Hamburgische Dramaturgie - Gotthold Ephraim Lessing - E-Book

Hamburgische Dramaturgie E-Book

Gotthold Ephraim Lessing

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Beschreibung

Die Hamburgische Dramaturgie ist ein zwischen 1767 und 1769 entstandenes Werk von Gotthold Ephraim Lessing über das Drama. Es ist nicht als einheitliches, systematisches Buch konzipiert, sondern als eine Reihe von Theaterkritiken, die Lessing als Dramaturg des Deutschen Nationaltheaters in Hamburg verfasste, wobei er die Notwendigkeit sah, bei der Aufführung von Dramen neue Wege zu gehen. Neben Erläuterungen zu aktuellen Stücken, die heute eher nur noch von historischem Interesse sind, ist die Hamburgische Dramaturgie daher vor allem durch ihre grundsätzlichen Überlegungen zur Poetik, genauer zur Dramentheorie von großer Bedeutung. Bis in Lessings Zeiten hinein galt das Augenmerk der Literaturtheoretiker im Bereich des Dramas der Einhaltung der formalen Regeln, insbesondere der Drei Einheiten, nämlich der Einheit der Handlung, des Ortes und der Zeit. (aus wikipedia.de)

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Hamburgische Dramaturgie

Gotthold Ephraim Lessing

Inhalt:

Gotthold Ephraim Lessing – Biografie und Bibliografie

Hamburgische Dramaturgie

Erster Band

Ankündigung

Erstes Stück

Zweites Stück

Drittes Stück

Viertes Stück

Fünftes Stück

Sechstes Stück

Siebendes Stück

Achtes Stück

Neuntes Stück

Zehntes Stück

Eilftes Stück

Zwölftes Stück

Dreizehntes Stück

Vierzehntes Stück

Funfzehntes Stück

Sechszehntes Stück

Siebzehntes Stück

Achtzehntes Stück

Neunzehntes Stück

Zwanzigstes Stück

Ein und zwanzigstes Stück

Zwei und zwanzigstes Stück

Drei und zwanzigstes Stück

Vier und zwanzigstes Stück

Fünf und zwanzigstes Stück

Sechs und zwanzigstes Stück

Sieben und zwanzigstes Stück

Acht und zwanzigstes Stück

Neun und zwanzigstes Stück

Dreißigstes Stück

Ein und dreißigstes Stück

Zwei und dreißigstes Stück

Drei und dreißigstes Stück

Vier und dreißigstes Stück

Fünf und dreißigstes Stück

Sechs und dreißigstes Stück

Sieben und dreißigstes Stück

Acht und dreißigstes Stück

Neun und dreißigstes Stück

Vierzigstes Stück

Ein und vierzigstes Stück

Zwei und vierzigstes Stück

Drei und vierzigstes Stück

Vier und vierzigstes Stück

Fünf und vierzigstes Stück

Sechs und vierzigstes Stück

Sieben und vierzigstes Stück

Acht und vierzigstes Stück

Neun und vierzigstes Stück

Funfzigstes Stück

Ein und funfzigstes Stück

Zwei und funfzigstes Stück

Zweiter Band

Drei und funfzigstes Stück

Vier und funfzigstes Stück

Fünf und funfzigstes Stück

Sechs und funfzigstes Stück

Sieben und funfzigstes Stück

Acht und funfzigstes Stück

Neun und funfzigstes Stück

Sechzigstes Stück

Ein und sechzigstes Stück

Zwei und sechzigstes Stück

Drei und sechzigstes Stück

Vier und sechzigstes Stück

Fünf und sechzigstes Stück

Sechs und sechzigstes Stück

Sieben und sechzigstes Stück

Acht und sechzigstes Stück

Neun und sechzigstes Stück

Siebzigstes Stück

Ein und siebzigstes Stück

Zwei und siebzigstes Stück

Drei und siebzigstes Stück

Vier und siebzigstes Stück

Fünf und siebzigstes Stück

Sechs und siebzigstes Stück

Sieben und siebzigstes Stück

Acht und siebzigstes Stück

Neun und siebzigstes Stück

Achtzigstes Stück

Ein und achtzigstes Stück

Zwei und achtzigstes Stück

Drei und achtzigstes Stück

Vier und achtzigstes Stück

Fünf und achtzigstes Stück

Sechs und achtzigstes Stück

Sieben und achtzig und acht und achtzigstes Stück

Neun und achtzigstes Stück

Neunzigstes Stück

Ein und neunzigstes Stück

Zwei und neunzigstes Stück

Drei und neunzigstes Stück

Vier und neunzigstes Stück

Fünf und neunzigstes Stück

Sechs und neunzigstes Stück

Sieben und neunzigstes Stück

Acht und neunzigstes Stück

Neun und neunzigstes Stück

Hundertstes Stück

Hundert und erstes, zweites, drittes und viertes Stück

Hamburgische Dramaturgie, G. E. Lessing

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849625528

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Gotthold Ephraim Lessing – Biografie und Bibliografie

Namhafter deutscher Dichter und unübertroffener Kritiker, geb. 22. Jan. 1729 zu Kamenz in der sächsischen Oberlausitz, wo sein Vater Prediger und später Hauptpastor war, gest. 15. Febr. 1781 in Braunschweig, bezog 21. Juni 1741 die Fürstenschule St. Afra in Meißen, auf der er eine gründliche Ausbildung in den alten Sprachen erwarb und bei dem Selbststudium, das nach dem gesunden Prinzip der Fürstenschulen verstattet war, sich mit Vorliebe zu den Charakterdarstellern und Dramatikern Theophrast, Plautus und Terenz wandte. Von poetischen Plänen und Entwürfen gehörte der Meißener Schülerzeit bereits eine erste Bearbeitung des später in Leipzig abgeschlossenen Lustspiels »Der junge Gelehrte« an. Auf der Universität Leipzig, die L. im Herbst 1746 bezog, fühlte er sich von den mittelmäßigen theologischen Vorlesungen keineswegs angezogen, weit mehr jedoch von den philologischen, besonders denjenigen Christs (s. Christ 1), sowie ferner von denen des Mathematikers und Naturforschers A. G. Kästner (s. d.). Von Beziehungen zu Gottsched, der in Leipzig Professor war, hören wir nichts. L. setzte es gelegentlich einer Reise in die Heimat (Anfang 1748) bei seinen Eltern durch, das theologische Studium aufgeben zu dürfen, um sich der Medizin zu widmen und sich »nebenbei auf Schulsachen zu legen«. Doch auch in der Folge betrieb L. seine Studien nur unregelmäßig. Erfüllt von dem Wunsche, das Leben kennen zu lernen und sich von einseitiger Buchgelehrsamkeit frei zu halten, gab er sich den Freuden der Geselligkeit hin, pflegte nahe Beziehungen zum Theater und vervollkommte sich in weltläufigem Benehmen; auch kräftigte er seine Gesundheit durch fleißig betriebene körperliche Übungen. Doch des Jünglings bescheidene Mittel zerrannen schnell bei solcher Lebensführung, und er geriet in allerlei Fährlichkeit und in Schulden. Die Neigung, die er für das Drama schon aus Meißen mitgebracht hatte, wurde in Leipzig, wo Friederike Neuber und ihre Gesellschaft noch spielten, durch die Anschauung einer lebendigen Bühne derart gesteigert, daß die erste literarische Tätigkeit des jungen L., neben anakreontischen Versuchen und kleinen Sinngedichten, sich durchaus auf dramatische Arbeiten und Entwürfe richtete. Das neubearbeitete Lustspiel »Der junge Gelehrte« wurde von der Neuberschen Truppe ausgeführt. Von Lessings sonstigen dramatischen Jugendversuchen aus der Zeit bis 1750 sei noch erwähnt das ausgelassene Possenspiel: »Die alte Jungfer«, das er selber nicht der Aufnahme in seine Schriften würdigte, das Situationslustspiel »Der Misogyn«, ferner »Der Freigeist«, dessen Titelheld von einem ernsten und würdigen Geistlichen beschämt wird, und »Die Juden«, in denen L. sich gegen das herrschende religiöse und soziale Vorurteil erklärt. Anlehnungen an die ältere, speziell sächsische Lustspieldichtung lassen sich in all diesen noch jugendlich unbedeutenden Stücken bemerken; ihr Hauptverdienst besteht in dem flotten, pointierten Dialog. Nachdem im Frühjahr 1748 die Katastrophe der Neuberschen Schauspielergesellschaft eingetreten war, wurde dem jungen Autor und Studenten, der sich für einzelne Mitglieder der Truppe verbürgt hatte, der Boden in Leipzig zu heiß unter den Füßen. Er entwich vor seinen Gläubigern nach Wittenberg, wo er krank ankam. Kaum daß er die Erlaubnis seiner Eltern erhalten, auf dieser zweiten sächsischen Universität seine Studien fortzusetzen, so bedrängten ihn auch hier seine Gläubiger derart, daß er den Entschluß faßte, vorderhand seine Universitätsstudien abzubrechen, vom Ertrag seiner Stipendien seinen Gläubigern gerecht zu werden, für sich selbst aber in Berlin eine literarische Existenz zu suchen.

