9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Der SPIEGEL Nr.1-Bestseller jetzt im Taschenbuch In seinem zehnten Fall bekommt es der Eberhofer mit brutalen Geldeintreibern, einem gut getarnten Mord und einem bockigen Birkenberger zu tun. Dabei könnte er sich so schön feiern lassen zum Dienstjubiläum. Stattdessen muss er sich jetzt darum kümmern, dass den Verfolgern vom Lotto-Otto so rasch wie möglich das Handwerk gelegt wird. Doch noch bevor er die Sache in Angriff nehmen kann, geht der Lotto-Laden in die Luft – und der Eberhofer hat nun auch noch einen Mordfall am Hals.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 369
Rita Falk
Guglhupfgeschwader
Ein Provinzkrimi
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Dieses ganz besondere Buch
möchte ich ganz besonderen Menschen widmen.
Nämlich meiner Familie.
Ihr seid die Basis von allem.
»Ausgerechnet der Eberhofer! Ha, unser Dorfsheriff«, kann ich unseren Bürgermeister schon brüllen hören, da hab ich noch nicht mal den Motor abgestellt. Und ich vermute mal, dass es meine Wenigkeit ist, wegen der er hier so brüllt. »Den soll doch bitteschön der Blitz beim Scheißen treffen«, fährt er fort, und auch das klingt keinesfalls besser.
Was ist denn da schon wieder los?
Unser Rathaus, das steht mitten im Dorf, muss man wissen. Und neben mir selbst sind bereits ein paar weitere Mitbürger unterwegs, die nun ebenfalls durch die offenen Fenster hindurch in den Genuss dieser Schimpfereien kommen. Da wir Eingeborene uns untereinander ja fast alle kennen, ernte ich jetzt den einen oder anderen Blick aufrichtiger Anteilnahme.
Was hat der denn bloß für eine beschissene Laune, unser werter Ortsvorstand? Und das an einem so wunderbaren Herbsttag, wo dir die Sonne schon quasi frontal durch die Windschutzscheibe knallt. Aber wurst. Welche Laus auch immer dem seine Leber heute gekreuzt hat, das will ich gar nicht erst wissen. Drum vielleicht am besten noch mal kurz weg von hier und ihn durchschnaufen lassen. Nicht, dass ich da am Ende durch meine bloße Anwesenheit noch weiter Öl ins Feuer gieße, gell.
Also: Rückwärtsgang rein und aufs Gaspedal treten. Mal sehen, da könnt ich ja schnell zum Lotto-Otto rüberfahren und mir eine Zeitung holen. Weil die, wo wir im Rathaus drin haben, die liegt saudummerweise immer zuerst ausgerechnet eben beim Bürgermeister, und da kann ich ja aus den bekannten Gründen zumindest im Augenblick nicht ran. Im Anschluss könnt ich dann noch einen klitzekleinen Abstecher beim Metzger meines Vertrauens machen und mir die aktuellen Tagesangebote anschauen. Ja, das wär doch gar nicht so schlecht. Jetzt aber läutet mein Telefon, und die Susi ist dran.
»Du kannst wieder umdrehen, Franz«, vernehm ich ihre Stimme. »Er hat dich eh durchs Fenster gesehen.«
»Echt?«, frag ich, während ich vor dem Lottoladen einpark. »Was hat er denn heut, unser kleines Rumpelstilzchen?«
»Rumpelstilzchen?«, plärrt mir aber nun der Bürgermeister himself in den Hörer, und zwar so dermaßen laut, dass ich den direkt von mir weghalten muss, den Hörer eben. »Eberhofer, ich warne Sie! Sie bewegen jetzt freundlicherweise und prontissimo Ihren verdammten Arsch Richtung Rathaus und gehen gefälligst Ihrer Arbeit nach. Immerhin werden Sie dafür bezahlt. Außerdem ist es schon drei viertel neun, und wenn mich meine Erinnerungen nicht trügen, sollte Ihr Dienst pünktlich um acht beginnen. Haben Sie mich verstanden?«
Sicherlich hätte ich das alles auch komplett ohne Telefonapparat hören können. Und ich muss sagen, ich finde es zumindest beachtlich, dass er diese ganze Ansage gemacht hat, ohne dabei auch nur ein einziges Mal Luft zu holen.
»Sinds recht schlecht gelaunt heut?«, frag ich und öffne die Ladentür. Er antwortet nicht, stattdessen hör ich ihn atmen. Wahrscheinlich hat er sich doch ein bisschen übernommen bei der ganzen Brüllerei grad.
»Franz, ich glaub, es ist besser, wennsd jetzt gleich herkommst«, ist nun wieder die Susi in der Leitung, und sie klingt ehrlich ein bisschen besorgt.
»Bin ja schon unterwegs«, geb ich zurück und schnapp mir dabei die Tageszeitung vom Ständer. Leg mein Geld auf den Tresen und zwinkere dabei der Nicole zu, also praktisch dem Lotto-Otto seiner Mama. Wobei man vielleicht sagen sollte, dass der Lotto-Otto in Wahrheit gar nicht Otto heißt, sondern Oscar. Aber weil er nun mal mit seiner Mama den Lottoladen hat, heißt er bei uns im Ort eben Lotto-Otto. Klingt ja auch besser. Das scheint mittlerweile sogar die Nicole eingesehen zu haben.
»Im Jackpot sind siebzehn Millionen«, sagt sie, während sie mein Kleingeld in die Kasse zählt.
»Ich hab schon den Jackpot, Nicole«, sag ich beim Rausgehen. »Mein ganzes Leben ist ein einziger Jackpot.«
Ein paar Häuser weiter hol ich mir beim Simmerl zwei Paar Wiener mit Brezen, und dabei erfahr ich, dass sich die arme Gisela den großen Zeh gebrochen hat.
»Sauber, wie hat sie denn das angestellt?«, will ich dann freilich wissen, und der Simmerl zuckt mit den fleischigen Schultern.
»Beim Tanzen«, antwortet er, hat dabei aber einen eher abfälligen Unterton drauf.
»Die Gisela tanzt?«, frag ich weiter, weil mir eine tanzende Gisela grad gar nicht in den Kopf gehen will. »Ja, was tanzt sie denn so?«
»Tango.«
»Tango? Ja, da schau einer an. Das kann ich mir irgendwie so gar nicht vorstellen.«
»Ich mir auch nicht«, entgegnet der Gatte, während er über die Auslage wischt.
»Und … ja, wie lang macht sie das denn schon so?«
»Keine Ahnung. Seit drei oder vier Wochen vielleicht. Seit eben dieser depperte Kurs angefangen hat. Weißt schon, so einer halt bei der VHS. Der Tangolehrer ist übrigens ein Argentinier. Und zweiunddreißig Jahre alt.«
»Sag mal, Simmerl, kann das sein, dass du eifersüchtig bist, oder was?«, muss ich jetzt wissen.
