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Meines Vaters Familienname war Pirrip und mein eigener Taufname Philipp, eine Zusammenstellung, aus der meine Kinderzunge nichts Längeres oder Deutlicheres als Pip zu machen im Stande war. Ich nannte mich also Pip und wurde von aller Welt Pip genannt. Ich nenne Pirrip als den Familiennamen meines Vaters auf die Verantwortung seines Grabsteines und meiner Schwester, der Frau Joe Gargery, welche einen Schmied geheirathet hatte. Da ich meinen Vater und meine Mutter nie gesehen hatte und keine Portraits von ihnen besaß (denn sie lebten lange vor der Periode der Photographie), so bildete ich mir meine ersten Ideen über sie, sehr unverständigerweise, nach ihren Grabsteinen. Die Form der Buchstaben auf dem Leichensteine meines Vaters ließ mich auf den seltsamen Gedanken kommen, daß er ein stämmiger, starker, brünetter Mann mit krausem, schwarzem Haare gewesen. Aus der Beschaffenheit der Inschrift: » Und Georgiana, Ehefrau des Obengenannten«, zog ich den kindischen Schluß, daß meine Mutter sommersprossig und kränklich gewesen. Fünf kleine Steinplatten, jede etwa anderthalb Fuß lang, lagen alle in einer zierlichen Reihe neben dem Grabe der Mutter und waren dem Andenken fünf kleiner Brüder von mir gewidmet, welche sich ungemein früh von dem allgemeinen Kampfe um die Existenz zurückgezogen. Diesen kleinen Steinen danke ich den Glauben, die Brüderchen wären alle auf dem Rücken liegend und mit den Händen in ihren Hosentaschen geboren worden, aus denen sie dieselben während ihrer irdischen Wallfahrt niemals herausgenommen.
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Seitenzahl: 153
Charles Dickens
Grosse Erwartungen - Erster Theil
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Erstes Kapitel. Eine Jugendbekanntschaft.
Zweites Kapitel. Eine Familienscene.
Drittes Kapitel. Das Zusammentreffen auf der Batterie.
Viertes Kapitel. Die Wache kommt.
Fünftes Kapitel. Die Sträflingsjagd.
Sechstes Kapitel. Eine böse Nacht.
Siebentes Kapitel. Vertrauliche Abendunterhaltungen.
Achtes Kapitel. Ein Schritt vorwärts im Leben.
Neuntes Kapitel. Reuige Bekenntnisse.
Zehntes Kapitel. Der seltsame Fremde.
Impressum neobooks
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Meines Vaters Familienname war Pirrip und mein eigener Taufname Philipp, eine Zusammenstellung, aus der meine Kinderzunge nichts Längeres oder Deutlicheres als Pip zu machen im Stande war. Ich nannte mich also Pip und wurde von aller Welt Pip genannt.
Ich nenne Pirrip als den Familiennamen meines Vaters auf die Verantwortung seines Grabsteines und meiner Schwester, der Frau Joe Gargery, welche einen Schmied geheirathet hatte. Da ich meinen Vater und meine Mutter nie gesehen hatte und keine Portraits von ihnen besaß (denn sie lebten lange vor der Periode der Photographie), so bildete ich mir meine ersten Ideen über sie, sehr unverständigerweise, nach ihren Grabsteinen. Die Form der Buchstaben auf dem Leichensteine meines Vaters ließ mich auf den seltsamen Gedanken kommen, daß er ein stämmiger, starker, brünetter Mann mit krausem, schwarzem Haare gewesen. Aus der Beschaffenheit der Inschrift: » Und Georgiana, Ehefrau des Obengenannten«, zog ich den kindischen Schluß, daß meine Mutter sommersprossig und kränklich gewesen. Fünf kleine Steinplatten, jede etwa anderthalb Fuß lang, lagen alle in einer zierlichen Reihe neben dem Grabe der Mutter und waren dem Andenken fünf kleiner Brüder von mir gewidmet, welche sich ungemein früh von dem allgemeinen Kampfe um die Existenz zurückgezogen. Diesen kleinen Steinen danke ich den Glauben, die Brüderchen wären alle auf dem Rücken liegend und mit den Händen in ihren Hosentaschen geboren worden, aus denen sie dieselben während ihrer irdischen Wallfahrt niemals herausgenommen.