Im November 1748 kam L. in dürftigem Auszug und völlig mittellos in Berlin an; das Nötigste erwarb er zunächst durch Ordnung der Rüdigerschen Bibliothek, durch Übersetzungen für Buchhändler und auch für Voltaire, dessen Prozeßschriften im Streithandel mit dem Juden Hirsch L. in deutscher Sprache redigierte, ferner durch literarische Besprechungen für die »Vossische Zeitung«, für die er vom April 1751 an ein Bei blatt: »Das Neueste aus dem Reiche des Witzes«, herausgab (genaues Verzeichnis darüber von Muncker in Houbens »Bibliographischen Repertorium«, Bd. 2, Berl. 1905). Hier beginnt sich bereits sein klarer, scharfer, durch Gleichnisse und überraschende Wendungen belebter Prosastil zu entwickeln; die Selbständigkeit seines Urteils zeigt sich besonders gegenüber neu auftauchenden Größen der Literatur, wie Rousseau, Diderot und Klopstock. In Gemeinschaft mit seinem Freunde Christlob Mylius begann er die kurzlebige Zeitschrift »Beiträge zur Historie und Aufnahme des Theaters« (Stuttg. 1750), die namentlich durch einen Aufsatz über Plautus bemerkenswert ist, dessen »Trinummus« L. damals u. d. T.: »Der Schatz« bearbeitete. Seine lyrischen Versuche sammelte er als »Kleinigkeiten« (Stuttg. 1751). Im Dezember 1751 entschloß er sich, Berlin zu verlassen, die Universität Wittenberg abermals zu beziehen, um den Magistergrad zu erwerben. In jugendlicher Neugier und Unbedachtsamkeit ließ er sich die Indiskretion zu schulden kommen, ein Manuskript Voltaires gegen dessen Wissen und Willen auf die Reise mitzunehmen, infolge wovon ein Zerwürfnis zwischen ihm und Voltaire eintrat. In Wittenberg, am Stammsitz des Luthertums, beschäftigte er sich, durch die reichhaltige Bibliothek unterstützt, mit Reformationsgeschichte sowie mit Gelehrtengeschichte und Bibliographie im allgemeinen. Er vollendete damals eine Reihe von Aufsätzen, die er »Rettungen« überschrieb, und in denen sich eine charakteristische Richtung seines Geistes frühzeitig offenbart; L. verteidigt eine Reihe von Männern, hauptsächlich aus dem Reformationszeitalter, gelehrt und scharfsinnig gegen Vorwürfe, die herkömmlich gegen sie erhoben wurden, darunter auch Gegner Luthers, wie Cochläus und Lemnius, ferner Horaz, bei dessen Verteidigung er darlegt, man dürfe nicht alles ernsthaft nehmen, was ein lyrischer Dichter von sich selber berichtet. Auch hat er sich in Wittenberg, durch das Studium Martials angeregt, mit Vorliebe der Epigrammendichtung gewidmet. Noch vor Ablauf des Jahres 1752 kehrte L., nachdem er zum Magister promoviert worden, nach Berlin zurück, schrieb hier wiederum Kritiken für die »Vossische Zeitung« und begründete eine neue »Theatralische Bibliothek« (Berl. 1754–58), die uns noch deutlicher als seine frühere dramaturgische Zeitschrift erkennen läßt, wie er sich durch selbständiges Nachdenken und ausgebreitete Lektüre von dem herkömmlichen französischen Klassizismus allmählich befreite. Nach Mylius' (s. d.) frühem Tode (1754) befreundete er sich immer enger mit Nicolai und Mendelssohn, später auch mit Ramler. Als die Berliner Akademie die Preisaufgabe stellte, das philosophische System des Dichters Pope zu untersuchen, verfaßte er mit Mendelssohn die Schrift »Pope ein Metaphysiker!« (Danzig 1755), in der er dartat, daß der Vortrag eines konsequenten philosophischen Systems dem Wesen der Dichtkunst widerspreche. Sein ausgebreitetes Wissen, sein genialer Einblick in den Kern aller poetischen und literarischen Aufgaben und sein unerschrockener Freimut begannen gefürchtet zu werden, seitdem er, frech herausgefordert, mit seinem überaus scharfen »Vademecum für Herrn Samuel Gotthold Lange, Pastor in Laublingen« (Berl. 1754) an dem seichten und flüchtigen Horaz-Übersetzer und in ihm an der ganzen behaglichen und platten Mittelmäßigkeit in der damaligen schönen Literatur ein Exempel statuiert hatte. Damals faßte er auch seine bisherige Wirksamkeit in der ersten Sammlung seiner »Schriften« (Berl. 1753–1755) zusammen. Band 1 enthält »Lieder und Epigramme«, Band 2 »Kritische Briefe«, größtenteils durch Umarbeitung der Aufsätze im »Neuesten aus dem Reiche des Witzes« entstanden, jedoch mit Hinzufügung einiges Neuen, z. B. des merkwürdigen Tragödienfragments »Samuel Henzi«, in dem L. einen Stoff aus der jüngsten Vergangenheit behandelt, Band 3 »Rettungen«, Band 1–6 »Dramen«, darunter »Miß Sara Sampson« (1755), mit der er im Anschluß an den englischen Familienroman und Lillos »Kaufmann von London« das bürgerliche Trauerspiel in Deutschland begründete. War auch die Führung der Handlung in diesem Drama noch sehr anfechtbar, der Dialog oft breit und rührselig, die Charakteristik der Hauptperson frischen Lebens bar, so zeugten doch einzelne Szenen und namentlich das Charakterbild der Lady Marwood von einer Kraft und Eigenart, die alle Zeitgenossen übertraf.

L. vertauschte im Oktober 1755 Berlin wieder mit Leipzig und konnte bald darauf seinen Berliner Freunden von einer Aussicht melden, über die er große Genugtuung empfand: er sollte als Reisebegleiter eines jungen Leipziger Patriziers, Winkler, Ostern 1756 eine auf drei Jahre berechnete Bildungsreise nach den Niederlanden, England, Frankreich, Italien antreten. Er bereitete sich ernsthaft auf die Reise vor, die in der Tat 10. Mai angetreten wurde und L. durch das nördliche Deutschland nach den Niederlanden führte, wo von Amsterdam aus die vorzüglichsten Städte besucht wurden. Der Ausbruch des Siebenjährigen Krieges aber und die Besetzung Leipzigs durch preußische Truppen trieben Winkler nach Leipzig zurück, wohin ihm L. notgedrungen folgen mußte. Da es hier rasch zu einem Zerwürfnis zwischen L. und seinem seitherigen Genossen kam, das in einen erst nach Jahren (1764) zu Lessings gunsten erledigten Prozeß auslief, so sah sich der Schriftsteller, der auf drei Jahre der Sammlung und Muße gehofft hatte, wieder auf seine Feder angewiesen und mußte mehr als je zuvor zu Übersetzungen, Korrekturen und andern Notbehelfen greifen. Zunächst hielt ihn der Verkehr mit dem preußischen Major Ew. v. Kleist (dem Dichter) in Leipzig zurück; als aber dieser im Mai 1758 zur preußischen Feldarmee ging, zog es auch L. wieder nach Berlin. Hier lebte er von 1758–60 unter den Eindrücken der Taten und Wechselfälle des Siebenjährigen Krieges. Mit seinen Freunden vereinigte er sich zur Herausgabe eines neuen kritischen Organs für Besprechung der neuern deutschen schönwissenschaftlichen Literatur: der »Briefe die neueste Literatur betreffend« (Berl. 1759–65, 24 Bde.), für die er besonders 1759 tätig war; hervorzuheben sind die Briefe, in denen er Wieland und Klopstock bespricht, die Gottschedsche Richtung in der dramatischen Literatur bekämpft, Shakespeare als den größten dramatischen Dichter feiert und eine Szene aus seinem unvollendeten Faustdrama mitteilt (Brief 17). Er veröffentlichte nebenbei drei Bücher seiner »Fabeln« in Prosa nebst Abhandlungen, in denen er zum erstenmal nicht nur als Kritiker, sondern auch als Theoretiker auftrat (Berl. 1759), und das kleine, in einer knappen, scharfen Prosa abgefaßte Trauerspiel »Philotas« (das. 1759), in dem sich trotz dem antiken Schauplatz der Handlung doch die patriotische Erregung der Zeit widerspiegelt. Auch schrieb er damals sein erst später aus Lessings Nachlaß von Eschenburg (1790) veröffentlichtes »Leben des Sophokles«, gab »Logaus Sinngedichte« (Leipz. 1759) heraus und übertrug »Das Theater des Herrn Diderot« (Berl. 1760, 2 Bde.), die verwandten Bestrebungen des französischen Kritikers und Dichters teils richtig würdigend, teils überschätzend. Die Unsicherheit seiner Lage, der erneut wiederkehrende Wunsch, sich größern Arbeiten in aller Muße und ohne Rücksicht auf ihre frühere oder spätere Vollendung widmen zu können, veranlaßten L., eine Stellung als Sekretär des Generals Tauenzien, des Gouverneurs von Schlesien, anzunehmen und im Herbst 1760 nach Breslau zu gehen. Wenn auch die Freunde darüber den Kopf schüttelten, daß sich L. in eine Flut von ganz unliterarischen, militärischen und bürgerlichen Geschäften hineingestürzt habe und er selbst in einigen Briefen über die Last ermüdender, unbedeutender Beschäftigungen, erlogener Vergnügen und Zerstreuungen klagte, so ward ihm doch der mehrjährige Aufenthalt in Breslau fruchtreich: während die Freunde, zumal nach dem Heldentode des von L. tief betrauerten Kleist (1759), dem rastlos vorwärts strebenden nicht mehr viel zu bieten vermochten, konnte er hier »in sich selbst Wurzel fassen«, sich in ernste Studien, z. B. des Spinoza und der Kirchenväter, versenken, lebendiger Wirklichkeit, die ihn umgab, die poetische Seite abgewinnen und fand Gelegenheit, nicht nur seine Familie reichlich zu unterstützen (was er übrigens auch in seinen dürftigsten Lagen über seine Kräfte hinaus getan), sondern auch eine beträchtliche Bibliothek zu sammeln, die er freilich schon in den nächsten Jahren als Notpfennig betrachten und wieder veräußern mußte. Die wichtigsten Erträgnisse der (bis 1765 währenden) Breslauer Zeit waren das Lustspiel »Minna von Barnhelm, oder das Soldatenglück« (Berl. 1767) und »Laokoon, oder über die Grenzen der Malerei und Poesie« (das. 1766, erster Teil; der zweite ward nie vollendet): ersteres das klassische Lustspiel der Deutschen, nach Goethe »die wahrste Ausgeburt des Siebenjährigen Krieges, die erste aus dem bedeutenden Leben gegriffene Theaterproduktion«; letzterer eine der ästhetisch-kritischen Hauptschriften Lessings, durch die er die Überschätzung der beschreibenden Poesie beseitigte, die Handlung in der Poesie und damit die dramatische und erzählende Dichtung in ihr Recht einsetzte und nach der literarischen Seite hin klärend und grundlegend im höchsten Sinne wirkte. Der Satz, daß der Dichter nicht malen solle, gehört seitdem, um mit Vischer zu reden, »zum A B C der Ästhetik«.