»Das darfst du glauben! Aber so was von!«
»Simmerl, ich glaub, da musst du dir echt keine Sorgen machen. Also jetzt nicht falsch verstehen, aber ehrlich, deine Gisela und ein zweiunddreißigjähriger argentinischer Tangolehrer, ich weiß nicht recht …«
»Du Depp! Ich bin doch nicht eifersüchtig, dass der Tangolehrer was mit meiner Gisela hat. Ich bin eifersüchtig, weil er eben ein zweiunddreißigjähriger argentinischer Tangolehrer ist und nicht ein bayrischer Metzger, der auf die fuchzig zurast. Und der daheim eine dicke Frau mit gebrochenem Zeh rumhocken hat und einen erwachsenen Sohn mit einem riesigen Dachschaden.«
Gut, das ist dann schon wieder was anderes.
Weil die Stimmung jetzt hier auch nicht so der Knaller ist, verabschiede ich mich und geh zum Wagen zurück. Kaum bin ich eingestiegen, seh ich, dass die Susi zwischenzeitlich viermal angerufen hat, während ich über die Befindlichkeiten unseres dorfeigenen Metzgerpaars aufgeklärt wurde. Allerhand. Wirklich.
Kurz darauf aber latsche ich dann auch schon den Rathausflur entlang und versuch mir dabei so rein mental eine positive Ausstrahlung einzureden. Immerhin sollte die Stimmung ja nicht ganz in den Keller rutschen, wenn man auf so engem Raum zusammenarbeiten muss, wie wir es hier im Rathaus tun. Weil eben nicht nur der Bürgermeister samt Gesinde in diesen Mauern residiert, sondern auch mein eigenes Dienstzimmer dort untergebracht ist.
»Einen wunderschönen guten Morgen, meine Schönheiten«, sag ich gleich, wie ich zur Tür unserer Verwaltungsdamen reinkomm. Doch die Jessy, die hört mich gar nicht erst, weil sie Kopfhörer trägt und wie wild auf ihrer Tastatur rumtrommelt. Und die Susi sagt nur, es wird auch langsam Zeit, dass ich komme. Und ob ich eigentlich glaub, sie hätte nix Besseres zu tun, als stundenlang hinter mir her zu telefonieren. Dabei wirkt sie ziemlich genervt und macht auch nicht den süßen Schmollmund, den sie sonst immer macht, wenn sie auf mich sauer ist und der ihr so unglaublich gut steht. Nein, heute ist ihr Gesichtsausdruck irgendwo zwischen überfordert und ratlos. Schade. Grad wo wir so ein wahnsinnig entspanntes Wochenende hatten, wir beide.
Hallo, was war das? Hat sie mir jetzt gegen das Schienbein getreten? Ja, geht’s noch, oder was? Doch noch bevor ich überhaupt zurück treten kann, tupft mir jemand von hinten auf die Schulter. Und ja, man hätte es fast erwarten können, es ist unser Bürgermeister, und auch seine Gesichtszüge sind nicht wirklich entspannt.
»Haben wir es doch noch geschafft, Eberhofer! Gratuliere! Ja, das beruhigt mich unglaublich. Hätte ja durchaus auch sein können, dass Sie sich neben der Tageszeitung und Ihrer gottverdammten Brotzeit womöglich gleich noch ein neues Auto hätten kaufen müssen, nicht wahr? Oder vielleicht eine kleine Weltreise buchen«, zischt es aus ihm hervor, und in seinen Mundwinkeln sammelt sich Spucke. Das ist nicht schön.
»Nein, nein. Kein Auto, keine Reise. Und wo sollte ich auch hinreisen, gell«, sag ich nur knapp, weil mir weiter nix einfällt, doch auch das scheint ihn nicht recht zu beruhigen. Stattdessen kommt er nun bedrohlich dicht an mich ran und beginnt, mit seinem Zeigefinger auf meiner Brust rumzutrommeln. Wenn er jetzt weiterspricht, dann spuckt er mich an. Jede Wette. So bleibt mir praktisch gar nix anderes übrig, als mal einen Schritt nach hinten zu gehen und nach seinem pochenden Finger zu greifen.
»Was haben wir denn eigentlich für ein Problem, Bürgermeister?«, frag ich, und dabei fällt mir auf, dass ich mit ihm rede, wie ich es mit dem Paul immer tu, wenn er quengelt.
»Franz, lass es dir vielleicht kurz erklären«, versucht nun die Susi von der Seite her dazwischenzugrätschen. »Wenn Sie erlauben, Bürgermeister …«
»Nein, Frau Gmeinwieser, das erlaube ich nicht. Nicht in diesem Fall. Das mach ich schon sehr gerne selber. Wissens was, Eberhofer … Wissens, was mich am meisten ankotzt?«
»Nein, aber Sie werden’s mir sicher gleich sagen.«
»Ja, das werd ich. Am meisten kotzt mich an, dass ich mir für dieses verdammte Scheißkaff seit Jahrzehnten die Haxen ausreiß. Und dass ich für jedes noch so popelige Problemchen und Wehwehchen unserer depperten Mitbürger Tag und Nacht und immer und überall ein offenes Ohr hab und aufpass wie ein Haftlmacher, dass alle hier gern wohnen, sich wohlfühlen und zufrieden sind. Und dann … was passiert dann?«
»Ich weiß es nicht«, entgegne ich wahrheitsgemäß und hoffe inständig, er kommt endlich zum Finale.
»Dann braucht man plötzlich einen Namen für den neuen Kreisverkehr zwischen Frontenhausen und Niederkaltenkirchen. So, und wie soll der am Ende heißen? Na, raten Sie mal, Eberhofer. Ratens!«
»Sie machens aber echt spannend, Bürgermeister«, sag ich und merk dabei, dass ich noch immer seinen Finger in der Hand halte. Den lass ich jetzt lieber los. Was wohl ein Fehler war, wie ich umgehend merke, weil er prompt wieder zu trommeln beginnt.
»›Eberhofer-Kreisel‹ soll der heißen! Ja, da fällt Ihnen auch nix mehr ein. Unser nagelneuer Dings, also praktisch der Kreisverkehr zwischen Frontenhausen und Niederkaltenkirchen, der heißt jetzt ab Mittwoch ganz offiziell ›Eberhofer-Kreisel‹. Da staunens, gell. Ja, ich hab auch gestaunt. Wir alle haben gestaunt. Aber wir haben’s schwarz auf weiß. Frau Gmeinwieser, geh, sinds doch so gut und holens mir schnell dieses unsägliche Anschreiben aus meinem Büro«, sagt er noch so, und schon saust die Susi von dannen. Der Bürgermeister dreht sich ab und fischt ein Taschentuch aus seinem Sakko hervor. Damit tupft er sich zunächst über die Stirn, und anschließend rubbelt er über das ganze Gesicht bis hinter zum Nacken, dass man direkt meinen könnte, er möchte die Haut vom Fleisch abziehen. Die Susi kommt zurück, schaut mir in die Augen, überreicht ihm dann das Schriftstück und streicht kurz über seinen Arm. Er geht zwei Schritte zum Papierkorb rüber, wirft das Tempo weg und widmet sich danach dem Schreiben. Und jetzt, wo er sich wieder umdreht, da kann man es auch schon sehen: zahllose kleine weiße Papierfetzen hängen ihm nun zwischen den Falten, also praktisch überall im Gesicht, wodurch er im Zusammenspiel mit seinen hin und her huschenden Augen einen ziemlich verwirrten Eindruck auf mich macht. Wahrscheinlich auch auf die Susi, denn sie versenkt ihren Blick grade im Boden.
