Hallo Angst! - Katharina Altemeier - E-Book

Hallo Angst! E-Book

Katharina Altemeier

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  • Herausgeber: dtv
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Du bist nicht deine Angst, sondern so viel mehr! Angststörungen und Panikattacken sind für viele von uns Alltag; der Kampf dagegen ist ermüdend und nicht zielführend. Aber so muss es nicht weitergehen! Diese Erkenntnis hatte die systemische Beraterin Katharina Altemeier erst, nachdem sie selbst viele Jahre gegen ihre Angststörung angekämpft hat. Nun weiß sie: Nur wer sich seiner Angst annähert, sie kennenlernt und den mutigen Schritt auf sie zu wagt, wird frei sein. Nur wer stehen bleibt und seiner Angst ins Gesicht blickt, wird zu sich selbst finden. Die Autorin nimmt uns mit und erzählt anhand ihrer persönlichen Erfahrungen, holt Rat bei Experten und gibt uns aus systemischer Sicht Wege und Lösungen mit, wie Leichtigkeit und Leben MIT Angst und Panik gelingen!

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Seitenzahl: 266

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DU BIST NICHT DEINE ANGST, SONDERN SO VIEL MEHR

Du kämpfst seit Jahren gegen Angstzustände und Panikattacken? Du hast schon alle Therapien, Tipps und Analysen durch, aber nichts hilft? So muss es nicht weitergehen!

Die systemische Beraterin, Journalistin und Podcasterin Katharina Altemeier weiß, nachdem sie viele Jahre selbst gegen ihre Angststörung angekämpft hatte: Nur wenn du dich deiner Angst mutig annäherst und sie kennenlernst, wirst du sie zu einer ungeahnten Kraft wandeln können.

Katharina Altemeier zeigt mit ihrer eigenen Geschichte, dass du mit deiner Angst nicht allein bist. Sie setzt sich mit Experten auseinander, klärt über Hintergründe von Angst auf und gibt dir innovative Wege und Lösungen an die Hand, wie Leben und Leichtigkeit MIT Angst und Panik gelingen.

KATHARINA ALTEMEIER

HALLO ANGST!

Wie Panikattacken und Angststörungen ungeahnte Kräfte wecken können

Vorwort

Zugegeben, das Cover meines Buches könnte den Eindruck erwecken, dass ich eine dieser hyper-optimistischen Coaching-Ladys bin, die dir eine Angststörung als das neueste Must-have im Selbstoptimierungszirkus verkaufen will. Ich kann dich beruhigen: Dem ist nicht so. Ich bin weder von der neoliberalen Idee des »Jede:r kann alles – wenn er:sie nur will« überzeugt, noch möchte ich etwas verkaufen, und schon gar nicht die Botschaft, dass eine Angststörung eigentlich eine klasse Sache ist. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schwer und unerträglich es sein kann, wenn die Gedanken ihre Runden im Angst-Karussell drehen und du die Notbremse nicht findest. Und apropos Selbstoptimierung: Ich bin der Meinung, dass dieses Phänomen mit daran beteiligt ist, dass die Anzahl psychischer Störungen in unserer Gesellschaft zunimmt. Denn wer ständig an einem besseren Ich bastelt, sich dabei an Influencer:innen oder sonstigen narzisstischen Meinungsmacher:innen orientiert, ist zum Scheitern und somit auch zu Unzufriedenheit verurteilt. Warum? Weil er:sie die eigenen, irrealen Anforderungen niemals erfüllen kann.

Was will ich dann aber mit meinem Buch?

Mein Anliegen ist es, dir etwas zu erzählen: Von mir, meiner Angststörung, die mich seit meiner Jugend in den unterschiedlichsten Facetten begleitet, mich lange Zeit klein hielt, mich im Job, in Beziehung und überhaupt im Leben oft ausbremste, die dafür gesorgt hat, dass ich keine Verantwortung übernehmen konnte/wollte und die ich auf so ziemlich jede erdenkliche Art versuchte loszuwerden. In zig Therapien, mit Yoga, Klopftechniken, Schamanismus, Kräutern und auch mit Medikamenten.

Darüber berichte ich und wie es dazu kam, dass ich anfing, meiner Angst »Hallo« zu sagen. Ich erzähle als Betroffene, die Einblicke in ihre persönliche Angstgeschichte gibt. Ich schreibe als Journalistin, die informiert, definiert und aufklärt – wie ich es auf ähnliche Weise auch schon in meinem Podcast »Hallo Angst« mache. Und ich begleite dich in meiner Rolle als Systemische Beraterin, die Ideen und Gedanken mit dir teilt, wie du mit deiner Angst in Kontakt trittst, sie als Teil von dir annimmst, mit ihr in Frieden leben und sie vielleicht sogar in Mut verwandeln kannst. Ich möchte dir Alternativen zum Kampf gegen deine Angst aufzeigen, dir Mut machen für ein Leben mit Angst. Warum? Weil du – und das sei hier schon mal vorweggenommen – diesen Kampf sowieso nur verlieren kannst. Auch wenn Therapeut:innen, Psychiater:innen, Bücher oder die Pharmaindustrie es behaupten: Du kannst deine Angststörung nicht überwinden, indem du versuchst, sie loszuwerden. Im Gegenteil: Wenn du ihr den Kampf ansagst, wird sie noch stärker. Ich habe lange gebraucht, um das zu verstehen. Deswegen erzähle ich dir meine Geschichte – damit du vielleicht nicht so lange brauchst wie ich.

