Hand gelegt hatte, seine eigenen Märchen zu erzählen begann, in denen an manchen Abenden der Frosch schlicht und einfach ein Frosch bleiben durfte und das Rumpelstilzchen, wider Erwarten, nicht böse war, sondern ein so betrogener wie bemitleidenswerter Held. Im Gegensatz zu meiner Mutter zog er es vor, uns die Märchen freihändig nachzuerzählen, wobei er sich nicht davor scheute, das eine oder andere Detail zu verändern, um dem Geschehen eine neue Wendung zu geben.
Offenbar hatte er seine eigene, höhere Ordnung. Das Personal stand unter seinem persönlichen Schutz, böse Hexen und Stiefmütter nicht ausgenommen. Denn unser Vater liebte sie nachhaltig alle: die Guten und Bösen, die Schönen und Hässlichen, die Klugen und Dummen, die Mutigen und die Feiglinge, die Fleißigen und die Faulen, die buckligen Zwerge nicht weniger als die freundlichen Feen. Doch seine besondere Liebe galt jenen Tieren, die bis heute verzweifelt versuchen, wieder Menschen zu werden und, weil Rückverwandlung nur in Teilen gelingt, mit dem Flügel eines Schwans leben müssen.
Denn mein Vater, das jüngste von sieben Kindern, sechs Brüder, eine Schwester im selben Bett, von denen außer ihm keiner mehr lebt, war schon vor Jahren im Krieg und weiß folglich genau, dass wir niemals zurückbekommen, was wir einmal verloren haben. Trotzdem glaubt er bis heute an Rettung, weil er die kluge Tochter eines Schneiders geheiratet hat, die ihn mit ihrem untrüglichen Sinn für das wirkliche Leben davor bewahrt, womöglich selber ein Spinner zu werden.
Nichts ist gesichert, aber alles ist möglich, das meiste davon ist tatsächlich schon machbar; schließlich wissen wir längst, dass es zum Mond nur ein Katzensprung ist und dass keine Wünsche mehr offenbleiben. Doch wohin mit dem kleinen gemeinen Rest, zu dem uns bis heute der Schlüssel fehlt? Da hilft nur der kleine Finger eines mutigen Mädchens, der vermutlich der Generalschlüssel zum Grimm’schen Himmelreich ist.
»Lass dein Haar herunter!«
Es war einmal ein Mann und eine Frau, die wünschten sich schon lange vergeblich ein Kind, endlich machte sich die Frau Hoffnung, der liebe Gott werde ihren Wunsch erfüllen. Die Leute hatten in ihrem Hinterhaus ein kleines Fenster, daraus konnte man in einen prächtigen Garten sehen, der voll der schönsten Blumen und Kräuter stand; er war aber von einer hohen Mauer umgeben, und niemand wagte, hineinzugehen, weil er einer Zauberin gehörte, die große Macht hatte und von aller Welt gefürchtet ward. Eines Tags stand die Frau an diesem Fenster und sah in den Garten hinab, da erblickte sie ein Beet, das mit den schönsten Rapunzeln bepflanzt war: Und sie sahen so frisch und grün aus, dass sie lüstern ward und das größte Verlangen empfand, von den Rapunzeln zu essen. Das Verlangen nahm jeden Tag zu, und da sie wusste, dass sie keine davon bekommen konnte, so fiel sie ganz ab, sah blass und elend aus.
Da erschrak der Mann und fragte: »Was fehlt dir, liebe Frau?«
»Ach«, antwortete sie, »wenn ich keine Rapunzeln aus dem Garten hinter unserm Hause zu essen kriege, so sterbe ich.«
Der Mann, der sie lieb hatte, dachte: »Eh du deine Frau sterben lässest, holst du ihr von den Rapunzeln, es mag kosten, was es will.«
In der Abenddämmerung stieg er also über die Mauer in den Garten der Zauberin, stach in aller Eile eine Hand voll Rapunzeln und brachte sie seiner Frau. Sie machte sich sogleich Salat daraus und aß sie in voller Begierde auf. Sie hatten ihr aber so gut, so gut geschmeckt, dass sie den andern Tag noch dreimal so viel Lust bekam. Sollte sie Ruhe haben, so musste der Mann noch einmal in den Garten steigen. Er machte sich also in der Abenddämmerung wieder hinab, als er aber die Mauer herabgeklettert war, erschrak er gewaltig, denn er sah die Zauberin vor sich stehen.