»Bla, bla, bla, hier«, sagt er plötzlich und hat vermutlich endlich die passende Stelle gefunden. »Ist es uns eine Ehre bla, bla, bla … Kommissar Franz Eberhofer bla, bla, bla. Kommen wir nun zur Begründung: Als einziger Polizeibeamter, dessen Zuständigkeitsbereiche die beiden Nachbargemeinden Frontenhausen und Niederkaltenkirchen sind, kann er auf große berufliche Erfolge zurückblicken und hat eine Aufklärungsrate, die beachtlich und im ganzen Land beispiellos ist. Aus diesem Grund bla, bla, bla. Da, wollens selber lesen?«
»Nein, das machen Sie ganz wunderbar, Bürgermeister.«
Die Susi verdreht die Augen. »Aber schauens, wir haben doch auch eine Bürgermeisterstraße, Bürgermeister«, sagt sie aufmunternd und streicht ihm wieder über den Ärmel.
»Sehr freundlich, Frau Gmeinwieser. Das schätz ich an Ihnen. Aber die Bürgermeisterstraße, die gibt’s schon seit etwa hundert Jahren, und somit dürfte ich als Namensgeber definitiv ausscheiden.«
»Das tut mir leid«, sagt die Susi.
»Mir auch«, muss ich beipflichten, bloß um irgendetwas von mir zu geben.
»Schon gut, meine Herrschaften. Lassen wir das«, entgegnet er, und seine Wut scheint nun einer Art Resignation zu weichen. »Ja, da könnens jetzt stolz sein, Eberhofer. Weil: so was kriegt nicht ein jeder. Und wenn Sie das nicht verdient haben, wer denn auch sonst? ’zefix! Habens wenigstens so was wie einen anständigen Dings, also einen Anzug für die Namensverleihung? Da müssens nämlich hin. Da kommt die lokale Presse und das ganze andere mordswichtige Gschwerl.«
»Ja, ja, da finden wir schon was«, sagt die Susi und ringt sich ein Lächeln ab.
»Dann passt’s ja«, murmelt er jetzt noch kurz, drückt mir dann dieses Schreiben in die Hand, klopft mir auf die Schulter und verlässt kommentarlos den Raum. Die Susi schmunzelt kurz schief, eilt ihm aber gleich hinterher.
»Ich mach uns jetzt erst einmal einen schönen Tee, Bürgermeister. Vielleicht einen mit Baldrian«, kann ich sie grade noch hören, dann sind sie weg. Was wär diese Gemeinde bloß ohne die Susi? Einpacken könnten die. Hundertprozentig. Und ich wahrscheinlich auch. Eigentlich sollte dieser Kreisel sowieso viel eher Gmeinwieser-Kreisel heißen. Oder einfach Susi-Kreisel. Weil die Susi wirklich die Einzige ist, die hier in der Gemeindeverwaltung alles im Griff hat und in jeder nur denkbaren Situation die Übersicht behält. Unser Bürgermeister zum Beispiel, der würde vermutlich sogar Weihnachten verpassen, wenn die Susi nicht wär.
Nun merk ich, wie die Jessy ihren Kopfhörer abnimmt und zu mir herschaut.
»Sag mal, hast du kein eigenes Büro, oder was? Wieso starrst du in den Boden und schlägst hier Wurzeln?«, fragt sie, stülpt sich das Teil wieder über die Ohren und tippt unbeirrt weiter. Aber sie hat eindeutig recht. Und so mach ich mich auf den Weg in mein eigenes Zimmer, schließ die Tür hinter mir, hau mich in den Bürostuhl und leg die Haxen auf den Schreibtisch.
Eberhofer-Kreisel. Hm. Da kann man schon verstehen, dass der eine oder andere Zuckungen kriegt vor lauter Neid. Andererseits aber steht es völlig außer Frage, dass mir diese Auszeichnung irgendwie zusteht. Ganz klar. Was hab ich nicht schon so alles aufgeklärt in all diesen Jahren. Ja, da dürften einige Jahrzehnte Zuchthaus zusammenkommen. Und so was schaffst du freilich nur, wenn du extrem strukturiert vorgehst und gewissenhaft bist. Gut, ein kriminalistisches Naturtalent ist eh Grundvoraussetzung, da braucht man nicht lang überlegen. Und ganz wichtig ist Fingerspitzengefühl. Wenn du das nicht hast, bleibst du auf der Strecke, und jeder Verbrecher lacht sich einen Ast.
Nun klopft es kurz an der Tür, im gleichen Moment fliegt selbige auf, und somit werd ich komplett aus meinen Gedanken gerissen.
»Herr Eberhofer«, sagt die ungebetene Besucherin gleich und eilt auch prompt auf den Schreibtisch zu. »Würden Sie bitte die Beine vom Tisch nehmen?«
»Nein«, sag ich und muss kurz überlegen. Ich kenn die von irgendwoher. Bloß: von wo? Geredet hab ich noch nie mit ihr. Diese quietschende Stimme wär mir mit Sicherheit in Erinnerung geblieben. Ich weiß nur, dass ich sie schon öfters gesehen hab. Einfach, weil sie einen Charme hat wie eine Rohrzange. Und auch eine ganz ähnliche Figur. Dazu kommt noch, dass sie einen äußerst komischen Mund hat, der mich ganz stark an einen Karpfen erinnert.
»Sie haben wohl gar keine Manieren?«, fährt sie fort und starrt auf meine Schuhe. Doch die sind blitzeblank sauber. Hat die Oma heut früh noch geputzt. »Na, da muss man sich dann auch nicht groß über Ihren Sohnemann wundern.«
»Wie bitte? Was ist mit dem Paul?«, frag ich, und jetzt nehm ich doch lieber die Haxen vom Tisch. Und im selben Augenblick wird mir auch schlagartig klar, woher ich sie kenn: Sie hat ihren Balg nämlich in der gleichen Kita wie wir unsern Paul, und am liebsten würde sie ihren Sprössling mit ihrem geschissenen SUV jeden Tag bis in die Garderobe reinfahren. Drei oder vier Strafzettel hab ich ihr deswegen schon verpasst: Parken in der Feuerwehranfahrtszone.
»Ihr Sohn, der Paul«, sagt sie nun weiter, und ihre seltsamen Lippen zucken bei jeder einzelnen Silbe. »Hat zu meinem Sohn Ansgar gesagt …«
Jetzt lach ich laut auf.
»Ihr Sohn heißt Ansgar?«, frag ich, weil ich das nur für einen Scherz halten kann.
»Ja«, antwortet sie. »Wieso?«
»Warum haben Sie das gemacht?«, muss ich jetzt wissen.