Doch selbst wenn es bei dir auch so lange dauert, wäre das okay. Denn, und das ist mir wichtig, es geht hier nicht darum, etwas zu schaffen, eine Leistung zu erbringen, die Übungen in meinem Buch erfolgreich abzuhaken, um zum »Hallo Angst«-Profi zu werden. Im Übrigen soll und kann mein Buch auch keine Therapie ersetzen. Ich kann heute gut mit meinem zu viel an Angst und dem Gedanken an gelegentliche Panikattacken leben. Mir ist es sogar geglückt, dank meiner Angststörung zu meinem Mut zu finden und etwas Neues zu wagen. Ein Prozess, den ich auch den vielen wunderbaren Menschen um mich herum zu verdanken habe.

Jede (Angst-)Geschichte ist individuell. Deswegen ist es keinesfalls in meinem Sinn, dir meine Ideen, Gedanken oder Lösungen als »Rezepte für ein glückliches Leben mit Angststörung« zu empfehlen oder gar aufzudrängen. Angenommen, du bekommst nur einen Denkanstoß, musst über einen Satz länger oder immer wieder nachdenken oder nur eine meiner Übungen kann dir irgendwie helfen, dann bin ich schon zufrieden. Es geht mir um Impulse, um Kleinigkeiten, um Mini-Dosen an Zuversicht, die dich dabei unterstützen sollen, deinen eigenen »Hallo Angst«-Weg ausfindig zu machen.

1 Wie eine Angststörung enstehen kann

1.1 Wie die Angst sich in mein Leben einschlich

Es war alles gut, fast perfekt und doch stimmte irgendetwas gar nicht. Dieses Etwas verunsicherte mich, weil es spürbar, aber nicht greifbar war. Schon damals, in meiner frühen Kindheit, als ich ungefähr fünf Jahre alt war, kam ES in Abständen plötzlich über mich. Meistens in ruhigen Momenten. Abends im Bett vor dem Einschlafen, morgens im Halbschlaf, auf Autofahrten, beim Anstehen in Schlangen oder in Momenten, in denen es besonders schön war. Zum Beispiel, wenn ich an einem heißen Sommertag im Garten meiner Oma x-mal durch den Wassersprenger gerannt war, pitschnass und glücklich, mich dann mit einem Mini Milk in der Hand im Halbschatten auf einem Handtuch niederließ, das moosige Gras unter mir, in Gesellschaft gurrender Tauben, die ich nie zu sehen bekam, ihnen aber gerne zuhörte. Im Hintergrund: Geräusche meiner Oma, die im Haus hin und her stöckelte, das Teigrührgerät, die Kaffeemaschine oder das Radio, aus dem Udo Jürgens trällerte. Ein Augenblick, den ich als so geborgen empfand, dass ich schon in dem Augenblick Angst hatte, dass dieses Gefühl irgendwann einmal vorbei sein könnte. Ein normaler Gedanke in diesem Alter, in dem Kinder zum ersten Mal die Endlichkeit allen Seins erkennen. Doch bei mir blieb es nicht bei dem Gedanken, es kam eine körperlich spürbare Traurigkeitswelle über mich. Von einer Sekunde auf die andere. Ein diffuses Gefühlschaos von Angst, Unsicherheit und der Ahnung, dass sich schon bald alles auflösen könnte. Wie ein kleiner, gemeiner Pikser, der mitten in mein Glück stach und sagen wollte: »Es ist gar nicht so schön, wie du denkst. In Wirklichkeit ist alles schrecklich.«

Heute weiß ich, dass es nicht schrecklich war, aber eben auch nicht so schön, wie es schien: Als meine Mutter mit mir schwanger war, waren meine Eltern eigentlich schon nicht mehr zusammen. Insofern war ich auch nicht wirklich geplant. Meine Mutter verbrachte die Schwangerschaft allein, also ohne meinen Vater, der sich in eine andere Frau verliebt hatte. Sie wollte schon immer ein Kind und war entschlossen, das Ganze auch ohne ihn durchzuziehen. Trotzdem ging es ihr nicht gut und wie sie mir später erzählte, musste sie sehr viel weinen in dieser Zeit. Als ich schließlich am 10. Juni 1976 auf die Welt kam, kam auch mein Vater wieder zurück. Meine Eltern beschlossen, es noch einmal miteinander zu versuchen. Eine nachvollziehbare und anerkennenswerte Idee, die aber nicht funktionierte. Am wenigsten für mich, wegen der sie ja überhaupt auf diese Idee gekommen waren.

Familienspiele

Und so gaben wir nach außen das Bild der gutbürgerlichen Familie. Meine Mutter Lehrerin, mein Vater Arzt, wir spielten Tennis, fuhren in den Ferien nach Sylt oder nach Italien. Zum Einkaufen ging es in die nächstgrößte Stadt, denn in der westfälischen Kleinstadt, in der wir wohnten, war die Auswahl nicht wirklich groß. Das So-tun-als-ob-Spiel meiner Eltern gipfelte darin, dass sie fanden, es sei jetzt an der richtigen Zeit, ein Haus zu bauen. Ein ziemlich großes, in das wir am Ende allein einzogen. Meine Mutter und ich. Mein Vater schenkte uns einen Hund, einen Bobtail. Vermutlich als Ersatz oder einfach nur zur Aufheiterung.

