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Ob Prometheus, Romulus, Freyja oder der Gelbe Kaiser: Die Mythen der Welt sind von beeindruckender Vielfalt. Sie prägen unser kulturelles Gedächtnis und beeinflussen die Wahrnehmung fremder Länder und Gebräuche. Dieses Handbuch macht mit der Mythologie der einflussreichsten Kulturen bekannt. Neben der griechisch-römischen und der germanischen Mythologie werden erstmals auch die in Mesopotamien, Ägypten, Asien, Amerika und Ozeanien vorherrschenden Mythen berücksichtigt. Fundierte Einzelartikel erklären Bedeutung und Wirkung ausgewählter Mythen. Zahlreiche Abbildungen von Kunstwerken und Kultgegenständen dokumentieren deren künstlerische Darstellung von der Antike bis zur Moderne. Informationen zum Mythos in Wissenschaft und Künsten runden den Band ab.
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Seitenzahl: 784
Christoph Jamme/Stefan Matuschek
Unter Mitarbeit vonThomas Bargatzky, Renate Bartl,Manuel Baumbach, Kai Brodersen,Hans-Werner Fischer-Elfert,Iris Gareis, Manfred Krebernik,Ylva Monschein und Thomas Oberlies
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Der Philipp von Zabern Verlag ist ein Imprint der WBG.
© 2014 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.Layout, Satz und Prepress: schreiberVIS, BickenbachEinbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a. MainEinbandabbildungen: Carlo Saraceni: Sturz des Ikarus. Neapel,Galleria Nazionale di Capodimonte. © picture-alliance/akg-images.Die vogelfüßige Göttin Ištar. Terrakottarelief aus altbabylonischerZeit (18. Jh. v. Chr.). London, British Museum. Aus: André-Salvini,Béatrice (Hrsg.): Babylon. L’album de l’exposition. Paris 2008.Cesare Mussin: Leda und der Schwan. Mailand, Accademia Di BelleArti Di Brera Quadreria. © akg-images/De Agostini Picture Lib.Antonio Canova: Perseus triumphiert über Medusa. Rom, VatikanischeMuseen. Foto: Eric Vandeville. © Gamma-Rapho viaGetty Images
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ISBN 978-3-8053-4753-2
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-8053-4833-1eBook (epub): 978-3-8053-4834-8
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Innentitel
Inhaltsverzeichnis
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Impressum
Vorwort
WELTEN DES MYTHOS
Mythos und Mythologie
Mythostheorien
Mythos und Philosophie
Mythos und Theologie
Mythos und Ethnologie
Mythos und Psychologie
Mythos und Politik
Mythos und Kunst
MYTHEN DER WELT
1. Europa
Griechische MythologieChristoph Jamme/Stefan Matuschek
Einleitung
Theogonie
Achilleus/Achilles
Antigone
Aphrodite/Venus
Apollon
Argonauten
Artemis/Diana
Athene/Minerva
Daidalos und Ikaros
Demeter und Persephone/Ceres und Proserpina
Dionysos
Herakles/Herkules
Iphigenie
Medea
Musen
Narziss
Ödipus
Odysseus
Orpheus
Perseus
Phaidra und Hippolytos
Prometheus
Theseus
Trojanischer Krieg
Unterweltmythen
Uranos und Kronos
Zeus
Römische MythologieChristoph Jamme/Stefan Matuschek
Einleitung
Aeneas
Ceres
Ianus
Laren und Penaten
Metamorphosen
Romulus
Vesta
Germanische MythologieStefan Matuschek
Einleitung
Balder
Freyja
Freyr
Loki
Odin/Wotan
Riesen
Thor/Donar
Walhall
Der Weltenbaum Yggdrasill
Sigurd/Siegfried
Brynhild/Brünhild
Fafnir und Reginn
Gudrun
Helgi
Atlilied
Nibelungenlied
2. Mythen im Alten OrientManfred Krebernik
Einleitung
Überlieferungsformen und -kontexte
Inhalte und Motive
Schöpfung und Weltordnung
Sukzession von Göttergenerationen und -herrschern
Götterhochzeiten und -zeugungen
Götterreisen
Verschwundene Gottheiten
Menschenschöpfung
Sintfult