»Was?«
»Warum nennt man sein Kind Ansgar?«
»Weil … na, weil es ein schöner alter Name ist. Und jetzt lenken Sie bitteschön nicht vom eigentlichen Thema ab. Ihr Sohn hat nämlich zu meinem gesagt, sein Papa wär Polizist.«
»Womit er offensichtlich nicht ganz danebenliegt«, sag ich, und wenn das alles ist, was die Rohrzange hier in petto hat, dann kann ich meine Beine auch ganz getrost wieder hochlagern.
»Ihr Sohn, Herr Eberhofer, der hat aber auch gesagt, wenn der Ansgar ihm nicht die ganzen durchsichtigen Legosteine gibt, würde sein Papa kommen, der eben Polizist ist, und der würde ihn dann erschießen. Also den Ansgar«, sagt sie weiter, und dabei hievt sie ihre ach so noble Designerhandtasche von einer Schulter auf die andere.
»Gut möglich«, sag ich und steh auf. »War’s das?«
»Wie? Was soll das heißen? Das ist alles, was Sie dazu zu sagen haben? Ich bin fassungslos. Ha, aber da sieht man’s mal wieder: Der Apfel fällt ja bekanntlich nicht weit vom Stamm. Ihr Sohn, der kann einem einfach nur leidtun«, schnaubt sie, und ihre Lippen wackeln bedrohlich.
»Ja, ganz meinerseits«, sag ich und schiebe sie Richtung Tür.
»Ich … ich werde mich über Sie beschweren.«
»Nur zu. Am besten fahrens direkt über den Eberhofer-Kreisel nach Frontenhausen rüber. Von da aus geht’s dann schnurgrad nach Landshut rein. PI Neustadt. Kann man gar nicht verfehlen.«
Dann schließ ich die Tür hinter ihr.
Eigentlich freuen sich fast alle über den Eberhofer-Kreisel. Alle außer dem Papa, dem Leopold und dem Rudi. Der Papa freut sich nicht, weil er halt zuerst gedacht hat, er selber wär der Namenspatron. Und wie er dann gemerkt hat, dass ich es bin statt seiner, da hat er gesagt, das sei wieder mal so ein typischer staatlicher Scheißdreck. Und hoch lebe die Anarchie! Dann hat er sich erst mal einen Joint gedreht. Und zwar so was von provokativ, das kann man kaum glauben. Da sind sogar die Kinder am Esstisch gesessen. Wobei das jetzt eigentlich auch nicht weiter tragisch war. Weil der kleine Paul, der hat in seinem Malbuch rumgekritzelt und davon eh nichts mitgekriegt. Und meine Nichte Sushi ebenso wenig, weil sie total in ihre Hausaufgaben vertieft gewesen ist. Zu meinem Leidwesen entpuppt sie sich grade zu einer ziemlichen Streberin. Doch freilich ist ihr Herr Papa, der Leopold, umso stolzer auf sie.
»Du sollst sie nicht immer Sushi nennen, Franz«, moniert er oft so oberlehrerhaft. »Ihr Name ist Uschi. Das ist der Name von unserer Mama, und der sollte dir heilig sein.«
»Ist er ja auch. Und drum sag ich Sushi«, entgegne ich ihm jedes Mal wieder aufs Neue.
»Und Sushi ist eh viiiiiel schöner«, sagt dann diese kleine Maus zu ihm und lässt dabei ihre niedlichen Schlitzaugen nur so funkeln. Und auch ihre Mama, die Panida, übrigens eine astreine Thaifrau, die findet nix Schlimmes an »Sushi«. Drum aus, Äpfel, Amen.
Aber zurück zur gegnerischen Eberhofer-Kreisel-Fraktion. Wo wir schon mal beim Leopold sind, machen wir bei dem auch gleich weiter. Der findet die ganze Sache nämlich einfach nur lächerlich. Und meine Arbeit sowieso völlig überbewertet. Ja, wo kämen wir denn da hin? Wenn jeder Mensch, der seinen Job so einigermaßen erfolgreich erledigt, gleich eine ganze Straße kriegen tät. Und überhaupt, wenn er seine und meine Arbeitsstunden einmal genau gegeneinander aufrechnen würde, da müsste er ja quasi die komplette Leopoldstraße in München drin kriegen. Ja, das hat er gesagt, und danach hat er einen Lachanfall bekommen, so was hat man noch nicht gesehen. Wegen dem doppelten Leopold. Also praktisch dem in der Straße und wegen seinem Namen. Und ob ich denn den Witz nicht verstehen würde, wollte er wissen. Der Papa hat mitgelacht, und da hat er sich dann gefreut, der Leopold. Ja, seine Verwandtschaft, die kann man sich eben nicht aussuchen, gell. Seine Freunde schon. Und selbst bei denen, da langt man gelegentlich so richtig ins Klo.
Denn nachdem mir meine eigene Sippschaft jetzt schon ziemlich auf die Eier geht, schnapp ich mir mein Telefon und ruf den Birkenberger Rudi an. Weil immerhin war er es, der mir bei der Aufklärung sämtlicher Mordfälle brüderlich zur Seite gestanden ist. Und da ist es ja wohl das Mindeste, dass er auch auf dem Laufenden ist, grad was so den Eberhofer-Kreisel betrifft.
»Franz«, sagt er, nachdem ich ihm das bürgermeisterliche Schreiben Wort für Wort vorgelesen habe, und dabei klingt seine Stimme beinah zerbrechlich. »Franz, glaub mir, ich gratuliere dir von Herzen. Ganz besonders, wo es kaum Lebende unter den Namensgebern gibt. Weißt du eigentlich, dass Straßen oder Plätze in den meisten aller Fälle nur den Toten gewidmet werden?«
»Nein.«
»Nein? Das dachte ich mir fast.«
»Warum redest du so komisch, Rudi?«, muss ich jetzt wissen, weil er mir grad ins Weinerliche abkippt.
»Weißt du, lieber Franz, so sehr ich dir diesen blöden Kreisel auch gönne, aber es ist eine Demütigung für mich und auch eine Herabwürdigung meiner eigenen Arbeit. Ich habe mindestens so viel Anteil wie du an deinen dämlichen Ermittlungserfolgen. Und da wär es doch wohl selbstverständlich, dass dieser Kreisverkehr Birkenberger-Eberhofer-Kreisel genannt wird. Oder zumindest Eberhofer-Birkenberger-Kreisel. Findest du das nicht auch?«
»Rudi! Jetzt komm bitte mal zurück zur Erde. Du bist doch auf dem offiziellen Dienstweg gar nicht vorhanden. Im Grunde dürftest du noch nicht mal ermitteln. Du bist ein Privatdetektiv. Und greifst mir bei meinen Aufklärungen gelegentlich unter die Arme. Das ist alles.«
»Siehst du das tatsächlich so?«, fragt er, und ich glaube, jetzt weint er.
»Ja, das sehe ich so«, lüg ich jetzt ein bisschen provokativ.