Wir wohnten in der Marschgegend am Flusse, mit den Biegungen des Stromes etwa zwanzig englische Meilen von der See entfernt. Den ersten lebhaften und umfassendsten Eindruck von der Wirklichkeit der Dinge glaube ich an einem denkwürdigen kalten Nachmittage empfangen zu haben. Damals – es war ziemlich gegen Abend – entdeckte ich mit Gewißheit, daß dieser öde, mit Nesseln überwachsene Platz der Kirchhof sei; daß Philipp Pirrip, weiland Mitglied dieses Sprengels, und Georgiana, Ehefrau des Obengenannten, todt und begraben waren; daß Alexander, Bartholomäus, Abraham, Tobias und Roger, Kinder des Obengenannten, dasselbe Schicksal erlitten hatten; daß die unwirthliche, flache Ebene jenseit des Kirchhofs, welche – von Gräben, Dämmen und Schleusen durchschnitten – zerstreuten Viehheerden zur Weide diente, die Marschen seien; daß die niedrige, bleifarbene Linie der Fluß; daß die ferne, wilde Wüste, aus welcher der Wind herüberbrauste, das Meer, und daß das kleine schaudernde Ding, das sich vor allem Diesen zu fürchten und deshalb zu weinen anfing, Pip war.
»Laß Dein Heulen!« rief eine schreckliche Stimme, und ein Mann sprang zwischen den Gräbern neben dem Vorhäuschen der Kirche empor. »Sei still, Du kleiner Satan, oder ich schneide Dir den Hals ab!«
Ein fürchterlicher Mann, ganz in einen groben, grauen Stoff gekleidet und mit einem großen Eisen am Beine. Ein Mann ohne Hut, mit zerrissenen Schuhen an den Füßen und einem alten Lumpen um den Kopf. Ein Mann, der von Wasser durchnäßt, mit Schlamm bedeckt, von Steinen gelähmt und geritzt, von Nesseln gebrannt und von Dornen zerstochen war, welcher hinkte und zitterte und stierte und brummte, und dem die Zähne im Munde klapperten, als er mich beim Kragen faßte.
»O! schneiden Sie mir nicht den Hals ab, Sir,« flehte ich voll Schrecken; »bitte, thun Sie es nicht, Sir.«
»Wie heißt Du?« sagte der Mann. »Schnell!«
»Pip, Sir.«
»Noch ein Mal,« sagte der Mann, mich anstierend. »Heraus damit!«
»Pip, Pip, Sir.«
»Zeig uns, wo Du wohnst,« sagte der Mann. »Zeig uns den Ort!«
Ich deutete nach unserm Dorfe hin, das landeinwärts in der Ebene zwischen den Erlenbäumen und Weiden wohl etwas über eine Viertelstunde von der Kirche lag.
Der Mann kehrte mich, nachdem er mich einen Augenblick betrachtet, unterst zu oberst und visitirte meine Taschen. Es fand sich in denselben nichts, als ein Stück Brod. Als die Kirche wieder feststand – denn der Mann war so flink und so stark, daß er sie vor mir einen Purzelbaum schießen ließ, wobei ich den Thurm zwischen meinen Beinen erblickte – als, wie gesagt, die Kirche wieder feststand, saß ich zitternd auf einem hohen Grabsteine, während der Fremde gierig das Brod verzehrte.
»Du junger Hund Du,« sagte der Mann, mit den Lippen schmatzend, »was Du für dicke Backen hast.«
Ich glaube, ich hatte dicke Backen, obgleich ich damals nur klein für meine Jahre und nicht sehr kräftig war.