Geschichten von Menschen und Göttern
Die Herrscher von Uruk – Gilgameš
Kinderlosigkeit
3. Altägyptische MythologieHans-Werner Fischer-Elfert
Einleitung
Allgemeine Merkmale
Heliopolis
Memphis
Osiris
Eingeschränkte Rezeption
4. Asien
Indische MythologieThomas Oberlies
Einleitung
Die Mythologie des Ṛgveda
Indra
Der jüngere Veda
Āraṇyakas und Upaniṡads
Die ‚Episierung‘ des Mythos
Mahābhārata
Rāmāyaṇa
Die Mythologie des Hinduismus – Die Purāṇas
Viṡṇu
Śiva
Göttinnen
Die Themen der Mythen
Ursprung und Ordnung der Welt
Entstehung des Menschen
Arbeit mit und an Mythen
Chinesische MythologieYlva Monschein
Einleitung
Die drei Erhabenen und die fünf Gottkaiser
Der Gelbe Kaiser
Nügua und Fuxi
Die Königinmutter des Westens
Der Große Yu
Der Göttliche Landmann
Urchaos und Pangu
Der Bogenschütze Yi
5. Amerika
Mythologie NordamerikasRenate Bartl
Einleitung
Das Ideal des Gleichgewichts
Ursprungsmythen
Allgemeine Motive
Die Kulturareale Nordamerikas
Arktis
Subarktis
Nordwestküste
Kalifornien
Südwesten
Plateau
Großes Becken
Prärie und Plains
Südosten
Nordosten
Mythologien Meso- und SüdamerikasIris Gareis
Einleitung
Erschaffung der Welt und Weltzeitalter
Kosmische Ordnung
Götter, Kulturheroen und mythische Wesen
Herkunft der Menschen und ihre Beziehung zu den anderen Wesen
6. Australien und OzeanienThomas Bargatzky
Einleitung
Das Land als Existenzgrundlage
Grundbegriffe
Ethographische Grundtatsachen
Australien
Melanesien
Mikronesien
Polynesien
Fabeln, esoterische Mythen und Charta-Mythen
Fabeln
Esoterische Herkunftsmythen und Genealogien
Charta-Mythen bei den Trobriandern
Vegetative Kosmogonien
Australien:Der Traumzeit-Heros Karora
Ostpolynesien: Papa und Vatea
Der Ursprung des Yams auf Pentecost, Vanuatu
Generative Kosmogonien
Kosmogonie auf Samoanisch
Cook-Inseln: Die Landnahme-Mythe von Karika und Tangiia
Mythos heute:Christianisierung und Inkulturation
Register
Mythische Namen
Personennamen
Mythen sind ein vielfältiges, weltweit verbreitetes und dauerhaftes kulturelles Phänomen. Es gründet darin, dass Menschen sich Geschichten erzählen, um sich in der Welt zu orientieren. Solche Geschichten können fantasiegeborene Erklärungen sein (wie etwa die Deutung von Blitz und Donner als Waffen und Herrschaftszeichen eines mannsgestaltigen Gottes), sie können die erfahrbare Wirklichkeit überhöhen (wie etwa in der Vorstellung unbesiegbarer, maßlos kräftiger Helden), sie können das ausmalen, was der Erfahrung unzugänglich ist (wie etwa die Entstehung der Welt oder das Schicksal der Gestorbenen), oder auch einer Fabulierlust entspringen, die emotionale Bedürfnisse nach Unterhaltung, Gemeinschaftsbildung und Sinngebung erfüllt (was in unserer Gegenwart besonders von den großen Kinofilmen angeboten wird). Mythen gehören zu den ältesten kulturellen Überlieferungen. In Europa reichen sie, was die Texte betrifft, bis ins 8. Jh. v. Chr. zurück, im alten Orient bis ins 3. Jahrtausend v. Chr. Die antiken griechischen Götter- und Heldenerzählungen, die seit der Wende vom 8. zum 7. Jh. mit Hesiods Theogonie und den homerischen Epen Ilias und Odyssee dokumentiert sind, geben die Basis, auf der sich die Vorstellung vom ‚Mythos‘ gebildet hat. Allerdings wäre es falsch, von einem ursprünglichen Mythos im Singular zu reden. Verschiedene Mythen waren vielmehr an jeweils bestimmte Orte und Kulte gebunden. Die schriftliche Sammlung und Fixierung bei Hesiod und Homer markiert ein Spätstadium, in dem die Mythen schon ihre ursprüngliche auf Mündlichkeit beruhende religiöse Funktion verloren hatten und in ästhetisch-poetische Distanzierung übergegangen waren.