»Wie kannst du es wagen«, sprach sie mit zornigem Blick, »in meinen Garten zu steigen und wie ein Dieb mir meine Rapunzeln zu stehlen? Das soll dir schlecht bekommen.«
»Ach«, antwortete er, »lasst Gnade für Recht ergehen, ich habe mich nur aus Not dazu entschlossen: Meine Frau hat eure Rapunzeln aus dem Fenster erblickt, und empfindet ein so großes Gelüsten, dass sie sterben würde, wenn sie nicht davon zu essen bekäme.«
Da ließ die Zauberin in ihrem Zorne nach und sprach zu ihm: »Verhält es sich so, wie du sagst, so will ich dir gestatten Rapunzeln mitzunehmen, so viel du willst, allein ich mache eine Bedingung: Du musst mir das Kind geben, das deine Frau zur Welt bringen wird. Es soll ihm gut gehen, und ich will für es sorgen wie eine Mutter.«
Der Mann sagte in der Angst alles zu, und als die Frau in Wochen kam, so erschien sogleich die Zauberin, gab dem Kinde den Namen Rapunzel und nahm es mit sich fort.
Rapunzel ward das schönste Kind unter der Sonne. Als es zwölf Jahre alt war, schloss es die Zauberin in einen Turm, der in einem Walde lag und weder Treppe noch Türe hatte, nur ganz oben war ein kleines Fensterchen. Wenn die Zauberin hineinwollte, so stellte sie sich unten hin, und rief:
»Rapunzel, Rapunzel,
lass mir dein Haar herunter.«
Rapunzel hatte lange prächtige Haare, fein wie gesponnen Gold. Wenn sie nun die Stimme der Zauberin vernahm, so band sie ihre Zöpfe los, wickelte sie oben um einen Fensterhaken, und dann fielen die Haare zwanzig Ellen tief herunter, und die Zauberin stieg daran hinauf.
Nach ein paar Jahren trug es sich zu, dass der Sohn des Königs durch den Wald ritt und an dem Turm vorüberkam. Da hörte er einen Gesang, der war so lieblich, dass er stillhielt und horchte. Das war Rapunzel, die in ihrer Einsamkeit sich die Zeit damit vertrieb, ihre süße Stimme erschallen zu lassen. Der Königssohn wollte zu ihr hinaufsteigen und suchte nach einer Türe des Turms, aber es war keine zu finden. Er ritt heim, doch der Gesang hatte ihm so sehr das Herz gerührt, dass er jeden Tag hinaus in den Wald ging und zuhörte. Als er einmal so hinter einem Baum stand, sah er, dass eine Zauberin herankam und hörte wie sie hinaufrief:
»Rapunzel, Rapunzel,
lass dein Haar herunter.«
Da ließ Rapunzel die Haarflechten herab, und die Zauberin stieg zu ihr hinauf. »Ist das die Leiter, auf welcher man hinaufkommt, so will ich auch einmal mein Glück versuchen.« Und den folgenden Tag, als es anfing dunkel zu werden, ging er zu dem Turme und rief:
»Rapunzel, Rapunzel,
lass dein Haar herunter.«
Alsbald fielen die Haare herab und der Königssohn stieg hinauf.
Anfangs erschrak Rapunzel gewaltig, als ein Mann zu ihr hereinkam, wie ihre Augen noch nie einen erblickt hatten, doch der Königssohn fing an ganz freundlich mit ihr zu reden und erzählte ihr, dass von ihrem Gesang sein Herz so sehr sei bewegt worden, dass es ihm keine Ruhe gelassen, und er sie selbst habe sehen müssen.
Da verlor Rapunzel ihre Angst, und als er sie fragte, ob sie ihn zum Manne nehmen wollte, und sie sah, dass er jung und schön war, so dachte sie: »Der wird mich lieber haben als die alte Frau Gothel«, und sagte ja und legte ihre Hand in seine Hand.