Trotz der literarischen Stellung, die L. nach diesen Werken einnahm, wollte sich eine seiner Natur entsprechende bürgerliche Stellung für ihn nicht finden. Er war 1765 nach Berlin zurückgekehrt, wo man ihm Hoffnungen auf eine Berufung als Bibliothekar gemacht hatte. Als diese Hoffnung trotz wertvoller Fürsprache des einflußreichen Obersten Quintus Icilius an dem Widerstand Friedrichs d. Gr. gescheitert war, erschien ihm Berlin als eine »verzweifelte Galeere«; er sehnte sich hinweg und nahm daher mit Freuden eine Aufforderung an, seine Kräfte dem »Nationaltheater« zu widmen, das man soeben in Hamburg errichtete. Als Dramaturg der neuen Bühne begab er sich im April 1767 nach Hamburg, das ihm als Stadt schon beim ersten Sehen sehr behagte. Seine Hauptaufgabe sollte die Abfassung einer kritischen Zeitschrift sein, die »jeden Schritt begleiten sollte, den die Kunst sowohl des Dichters als des Schauspielers tun würde« und als »Hamburgische Dramaturgie« in der Tat 1. Mai 1767 ins Leben trat. Die schlecht vorbereitete und schlecht geleitete, vom unreifen Publikum jener Tage noch schlechter unterstützte Unternehmung brach indes schon nach kurzer Zeit zusammen; ihr größter Ruhm bleibt, zu Lessings »Dramaturgie« den äußern Anlaß gegeben zu haben. Während ihres Erscheinens entfernte sich L. immer mehr von seiner ursprünglichen Absicht. In den ersten 25 Nummern (Stücken) kritisiert er eingehend die Schauspieler, namentlich Ekhof. Später wurde ihm diese Seite seiner Tätigkeit, die er mit großem Glück durchgeführt hatte, durch kleinliche Empfindlichkeiten, besonders der ersten Schauspielerin der Bühne, Frau Hensel, verleidet. Er sprach nur noch über die Dichter, und zwar sehr eingehend, indem er die Gelegenheit benutzte, den reichen Schatz seiner Gedanken über die dramatische Kunst, namentlich seine Ansichten über Aristoteles' »Poetik«, über Shakespeare, über die französische Tragödie und ihr Verhältnis zu Shakespeare und zum antiken Drama ausführlich darzulegen. Der zeitliche Abstand zwischen den einzelnen Stücken und den besprochenen Aufführungen wurde immer größer, das letzte Stück (im April 1768) behandelte eine Ausführung, die nach Lessings Angabe am 28. Juli, in Wahrheit am 11. Aug. 1767 stattgefunden hatte. So wurde die »Dramaturgie«, wie L. mit Recht bemerkt, etwas andres, als man anfangs beabsichtigt hatte, aber wahrlich nichts Schlechteres. Nach dem Scheitern des Theaters setzte L. noch kurze Zeit hindurch Hoffnungen auf den Erfolg eines Verlagsgeschäfts, das er mit Chr. Gode begründet hatte. Als auch dieser ausblieb, fand L., daß es ihm unmöglich sein werde, »des Sperlings Leben auf dem Dach« in dem geliebten Hamburg fortzusetzen, und entschloß sich im Herbst 1769, die ihm angetragene Stellung als Bibliothekar der herzoglichen Bibliothek in Wolfenbüttel anzunehmen. Die letzte Zeit in Hamburg war durch die Abfassung der »Briefe antiquarischen Inhalts« (Berl. 1768–69) bezeichnet gewesen. In ihnen wurde der ränkesüchtige Professor Chr. A. Klotz, der sich als Führer einer literarischen Clique hohler und anmaßlicher Gesellen hervorgetan, mit unglaublicher Schärfe, aber auch mit gründlichster Gelehrsamkeit angegriffen. Auch die Untersuchung: »Wie die Alten den Tod gebildet« (Berl. 1769) ging aus den Klotzschen Händeln hervor. Kurz vor seiner Abreise von Hamburg hatte L. dann noch die Freude, dort mit Herder zusammenzutreffen.

In Wolfenbüttel, wo L. sein Amt im Frühjahr 1770 antrat, begann er eine Reihe von Veröffentlichungen aus den handschriftlichen Schätzen der Bibliothek, von denen die Schrift über »Berengarius Turonensis« (Braunschw. 1770) den Anfang machte, während sich die Abhandlungen und Fragmente »Zur Geschichte und Literatur« (das. 1773–81, 6 Bde.) über eine Reihe von Jahren erstreckten. Wie wertvoll einzelne dieser Publikationen auch sein mochten, so war es für die deutsche Literatur wichtiger, daß L. gleich in der ersten Zeit nach seiner Niederlassung in Wolfenbüttel ein poetisches Meisterwerk wie seine Tragödie »Emilia Galotti« (Berl. 1772) vollendete, deren Anfänge ins Jahr 1757 zurückreichen. Hier erscheint die Charakterzeichnung, die packende Lebenswahrheit, die epigrammatische Knappheit der Sprache auf gleicher Höhe wie in »Minna von Barnhelm«, die Diktion ist sogar geistreicher und gedankenhaltiger als in irgend einer andern Dichtung Lessings; dagegen wird gegen die tragische Lösung der Verwickelung jederzeit ein gewisser Einwand der Logik und Empfindung übrigbleiben, was die Wahrheit der Goetheschen Worte nicht aufhebt, daß in diesem Drama eine ungeheure Kultur enthalten sei. Auch ließ L. damals den ersten Band einer neuen Sammlung seiner »Vermischten Schriften« erscheinen (1771), der außer kleinern Gedichten auch eine eindringende und scharfsinnige Abhandlung über das Epigramm enthält. Leider gestalteten sich die Lebensverhältnisse Lessings nicht danach, ihm Lust und Mut zum poetischen Schaffen zu erhöhen. Er hatte das Amt in dem »stillen Winkel« Wolfenbüttel mit deshalb übernommen, weil er, wie es scheint zum erstenmal im Leben, den starken Wunsch empfand, sich zu vermählen. Die Witwe eines ihm befreundeten Hamburger Kaufmanns, die geistesklare, willenskräftige Eva König (geb. 22. März 1736 in Heidelberg), wurde seine Verlobte. Da sie aber das ausgebreitete Geschäft ihres verstorbenen Gatten zu leiten und zu liquidieren hatte, um ihren Kindern einen Teil ihres Vermögens zu retten, und sich die Entscheidung dieser Dinge jahrelang hinzog, da inzwischen auch er mit mancherlei Mißhelligkeiten zu kämpfen hatte, so schlossen die Jahre zwischen 1771 und 1776 vielerlei bittere Erfahrungen und trübe Stimmungen für L. ein. Pläne, eine andre Stellung zu gewinnen, kamen über den ersten Entwurf nicht hinaus. Im Anfang 1775 riß sich L. für kurze Zeit von Wolfenbüttel los, ging über Dresden und Prag nach Wien, wo er seine Verlobte nach langer Trennung wiedersah. Die Aufnahme, die er in Wien in allen Kreisen und selbst bei der Kaiserin Maria Theresia fand, war durchaus ehrenvoll. Trotzdem sehnte er sich nach Wolfenbüttel zurück, weil sich die Aussichten für eine endliche Verbindung mit Eva König günstiger gestaltet hatten. So nahm er es mit geteilter Empfindung auf, daß ihn Prinz Leopold von Braunschweig aufforderte, als Reisegefährte mit ihm Italien zu besuchen. Er glaubte es seinem Verhältnis zum braunschweigischen Hof und seiner Zukunft schuldig zu sein, dem Verlangen des Prinzen zu willfahren. Die ursprünglich auf wenige Monate berechnete Reise, die sich bis nach Neapel und nach Korsika ausdehnte, und von der L. erst 23. Febr. 1776 in Braunschweig wieder eintraf, genoß er so unter eigentümlichen Umständen und, da die Korrespondenz mit Eva König völlig ins Stocken geriet, nur halb; tiefere Eindrücke der Reise auf sein geistiges Leben können nicht nachgewiesen werden. Nachdem er im Sommer 1776 eine mäßige Gehaltserhöhung und den Titel eines Hofrats erhalten, fand im Oktober d. J. auf dem York bei Hamburg seine Hochzeit statt. Ein friedvolles, glückliches Jahr (1777) war L. beschieden. Im Januar 1777 unternahm er eine Reise nach Mannheim, wo man ihm Hoffnungen auf eine Anstellung als Dramaturg gemacht hatte, die sich indessen nicht erfüllten. Am 10. Jan. 1778 starb Eva L. infolge der Geburt eines Sohnes, der nur wenige Stunden am Leben geblieben war. In tiefster Erschütterung sah sich L. wiederum und tiefer als zuvor vereinsamt. Noch in dem Jahre des Verlustes seiner Frau ward er in neue härtere und erbittertere Streitigkeiten als je zuvor verwickelt. In seinen Publikationen aus den handschriftlichen Schätzen der Bibliothek zu Wolfenbüttel hatte er schon 1774 ein Bruchstück: »Von Duldung der Deisten, Fragment eines Ungenannten«, mitgeteilt, dem er 1777 und 1778 weitere »Fragmente« (die Offenbarung, die Geschichte der Auferstehung etc. betreffend) folgen ließ. Verfasser des Manuskripts war der 1768 verstorbene Gymnasiallehrer Sam. Hermann Reimarus (s. d.) in Hamburg, ein rationalistischer Deist nach dem Muster der englischen und französischen Deisten und Freidenker des 18. Jahrh. L., der auch in andern den Drang zur Wahrheit am höchsten achtete, stimmte keineswegs mit den Anschauungen des Fragmentisten unbedingt überein. Als indes die unduldsamen Zionswächter der alten Orthodoxie begannen, die Beschuldigung gegen ihn zu schleudern, daß er »feindselige Angriffe gegen unsre allerheiligste Religion« verfaßt und unter seinen Schutz genommen, als namentlich der Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze (s. d.) gegen L. zu polemisieren begann, nahm dieser den hingeworfenen Fehdehandschuh auf und verfocht das Recht der Skepsis gegenüber dem geistlosen Buchstabenglauben, pfäffischer Verdammungssucht und hochmütigem Dünkel. Die Streitschriften Lessings: »Nötige Antwort auf eine sehr unnötige Frage«, »Axiomata«, »Anti-Goeze« (sämtlich Braunschw. 1778), ausgezeichnet durch Schärfe der Logik, hinreißende Beredsamkeit und unvergleichlichen Reiz des Stiles, überlebten den Kampf und seinen Anlaß. Am Ende wurde L., da er nicht zu besiegen war, durch Denunziationen bei seiner Regierung zum Schweigen gebracht und so genötigt, »seine alte Kanzel, das Theater« noch einmal zu besteigen, um ein letztes Work zu gunsten der Toleranz und des Humanitätsgedankens zu sprechen. Auf Subskription ließ er die Dichtung »Nathan der Weise« (o. O. 1779) erscheinen. Hier kehrte L. zur Form der gebundenen Rede zurück und wählte die Form des fünffüßigen Jambus, die er bis dahin nur in unvollendet gebliebenen Entwürfen (»Kleonnis«, »Fatime«) verwendet hatte. Dies Drama hat seine Stärke nicht in der straffen Schürzung und Lösung der Handlung. sondern neben der meisterhaften, psychologisch tiefen Charakteristik wirkt das Pathos edelster Gesinnung und reinster Überzeugung mit unwiderstehlicher Gewalt. Der »Nathan« war Lessings letzte große dichterische Tat. Im nächsten Jahr veröffentlichte er noch die Schrift »Die Erziehung des Menschengeschlechts« (Berl. 1780; vgl. Knittel, G. E. Lessings »Erziehung des Menschengeschlechts«, Vened. 1893) und vollendete »Ernst und Falk, Gespräche für Freimaurer« (Wolfenb. 1778–80), in beiden die Hauptideen wiederum darlegend, die ihn in den letzten Jahren erfüllt und bewegt hatten. Seine physische Kraft war seit dem Tode seiner Gattin gebrochen, flackerte bei einzelnen Ausflügen nach Hamburg und Braunschweig gleichsam nur wieder auf. Bei einem Besuch in Braunschweig erkrankte und starb er 15. Febr. 1781. Den ersten Nachruf, der seinem ganzen Verdienst gerecht wurde, widmete ihm Herder in Wielands »Merkur«.