»Ich will gehängt sein, wenn ich sie nicht essen könnte,« sagte der Mann, indem er drohend den Kopf schüttelte, »und ob ich nicht fast Lust dazu habe.«
Ich sprach die ernstliche Hoffnung aus, daß er es nicht thun werde, und klammerte mich fester an den Grabstein, theils um mich darauf zu erhalten, theils um das Weinen zu unterdrücken.
»Jetzt hör mich an!« sagte der Mann. »Wo ist Deine Mutter?«
»Da, Sir!« sagte ich.
Er sprang auf, rannte eine kurze Strecke fort, stand still und blickte über seine Schulter zurück.
»Da, Sir!« erklärte ich furchtsam. »›Und Georgiana‹ – lesen Sie. Das ist meine Mutter.«
»O!« sagte er zurückkommend. »Und ist das Dein Vater, da neben Deiner Mutter?«
»Ja, Sir,« sagte ich; »das ist er; weiland aus diesem Sprengel.«
»Ha!« murmelte er nachdenklich vor sich hin. »Bei wem lebst Du – gesetzt, ich bin so gut, Dich leben zu lassen, was noch gar nicht ausgemacht ist!«
»Bei meiner Schwester, Sir, Missis Joe Gargery, – Frau von Joe Gargery, dem Schmied, Sir.«
»Schmied, wie?« sagte er und blickte auf seine Beine herab.
Nachdem er mehre Male finster bald mich und bald sein Bein angeblickt, trat er näher an meinen Grabstein heran, faßte mich bei beiden Armen und kippte mich so weit wie möglich hintenüber, so daß seine Augen auf das gewaltigste in die meinigen und meine Augen auf das hülfloseste in die seinigen schauten.
»Jetzt hör mich an,« sagte er, »es handelt sich drum, ob Du am Leben bleiben sollst, oder nicht. Weißt Du, was 'ne Feile ist?«
»Ja, Sir.«
»Und was Lebensmittel sind?«
»Ja. Sir.«
Nach jeder Frage kippte er mich tiefer hintenüber, um mir ein tieferes Gefühl der Hülflosigkeit und Gefahr zu geben.
»Du wirst mir eine Feile bringen;« hier kippte er mich hintenüber. »Und wirst mir Lebensmittel bringen.« Er kippte mich wieder. »Du wirst beides zu mir bringen.« Er kippte mich abermals. »Oder ich will Dir Herz und Leber ausreißen.« Er kippte mich zum vierten Male.
Mir wurde entsetzlich bange und so schwindelig, daß ich mich mit beiden Händen an ihn anklammerte und sagte:
»Wenn Sie wohl so gut sein wollten, Sir, und mich aufrecht sitzen lassen, da würde mir vielleicht nicht übel werden und da könnte ich vielleicht besser aufpassen.«
Er kippte mich noch einmal ganz furchtbar hintenüber, so daß die Kirche einen Satz über ihren eignen Wetterhahn machte. Dann stellte er mich aufrecht auf den kleinen Stein, hielt mich bei beiden Armen fest und fuhr auf folgende entsetzliche Weise fort:
»Du wirst mir morgen in aller Frühe die Feile und die Lebensmittel bringen, Du wirst mir beides nach der alten Batterie hintragen. Dies wirst Du thun und Dich niemals unterstehen, ein Wort davon zu sagen, oder nur durch ein Zeichen zu verrathen, daß Du Jemand wie mich, oder überhaupt Jemand gesehen hast, und dann sollst Du am Leben bleiben. Falls Du es nicht thust, oder auch nur in dem kleinsten Stücke, wie gering es auch sein mag, von meinen Worten abweichst, so wird man Dir Herz und Leber ausreißen, sie braten und aufessen. Ich bin nicht allein, wie Du Dir vielleicht denkst. Es hält sich hier ein junger Mann mit mir versteckt, mit dem verglichen ich ein wahrer Engel bin. Dieser junge Mann hört, was ich sage. Dieser junge Mann versteht es, auf eine heimliche Art und Weise kleinen Jungen und ihren Herzen und Lebern beizukommen. Ein kleiner Junge würde ganz vergebens versuchen, sich vor diesem jungen Manne zu verstecken. Der kleine Junge mag seine Thür verschließen, mag warm im Bette liegen, mag sich noch so fest in seine Bettdecke wickeln, mag sie sogar über den Kopf ziehen, mag glauben, daß er in Gemüthlichkeit und Sicherheit ist – der junge Mann wird sich sachte, sachte zu ihm schleichen und ihm den Bauch aufreißen. Ich halte den jungen Mann in diesem Augenblicke nur mit der größten Mühe davon ab, Dir ein Leid zu thun. Es wird mir sehr schwer, den jungen Mann zu bewegen, Deine Eingeweide in Ruhe zu lassen. Nun, was sagst Du?«
Ich sagte, ich wolle ihm die Feile besorgen, und was ich an Lebensmitteln aufbringen könne, und ihm Beides morgen ganz früh nach der Batterie bringen.