»Dann, lieber Franz, dann bin ich sehr enttäuscht. Von den Behörden sowieso, die das so entschieden haben. Aber am meisten von dir, Franz. Von dir als Freund und Kollege. Ich möchte dieses Gespräch jetzt beenden, weil ich über verschiedene Dinge nachdenken und die ganze Angelegenheit erst sacken lassen muss. Da hast du doch sicherlich Verständnis dafür.«
»Nein«, sag ich. »Hab ich nicht. Aber gut. Ich find es nur schade, weil ich eigentlich zu dir nach München reinkommen wollte, um miteinander den Kreisel ein bisschen zu feiern. Wenn du es aber vorziehst zu schmollen, dann lassen wir’s halt. Also dann, servus, Rudi.«
»Warte! Wann könntest du da sein?«, fragt er und klingt nun schon wieder deutlich robuster.
»Ich fahr gleich los«, sag ich noch so. Dann leg ich auf.
Die Susi ist jetzt schon ein bisschen traurig, dass ich nicht mit ihr, sondern mit dem Rudi feiern gehen will. Aber anders als er versteht sie mich natürlich sofort. Und ihr ist klar, dass ich die Gunst dieser Stunde auch mit dem Menschen teilen will, der zu dieser Gunst seinen maßgeblichen Beitrag geleistet hat. Und das ist nun mal der Rudi. Ganz egal, wie inoffiziell das auch ist. Außerdem hat sie eh grad alle Hände voll zu tun: Sie muss ja noch der Oma beim Abwasch helfen, den Paul ins Bett bringen und die ganze Bügelwäsche machen, die sich schon wochenlang stapelt. Hinterher wird sie wie immer todmüde sein und noch vor der Tagesschau auf dem Kanapee einschlafen. Übrigens wohnen wir immer noch im Saustall. Nachdem nämlich der Leopold letztes Jahr im Anflug einer plötzlich auftretenden Geisteskrankheit und in voller Wucht mit dem Bagger in unseren Neubau drüben reingerast ist, da können wir den geplanten Einzugstermin jeden Monat aufs Neue nach hinten verschieben. Weil halt jetzt zum einen quasi die ganze Statik im Arsch ist. Zum anderen aber die Versicherungen sich weigern zu zahlen. Gut, gegen Geisteskrankheiten kann man sich wohl eh nicht versichern. Aber wurst.
Mir persönlich ist das sowieso grad recht. Einfach, weil ich mich in meinem Saustall ohnehin am allerwohlsten fühl. Selbst wenn ich mich jeden Tag aufs Neue durch Berge von Klamotten und Spielsachen quetschen muss. Doch das spielt überhaupt keine Rolle. Mein Saustall ist mein Saustall. Da wohn ich schon seit über zehn Jahren, er ist behaglich, mein privates Königreich, und seitdem mir der Flötzinger endlich die Heizung eingebaut hat, da ist er auch warm.
Ich stell noch kurz AC/DC auf Höllenlautstärke, nehm den Wäscheständer vom Badewannenrand und spring unter die Dusche. Schließlich will man ja frisch sein, wenn man nach München reinfährt.
Wir treffen uns im selben alten Stammlokal, wo wir uns schon seit Jahren treffen, und der Rudi hat mittlerweile drei Bier, wie ich hinkomm. Er sagt, er wartet bereits fast eine Stunde, dass der Akku von seinem Handy leer ist und dass es ihm ziemlich langweilig war. Nach drei weiteren Bier ist er dann aber richtig gut drauf, und nach den Jägermeistern wird er sogar albern. Am nächsten Tag wach ich in seinem Bett auf, und wir liegen in Löffelchenstellung. Ich hinter ihm. Ich erschreck mich gleich zu Tode, bin aber froh, dass ich als Erster wach war, und so hechte ich sofort aus den Laken. Eine Welle der Erleichterung rollt über mich, wie ich seh, dass wir beide fast komplett bekleidet sind. So zieh ich mir die Schuhe an, schnapp meine Jacke, saus die Treppen runter und begeb mich zum Wagen. Gut, so schnurgerade vielleicht auch wieder nicht. Ich muss schon erst ein paar Straßen ablaufen, weil ich ums Verrecken nicht mehr weiß, wo ich gestern die blöde Kiste abgestellt hab. Dann aber aufs Gaspedal und zurück nach Niederkaltenkirchen.
»Du stinkst wie ein Iltis«, begrüßt mich die Oma, gleich wie ich zur Küche reinkomm. Sie hockt dort auf der Eckbank und ist mit einem ganzen Haufen Lottoscheinen beschäftigt. Ich hol mir mal erst einen Kaffee.
»Was machst du da?«, frag ich und nehm einen Schluck. Eine Antwort krieg ich keine. Ob sie mich wirklich wieder mal nicht hört oder einfach grad keinen Bock hat zu reden, wird mal wieder ihr Geheimnis bleiben.
»Was macht sie da?«, frag ich nun den Papa, der mordskonzentriert über seiner Tageszeitung hängt.
»Lotto spielen«, antwortet er, ohne aufzusehen. »Wie halt die letzten hundert Jahre auch.«
»Ja, das weiß ich selber. Aber warum so viele Scheine auf einmal? Reicht ihr einer nicht mehr?«
»Sie probiert ein neues System aus. Das behauptet sie jedenfalls. War in irgendeiner von ihren Frauenzeitschriften drin.«
»Siebzehn Millionen sind im Jackpot«, sagt nun die Oma, während sie Kreuzchen für Kreuzchen macht. »Der ist schon seit Wochen nicht mehr geknackt worden.«
»Aha«, sag ich, trink aus und bring mein Haferl rüber zur Spüle.
»Musst du heut nicht zur Arbeit?«, will der Papa noch wissen.
»Bin schon weg«, sag ich grad so beim Rausgehen.
»Dusch dich«, ruft er mir noch hinterher, aber dafür hab ich jetzt echt keine Zeit mehr.
Doch bevor ich ins Rathaus reingehe, hol ich aus dem Handschuhfach kurz mein Rasierwasser hervor und sprüh mich relativ großzügig ein. Ja, so ist es doch auch gleich nicht mehr so schlimm, gell.
Tags darauf ist dann auch schon die Einweihung vom sagenhaften Eberhofer-Kreisel, und es ist tatsächlich so, wie der Bürgermeister vorhergesagt hat. Das ganze Areal drum herum ist rappelvoll mit Menschen, und ich hatte zuvor noch die ehrenwerte Aufgabe, sämtliche Zu- und Abfahrten abzusperren, damit auch ja nix passiert. Ja, herzlichen Dank auch. Die lokalen Medien sind vor Ort und machen Filme, Fotos und Interviews. Sogar mit der Oma. Und ob man’s glaubt oder nicht, dabei versteht sie plötzlich jede einzelne Frage ganz einwandfrei. Steht da in ihrem geblümten Dirndl samt weißen Spitzenkniestrümpfen unter all den Leuten und haut eine Antwort nach der anderen in sämtliche Mikros, als hätte sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes getan. Der Rudi musste sein persönliches Erscheinen leider Gottes kurzfristig absagen. Angeblich hat er relativ unerwartet einen mordswichtigen Auftrag reinbekommen. Ich glaub, er kann es einfach nicht ertragen, wenn ich im Mittelpunkt steh und er ist nur Zaungast. Auch der Leopold kann leider nur mit Abwesenheit glänzen, weil er seine Panida samt Kindern zum Flughafen bringen muss. Praktisch Ferien bei den Großeltern mütterlicherseits. Weil denen nämlich im zarten Alter von sechsundneunzig plötzlich und für alle völlig unerwartet die Urgroßmutter gestorben ist. Gott hab sie selig. Ich find es ja immer prima, wenn man Angenehmes und Nützliches verbinden kann.