Ich wusste zu diesem Zeitpunkt – ich war sechs – nicht, was dazu geführt hatte, dass mein Vater doch nicht mit uns zusammenleben konnte. Noch wusste ich, wer das entschieden hatte. Meine Mutter erzählte mir erst vor Kurzem, dass sie es war, die nicht mehr wollte, dass er mit uns lebt. Ich war intuitiv immer davon ausgegangen, dass mein Vater uns verlassen hatte. Keiner sprach offen mit mir so, dass ich es ansatzweise hätte verstehen können. Und so brannte sich bei mir vor allem eins ein: Meine Familie gibt es nicht mehr. Vielleicht hat es sie auch nie gegeben? Meine kurzen, diffusen Sorgenanfälle und der damit verbundene Instinkt, dass irgendetwas nicht stimmt, machten Sinn. Denn tatsächlich stimmte ja etwas nicht.

Dass dieses diffuse Unsicherheitsgefühl im Grunde richtig war, konnte ich als sechsjähriges Mädchen nicht erfassen. Im Gegenteil, es verwirrte mich und war mir vor mir selber unangenehm. Also versuchte ich, ES wegzudrängen. Selbst mit meiner geliebten Oma, bei der ich sehr viel Zeit verbrachte, die so etwas wie mein Sicherheitsanker war, habe ich nicht darüber gesprochen. Denn in dieser angespannten Situation wollte ich keine zusätzlichen Probleme verursachen.

Als sich meine Eltern endgültig trennten und auch scheiden ließen, war das für mich keine Überraschung, verstehen konnte ich es trotzdem nicht. Zumal uns mein Vater in unserem Haus sehr häufig nachmittags zum Teetrinken besuchen kam. An sich schön, weil ich meinen Vater immer trotz allem – trotz was eigentlich? – sehr lieb hatte. Doch kurz nachdem er uns ja, so wie ich dachte, verlassen hatte, konnte ich nicht nachvollziehen, warum er dann doch immer wieder zu uns kam und sich mit meiner Mutter auch noch wunderbar verstand. Warum konnte er dann nicht bei uns bleiben?

Die Situation wurde klarer, als wir zwei Jahre später nach München zogen. Meine Mutter hatte im Urlaub einen Bayern kennengelernt, der in unserem westfälischen Nest schnell von sich reden machte, weil er samstagmorgens schon mal gerne mit Gamsbarthut zum Brötchenholen ging, die Bäckereifachangestellte mit einem herzhaften »Grüß Gott« willkommen hieß und sie dann aufklärte, dass er keine Brötchen, sondern Semmeln wolle. Meine Mutter verliebte sich in ihn und fasste den mutigen Entschluss, alles hinter sich zu lassen. Ich bin ihr sehr dankbar für diesen Schritt, denn der Abstand zu diesen ganzen Verwirrungen tat auch mir sehr gut. Es fiel mir leicht, in der neuen Umgebung Fuß zu fassen, Freundinnen zu finden und auch meine kleinen schmerzhaften Pikser wurden weniger. Mein Vater heiratete die Frau, die er schon vor langer Zeit kennen- und lieben gelernt hatte und bekam noch ein Kind mit ihr. In den Sommerferien und an Ostern verbrachten wir Zeit miteinander, fuhren zum Skifahren nach Österreich oder an den Strand nach Dänemark. Die neue Familie meines Vaters, vor allem meine Halbschwester, die ich einfach nur wunderschön, fantastisch und zum Knuddeln fand, war für mich ein großer Gewinn. Langsam begann ich zu verstehen, dass es so für alle Beteiligten besser war.

Alles stinknormal?

Bis sich das wirre Angstgefühl aus meiner Kindheit wieder meldete, verging einige Zeit. Bis zur Pubertät. Die Phase, in der sich Angsterkrankungen sowieso besonders häufig entwickeln. Bis dahin war ich sehr sportlich, die »Leichtathletik-Queen«, was mir natürlich auch die Bewunderung vieler Jungs einbrachte. Ich war stark, galt als mutig, war bis auf Mathe gut in der Schule, schaute die Musiksendung Formel Eins, nahm wöchentlich die Bayern3-Top-Ten mit dem Kassettenrekorder auf und war großer Madonna- und (peinlich!) Boris-Becker-Fan. Alles stinknormal.