»Sag: Gott straf mich, wenn ichs nicht thue!« sagte der Mann.
Ich sagte es, und dann erst setzte er mich auf die Erde.
»Jetzt,« fuhr er fort, »denk an Das, wozu Du Dich verpflichtet hast, und denk an den jungen Mann, und mach, daß Du nach Hause kommst!«
»Gute Nacht, Sir,« sagte ich zitternd und rannte fort.
»Schöne Aussichten!« sagte er, indem er über die kalte, nasse Ebene hinschaute. »Ich wollt, ich wär 'n Frosch, oder 'n Aal!«
Dabei verschlang er seine Arme, wie wenn er seinen zitternden, schaudernden Körper zusammenhalten wollte, und hinkte der niedrigen Kirchenmauer zu. Als ich ihn dahingehen und seinen Weg suchen sah zwischen den Nesseln und Disteln, welche die kleinen Hügel umgaben, kam es meinen jungen Augen vor, als bemühe er sich, den Händen der Todten auszuweichen, welche diese vorsichtig aus ihren Gräbern herausstreckten, um ihn beim Knöchel zu packen und zu sich herabzuziehen.
Als er an die niedrige Kirchenmauer kam, stieg er wie ein Mann, dessen Beine steif und gelähmt sind, über dieselbe und schaute sich dann nach mir um. Als ich dies sah, wandte ich mich schnell dem heimatlichen Dorfe zu und machte den besten Gebrauch von meinen Beinen. Nach einer kleinen Weile aber blickte ich nochmals über meine Schulter rückwärts und sah ihn wieder mit festverschlungenen Armen dem Flusse zuschreiten, wobei er mit seinen wunden Füßen sich den Weg zwischen den großen Steinen aussuchte, welche man hier und dort auf den Marschen hingeworfen, damit sie in schwerem Regenwetter oder zur Flutzeit als Schrittsteine dienten.
Die Marschen waren, als ich stillstand und ihm nachsah, nichts als eine lange, schwarze, horizontale Linie; der Fluß eine eben solche horizontale Linie, nur lange nicht so breit oder so schwarz, und der Himmel eine Reihe langer, zornig rother und rabenschwarzer Streifen. Am Rande des Flusses vermochte ich noch eben die einzigen beiden dunkeln Gegenstände zu unterscheiden, die in dieser ganzen Aussicht aufrecht zu stehen schienen; der eine derselben war die Feuerbake, nach welcher die Seeleute steuerten – sie sah aus wie eine defecte, auf eine Stange gespießte Tonne – ein häßliches Ding in der Nähe gesehen; der andere ein Galgen, an dem noch die Ketten hingen, in welchen einst ein Pirat gebaumelt hatte. Der Mann humpelte dem Galgen zu, wie wenn er der Pirat gewesen, der wieder aufgelebt, heruntergekommen und jetzt zurückginge, um sich selbst wieder aufzuhängen. Dieser Gedanke verursachte mir ein furchtbares Entsetzen, und als ich sah, wie das Vieh die Köpfe aufrichtete, um dem Fremden nachzublicken, erging ich mich in Muthmaßungen, ob es wohl denselben Gedanken habe. Ich schaute mich rings nach dem schrecklichen jungen Manne um, konnte aber nirgend eine Spur von ihm erblicken. Jetzt aber fing mirs wieder an zu grauen, und ich rannte, ohne mich ferner aufzuhalten, nach Hause.