Lessings Persönlichkeit gehört zu denen, die lebendig und fruchtbar nachwirkend im Bewußtsein ihres Volkes bleiben. Sein Streben und Schaffen ist für die Entwickelung des geistigen Lebens der Deutschen, ja man darf sagen aller heutigen Kulturvölker, von unermeßlichem Einfluß gewesen. Sein poetisches Talent bewährte sich ganz überwiegend auf dem dramatischen Gebiet. Lessings lyrische Gedichte stammen zum größten Teil aus seinen Jünglingsjahren und stehen hinter den besten Leistungen seiner Zeitgenossen zurück. Unter seinen sämtlichen kleinen Reimereien hat nur das Lied: »Gestern, Brüder, könnt ihr's glauben« sich im Gedächtnis der Nachkommen erhalten. Lehrhafter Scherz und lehrhafter Ernst sind neben der Präzision und Reinheit des Ausdrucks das Beste, was wir in seinen oft epigrammatisch zugespitzten lyrischen Erzeugnissen antreffen. Höher stehen seine Fabeln, obwohl auch bei ihnen seine der Weitschweifigkeit und behaglichen Breite von damals bewußt entgegengesetzte Knappheit und Kürze das Hauptverdienst ist. Auch seine Epigramme, die sich meist an überlieferte Motive anlehnen, überragen die bessern gleichzeitigen nur in einzelnen schärfern Pointen. Die poetische Produktion auoll bei L. nicht unmittelbar aus dem Gefühl. Er selbst hat bekanntlich in einer viel erörterten Stelle der »Dramaturgie« sich das dichterische Genie abgesprochen. »Ich fühle«, sagt er dort, »die lebendige Quelle nicht in mir, die durch eigne Kraft sich emporarbeitet, durch eigne Kraft in so reichen, so frischen, so reinen Strahlen aufschießt: ich muß alles durch Druckwerk und Röhren aus mir herauspressen.« Doch ist zu erwägen, daß L. sich hier wie anderwärts in absichtlich schroffen Gegensatz gegen das neue Geniewesen stellt, das bald darauf in der Sturm- und Drangperiode zur Herrschaft gelangte und die messende und abwägende Tätigkeit des poetischen Künstlers geringschätzte. Größere, ja unvergängliche Verdienste hat sich L. auf dem Felde der poetischen Theorie und Kritik erworben. Seiner reformatorischen Tätigkeit in der Literatur steht die in der Theologie bedeutsam zur Seite. Schon die Wittenberger »Rettungen« zeigen L. bemüht, die Freiheit prüfender Forschung in Glaubenssachen als heiliges Recht der Menschheit zu vindizieren. Der weitere Entwickelungsgang Lessings, den wir an der Hand einiger, erst nach seinem Tode veröffentlichter Aufsätze, wie »Gedanken über die Herrenhuter« und »Christentum der Vernunft«, verfolgen können, mußte ihn von jenem Punkt aus notwendig zum Bruch mit der Offenbarung führen. Immer mehr lernte er den Wahn, daß die echte Religiosität ohne kirchliche Orthodoxie unmöglich sei, vom Standpunkt der Logik und der Humanität aus als töricht und verderblich erkennen. Zu einer in sich einstimmigen und abgeschlossenen Weltanschauung hat er sich jedoch nicht durchgerungen; in der Hauptsache schloß er sich wie die meisten seiner Zeitgenossen an Leibniz an; in der letzten Zeit schenkte er auch Spinozas Philosophie größere Aufmerksamkeit. Aber die kritische Negation überwog durchaus bei L. Was seinen Schriften unvergänglichen Wert verleiht, ist nicht sowohl die Darlegung einer gefestigten philosophischen oder religiösen Überzeugung, als die vernichtende Abwehr aller den Menschengeist fesselnden Dogmatik. Anderseits war ihm die Geringschätzung des Kirchenglaubens durch Halbgebildete durchaus zuwider; er kannte die theologische Literatur zu gründlich, um nicht Achtung vor der darin aufgespeicherten Geistesarbeit zu hegen.

L. steht als der mannhafteste Charakter der deutschen Literaturgeschichte da; sein Leben ist ein fast ununterbrochener Kampf gewesen. Die gewaltige geistige Kraft, die ihn zu diesem befähigte, zeigte sich auch in seiner leiblichen Erscheinung ausgeprägt. Eine ungemeine Freundlichkeit und ein vollkommen anspruchsloses Wesen zeichneten ihn trotz seiner so entschiedenen Eigenartigkeit aus. Tiefe Abneigung gegen Unwahrhaftigkeit und Heuchelei, gegen alles leere Scheinwesen machte einen der hervorstechendsten Grundzüge seines Wesens aus. Nicht hoch genug wissen die Freunde seine Unterhaltungsgabe zu rühmen: sehr begreiflich, wenn man erwägt, mit welch wunderbarer Meisterschaft der Darstellung L. als Schriftsteller auch den trockensten Materien eine Anziehungskraft zu leihen verstand, die uns noch heute für Schriften und Bildwerke, die im übrigen längst verschollen sind, das lebendigste Interesse abgewinnt. Der Stil keines Schriftstellers ist so anregend wie der Lessings. Wir vernehmen in seinem Vortrag, nach Vilmars treffender Charakteristik, »ein geistreiches, belebtes Gespräch, in welchem gleichsam ein Gedanke auf den andern wartet, einer den andern hervorlockt, einer von dem andern abgelöst, durch den andern berichtigt, gefördert, entwickelt und vollendet wird; Gedanke folgt auf Gedanke, Zug um Zug, im heitersten Spiel und dennoch mit unbegreiflicher Gewalt auf uns eindringend, uns mit fortreißend, beredend, überzeugend, überwältigend«. – Unter den Bildnissen Lessings behaupten das angeblich von Tischbein gemalte (s. Tafel »Deutsche Klassiker des 18. Jahrhunderts«, beim Artikel »Klassiker«), wahrscheinlich aus der Breslauer Zeit herrührende (jetzt in der Berliner Nationalgalerie befindlich), das für Gleim angefertigte Halberstädter, dem Maler May zugeschriebene Porträt und das von A. Graff 1771 in Berlin gemalte den obersten Rang. Statuarisch verherrlichen ihn das bekannte Meisterwerk Rietschels in Braunschweig (seit 1853; s. Tafel »Bildhauerkunst XVI«, Fig. 4), die sitzende Statue von Schaper auf dem Gänsemarkt in Hamburg (seit 1880) und die Statue von Otto Lessing im Berliner Tiergarten (seit 1890; s. Tafel »Berliner Denkmäler II«, Fig. 4). In seiner Vaterstadt Kamenz wurde zu seinem Andenken 1826 das Lessing-Stift, ein Hospital für Bedürftige aller Konfessionen, gegründet.