Bis eines Nachmittags Freunde meiner Eltern zu uns zu Besuch kamen. Ein einschneidendes Kaffeekränzchen, denn sie hatten auch ihren 14-jährigen Sohn dabei, den ich immer schon bewunderte. Er war schlau, traute sich, die heftigsten Fahrgeschäfte auf dem Oktoberfest zu fahren und er wusste irgendwie, was gerade angesagt war. Nach dem Kuchen lotste er mich in mein Zimmer, eine kleine Auswahl an Schallplatten unter dem Arm, die er mir unbedingt vorspielen müsse, sagte er. Wissend, dass es hier eben nicht nur um ein paar Platten ging, sondern um ein ganzes Universum namens PUNK. Es handelte sich um Platten der kalifornischen Band Dead Kennedys, der britischen Variante The Exploited, eine von den Ärzten und ganz wichtig, eine mit dem Titel »Porsche, Genscher, Hallo HSV« von vier Typen aus Hamburg, die sich die Goldenen Zitronen nannten und in mir etwas anzettelten, das so schnell nicht mehr in Schach zu halten war. PUNK war für mich der Stoff, von dem ich mehr haben wollte, der – neben dem altersbedingten Hormonschub – mein Leben durcheinanderwirbelte und alles infrage stellte, was bis dato galt. Ich fand Sport uncool (»Militärischer Drill«), Lehrer überflüssig (»Linke Spießerhippies« oder »Nazi-Faschos/Alt-Nazis«), arbeitende Menschen trostlos (»Marionetten des Kapitals«), der Staat und seine Regeln waren sowieso eine Zumutung und wie die rotzigste aller Punkbands Slime war ich davon überzeugt, dass Deutschland sterben müsse, damit wir endlich leben könnten. Ich färbte meine Haare erst wasserstoffblond, dann hennarot (keine gute Idee, weil die Endstufe oranges Haar bedeutete), ich trug Docs und sprühte No Future auf sie, kaufte ausschließlich auf Flohmärkten oder im Kleidermarkt ein – gerne Samtblazer oder Schlafanzughemden – ich fing an zu rauchen, auf Konzerte zu gehen und abends im Englischen Garten abzuhängen. Ich fuhr richtig gerne schwarz und setzte mich zu den Punks, die sich seinerzeit gerne um Brunnen in Fußgängerzonen versammelten. Boris Becker kam auf meine Liste der meistgehassten Personen – gleich nach Thomas Anders von Modern Talking. Ich fing an, das Musikmagazin Spex zu lesen, obwohl ich nur die Hälfte verstand, ging in alternative Plattenläden, um weitere Bands zu entdecken, und ich ließ mich allen Ernstes um 3 Uhr nachts wecken, weil dann die außergewöhnliche Independent-Musiksendung Off Beat im Fernsehen lief. Ich ging das Punk-Thema eher intellektuell an, nicht wie viele andere Menschen, mit denen ich mich umgab, zu deren Punk-Dasein auch Drogen gehörten. Aber vor Drogen, vor allem vor psychedelischen hatte ich viel zu viel Angst.

Punk war für mich ein Weg, meine Wut zu kanalisieren – auch ohne Drogen. Punk gab mir das Gefühl, vor nichts und niemandem Angst haben zu müssen, weil sowieso alles egal war von wegen »No Future«. In diesem Sinne war Punk die perfekte Angstvermeidungsstrategie für mich.

Einen ersten Höhepunkt in meiner kleinen Karriere als Punkerin erreichte ich, als ich in der siebten Klasse einen Brief an meine Mitschüler:innen verfasste. Darin animierte ich sie, doch endlich mal ihre Augen zu öffnen, sich nicht weiter unterdrücken zu lassen, Widerstand gegen die Autorität der Lehrer:innen und gegen das gesamte System Schule zu leisten. Nachdem der Brief die Runde gemacht hatte und auch in den Händen einiger Eltern gelandet war, gab es Ärger. Es wurde ein Elternabend wegen mir einberufen. Daraufhin legten Eltern und Lehrer:innen meiner Mutter nahe, dass es doch besser wäre, wenn sie mich auf eine andere, für meine speziellen Bedürfnisse passendere Schule schicken würde. Meine Mutter reagierte gelassen, was ich ihr hoch anrechne, und wir beschlossen, dass es tatsächlich einen besseren Ort für mich geben musste als dieses konservative, piefige Vorort-Gymnasium.

Mit viel Glück landete ich auf einem sehr beliebten, fortschrittlichen und kreativen Gymnasium mitten in der Stadt, gleich am Hauptbahnhof. Die Mehrzahl der Schüler:innen war entweder künstlerisch, musikalisch oder politisch aktiv. Hier wurde ich so akzeptiert, wie ich war und fand viele gute Freunde und Freundinnen, mit denen ich gemeinsam Ideen spinnen konnte, wozu zum Beispiel ein absurd-punkiges Fanzine namens »Rhythmus hinter Gittern« zählte. Verweise wegen aufmüpfigen Verhaltens oder unerlaubten Rauchens auf dem Pausenhof etc. bekam ich trotzdem weiter. Von Angst keine Spur. Im Gegenteil.

Wie Süßigkeiten zur Qual werden können

Als ich fünfzehn war, reiste ich mit meiner Stiefmutter und meiner Halbschwester für drei Wochen nach Indien, genauer nach Neu-Delhi, wo sie herkam. Sie war so nett und großzügig, mich mitzunehmen, um mir ihre Familie und ihre Heimat zu zeigen. Und meine Mutter war so offen, mich mit der neuen Frau meines Vaters ziehen zu lassen. Ich war aufgeregt, so lange so weit von zu Hause weg zu sein, gleichzeitig neugierig auf all die neuen Eindrücke und Menschen. Alle waren unglaublich herzlich und hießen mich willkommen.