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Meine Schwester, Frau Joe Gargery, war über zwanzig Jahre älter als ich und stand bei sich selbst und bei den Nachbarn in dem hohen Rufe, mich »durch die Hand« aufgefüttert zu haben. Da ich zu jener Zeit für eine Erklärung dieses Ausdrucks auf mich selbst angewiesen war, und da ich wußte, daß sie eine harte und schwere Hand besaß, die sie gewohnt war, ihren Mann sowohl als mich ziemlich oft fühlen zu lassen, kam ich zu dem Schlusse, daß Joe Gargery und ich, Beide durch die Hand aufgezogen waren.
Meine Schwester war keine hübsche Frau, und ich hatte eine unbestimmte Idee, daß sie Joe Gargery »durch die Hand« vermocht haben mußte, sie zu heirathen. Joe war ein blonder Mann mit flachsfarbenen Locken zu beiden Seiten seines glatten Gesichts und mit Augen von einem so hellen Blau, daß sie mit ihrem eigenen Weiß zusammenzulaufen schienen. Er war ein sanfter, gutmüthiger, freundlicher, gemüthlicher, närrischer, lieber Kerl – ein Art Hercules an Kraft, und auch an Schwäche.
Meine Schwester, Frau Joe, mit schwarzem Haar und schwarzen Augen, hatte eine so vorherrschend rothe Haut, daß ich oft die Vermuthung hegte, sie wasche sich, anstatt sich der Seife zu bedienen, mit einer Feile. Sie war eine große, knochige Gestalt und trug fast immer eine grobe Schürze, welche hinten durch zwei Schleifen zusammengehalten wurde und vorn einen viereckigen, unnahbaren Latz hatte, der beständig voller Näh- und Stecknadeln stak. Sie machte es sich selbst zu einem gewaltigen Verdienst und Joe zu einem großen Vorwurfe, daß sie immer diese Schürze trug; – obgleich ich eigentlich gar keinen Grund sehe, weshalb sie dieselbe überhaupt hätte tragen sollen; oder warum sie die Schürze, wenn sie sie wirklich trug, nicht jeden Tag hätte ablegen können.
Joe's Schmiede grenzte an unser Haus, welches von Holz war, wie zu jener Zeit viele Häuser in unserer Gegend, fast alle. Als ich vom Kirchhofe nach Hause gerannt kam, war die Schmiede zugeschlossen und Joe saß allein in der Küche. Da Joe und ich Leidensgefährten waren und als solche einander gegenseitiges Vertrauen schenkten, so machte er mir, sowie ich die Thür öffnete und nach der Stelle hinschaute, an der er saß – am Kamine nämlich, der Thür gegenüber – eine vertraute Mittheilung.
»Missis Joe ist wohl ein Dutzend Mal draußen gewesen, um Dich zu suchen, Pip. Und jetzt ist sie wieder 'naus, ums Bäckerdutzend voll zu machen,«
»Wahrhaftig?«
»Ja, Pip,« sagte Joe, »und was noch schlimmer ist, sie hat den ›faulen Peter‹ mitgenommen.«
Bei dieser betrübenden Nachricht begann ich den einzigen Knopf an meiner Weste um und um zu drehen und mit großer Bekümmerniß ins Feuer zu blicken. Der faule Peter war ein Rohrstock, der durch die häufige Berührung mit meinem armen Körper bereits blank und glatt geworden.