[Ausgaben, Briefwechsel.]L. hat nach der ersten Sammlung seiner »Schriften« (1753–55, s. oben) keine Gesamtausgabe veranstaltet; die Ausgabe, deren erster Band 1771 erschien, wurde erst nach seinem Tode von seinem Bruder fortgesetzt (Berl. 1771–94, 30 Bde.); sodann (hrsg. von Schink, mit Biographie) daselbst 1825–26, 30 Bde.; später folgten die »Gesammelten Werke« (Leipz. 1841 u. ö.). Die erste philologisch korrekte Ausgabe der »Sämtlichen Schriften« war die von Lachmann (Berl. 1838–40, 13 Bde.; 2., verschlechterte Ausg. von W. v. Maltzahn, Leipz. 1853–57, 12 Bde.; 3., gute Ausg. von Muncker, das. 1886–1904, Bd. 1–17 und Bd. 19, auch die Briefe enthaltend). Wertvoll ist auch die Hempelsche Ausgabe, namentlich in den von Boxberger, Redlich und Schöne besorgten Teilen (Berl. 1868–79, 20 Tle.). Noch andre Ausgaben veranstalteten Gosche und Boxberger (illustriert, Berl. 1875–76, 8 Bde.), H. Göring (Stuttg. 1885, 20 Bde.), Muncker (das. 1886, 6 Bde.), Boxberger-Blümner (in Kürschners »Deutscher Nationalliteratur«, das. 1883 ff., 14 Bde.). Eine Auswahl, besorgt von F. Bornmüller, erschien in Meyers Klassikerausgaben (Leipz. 1884, 5 Bde.); eine Ausgabe der drei dramatischen Hauptdichtungen, mit Einleitung, von H. Hettner (das. 1869). Der Briefwechsel Lessings wurde gut von Redlich (in der Hempelschen Ausgabe; auch separat, Berl. 1884; Nachträge 1886) und von Muncker (in seiner großen Ausgabe der Werke, s. oben) veröffentlicht, der Briefwechsel zwischen L. und seiner Frau von Schöne (2. Aufl., Leipz. 1886) neu herausgegeben. Lessings »Übersetzungen aus dem Französischen Friedrichs des Großen und Voltaires« veröffentlichte E. Schmidt (Berl. 1892). Von Einzelausgaben und Erläuterungsschriften zu einzelnen Werken seien erwähnt: die »Abhandlungen über die Fabel«, hrsg. von Prosch, Wien 1890 (vgl. A. Fischer, Lessings Fabelabhandlungen, kritische Darstellung, Berl. 1891); »Laokoon«, herausgegeben von Cosack (4. Aufl., das. 1890), von Blümner (2. Aufl., das. 1880); »Hamburgische Dramaturgie«, herausgegeben von Schröter und Thiele (Halle 1877–78; Ausg. für Schule und Haus, das. 1895); vgl. Cosack, Materialien zu Lessings »Hamburgische Dramaturgie« (2. Aufl., Paderb. 1891); K. Werder, Über Lessings. Nathan' (Berl. 1892); F. Naumann, Literatur über Lessings ›Nathan‹ (Dresd. 1867).

[Biographische Literatur etc.]Die erste ausführliche Biographie Lessings schrieben Danzel u. Guhrauer: »L. Sein Leben und seine Werke« (Leipz. 1850–54, 2 Bde.; Danzels Anteil wertvoll, aber schwerfällig, Guhrauers von weit geringerer Bedeutung; 2. Aufl. von v. Maltzahn und Boxberger, Berl. 1880); das beste Werk ist Erich Schmidts »L., Geschichte seines Lebens und seiner Schriften« (das. 1884 bis 1892, 2 Bde.; 2. Aufl. 1899). Mehr populäre Haltung haben die Lessing-Biographien von A. Stahr (9. Aufl., Berl. 1886, 2 Bde.), Düntzer (Leipz. 1881, fast ausschließlich den äußern Lebenslauf darstellend), Baumgartner (Freib. 1877, ultramontan), Borinski (Berl. 1900), Ernst (Stuttg. 1903), Kiy (Halle 1904) und die unnötigerweise auch in deutscher Sprache bearbeiteten englischen von Sime (Lond. 1877; deutsch von Strodtmann, Berl. 1879) und Helen Zimmern (Lond. 1878; deutsch, Celle 1878). Aus der übrigen Literatur über L. sind noch folgende Schriften hervorzuheben: Fr. Schlegel, Lessings Geist aus seinen Schriften (Leipz. 1804, 3 Bde.); Kuno Fischer, L. als Reformator der deutschen Literatur (Stuttg. 1881, 2 Bde.; 4. Aufl. 1896); Cherbuliez, Etudes de littérature et d'art (Par. 1873); Grucker,Histoire des doctrines littéraires et esthétiquesen Allemagne, Bd. 2: Lessing (Nancy 1896); über Lessings Philosophie und Weltanschauung: Hebler, Lessing-Studien (Bern 1862); R. Mayr, Beiträge zur Beurteilung Lessings (Wien 1880); Ritter, Lessings philosophische und religiöse Grundsätze (Götting. 1847); Rehorn, Lessings Stellung zur Philosophie des Spinoza (Frankf. 1877); Spicker, Lessings Weltanschauung (Leipz. 1883); Wundt, L. und die kritische Methode (in den »Essays«, das. 1885); über Lessings Theologie: K. Schwarz, L. als Theologe (Halle 1854); Bergmann, Hermäa (Leipz. 1883); Reinkens, L. über Toleranz (das. 1883); Dühring, Die Überschätzung Lessings und dessen Anwaltschaft für die Juden (Karlsr. 1881); Nieten, Lessings religionsphilosophische Anschauungen bis zum Jahre 1770 (Dresd. 1896); Sell, Die Religion unsrer Klassiker (Tüb. 1904); ferner: Kont, L. archéologue (Par. 1894); Gottschlich, Lessings aristotelische Studien (Berl. 1876); Crouslé, L. et le goût françaisen Allemagne (Par. 1863); Belling, Die Metrik Lessings (Berl. 1887); Düsel, Der dramatische Monolog in der Poetik des 17. und 18. Jahrhunderts und in den Dramen Lessings (Hamb. 1897); Bulthaupt, Dramaturgie des Schauspiels, Bd. 1 (10. Aufl., Oldenb. 1904); Kettner, Lessings Dramen im Lichte ihrer und unsrer Zeit (Berl. 1904); Saitschick, Genie und Charakter. Shakespeare, L., Schopenhauer, R. Wagner (das. 1900); Kalischer, L. als Musikästhetiker (Dresd. 1889); Mönckeberg, L. als Freimaurer (Hamb. 1880); P. Albrecht, Lessings Plagiate (das. 1891 ff., unvollendet); B. A. Wagner, Lessingforschungen (Berl. 1881, Untersuchungen über anonym Erschienenes aus Lessings Jugendzeit); E. Consentius, Der Wahrsager. Zur Charakteristik von L. und Mylius (Leipz. 1900), L. und die Vossische Zeitung (das. 1902) und Freigeister, Naturalisten, Atheisten. Ein Aufsatz Lessings im »Wahrsager« (das. 1899); Braun, L. im Urteile seiner Zeitgenossen (Berl. 1884–97, 3 Bde.).

Lessings jüngerer Bruder, Karl Gotthelf, geb. 1740 in Kamenz, gest. 17. Febr. 1812 als Münzdirektor in Breslau, verfaßte eine Biographie seines Bruders Gotthold (1793) und einige dramatische Dichtungen, z. B.: »Der stumme Plauderer«, »Die Mätresse« (Neudruck, Heilbr. 1887) u.a., die gesammelt als »Schauspiele« (Berl. 1777–80, 2 Bde.) erschienen. Von H. L. Wagners »Kindermörderin« veranstaltete er eine eigenmächtige Umarbeitung. Vgl. Wolff, Karl Gotthelf L. (Berl. 1886). – Ein andrer Bruder, Theophilus, mit dem L. in Wittenberg zusammen studierte, geb. 12. Nov. 1732, seit 1778 Konrektor in Chemnitz, gest. 6. Okt. 1808, erwarb sich einigen Ruf als lateinischer Dichter. Vgl. Kirchner, Theophilus L. und das Chemnitzer Lyzeum (Chemn. 1882).

Hamburgische Dramaturgie

Erster Band

Ankündigung

Es wird sich leicht erraten lassen, daß die neue Verwaltung des hiesigen Theaters die Veranlassung des gegenwärtigen Blattes ist.

Der Endzweck desselben soll den guten Absichten entsprechen, welche man den Männern, die sich dieser Verwaltung unterziehen wollen, nicht anders als beimessen kann. Sie haben sich selbst hinlänglich darüber erklärt, und ihre Äußerungen sind, sowohl hier, als auswärts, von dem feinern Teile des Publikums mit dem Beifalle aufgenommen worden, den jede freiwillige Beförderung des allgemeinen Besten verdienet, und zu unsern Zeiten sich versprechen darf.

Freilich gibt es immer und überall Leute, die, weil sie sich selbst am besten kennen, bei jedem guten Unternehmen nichts als Nebenabsichten erblicken. Man könnte ihnen diese Beruhigung ihrer selbst gern gönnen; aber, wenn die vermeinten Nebenabsichten sie wider die Sache selbst aufbringen; wenn ihr hämischer Neid, um jene zu vereiteln, auch diese scheitern zu lassen, bemüht ist: so müssen sie wissen, daß sie die verachtungswürdigsten Glieder der menschlichen Gesellschaft sind.

Glücklich der Ort, wo diese Elenden den Ton nicht angeben; wo die größere Anzahl wohlgesinnter Bürger sie in den Schranken der Ehrerbietung hält, und nicht verstattet, daß das Bessere des Ganzen ein Raub ihrer Kabalen, und patriotische Absichten ein Vorwurf ihres spöttischen Aberwitzes werden!

So glücklich sei Hamburg in allem, woran seinem Wohlstande und seiner Freiheit gelegen: denn es verdienet, so glücklich zu sein!