Wie gesagt, der Leopold glänzt mit seiner Abwesenheit, dafür glänzt der Papa umso mehr mit Anwesenheit. Und zwar im wahrsten Sinne. Weil er nämlich seinen uralten Samtcordanzug aus den späten Siebzigern in Hellbeige trägt und der Stoff davon so dermaßen im Sonnenlicht glitzert, dass du fast blind wirst davon.
»Die ist ganz schön auf Zack, eure Oma«, sagt jetzt der Flötzinger, der grad neben mir aus dem Boden gewachsen sein muss.
»Ja, wer weiß, vielleicht wird sie ja noch fürs Fernsehen entdeckt«, antworte ich, und dabei steigt mir ein äußerst angenehmer Duft in die Nase. »Wird da irgendwo gegrillt?«, frag ich deswegen, und zwar eher mich selbst als wie irgendjemanden sonst.
»Ja, da drüben«, entgegnet der Gas-Wasser-Heizungspfuscher und deutet mit dem Kinn nach links hinten. »Der Simmerl, der lässt sich doch so eine Gelegenheit nicht entgehen.«
»Nicht?«, frag ich und merk schon, wie mir das Wasser im Mund zusammenläuft.
»Ja, da wär er doch blöd, oder? Nein, nein, der steht da drüben mit der Gisela samt ihrem maroden Zeh und grillt Würstl, was das Zeug hält. Ist ja auch geschickt, gell. So rein geschäftlich gesehen. Du, apropos, wegen eurem neuen Bad, weißt du eigentlich schon …«
Aber das hör ich schon gar nicht mehr. Weil ich bereits längst auf dem Weg Richtung Bratwurstparadies bin. Allerdings hab ich nicht mit dem beherzten Eingreifen unseres Bürgermeisters gerechnet. Der steht nämlich plötzlich in meiner direkten Einflugschneise und schreit mich wieder mal an.
»Wo wollens denn jetzt hin, Eberhofer? Alle hier warten auf Sie.«
»Bratwurstsemmel«, krieg ich grad noch so über die Lippen und will möglichst hurtig an ihm vorbei. Doch da stellt er sich prompt und ziemlich breitbeinig in den Weg.
»Haben Sie sich wieder irgendwas eingeschmissen, oder wie haben wir’s denn? Wegen wem, glauben Sie, findet dieses ganze Remmidemmi hier eigentlich statt? Meinetwegen sicherlich nicht. Da vorne, da stehen hundert Reporter umeinander, wir haben ein Verkehrschaos verursacht, das in die Geschichte eingehen wird, und morgen wird dieser ganze Mist hier in allen Zeitungen stehen. Und Sie … Sie denken wieder nur ans Fressen, ’zefix! Jetzt reißen Sie sich z’samm und machens Ihren Job!«
»Ja, und was soll das bittschön sein, ›meinen Job‹?«, frag ich, weil ich’s wirklich nicht weiß.
»Ja, keine Ahnung. Das Straßenschild enthüllen oder was weiß denn ich … vielleicht eine Sektflasche dagegen schmeißen. So was in der Art halt. Und verdammt noch mal mit den ganzen Reportern hier reden.«
Zum Glück aber gesellt sich jetzt die Susi zu uns, und sie hat das Paulchen auf dem Arm, der grad voll Inbrunst in eine Bratwurstsemmel beißt und alle zwei Backen voll Senf hat.
»Darf der Papa auch einmal beißen?«, frag ich ihn, doch er schüttelt den Kopf. Sollte ich bis zu diesem Moment irgendeinen Zweifel daran gehegt haben, dass er mein Sohn ist: jetzt wär er beseitigt. Definitiv und für alle Zeiten.
»Da vorn stehen ein paar Reporter, Franz«, sagt nun auch die Susi und rüttelt mich am Ärmel. So wandert mein Blick langsam vom Paul zu ihr und wieder zurück. »Hörst du mich? Die warten auf dich.«
»Ja, ja, ist schon recht. Ich geh ja schon. Immerhin ist es wohl meine Pflicht und Schuldigkeit. Und da spielt es natürlich überhaupt keine Rolle, ob ich währenddessen jämmerlich verhungere oder nicht«, sag ich noch so, dann schmeiß ich mich ins Getümmel.
Aber auch dieser Zirkus ist irgendwann vorüber. Und wie er dann endlich zu Ende ist, da hat der Simmerl keine einzige Wurst mehr übrig. Na bravo! Und als wär das nicht genug, muss ich dann auch noch knappe drei Stunden lang diesen elenden Drecksverkehr hier regeln, bis alles wieder einigermaßen geschmeidig abläuft.
Hinterher, wie ich endlich daheim bin, da will die Oma noch unbedingt ihre depperten Lottoscheine abgeben. Weil sie es im Gespür hat, dass ausgerechnet heute ihr Glückstag ist, wie sie sagt. Wahrscheinlich hat der ganze Wirbel um ihre Person vorhin irgendwelche Endorphine freigelegt. Wer weiß.
»Heut ist Mittwoch, Oma. Die Scheine, die kannst am Samstag auch noch abgeben«, sag ich und lass mich auf den Küchenstuhl fallen. Mir tun die Haxen weh von der ewigen Rumsteherei.
»Nix! Womöglich vergess ich das dann. Ich merk’s eh in der letzten Zeit, dass ich immer vergesslicher werde.«
»Ich erinnere dich dran. Versprochen.«
»Jetzt aber, auf geht’s, Franz!«, sagt sie und schlüpft in ihre Strickjacke. »Fahr mich schnell hin.«
»Aber was gibt’s denn zum Essen? Ich hab einen riesigen Hunger.«
»Ja, den hast in einer Stunde auch noch. Jetzt geh schon«, ruft sie noch in die Küche rein, und schon watschelt sie Richtung Auto. Gut, es hilft alles nix. Dann fahr ich sie halt.
Der Lotto-Otto ist heute höchstpersönlich anwesend, genau wie seine Mutter, und beide tragen wie immer ihre Käppis und Kittel, wo »Lotto-Otto« draufsteht. Der Lotto-Otto trägt allerdings auch einen dicken Verband um die linke Hand. Genauer, um die Stelle, wo sich Ringfinger und kleiner Finger befinden. Die beiden sind ohnehin ein seltsames Paar. Denn obwohl ganz Niederkaltenkirchen hier ständig ein- und ausgeht, weiß niemand was Näheres über die zwei.