»Sie setzt sich,« sagte Joe, »und sie steht wieder auf, und packt Petern und dann klabastert sie 'naus. Das that sie«, sagte Joe, indem er langsam zwischen den beiden untersten Eisenstäben das Feuer lichtete und es aufmerksam betrachtete: »sie klabasterte 'naus, Pip.«
»Ist sie schon lange fort, Joe?« Ich behandelte ihn stets wie eine größere Art von Kind und wie nicht mehr als Meinesgleichen.
»Je nun,« sagte Joe, nach der Wanduhr hinaufblickend, »sie ist dies letzte Mal wohl schon seit fünf Minuten 'naus klabastert, Pip. Sie kommt! Hinter die Thür, alter Junge, und halt Dir das Handtuch vor!
Ich befolgte seinen Rath. Meine Schwester, Frau Joe, welche die Thür weit öffnete und ein Hinderniß dahinter fühlte, errieth augenblicklich, worin dasselbe bestand, und benutzte Petern zur näheren Untersuchung desselben. Sie endete damit, daß sie mich Joe zuwarf – ich diente ihr häufig als eheliches Wurfstück – welcher, froh, unter irgend welchen Bedingungen meiner habhaft zu werden, mich in den Kamin schob und mit seinem großen Beine eine Schutzmauer vor mir machte.
»Wo bist Du gewesen, Du Fratz Du?« sagte Frau Joe mit dem Fuße stampfend. »Sag mir augenblicklich, was Du gemacht hast, um mich wieder einmal zu Tode zu ängstigen und zu ärgern, oder ich will Dich schon aus dem Kamin herauskriegen, und wenn fünfzig Pipse und fünfhundert Gargerys mich hindern wollten.«
»Ich bin bloß auf dem Kirchhofe gewesen,« sagte ich von meinem Winkel aus, indem ich weinend meinen geschlagenen Körper rieb.
»Aufm Kirchhof!« rief meine Schwester aus. »Ja, wäre ich nicht gewesen, so wärst Du längst aufm Kirchhof und bliebst auch dort. Wer hat Dich mit der Hand aufgefüttert?«
»Du,« sagte ich.
»Und warum hab ich es gethan, das möcht ich wissen!« fuhr meine Schwester fort.
»Das weiß ich nicht,« winselte ich.
»Und ich ganz und gar nicht!« sagte meine Schwester. »Ich würd's nicht zum zweiten Male thun. Das weiß ich. Ich kann mit Wahrheit sagen, daß ich, seit Du geboren bist, diese Schürze nicht mehr abgelegt habe. Es ist schon schlimm genug, eine Schmiedsfrau zu sein (und noch dazu eines Gargery), ohne auch noch Deine Mutter sein zu müssen.«
Meine Gedanken wanderten von dieser Frage ab, als ich kummervoll ins Feuer blickte. Denn in der wechselnden Glut der Kohlen erhob sich vor den Augen meines Geistes der Flüchtling in den Marschen mit dem Eisen am Beine, der geheimnißvolle junge Mann, die Feile, die Lebensmittel und das furchtbare Gelübde, dem ich mich unterzogen: in diesen schützenden Mauern einen Diebstahl zu begehen.
»Ja!« sagte Frau Joe, indem sie Petern seinem Nagel zurückgab. »Aufm Kirchhof! Ihr habt ganz recht, Ihr Beide, wenn Ihr vom Kirchhofe sprecht! (Einer von uns hatte, beiläufig gesagt, desselben gar nicht erwähnt.) Ihr werdet mich noch früh genug dahin bringen, Ihr Beide, und o, ein net–t–tes Paar werdet Ihr abgeben, ohne mich!«
Da sie mit dem Ordnen des Theegeschirres beschäftigt war, sah Joe über sein Bein auf mich herab, wie wenn er sich im Stillen eine Berechnung mache, welch eine Art von Paar wir Beide unter den soeben geweissagten schmerzlichen Umständen wohl in Wirklichkeit abgeben würden. Darauf saß er da und spielte mit seinem Barte und seiner rechten Flachslocke und folgte Frau Joes Bewegungen mit seinen blauen Augen, wie es bei stürmischem Wetter seine Gewohnheit war.