Als Schlegel, zur Aufnahme des dänischen Theaters, – (ein deutscher Dichter des dänischen Theaters!) – Vorschläge tat, von welchen es Deutschland noch lange zum Vorwurfe gereichen wird, daß ihm keine Gelegenheit gemacht worden, sie zur Aufnahme des unsrigen zu tun: war dieses der erste und vornehmste, »daß man den Schauspielern selbst die Sorge nicht überlassen müsse, für ihren Verlust und Gewinnst zu arbeiten.«1 Die Principalschaft unter ihnen hat eine freie Kunst zu einem Handwerke herabgesetzt, welches der Meister mehrenteils desto nachlässiger und eigennütziger treiben läßt, je gewissere Kunden, je mehrere Abnehmer, ihm Notdurft oder Luxus versprechen.

Wenn hier also bis itzt auch weiter noch nichts geschehen wäre, als daß eine Gesellschaft von Freunden der Bühne Hand an das Werk gelegt, und nach einem gemeinnützigen Plane arbeiten zu lassen, sich verbunden hätte: so wäre dennoch, bloß dadurch, schon viel gewonnen. Denn aus dieser ersten Veränderung können, auch bei einer nur mäßigen Begünstigung des Publikums, leicht und geschwind alle andere Verbesserungen erwachsen, deren unser Theater bedarf.

An Fleiß und Kosten wird sicherlich nichts gesparet werden: ob es an Geschmack und Einsicht fehlen dürfte, muß die Zeit lehren. Und hat es nicht das Publikum in seiner Gewalt, was es hierin mangelhaft finden sollte, abstellen und verbessern zu lassen? Es komme nur, und sehe und höre, und prüfe und richte. Seine Stimme soll nie geringschätzig verhöret, sein Urteil soll nie ohne Unterwerfung vernommen werden!

Nur daß sich nicht jeder kleine Kritikaster für das Publikum halte, und derjenige, dessen Erwartungen getäuscht werden, auch ein wenig mit sich selbst zu Rate gehe, von welcher Art seine Erwartungen gewesen. Nicht jeder Liebhaber ist Kenner; nicht jeder, der die Schönheiten eines Stücks, das richtige Spiel eines Acteurs empfindet, kann darum auch den Wert aller andern schätzen. Man hat keinen Geschmack, wenn man nur einen einseitigen Geschmack hat; aber oft ist man desto parteiischer. Der wahre Geschmack ist der allgemeine, der sich über Schönheiten von jeder Art verbreitet, aber von keiner mehr Vergnügen und Entzücken erwartet, als sie nach ihrer Art gewähren kann.

Der Stufen sind viel, die eine werdende Bühne bis zum Gipfel der Vollkommenheit zu durchsteigen hat; aber eine verderbte Bühne ist von dieser Höhe, natürlicher Weise, noch weit entfernt: und ich fürchte sehr, daß die deutsche mehr dieses als jenes ist.

Alles kann folglich nicht auf einmal geschehen. Doch was man nicht wachsen sieht, findet man nach einiger Zeit gewachsen. Der Langsamste, der sein Ziel nur nicht aus den Augen verlieret, geht noch immer geschwinder, als der ohne Ziel herum irret.

Diese Dramaturgie soll ein kritisches Register von allen aufzuführenden Stücken halten, und jeden Schritt begleiten, den die Kunst, sowohl des Dichters, als des Schauspielers, hier tun wird. Die Wahl der Stücke ist keine Kleinigkeit: aber Wahl setzt Menge voraus; und wenn nicht immer Meisterstücke aufgeführet werden sollten, so sieht man wohl, woran die Schuld liegt. Indes ist es gut, wenn das Mittelmäßige für nichts mehr ausgegeben wird, als es ist; und der unbefriedigte Zuschauer wenigstens daran urteilen lernt. Einem Menschen von gesundem Verstande, wenn man ihm Geschmack beibringen will, braucht man es nur auseinander zu setzen, warum ihm etwas nicht gefallen hat. Gewisse mittelmäßige Stücke müssen auch schon darum beibehalten werden, weil sie gewisse vorzügliche Rollen haben, in welchen der oder jener Acteur seine ganze Stärke zeigen kann. So verwirft man nicht gleich eine musikalische Komposition, weil der Text dazu elend ist.

Die größte Feinheit eines dramatischen Richters zeiget sich darin, wenn er in jedem Falle des Vergnügens und Mißvergnügens, unfehlbar zu unterscheiden weiß, was und wie viel davon auf die Rechnung des Dichters, oder des Schauspielers, zu setzen sei. Den einen um etwas tadeln, was der andere versehen hat, heißt beide verderben. Jenem wird der Mut benommen, und dieser wird sicher gemacht.

Besonders darf es der Schauspieler verlangen, daß man hierin die größte Strenge und Unparteilichkeit beobachte.

Die Rechtfertigung des Dichters kann jederzeit angetreten werden; sein Werk bleibt da, und kann uns immer wieder vor die Augen gelegt werden. Aber die Kunst des Schauspielers ist in ihren Werken transitorisch. Sein Gutes und Schlimmes rauschet gleich schnell vorbei; und nicht selten ist die heutige Laune des Zuschauers mehr Ursache, als er selbst, warum das eine oder das andere einen lebhaftern Eindruck auf jenen gemacht hat.

Eine schöne Figur, eine bezaubernde Miene, ein sprechendes Auge, ein reizender Tritt, ein lieblicher Ton, eine melodische Stimme: sind Dinge, die sich nicht wohl mit Worten ausdrücken lassen. Doch sind es auch weder die einzigen noch größten Vollkommenheiten des Schauspielers. Schätzbare Gaben der Natur, zu seinem Berufe sehr nötig, aber noch lange nicht seinen Beruf erfüllend! Er muß überall mit dem Dichter denken; er muß da, wo dem Dichter etwas Menschliches widerfahren ist, für ihn denken.

Man hat allen Grund, häufige Beispiele hiervon sich von unsern Schauspielern zu versprechen. – Doch ich will die Erwartung des Publikums nicht höher stimmen. Beide schaden sich selbst: der zu viel verspricht, und der zu viel erwartet.

Heute geschieht die Eröffnung der Bühne. Sie wird viel entscheiden; sie muß aber nicht alles entscheiden sollen. In den ersten Tagen werden sich die Urteile ziemlich durchkreuzen. Es würde Mühe kosten, ein ruhiges Gehör zu erlangen. – Das erste Blatt dieser Schrift soll daher nicht eher, als mit dem Anfange des künftigen Monats erscheinen.

Hamburg, den 22. April, 1767.

Erstes Stück

Den 1sten Mai, 1767

Das Theater ist den 22sten vorigen Monats mit dem Trauerspiele, Olint und Sophronia, glücklich eröffnet worden.

Ohne Zweifel wollte man gern mit einem deutschen Originale anfangen, welches hier noch den Reiz der Neuheit habe. Der innere Wert dieses Stückes konnte auf eine solche Ehre keinen Anspruch machen. Die Wahl wäre zu tadeln, wenn sich zeigen ließe, daß man eine viel bessere hätte treffen können.

Olint und Sophronia ist das Werk eines jungen Dichters, und sein unvollendet hinterlassenes Werk. Cronegk starb allerdings für unsere Bühne zu früh; aber eigentlich gründet sich sein Ruhm mehr auf das, was er, nach dem Urteile seiner Freunde, für dieselbe noch hätte leisten können, als was er wirklich geleistet hat. Und welcher dramatische Dichter, aus allen Zeiten und Nationen, hätte in seinem sechs und zwanzigsten Jahre sterben können, ohne die Kritik über seine wahren Talente nicht eben so zweifelhaft zu lassen?

Der Stoff ist die bekannte Episode beim Tasso. Eine kleine rührende Erzählung in ein rührendes Drama umzuschaffen, ist so leicht nicht. Zwar kostet es wenig Mühe, neue Verwickelungen zu erdenken, und einzelne Empfindungen in Szenen auszudehnen. Aber zu verhüten wissen, daß diese neue Verwickelungen weder das Interesse schwächen, noch der Wahrscheinlichkeit Eintrag tun; sich aus dem Gesichtspunkte des Erzählers in den wahren Standort einer jeden Person versetzen können; die Leidenschaften, nicht beschreiben, sondern vor den Augen des Zuschauers entstehen, und ohne Sprung, in einer so illusorischen Stetigkeit wachsen zu lassen, daß dieser sympathisieren muß, er mag wollen oder nicht: das ist es, was dazu nötig ist; was das Genie, ohne es zu wissen, ohne es sich langweilig zu erklären, tut, und was der bloß witzige Kopf nachzumachen, vergebens sich martert.

Tasso scheinet, in seinem Olint und Sophronia, den Virgil, in seinem Nisus und Euryalus, vor Augen gehabt zu haben. So wie Virgil in diesen die Stärke der Freundschaft geschildert hatte, wollte Tasso in jenen die Stärke der Liebe schildern. Dort war es heldenmütiger Diensteifer, der die Probe der Freundschaft veranlaßte: hier ist es die Religion, welche der Liebe Gelegenheit gibt, sich in aller ihrer Kraft zu zeigen. Aber die Religion, welche bei dem Tasso nur das Mittel ist, wodurch er die Liebe so wirksam zeiget, ist in Cronegks Bearbeitung das Hauptwerk geworden. Er wollte den Triumph dieser, in den Triumph jener veredeln. Gewiß, eine fromme Verbesserung – weiter aber auch nichts, als fromm! Denn sie hat ihn verleitet, was bei dem Tasso so simpel und natürlich, so wahr und menschlich ist, so verwickelt und romanenhaft, so wunderbar und himmlisch zu machen, daß nichts darüber!