Doch meine Aufregung, die ich ursprünglich als völlig normale Nervosität vor der Reise eingeordnet hatte, ließ nicht mehr nach. Ich war rund um die Uhr nervös, was sich vor allem in der Magengegend bemerkbar machte. Ich hatte Magenschmerzen, Durchfall, mir war übel und ich hatte überhaupt keinen Appetit mehr. Das war insofern schwierig, weil das Essen in Indien, noch dazu im Familienumfeld, ja eine große Sache ist. Überall wo wir hinkamen, empfing man uns Gäste mit einem großen Essen – und mir schnürte es regelmäßig die Kehle zu. Warum wusste ich nicht. Nur, dass es mir irgendwie alles zu viel war, ich mich in der Situation gefangen fühlte. Dieser ultranervöse Zustand wurde immer mehr zu einer Belastung für mich und vermutlich auch für meine Stiefmutter.

Ich erinnere mich an eine Situation, in der mir ein Dessert als besonders köstliche Spezialität angepriesen wurde. Es handelte sich um Rasgulla, weiße Milchbällchen in etwa so groß wie Eier, deren schaumstoffartige Textur von einem süßen Sirup durchtränkt ist. Ich aß es wider Willen und musste zu würgen anfangen, während mich alle beobachteten und wissen wollten: »You like it?« Irgendwie bekam ich das Ding herunter – aber die Angst davor, etwas essen zu müssen und dabei beobachtet zu werden, war immer an meiner Seite. Zumindest in diesen drei Wochen in Indien. Ich ernährte mich nur noch von etwas Toast und von Bananen.

IRGENDWANN WAR ICH SO DURCHLÄSSIG, DASS SCHON DIE GERÜCHE UND GERÄUSCHE ZU VIEL FÜR MICH WAREN.

Das ging irgendwie. Doch körperlich und psychisch fühlte ich mich zunehmend schwächer. Angeschlagen, dünnhäutig und kaum noch in der Lage, dieses bunte, verrückte Land, seine Menschen und Geschichten zu genießen. Das war ein Gefühl, das ich so bisher nicht kannte. Ich, das aufsässige, mutige Punkmädchen, das von seiner Mutter heimlich »Eiserne Lady« genannt wurde. (Wenn ich gewusst hätte, dass man mich mit Margaret Thatcher verglich, hätte ich vermutlich wieder einen Brief verfasst. An meine Mutter. Überschrift: »Margaret on the Guillotine«, nach dem gleichnamigen Song von Morrissey.)

Frankreich: Heimweh oder schon Agoraphobie?

Wieder zu Hause buchten wir alle mein extremes Unwohlsein unter »In diesen Ländern geht es ja vielen vom Magen her nicht so gut« ab. Bis es wiederkam. Wieder auf unbekanntem Terrain. Dieses Mal in Avignon, Frankreich, wo ich – damals sechzehn – in den Sommerferien einen dreiwöchigen Sprachkurs machte, um mich auf den Französisch-Leistungskurs vorzubereiten. Ich liebte Frankreich, bildete mir ein, im Herzen gar eine Französin zu sein oder zumindest eine weibliche Figur aus einem Film von Jean-Luc Godard. Ich malte mir aus, wie ich alleine in Avignon durch die Straßen ziehen würde, in einem der etlichen Cafés sitze, blaue Gauloises qualmend, oder wie ich Leute aus der ganzen Welt in der Sprachschule kennenlerne und mit ihnen Spaß haben würde. So weit die Fantasie.

Die Realität sah anders aus. Ab dem Moment, als ich aus dem Zug in Avignon ausstieg, überkam ES mich wieder. Zittrige Beine, nervöser Magen, Übelkeit und noch etwas, was ich bis dato so nicht kannte: ein schier unerträgliches Gefühl von Heimweh. Heimweh, das Schmerzen verursachte. Im Herzen. Ich, die toughe Fuzzi (das war mein Punk-Spitzname), wollte am liebsten sofort wieder zurück nach München zu Mama. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind. So ähnlich, wie ich mich mit drei Jahren gefühlt hatte, als ich in den Kindergarten kam und es dort hasste. Nur war ich jetzt schon fast erwachsen. Ich schämte mich, ausgerechnet in dem Land meiner Sehnsüchte vor allem eins zu spüren: Sehnsucht nach Zuhause, dem langweiligen Alltag, den bekannten Gesichtern. Heute frage ich mich, ob ich überhaupt jemals von Zuhause wegwollte oder ob es nur der Gruppenzwang war? Mit so etwas hatte jedenfalls weder ich noch meine Mutter gerechnet, die ich mit meinen täglichen Heulanrufen überforderte, die mein Heimweh ernst nahm, mir aber dazu riet, es durchzuziehen – in der Hoffnung, dass es dann schon irgendwann besser werden würde.