Sie sprach: »Ich will gerne mit dir gehen, aber ich weiß nicht, wie ich herabkommen kann. Wenn du kommst, so bring jedes Mal einen Strang Seide mit, daraus will ich eine Leiter flechten und wenn die fertig ist, so steige ich herunter und du nimmst mich auf dein Pferd.«
Sie verabredeten, dass er bis dahin alle Abend zu ihr kommen sollte, denn bei Tag kam die Alte. Die Zauberin merkte auch nichts davon, bis einmal Rapunzel anfing und zu ihr sagte: »Sag sie mir doch, Frau Gothel, wie kommt es nur, sie wird mir viel schwerer heraufzuziehen, als der junge Königssohn, der ist in einem Augenblick bei mir.«
»Ach du gottloses Kind«, rief die Zauberin, »was muss ich von dir hören, ich dachte, ich hätte dich von aller Welt geschieden, und du hast mich doch betrogen!«
In ihrem Zorne packte sie die schönen Haare der Rapunzel, schlug sie ein paar Mal um ihre linke Hand, griff eine Schere mit der rechten, und ritsch, ratsch, waren sie abgeschnitten, und die schönen Flechten lagen auf der Erde. Und sie war so unbarmherzig, dass sie die arme Rapunzel in eine Wüstenei brachte, wo sie in großem Jammer und Elend leben musste.
Denselben Tag aber, wo sie Rapunzel verstoßen hatte, machte abends die Zauberin die abgeschnittenen Flechten oben am Fensterhaken fest, und als der Königssohn kam und rief:
»Rapunzel, Rapunzel,
lass dein Haar herunter«,
so ließ sie die Haare hinab. Der Königssohn stieg hinauf, aber er fand oben nicht seine liebste Rapunzel, sondern die Zauberin, die ihn mit bösen und giftigen Blicken ansah.
»Aha«, rief sie höhnisch, »du willst die Frau Liebste holen, aber der schöne Vogel sitzt nicht mehr im Nest und singt nicht mehr, die Katze hat ihn geholt und wird dir auch noch die Augen auskratzen. Für dich ist Rapunzel verloren, du wirst sie nie wieder erblicken.«
Der Königssohn geriet außer sich vor Schmerz, und in der Verzweiflung sprang er den Turm herab: Das Leben brachte er davon, aber die Dornen, in die er fiel, zerstachen ihm die Augen. Da irrte er blind im Walde umher, aß nichts als Wurzeln und Beeren, und tat nichts als jammern und weinen über den Verlust seiner liebsten Frau. So wanderte er einige Jahre im Elend umher und geriet endlich in die Wüstenei, wo Rapunzel mit den Zwillingen, die sie geboren hatte, einem Knaben und Mädchen, kümmerlich lebte. Er vernahm eine Stimme, und sie däuchte ihn so bekannt: Da ging er darauf zu, und wie er herankam, erkannte ihn Rapunzel und fiel ihm um den Hals und weinte. Zwei von ihren Tränen aber benetzten seine Augen, da wurden sie wieder klar, und er konnte damit sehen wie sonst. Er führte sie in sein Reich, wo er mit Freude empfangen ward, und sie lebten noch lange glücklich und vergnügt.
Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab, da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee. Und weil das Rote im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich: »Hätt ich ein Kind so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen.« Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz und ward darum das Schneewittchen (Schneeweißchen) genannt. Und wie das Kind geboren war, starb die Königin.
Über ein Jahr nahm sich der König eine andere Gemahlin. Es war eine schöne Frau, aber sie war stolz und übermütig und konnte nicht leiden, dass sie an Schönheit von jemand sollte übertroffen werden. Sie hatte einen wunderbaren Spiegel, wenn sie vor den trat und sich darin beschaute, sprach sie:
»Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?«
So antwortete der Spiegel:
»Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land.«
Da war sie zufrieden, denn sie wusste, dass der Spiegel die Wahrheit sagte.
Schneewittchen aber wuchs heran und wurde immer schöner, und als es sieben Jahr alt war, war es so schön wie der klare Tag und schöner als die Königin selbst. Als diese einmal ihren Spiegel fragte:
»Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?«
So antwortete er:
»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr.«
Da erschrak die Königin und ward gelb und grün vor Neid. Von Stund an, wenn sie Schneewittchen erblickte, kehrte sich ihr das Herz im Leibe herum, so hasste sie das Mädchen. Und der Neid und Hochmut wuchsen wie ein Unkraut in ihrem Herzen immer höher, dass sie Tag und Nacht keine Ruhe mehr hatte.