Beim Tasso ist es ein Zauberer, ein Kerl, der weder Christ noch Mahomedaner ist, sondern sich aus beiden Religionen einen eigenen Aberglauben zusammengesponnen hat, welcher dem Aladin den Rat gibt, das wundertätige Marienbild aus dem Tempel in die Moschee zu bringen. Warum machte Cronegk aus diesem Zauberer einen mahomedanischen Priester? Wenn dieser Priester in seiner Religion nicht eben so unwissend war, als es der Dichter zu sein scheinet, so konnte er einen solchen Rat unmöglich geben. Sie duldet durchaus keine Bilder in ihren Moscheen. Cronegk verrät sich in mehrern Stücken, daß ihm eine sehr unrichtige Vorstellung von dem mahomedanischen Glauben beigewohnet. Der gröbste Fehler aber ist, daß er eine Religion überall des Polytheismus schuldig macht, die fast mehr als jede andere auf die Einheit Gottes dringet. Die Moschee heißt ihm »ein Sitz der falschen Götter,« und den Priester selbst läßt er ausrufen:

»So wollt ihr euch noch nicht mit Rach und Strafe rüsten,

 Ihr Götter? Blitzt, vertilgt, das freche Volk der Christen!«

Der sorgsame Schauspieler hat in seiner Tracht das Costume, vom Scheitel bis zur Zehe, genau zu beobachten gesucht; und er muß solche Ungereimtheiten sagen!

Beim Tasso kömmt das Marienbild aus der Moschee weg, ohne daß man eigentlich weiß, ob es von Menschenhänden entwendet worden, oder ob eine höhere Macht dabei im Spiele gewesen. Cronegk macht den Olint zum Täter. Zwar verwandelt er das Marienbild in »ein Bild des Herrn am Kreuz;« aber Bild ist Bild, und dieser armselige Aberglaube gibt dem Olint eine sehr verächtliche Seite. Man kann ihm unmöglich wieder gut werden, daß er es wagen können, durch eine so kleine Tat sein Volk an den Rand des Verderbens zu stellen. Wenn er sich hernach freiwillig dazu bekennet: so ist es nichts mehr als Schuldigkeit, und keine Großmut. Beim Tasso läßt ihn bloß die Liebe diesen Schritt tun; er will Sophronien retten, oder mit ihr sterben; mit ihr sterben, bloß um mit ihr zu sterben; kann er mit ihr nicht ein Bette besteigen, so sei es ein Scheiterhaufen; an ihrer Seite, an den nämlichen Pfahl gebunden, bestimmt, von dem nämlichen Feuer verzehret zu werden, empfindet er bloß das Glück einer so süßen Nachbarschaft, denket an nichts, was er jenseit dem Grabe zu hoffen habe, und wünschet nichts, als daß diese Nachbarschaft noch enger und vertrauter sein möge, daß er Brust gegen Brust drücken, und auf ihren Lippen seinen Geist verhauchen dürfe.

Dieser vortreffliche Kontrast zwischen einer lieben, ruhigen, ganz geistigen Schwärmerin, und einem hitzigen, begierigen Jünglinge, ist beim Cronegk völlig verloren. Sie sind beide von der kältesten Einförmigkeit; beide haben nichts als das Märtertum im Kopfe; und nicht genug, daß er, daß sie, für die Religion sterben wollen; auch Evander wollte, auch Serena hätte nicht übel Lust dazu.

Ich will hier eine doppelte Anmerkung machen, welche, wohl behalten, einen angehenden tragischen Dichter vor großen Fehltritten bewahren kann. Die eine betrifft das Trauerspiel überhaupt. Wenn heldenmütige Gesinnungen Bewunderung erregen sollen: so muß der Dichter nicht zu verschwenderisch damit umgehen; denn was man öfters, was man an mehrern sieht, höret man auf zu bewundern. Hierwider hatte sich Cronegk schon in seinem Codrus sehr versündiget. Die Liebe des Vaterlandes, bis zum freiwilligen Tode für dasselbe, hätte den Codrus allein auszeichnen sollen: er hätte als ein einzelnes Wesen einer ganz besondern Art da stehen müssen, um den Eindruck zu machen, welchen der Dichter mit ihm im Sinne hatte. Aber Elisinde und Philaide, und Medon, und wer nicht? sind alle gleich bereit, ihr Leben dem Vaterlande aufzuopfern; unsere Bewunderung wird geteilt, und Codrus verlieret sich unter der Menge. So auch hier. Was in Olint und Sophronia Christ ist, das alles hält gemartert werden und sterben, für ein Glas Wasser trinken. Wir hören diese frommen Bravaden so oft, aus so verschiedenem Munde, daß sie alle Wirkung verlieren.

Die zweite Anmerkung betrifft das christliche Trauerspiel insbesondere. Die Helden desselben sind mehrenteils Märtyrer. Nun leben wir zu einer Zeit, in welcher die Stimme der gesunden Vernunft zu laut erschallet, als daß jeder Rasender, der sich mutwillig, ohne Not, mit Verachtung aller seiner bürgerlichen Obliegenheiten, in den Tod stürzet, den Titel eines Märtyrers sich anmaßen dürfte. Wir wissen itzt zu wohl, die falschen Märtyrer von den wahren zu unterscheiden; wir verachten jene eben so sehr, als wir diese verehren, und höchstens können sie uns eine melancholische Träne über die Blindheit und den Unsinn auspressen, deren wir die Menschheit überhaupt in ihnen fähig erblicken. Doch diese Träne ist keine von den angenehmen, die das Trauerspiel erregen will. Wenn daher der Dichter einen Märtyrer zu seinem Helden wählet: daß er ihm ja die lautersten und triftigsten Bewegungsgründe gebe! daß er ihn ja in die unumgängliche Notwendigkeit setze, den Schritt zu tun, durch den er sich der Gefahr bloß stellet! daß er ihn ja den Tod nicht freventlich suchen, nicht höhnisch ertrotzen lasse! Sonst wird uns sein frommer Held zum Abscheu, und die Religion selbst, die er ehren wollte, kann darunter leiden. Ich habe schon berühret, daß es nur ein eben so nichtswürdiger Aberglaube sein konnte, als wir in dem Zauberer Ismen verachten, welcher den Olint antrieb, das Bild aus der Moschee wieder zu entwenden. Es entschuldiget den Dichter nicht, daß es Zeiten gegeben, wo ein solcher Aberglaube allgemein war, und bei vielen guten Eigenschaften bestehen konnte; daß es noch Länder gibt, wo er der frommen Einfalt nichts befremdendes haben würde. Denn er schrieb sein Trauerspiel eben so wenig für jene Zeiten, als er es bestimmte, in Böhmen oder Spanien gespielt zu werden. Der gute Schriftsteller, er sei von welcher Gattung er wolle, wenn er nicht bloß schreibet, seinen Witz, seine Gelehrsamkeit zu zeigen, hat immer die Erleuchtesten und Besten seiner Zeit und seines Landes in Augen, und nur was diesen gefallen, was diese rühren kann, würdiget er zu schreiben. Selbst der dramatische, wenn er sich zu dem Pöbel herabläßt, läßt sich nur darum zu ihm herab, um ihn zu erleuchten und zu bessern; nicht aber ihn in seinen Vorurteilen, ihn in seiner unedeln Denkungsart zu bestärken.

Zweites Stück

Den 5ten Mai, 1767

Noch eine Anmerkung, gleichfalls das christliche Trauerspiel betreffend, würde über die Bekehrung der Clorinde zu machen sein. So überzeugt wir auch immer von den unmittelbaren Wirkungen der Gnade sein mögen, so wenig können sie uns doch auf dem Theater gefallen, wo alles, was zu dem Charakter der Personen gehöret, aus den natürlichsten Ursachen entspringen muß. Wunder dulden wir da nur in der physikalischen Welt; in der moralischen muß alles seinen ordentlichen Lauf behalten, weil das Theater die Schule der moralischen Welt sein soll. Die Bewegungsgründe zu jedem Entschlusse, zu jeder Änderung der geringsten Gedanken und Meinungen, müssen, nach Maßgebung des einmal angenommenen Charakters, genau gegen einander abgewogen sein, und jene müssen nie mehr hervorbringen, als sie nach der strengsten Wahrheit hervor bringen können. Der Dichter kann die Kunst besitzen, uns, durch Schönheiten des Detail, über Mißverhältnisse dieser Art zu täuschen; aber er täuscht uns nur einmal, und sobald wir wieder kalt werden, nehmen wir den Beifall, den er uns abgetäuschet hat, zurück. Dieses auf die vierte Szene des vierten Akts angewendet, wird man finden, daß die Reden und das Betragen der Sophronia die Clorinde zwar zum Mitleiden hätten bewegen können, aber viel zu unvermögend sind, Bekehrung an einer Person zu wirken, die gar keine Anlage zum Enthusiasmus hat. Beim Tasso nimmt Clorinde auch das Christentum an; aber in ihrer letzten Stunde; aber erst, nachdem sie kurz zuvor erfahren, daß ihre Ältern diesem Glauben zugetan gewesen: feine, erhebliche Umstände, durch welche die Wirkung einer höhern Macht in die Reihe natürlicher Begebenheiten gleichsam mit eingeflochten wird. Niemand hat es besser verstanden, wie weit man in diesem Stücke auf dem Theater gehen dürfe, als Voltaire. Nachdem die empfindliche, edle Seele des Zamor, durch Beispiel und Bitten, durch Großmut und Ermahnungen bestürmet, und bis in das Innerste erschüttert worden, läßt er ihn doch die Wahrheit der Religion, an deren Bekennern er so viel Großes sieht, mehr vermuten, als glauben. Und vielleicht würde Voltaire auch diese Vermutung unterdrückt haben, wenn nicht zur Beruhigung des Zuschauers etwas hätte geschehen müssen.