Es wurde aber nicht besser. Mein Hals war wie zugeschnürt, mir war ständig übel und meine Laune wurde dementsprechend immer schlechter. Ich erinnere mich daran, wie ich mich morgens zwang, einen Toast runterzukriegen und wie jedes weitere Essen und soziale Events zu einer schier unüberwindbaren Hürde für mich wurden. Was es nicht gerade besser machte: Dem sympathischen schwulen Paar, bei dem ich zusammen mit drei weiteren Sprachschüler:innen wohnte, ging es fast ausschließlich darum, was und wie viele Gänge sie für ein gemeinsames Abendessen kochen konnten. Eine Tortur für mich. Eine Situation, die mir nicht ganz fremd war, denn in Indien ging es mir ähnlich: Das Gefühl, mit anderen, mir fremden Menschen etwas essen zu müssen, um sie nicht zu enttäuschen, schnürte mir die Kehle zu.

Irgendwann kam mein Vater für ein paar Tage zu Besuch, was schön war und mein Heimweh schmälerte. Wir fuhren durch die Gegend, saßen in Cafés und bestellten uns Aprikosen-Tarte. Über mein Gefühl der nervösen Übelkeit und die damit einhergehenden Ängste sprachen wir nicht. Weil wir es nicht gewohnt waren, über so etwas zu sprechen. Weil wir beide lieber so taten, als wäre nichts. In Wirklichkeit hatten wir beide Angst davor. Ich, weil ich mich schämte. Er, weil er sich vermutlich irgendwie schuldig fühlte.

Als mein Vater wieder abreiste, hatte ich nur noch eine Woche in Avignon vor mir. Eine Woche, in der es mir besser ging – zumindest was die Sehnsucht nach Zuhause anging. Alles andere blieb schwierig. Die Nervosität, die immer wiederkehrende Übelkeit und die Frage: »Wie schaffe ich es, das nächste Essen mit vielen Menschen, die mich beobachten und beurteilen, zu überstehen?«

Der Avignon-Schock

Einmal überstand ich es tatsächlich nicht ohne Zwischenfall. Es war an meinem letzten Abend. Die beiden französischen Hobbyköche hatten sich vorgenommen, zu meinem Abschied etwas ganz nach meinem Geschmack zu machen. Sie machten sich ständig Sorgen, dass mir ihr Essen nicht schmeckte oder dass ich vielleicht magersüchtig sein könnte. Eine Idee, auf die man von außen betrachtet kommen konnte, da ich vor anderen wie ein Spatz aß und zu dieser Zeit auch sehr dünn war. Der Unterschied zu einer Magersüchtigen bestand darin, dass ich keine Kalorien zählte, nicht stolz auf mein Dünnsein war und schon gar nicht darauf, nicht entspannt in Gesellschaft anderer genießen zu können, so wie ich es zu Hause ja konnte.

Für meinen letzten Abend in Avignon hatte ich mir Pasta gewünscht. Nach einem Kräutersüppchen mit Schaumkrone gab es Spaghetti. Ich war noch nervöser als sonst. Doch um die beiden Lieben wenigstens dieses eine Mal nicht zu enttäuschen, versuchte ich es mit der Augen-zu-und-durch-Variante. Ich schlang die Nudeln irgendwie zügig hinunter, in der Hoffnung, dass es dann erledigt war. Leider kam es anders, denn die Teigwaren mit Tomatensauce wollten wieder raus aus mir und zwar genau dorthin, wo sie hergekommen waren – auf meinen Teller. Ein Desaster. Ein Schock. Für alle. Ich wollte mich einfach nur in Luft auflösen und die beiden Franzosen waren darauf bedacht, die Spuren möglichst schnell zu beseitigen – der eine griff zum Raumspray, der andere wedelte verlegen mit Küchentüchern herum und sagte immer wieder »Oh la la, Oh la la, Oh la la«. Das Essen wurde beendet, als hätte es nie stattgefunden.

Zum Glück nahm ich am nächsten Tag den Zug zurück nach München. Mit im Gepäck: Ein Essen-in-Gesellschaft-Kotz-Schockerlebnis. Willkommen im Kreislauf der Angst! Denn die Angst, so etwas noch einmal zu erleben und von anderen doof und peinlich gefunden zu werden, ließ mich von nun an derartige Situationen vermeiden. Dabei wusste ich ja gar nicht, ob mich die anderen wirklich peinlich fanden. Vermutlich tat ich ihnen einfach nur leid. Und anstatt den Vorfall als unangenehme Erfahrung abzubuchen, saß das Ganze so tief, dass ich nicht so tun konnte, als wäre es nie geschehen. Gleichzeitig schämte ich mich und erzählte nicht einmal meiner Mutter oder Freund:innen davon. Und so schlich sich langsam die soziale Phobie in mein Leben ein. Von da an kam ES, dieses Gefühl des Zugeschnürtseins in Verbindung mit Übelkeit bei Essen in Gesellschaft, in regelmäßigen Abständen zurück. Vor allem an Geburtstagen oder sonstigen Anlässen von Familienmitgliedern, die ich schlecht schwänzen konnte. Schon Tage vorher belastete mich das anstehende Event, und wenn es dann so weit war und ich kreideweiß vor Übelkeit am Tisch saß und fand, dass es eine gute Idee sei, nichts zu essen, anstatt womöglich alles wieder auskotzen zu müssen, fühlte ich mich wie eine einzige Zumutung. Meine Mutter litt sehr unter diesen Situationen – gleichzeitig verdrängten sie und ich das Thema immer wieder, weil es ja »nur« in diesen Ausnahmesituationen ans Tageslicht trat. Ich war längst dabei, Situationen wie diese heimlich zu vermeiden. Auf Partys ging ich schon, aß dort aber nichts. Wenn eine Essenseinladung kam, hatte ich meistens eine Ausrede. Spontan etwas mit nicht vertrauten Leuten essen? Auf gar keinen Fall. Meinen guten Freund:innen fiel meine Phobie trotzdem kaum auf, weil ich in ihrer Anwesenheit, wenn wir zu zweit waren, keine Schwierigkeiten hatte.