»Ui, hast dir wehgetan, Bub«, fragt die Oma, während sie ihre Lottoscheine auf dem Tresen abzählt.
»Nichts Schlimmes, Frau Eberhofer«, antwortet er freundlich.
»Ungeschickt ist er halt«, erklärt dann die Nicole und schaut ihren Sohn liebevoll an. »Jetzt geht er schon bald auf die dreißig zu und ist immer noch so ein Dschopperl.«
»Mama«, knurrt der Lotto-Otto, doch sie winkt nur ab.
»Das alte Mofa hat er reparieren wollen. Das will doch der Flötzinger kaufen«, erzählt sie dann weiter.
»Wieso will der Flötzinger dein altes Mofa kaufen?«, frag ich, weil mich das jetzt echt interessiert. Immerhin hab ich ihn doch heute erst noch gesehen, da hätte er doch was erwähnen können. Und überhaupt, für was braucht jetzt ein erwachsenes Mannsbild bitteschön ausgerechnet ein Mofa?
»Mei, dem habens doch den Führerschein genommen. Das hast doch sicher schon gehört, oder? In Landshut drin. Genau gesagt vor diesem Laden, dem Erotik-Erika. Weißt du denn davon gar nichts, Franz?«, fragt die Nicole weiter, und jetzt ist sie es, wo die Lottoscheine durchzählt.
»Ja, ja,«, sagt die Oma, während sie der Nicole beim Zählen zuschaut. »Vor so einem Puff muss das gewesen sein, gell. Am Samstag aufd’ Nacht. Eins Komma sechs Promille hat er gehabt, der Flötzinger.«
Was ist denn eigentlich los in diesem Kaff? Warum wissen immer alle über alles Bescheid, nur ich bin der ewige Ignorant und erfahre von nix. Oder zu spät. Oder von den falschen Personen …
»Das sind aber viele Scheine heute, Frau Eberhofer«, sagt nun der Lotto-Otto fröhlich und beginnt auf die Tasten seiner Kasse zu trommeln. »Das macht dann summa summarum genau fünfhundertvierzig Euro und zwanzig Cent. Aber die zwanzig Cent, die schenk ich Ihnen.«
Jetzt wird’s mir gleich schwindelig.
»Ja, herzlichen Dank auch. Schreibts es auf derweil«, sagt die Oma und dreht sich zum Gehen ab. »Ich bezahl das dann nächste Woche, wenn ich den Jackpot geknackt hab. Siebzehn Millionen. Was jucken mich da fünfhundertvierzig Euro und zwanzig Cent. Servus miteinander.«
Einen Moment lang bleib ich noch stehen und schau ihr wohl ebenso verwirrt hinterher, wie es meine zwei Zellengenossen hier auch tun. Dann schüttle ich kurz den Kopf und lauf ihr nach wie ein Volldepp.
Die Stimmung am Samstag ist dann relativ angespannt. Gleich nach dem Abendessen werden wir nämlich von der Oma dazu genötigt, uns kollektiv um den Fernseher zu platzieren. Sie selber hockt im Schneidersitz und mit einem Kugelschreiber bewaffnet unten auf dem Fußboden und hat sämtliche Lottoscheine um sich herum ausgebreitet. Der Papa, die Susi und ich sitzen wie die Hühner auf der Stange dahinter am Sofa. Ich hab den Paul auf dem Schoß und muss ständig Hoppareiter machen, weil er unbedingt zur Hinkelotta auf den Boden runter möchte, aber nicht darf. Wegen der Lottoscheine eben. Die Oma hat gesagt, wenn er ihr System kaputt macht, dann bringt sie ihn um, so sehr sie ihn auch liebt. Überhaupt hat sie heute so was von einem Befehlston drauf, das kann man kaum glauben. Ich persönlich wär jetzt zum Beispiel viel lieber zum Wolfi rüber auf ein Bier oder zwei. Und der Papa, der hätt liebend gern im Garten hinten mit den letzten Sonnenstrahlen auf dem Buckel gemütlich seinen Joint geraucht. Und was die Susi gern gemacht hätte, das kann ich eigentlich gar nicht sagen, nur sicherlich alles andere, als die Ziehung der Lottozahlen anschauen. Doch was auch immer wir grade wollen, es ist vollkommen wurst. Einfach, weil uns die Oma alle miteinander ins Wohnzimmer beordert und dabei keinerlei Widerworte geduldet hat. Und aus.
»Wer nicht dabei ist, wenn ich den Jackpot knacke, der kriegt auch nix ab«, hat sie gesagt, während sie ihre depperten Scheine am Boden verteilt hat.
»Oma, du spielst Lotto, seit ich überhaupt denken kann«, hat der Papa gebrummt, grad wie er auf dem Weg in den Garten raus war. »Und du hast noch nie was gewonnen.«
»Das stimmt nicht. Ich hab schon mal vierhundertachtzig Mark gewonnen. Das weißt du ganz genau!«
»Ja, und die hast dann teilen müssen. Mit der Mooshammer Liesl und noch mit zwei anderen von deinen Weibern.«
»Drum spiel ich ja seitdem auch allein. Und jetzt gib eine Ruh, setz deinen Arsch in Bewegung und hock dich aufs Sofa rüber«, hat sie ihn dann angefaucht. Einmal hat er noch ganz tief durchgeschnauft, sich sein bereits gedrehtes Tütchen hinters Ohr geklemmt und ist dann ziemlich unmotiviert aufs Sofa gefallen. Und so hocken wir nun eben alle gemeinsam vor dieser dämlichen Glotze und glotzen.
Doch schon nach der Ziehung der zweiten Zahl verliert die Oma total den Überblick. Es geht ihr einfach alles viel zu schnell. Und bevor sie auch nur die Hälfte ihrer Scheine durchsehen konnte, da fällt bereits die nächste Kugel und danach die nächste. So schreib ich ihr sicherheitshalber lieber mal die Zahlen auf den Rand der Fernsehzeitung, geh dann mit dem Paul in die Küche und hol mir ein Bier.
Eine gute Stunde später, das Paulchen ist längstens im Bett und der Papa draußen beim Rauchen, da sitzt die Oma immer noch über den Scheinen. Inzwischen ist sie zum Küchentisch umgezogen, und auch sie hat sich ein Bier aufgemacht.