Selbst der Polyeukt des Corneille ist, in Absicht auf beide Anmerkungen, tadelhaft; und wenn es seine Nachahmungen immer mehr geworden sind, so dürfte die erste Tragödie, die den Namen einer christlichen verdienet, ohne Zweifel noch zu erwarten sein. Ich meine ein Stück, in welchem einzig der Christ als Christ uns interessieret. – Ist ein solches Stück aber auch wohl möglich? Ist der Charakter des wahren Christen nicht etwa ganz untheatralisch? Streiten nicht etwa die stille Gelassenheit, die unveränderliche Sanftmut, die seine wesentlichsten Züge sind, mit dem ganzen Geschäfte der Tragödie, welches Leidenschaften durch Leidenschaften zu reinigen sucht? Widerspricht nicht etwa seine Erwartung einer belohnenden Glückseligkeit nach diesem Leben, der Uneigennützigkeit, mit welcher wir alle große und gute Handlungen auf der Bühne unternommen und vollzogen zu sehen wünschen?

Bis ein Werk des Genies, von dem man nur aus der Erfahrung lernen kann, wie viel Schwierigkeiten es zu übersteigen vermag, diese Bedenklichkeiten unwidersprechlich widerlegt, wäre also mein Rat: – man ließe alle bisherige christliche Trauerspiele unaufgeführet. Dieser Rat, welcher aus den Bedürfnissen der Kunst hergenommen ist, welcher uns um weiter nichts, als sehr mittelmäßige Stücke bringen kann, ist darum nichts schlechter, weil er den schwächern Gemütern zu Statten kömmt, die, ich weiß nicht welchen Schauder empfinden, wenn sie Gesinnungen, auf die sie sich nur an einer heiligern Stätte gefaßt machen, im Theater zu hören bekommen. Das Theater soll niemanden, wer es auch sei, Anstoß geben; und ich wünschte, daß es auch allem genommenen Anstoße vorbeugen könnte und wollte.

Cronegk hatte sein Stück nur bis gegen das Ende des vierten Aufzuges gebracht. Das übrige hat eine Feder in Wien dazu gefüget; eine Feder – denn die Arbeit eines Kopfes ist dabei nicht sehr sichtbar. Der Ergänzer hat, allem Ansehen nach, die Geschichte ganz anders geendet, als sie Cronegk zu enden Willens gewesen. Der Tod löset alle Verwirrungen am besten; darum läßt er beide sterben, den Olint und die Sophronia. Beim Tasso kommen sie beide davon; denn Clorinde nimmt sich mit der uneigennützigsten Großmut ihrer an. Cronegk aber hatte Clorinden verliebt gemacht, und da war es freilich schwer zu erraten, wie er zwei Nebenbuhlerinnen aus einander setzen wollen, ohne den Tod zu Hülfe zu rufen. In einem andern noch schlechtern Trauerspiele, wo eine von den Hauptpersonen ganz aus heiler Haut starb, fragte ein Zuschauer seinen Nachbar: Aber woran stirbt sie denn? – Woran? am fünften Akte; antwortete dieser. In Wahrheit; der fünfte Akt ist eine garstige böse Staupe, die manchen hinreißt, dem die ersten vier Akte ein weit längeres Leben versprachen. –

Doch ich will mich in die Kritik des Stückes nicht tiefer einlassen. So mittelmäßig es ist, so ausnehmend ist es vorgestellet worden. Ich schweige von der äußern Pracht; denn diese Verbesserung unsers Theaters erfordert nichts als Geld. Die Künste, deren Hülfe dazu nötig ist, sind bei uns in eben der Vollkommenheit, als in jedem andern Lande; nur die Künstler wollen eben so bezahlt sein, wie in jedem andern Lande.

Man muß mit der Vorstellung eines Stückes zufrieden sein, wenn unter vier, fünf Personen, einige vortrefflich, und die andern gut gespielet haben. Wen, in den Nebenrollen, ein Anfänger oder sonst ein Notnagel, so sehr beleidiget, daß er über das Ganze die Nase rümpft, der reise nach Utopien, und besuche da die vollkommenen Theater, wo auch der Lichtputzer ein Garrick ist.

Herr Eckhof war Evander; Evander ist zwar der Vater des Olints, aber im Grunde doch nicht viel mehr als ein Vertrauter. Indes mag dieser Mann eine Rolle machen, welche er will; man erkennet ihn in der kleinsten noch immer für den ersten Akteur, und betauert, auch nicht zugleich alle übrigen Rollen von ihm sehen zu können. Ein ihm ganz eigenes Talent ist dieses, daß er Sittensprüche und allgemeine Betrachtungen, diese langweiligen Ausbeugungen eines verlegenen Dichters, mit einem Anstande, mit einer Innigkeit zu sagen weiß, daß das Trivialste von dieser Art, in seinem Munde Neuheit und Würde, das Frostigste Feuer und Leben erhält.

Die eingestreuten Moralen sind Cronegks beste Seite. Er hat, in seinem Codrus und hier, so manche in einer so schönen nachdrücklichen Kürze ausgedrückt, daß viele von seinen Versen als Sentenzen behalten, und von dem Volke unter die im gemeinen Leben gangbare Weisheit aufgenommen zu werden verdienen. Leider sucht er uns nur auch öfters gefärbtes Glas für Edelsteine, und witzige Antithesen für gesunden Verstand einzuschwatzen. Zwei dergleichen Zeilen, in dem ersten Akte, hatten eine besondere Wirkung auf mich. Die eine,

»Der Himmel kann verzeihn, allein ein Priester nicht.«

Die andere,

»Wer schlimm von andern denkt, ist selbst ein Bösewicht.«

Ich ward betroffen, in dem Parterre eine allgemeine Bewegung, und dasjenige Gemurmel zu bemerken, durch welches sich der Beifall ausdrückt, wenn ihn die Aufmerksamkeit nicht gänzlich ausbrechen läßt. Teils dachte ich: Vortrefflich! man liebt hier die Moral; dieses Parterr findet Geschmack an Maximen; auf dieser Bühne könnte sich ein Euripides Ruhm erwerben, und ein Sokrates würde sie gern besuchen. Teils fiel es mir zugleich mit auf, wie schielend, wie falsch, wie anstößig diese vermeinten Maximen wären, und ich wünschte sehr, daß die Mißbilligung an jenem Gemurmle den meisten Anteil möge gehabt haben. Es ist nur ein Athen gewesen, es wird nur ein Athen bleiben, wo auch bei dem Pöbel das sittliche Gefühl so fein, so zärtlich war, daß einer unlautern Moral wegen, Schauspieler und Dichter Gefahr liefen, von dem Theater herabgestürmet zu werden! Ich weiß wohl, die Gesinnungen müssen in dem Drama dem angenommenen Charakter der Person, welche sie äußert, entsprechen; sie können also das Siegel der absoluten Wahrheit nicht haben; genug, wenn sie poetisch wahr sind, wenn wir gestehen müssen, daß dieser Charakter, in dieser Situation, bei dieser Leidenschaft, nicht anders als so habe urteilen können. Aber auch diese poetische Wahrheit muß sich, auf einer andern Seite, der absoluten wiederum nähern, und der Dichter muß nie so unphilosophisch denken, daß er annimmt, ein Mensch könne das Böse, um des Bösen wegen, wollen, er könne nach lasterhaften Grundsätzen handeln, das Lasterhafte derselben erkennen, und doch gegen sich und andere damit prahlen. Ein solcher Mensch ist ein Unding, so gräßlich als ununterrichtend, und nichts als die armselige Zuflucht eines schalen Kopfes, der schimmernde Tiraden für die höchste Schönheit des Trauerspieles hält. Wenn Ismenor ein grausamer Priester ist, sind darum alle Priester Ismenors? Man wende nicht ein, daß von Priestern einer falschen Religion die Rede sei. So falsch war noch keine in der Welt, daß ihre Lehrer notwendig Unmenschen sein müssen. Priester haben in den falschen Religionen, so wie in der wahren, Unheil gestiftet, aber nicht weil sie Priester, sondern weil sie Bösewichter waren, die, zum Behuf ihrer schlimmen Neigungen, die Vorrechte auch eines jeden andern Standes gemißbraucht hätten.

Wenn die Bühne so unbesonnene Urteile über die Priester überhaupt ertönen läßt, was Wunder, wenn sich auch unter diesen Unbesonnene finden, die sie als die grade Heerstraße zur Hölle ausschreien?

Aber ich verfalle wiederum in die Kritik des Stückes, und ich wollte von dem Schauspieler sprechen.

Drittes Stück

Den 8ten Mai, 1767

Und wodurch bewirkt dieser Schauspieler, (Hr. Eckhof) daß wir auch die gemeinste Moral so gern von ihm hören? Was ist es eigentlich, was ein anderer von ihm zu lernen hat, wenn wir ihn in solchem Falle eben so unterhaltend finden sollen?

Alle Moral muß aus der Fülle des Herzens kommen, von der der Mund übergehet; man muß eben so wenig lange darauf zu denken, als damit zu prahlen scheinen.

Es versteht sich also von selbst, daß die moralischen Stellen vorzüglich wohl gelernet sein wollen. Sie müssen ohne Stocken, ohne den geringsten Anstoß, in einem ununterbrochenen Flusse der Worte, mit einer Leichtigkeit gesprochen werden, daß sie keine mühsame Auskramungen des Gedächtnisses, sondern unmittelbare Eingebungen der gegenwärtigen Lage der Sachen scheinen.

Eben so ausgemacht ist es, daß kein falscher Accent uns muß argwöhnen lassen, der Akteur plaudere, was er nicht verstehe. Er muß uns durch den richtigsten, sichersten Ton überzeugen, daß er den ganzen Sinn seiner Worte durchdrungen habe.

Aber die richtige Accentuation ist zur Not auch einem Papagei beizubringen. Wie weit ist der Akteur, der eine Stelle nur versteht, noch von dem entfernt, der sie auch zugleich empfindet! Worte, deren Sinn man einmal gefaßt, die man sich einmal ins Gedächtnis gepräget hat, lassen sich sehr richtig hersagen, auch indem sich die Seele mit ganz andern Dingen beschäftiget; aber alsdann ist keine Empfindung möglich. Die Seele muß ganz gegenwärtig sein; sie muß ihre Aufmerksamkeit einzig und allein auf ihre Reden richten, und nur alsdann –