Aus heutiger Sicht war Avignon der Beginn meiner Angststörung. Hier vermischten sich Anteile einer sozialen Phobie (Glossar) mit Teilen einer Agoraphobie (Glossar). (Es werden noch weitere Varianten folgen…) Vielleicht waren auch die anderen Erlebnisse, das diffuse Unsicherheitsgefühl in meiner Kindheit sowie die schwierige Zeit in Indien, Mosaiksteinchen, die zusammen mit einer genetischen Disposition1 und weiteren Einflussfaktoren dazu führten, dass dieser blöde, schwere Klumpen namens soziale Angst in mir – irgendwo in der Magengegend – wucherte, so fühlte es sich damals an. Er wucherte übrigens, ohne dass ich auch nur ansatzweise wusste, was ES war, wie ES hieß und was man tun konnte, geschweige denn, dass ich diejenige war, die den Klumpen mit ihren Gedanken zum Wuchern animierte. Ich merkte nur, dass irgendwas mit mir nicht stimmte.

1.2 Angst – Eine Annäherung aus neurobiologischer Perspektive

Eine Welt, in der wir keine Angst haben – sei es vor Unfällen, Einbrechern, vor gefährlichen Tieren, Prüfungen oder vor etwas Großem wie der Klimakrise –, klingt verlockend. Doch so reizvoll die Vorstellung eines angstfreien Lebens erscheint, so gefährlich ist sie. Denn Angst ist ein biologischer Mechanismus, der zwar heute nicht mehr so überlebensnotwendig ist wie in der Steinzeit, aber dennoch eine wichtige Funktion erfüllt.

Warum Angst uns hilft, nicht mit Krokodilen zu kuscheln

OHNE DIE FÄHIGKEIT, ANGST ZU EMPFINDEN, WÄREN WIR SCHON LÄNGST AUSGESTORBEN.

Angst schützt uns beispielsweise davor, einfach auf die Straße zu laufen, hält uns davon ab, mit einem Krokodil zu kuscheln, barfuß über glühende Kohlen zu gehen oder unser ganzes Geld im Kasino auf den Kopf zu hauen. Es wäre schön, wenn sie uns daran hinderte, unseren Planeten weiter zuzumüllen. Angst macht Sinn, indem sie uns hilft, Menschen, Situationen oder Dinge zu umgehen, die uns in Gefahr bringen. Ohne die Fähigkeit, Angst zu empfinden, wären wir schon längst ausgestorben. Deswegen kann es nicht darum gehen, Angst loswerden zu wollen. Das wäre evolutionär gesehen kontraproduktiv.

Aber auch Angst ist eine Emotion, die aus dem Ruder laufen kann. Dann erfüllt sie ihre Schutzfunktion nicht mehr, hat keine positive Auswirkung auf uns und unsere Bewältigungsprozesse und wir fühlen uns danach auch nicht wieder gut. »Bei einer Angsterkrankung entwickeln die Menschen Angst vor ihren Angstsymptomen«, erklärt Professor Dr. Angelika Erhardt, Psychiaterin und Angstforscherin am Max Planck Institut in München und am Universitätsklinikum Würzburg. »Das Angstsystem produziert etwas, womit Sie nichts anfangen können. Im Gegenteil. Diese Symptomatik führt dazu, dass Sie sich einschränken, dass Sie darunter extrem leiden, dass Sie ihren Alltag nicht mehr bewältigen können.«

Das passiert bei Angst

Wie kann es dazu überhaupt kommen? Eine Frage, die zunächst eine andere Frage voraussetzt: Was passiert eigentlich in unserem Gehirn, wenn wir akute Angst spüren?

Amygdala heißt die Region in unserem Hirn, die dafür zuständig ist, Gefahrensituationen zu erkennen und zu beurteilen. Sie gehört zum limbischen System, das größtenteils die Aufgabe hat, Emotionen zu verarbeiten. Ihren komplizierten lateinischen Namen verdankt sie ihrer Form, die an einen Mandelkern erinnert.

Der Thalamus, die sogenannte Sammelstelle für alle Sinneseindrücke (mit Ausnahme des Geruchssinns), übermittelt der Amygdala, welche Situation wahrgenommen wird. Zum Beispiel ein plötzlich auftretendes Geräusch oder etwas, das man aus dem Augenwinkel wahrnimmt, aber nicht erkennt. Einflüsse, die potenziell bedrohlich sein könnten. Die Amygdala meldet an die nachgeschalteten Schutzorgane, dass es sich hierbei um etwas handeln könnte, vor dem man fliehen, mit dem man kämpfen oder vor dem man sich schützen muss. Der Mechanismus der Furchtreaktion wird sekundenschnell hochgefahren: Die Stresshormone Adrenalin und Kortisol werden in hohen Mengen ausgeschüttet, die Muskeln durchblutet, das Herz pocht, damit die Muskeln auch wirklich genug Blut und Sauerstoff haben, was dazu führt, dass wir schneller atmen. Ein Zustand, der auch als Fight-and-Flight-Modus bekannt ist und uns befähigt, innerhalb weniger Sekunden etwas zu tun, was uns schützen kann.