»Und, wie schaut’s aus?«, frag ich und lug ihr mal kurz über die Schulter. Doch das merkt sie erst gar nicht. Sie ist so vertieft, ihre Kreuze mit meinen Zahlen von der Fernsehzeitung abzugleichen, dass sie von mir überhaupt keine Notiz nimmt. Dann schnapp ich mir halt meine Jacke von der Stuhllehne, verabschiede mich, ohne einen Gegengruß abzuwarten, und mach mich auf den Weg zum Saustall rüber. Von den alten Obstbäumen herüber kann ich jetzt Stimmen erkennen. Stimmen und das Aufleuchten einer Zigarettenglut. So geh ich mal hin. Dort in der Dunkelheit hocken die Susi und der Papa in Decken gewickelt und rauchen gemeinsam einen Joint. Zwischen ihren Beinen liegt die Hinkelotta und schläft. Die Hinkelotta, die haben wir letztes Jahr aus dem Tierheim geholt. Nachdem mich nämlich mein heißgeliebter und jahrelanger Begleiter, der Ludwig, verlassen hat und jetzt im Hundehimmel ist. Es hat mir fast das Herz gebrochen. Die Hinkelotta ist kein Ersatz für meinen Ludwig, und es wird wohl auch nie einen geben. Dafür aber ist sie lieb und total auf das Paulchen fixiert, genau wie er auf sie. Die beiden kleben zusammen wie Kletten. Und wenn die Susi das zulassen würde, dann würde die Hinkelotta wohl jede Nacht beim Paul im Bettchen liegen und seinen Schlaf bewachen. Aber die Susi, die hat halt gemeint, irgendwo gibt’s eine Grenze und dass die Lotta nichts zu suchen hat in einem Menschenbett. Schon gar nicht in einem Kinderbett. Von wegen Hygiene und so. Der Ludwig, der hat immer bei mir im Bett schlafen dürfen. Selbst wenn er nach unserer ausgiebigen Runde durch die Wälder mal wieder viel eher wie ein Schwein ausgeschaut hat als wie ein Hund. Mir aber hat das nichts ausgemacht. Rein überhaupt nix. Beim Ludwig hat mir sowieso nie was was ausgemacht. Selbst als er todkrank war und mich von oben bis unten vollgekotzt hat, da war mir das wurst. Ich wollte einfach nur, dass er nicht mehr so furchtbar elendig leiden muss.
Aber wie gesagt, jetzt haben wir die Hinkelotta, die wir inzwischen nur noch Lotta nennen und die, wie der Name schon verrät, ein kleines bisschen hinkt. Manchmal geh ich mit ihr die Ludwig-Runde bis hinauf zu seinem Grab. Aber nur manchmal. Man kommt halt nicht so zügig vorwärts mit ihr, und dieses langsame Laufen, das macht mich dann immer so müde. Doch wenn sie nicht grad damit beschäftigt ist, unser Paulchen anzuhimmeln, dann ist sie auch gern mal an der Seite vom Papa. Und der geht dann auch ganz gern ein bisschen mit ihr, einfach, weil er ein ähnliches Tempo bevorzugt wie sie.
»Geh, sei so gut und holst uns noch ein Glaserl Wein, Franz?«, reißt mich jetzt der Papa aus meinen Gedanken heraus.
»Ui, ja, das wär schön«, sagt die Susi. »Das sind jetzt wohl sowieso die letzten Nächte, wo man noch draußen sitzen kann, ohne dass man sich Frostbeulen holt.«
Und so geh ich ins Wohnhaus zurück und hol einen Rotwein und auch noch drei Gläser. Die Oma hockt noch immer über ihren depperten Scheinen, doch anders als vorher, nimmt sie mich jetzt wahr.
»Einen Vierer hab ich schon und zwei Dreier, Bub«, sagt sie, ohne dabei aufzusehen.
»Gratuliere«, sag ich retour, und einen kurzen Moment überleg ich, ob da ihr Wetteinsatz schon abgedeckt sein dürfte.
»Einen Vierer und zwei Dreier hat sie schon, die Oma«, erzähl ich draußen, grad wie ich die Gläser auffüll.
»Gratuliere«, sagt der Papa. »Ob da ihr Wetteinsatz schon abgedeckt ist?«
Wir trinken einen Schluck, und ich schau in den Himmel. Eine sternenklare Nacht. Ganz einwandfrei. Morgen wird’s bestimmt wieder wunderbar sonnig. Vielleicht sollte ich mit der Susi und dem Paul noch einmal zum Waldsee rausfahren und uns das Ruderboot mieten. Unser kleiner Paul, der liebt das Wasser. Im Sommer kommt er mit seinen Schwimmflügeln immer erst dann raus aus den Fluten, wenn seine Lippen schon blau sind, die Lotta ganz nervös am Ufer auf und ab läuft und die Susi langsam, aber sicher zu schimpfen anfängt.
Plötzlich hör ich, wie ein Fahrzeug in unseren Hof fährt. Das Knirschen vom Kies hat es verraten. Wer das jetzt noch sein mag? Am Samstagabend um diese Uhrzeit. Und weil von den beiden hier keiner irgendwelche Anstalten macht, nachzusehen, muss ich das wohl tun. So schnauf ich einmal tief durch, werf einen vorwurfsvollen Blick in die Runde und erheb mich schließlich. Geh über die taufeuchte Wiese an der Linde vorbei und ums Hauseck herum. Und da kann ich ihn auch schon sehen.
Es ist der Lotto-Otto, der da auf seinem alten Mofa in unserem Hofkies rumsteht. Wahrscheinlich hat er es schon gemerkt, dass die Oma den Jackpot nicht geknackt hat, und will jetzt sofort seine Moneten haben. Ich muss grinsen.
»Otto, was ist los? Und was machst du hier?«, frag ich zunächst mal.
»Pst«, zischt er sofort und deutet mir an, dass ich näher kommen soll. So geh ich halt hin.
»Also?«, versuch ich es noch mal.
»Können wir reden?«, flüstert er.
»Ist es wegen der Kohle, oder was?«
»Wo … woher weißt du das?«, fragt er mich auffallend leise, nimmt nun seinen Helm ab und schaut sich hektisch in alle Richtungen um.
»Hey, entspann dich. Was ist los mit dir?«
»Franz, können wir irgendwo reden? Nur wir zwei. Irgendwo, wo wir ungestört sind.«
Was hat er denn nur? Und warum ist er so nervös? Und überhaupt: was will er von mir? Ich kenn ihn doch kaum. Ich weiß nur, dass sich sein Vater vor ein paar Jahren aus dem Staub gemacht hat und er seitdem gemeinsam mit seiner Mutter diesen Lottoladen schmeißt. Aber das ist auch schon alles.
»Bitte, Franz. Ich … ich glaub, ich brauch dringend deine Hilfe«, sagt er und versaut mir mit einem einzigen Satz meinen ganzen Samstagabend. Wunderbar, wirklich.
»Ja, dann komm schon«, sag ich und geh Richtung Saustalltür. Und während ich mich gleich mal aufs Kanapee setz, wandert der Lotto-Otto erst sämtliche Fenster ab, überprüft penibelst, ob sie auch wirklich richtig gut zugemacht sind, und zieht am Ende auch noch die Vorhänge zu.
»Sag mal, ist die Mafia hinter dir her, oder was soll dieser ganze Zirkus?«, frag ich, weil’s mir echt langsam komisch wird.
»Ja, so ähnlich«, sagt er knapp und schaut mir dabei äußerst ernst in die Augen. Er schwitzt, seine Lider flattern und die Hände zittern.
»Aha«, sag ich auffordernd, lehn mich ganz weit zurück und schlag die Beine übereinander. »Dann leg los.« Und das tut er dann auch.