Das Frontalhirn, das evolutionär erst später entstanden ist, kann, vereinfacht dargestellt, als Kontrolleinheit bezeichnet werden. Es kondensiert alle Informationen und gleicht sie mit dem Gedächtnis ab. Dann kommt es entweder zu dem Schluss »Fehlalarm« oder es weiß: »Oh, diese Situation kenne ich und hier ist Vorsicht geboten«. Im ersten Fall werden die Schutzmaßnahmen so schnell runtergefahren, wie sie raufgefahren wurden. Im zweiten Fall wird das Ganze noch mal potenziert.

Jeder Mensch bewertet die Wahrnehmung einer Situation anders – je nach individuellen Erfahrungen, die er:sie gemacht hat. Erlebnisse, die an negative Emotionen gekoppelt und als solche im Gedächtnis gespeichert sind, rufen bei Angstpatient:innen Angst vor ähnlichen Situationen, in denen sie ähnliche Symptome haben könnten, hervor. Diese Angst vor der Angst (Erwartungsangst) kann sich schließlich so manifestieren, dass sich Betroffene verschiedene Strategien ausdenken, um gar nicht erst wieder in so eine Situation zu geraten. Sie setzen alles daran, das Erleben von Angst in Zukunft zu vermeiden. Ab da kann man von einer Angststörung sprechen.

Aber welche Faktoren müssen noch zusammenkommen, damit tatsächlich eine Angststörung entsteht? Eine Frage, auf die Forscher:innen noch keine umfassende Antwort haben. Klar ist: Die Gene spielen eine Rolle, aber keine dominante. »Der genetische Anteil liegt zwischen 40 und 50 Prozent«, sagt Professor Dr. Erhardt. In Familien mit Betroffenen ist das Risiko also größer, aber es wird nicht die Angsterkrankung an sich vererbt. Der Grund: Die genetische Struktur ist auf viele kleine Varianten in unserem genetischen Informationssystem verteilt, die wiederum bei jeder:m anders zusammengesetzt sein können. »Ich würde den genetischen Part eher als eine Art von Basis verstehen«, so Professor Dr. Erhardt, »und wenn da noch etwas dazukommt, sich sozusagen draufsetzt, kann sich eine Angsterkrankung entwickeln.«

Angeboren oder nicht?

Dieses Etwas, das neben der genetischen Veranlagung noch entscheidend für die Entstehung einer Angsterkrankung ist, fassen Wissenschaftler:innen unter dem Begriff der Epigenetik zusammen. Das sind kleine biochemische Prozesse, die an bestimmten Schaltstellen von Genen andocken und mitbestimmen, wann und unter welchen Umständen welches Gen aktiviert und wieder deaktiviert wird. Wenn Genetik die Hardware ist, kann man sich Epigenetik als so etwas wie die Software vorstellen. Sie stellt eine Verbindung zwischen den Genen und sämtlichen Umwelteinflüssen wie Schadstoffen, Stress oder Ernährung her.

Vor allem in Bezug auf die Erforschung des Stresssystems sind derartige epigenetische Prozesse – in Verbindung mit bestimmten Einflüssen in der Kindheit – nachgewiesen worden. Je mehr negative Erfahrungen jemand hier gemacht und abgespeichert hat, desto veränderter sein Stresssystem und desto höher seine Vulnerabilität für psychische Erkrankungen. »Welche epigenetischen Prozesse einen Menschen speziell für eine Angsterkrankung anfällig machen, können wir noch nicht sagen«, so Professor Dr. Angelika Erhardt. Doch auch die Epigenetik ist neben der Genetik nur ein Baustein von vielen. An der Entstehung einer Angst- und/oder Panikstörung können noch weitere psychologische Aspekte beteiligt sein, die es jeweils zu analysieren gilt: frühkindliche Bindungserlebnisse, Traumata, Missbrauch, Gewalterfahrungen, Alkohol- und Drogenkonsum, Medikamente etc.

ES GIBT IM LEBEN EINES MENSCHEN SOGENANNTE SENSIBLE PHASEN.

Was für das Zustandekommen einer Angststörung noch interessant ist: Es gibt im Leben eines Menschen sogenannte sensible Phasen. Das, was in diesen Zeitfenstern passiert, ist maßgeblich daran beteiligt, ob jemand eine Angsterkrankung entwickelt oder nicht. Dazu zählt an erster Stelle die frühe Kindheit – eine Phase, in der im besten Fall das Urvertrauen entsteht, in der – das weiß man heute – die Weichen für das ganze nachfolgende Leben gestellt werden. Hier zeichnet sich bereits ab, ob und wie jemand mit Stress umgehen kann und abhängig davon, wie sein:ihr Angstsystem neuroanatomisch programmiert ist.

Die Angst wächst mit