Auch wenn der Begriff und seine ursprüngliche Anschauung damit altgriechisch sind, bleibt das Phänomen, das wir heute mit dem Ausdruck ‚Mythos‘ bezeichnen, nicht auf das griechische Altertum beschränkt. Es findet sich in anderen europäischen und außereuropäischen Kulturen weltweit, und es ist auch keine Angelegenheit nur der alten, ‚unaufgeklärten‘ Zeiten. Denn Aufklärung lässt Mythen nicht einfach verschwinden. Sie schafft vielmehr Einsicht in deren spezifische Beschaffenheit und Wirksamkeit. So leben wir heute nicht in einer Zeit ohne Mythen, sondern in einer solchen, die sich über die Präsenz und Funktion des Mythischen kritisch Rechenschaft zu geben versucht. Das verbindet uns mit den altgriechischen Philosophen, die den Begriff ‚Mythos‘ eben nicht zur gläubigen Hingabe an die Götter- und Heldengeschichten geschaffen haben, sondern zur kritischen Reflexion auf deren Beschaffenheit und Wirksamkeit.
Dieses Handbuch der Mythologie führt in die Vielfalt, die weltweite Verbreitung und die Dauerhaftigkeit der Mythen ein. Es bemüht sich dabei um eine Balance aus stofflicher Präsentation und begrifflicher Klärung. So sollen die Mythen als Geschichten, d.h. in der Sinnlichkeit ihrer Inhalte, und zugleich in den Bedingungen und Funktionen ihrer Überlieferung kenntlich werden. Der erste Teil, Welten des Mythos, gibt eine Übersicht über die wissenschaftliche Diskussion des Phänomens Mythos, dessen Vielfalt in unserer arbeitsteiligen Wissenschaftswelt zu einer Aufgabe mehrerer Disziplinen geworden ist. Der zweite Teil, Mythen der Welt, stellt die Mythen der verschiedenen Kulturkreise in ihren wichtigsten Elementen vor, wobei das für die gesamte europäische Kultur grundlegende griechisch-römische Altertum den Schwerpunkt bildet. Die germanische Mythologie stellt den eigenen Fall dar, dass ihre Göttergeschichten und -lehren gar nicht durch kulturell authentische Dokumente belegt sind, sondern erst von einer späteren, christlichen Warte aus rekonstruiert wurden. In den Europa-Kapiteln geht es zusammen mit den alten Zeugnissen auch um die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte bis heute. Dabei sollen exemplarisch möglichst viele der Aspekte sichtbar werden, die der erste Teil begrifflich entfaltet. Die Kapitel zu den außereuropäischen Kulturen führen in die jeweiligen Entstehungs- und Überlieferungsbedingungen sowie in die Funktionen dessen ein, was der europäischen Vorstellung vom Mythos entspricht, ihr nahe kommt oder vergleichbar ist. Denn die Übertragbarkeit dieses Konzepts auf außereuropäische Kulturen ist keine Selbstverständlichkeit, sondern in ihren Möglichkeiten zu prüfen und zu bestimmen. Dabei zeigen sich viele Unterschiede, aber eben auch viele funktionale, inhaltliche und motivische Entsprechungen. Menschlich-kulturelle Gemeinsamkeiten stehen neben kulturräumlichen Differenzen. In einem einzigen Buch so viel Unterschiedliches zu bringen, ist ein Wagnis, das wir nur dadurch eingehen konnten, dass die außereuropäischen Kapitel von jeweils einschlägigen Spezialistinnen und Spezialisten verfasst wurden. Freilich ist in diesen Fällen die Auswahl noch viel enger als im europäischen Teil. Aber so ist doch immerhin ein Anfang gemacht, den Mythos als ein allgemeines Phänomen menschlicher Gesellschaft zu sehen.
Christoph Jamme, Stefan Matuschek
Mythen sind historisch nicht überprüfbare oder durch ihren fantastischen Charakter wunderbare Erzählungen, die dennoch als Erklärungen, Deutungen oder Sinnstiftungen funktionieren. Der Begriff hat damit eine negative und eine positive Seite: Negativ ist er, wenn er als Hinweis auf die Unwahrheit des Erzählten verstanden wird. Dann heben sich Mythen als das bloß Erfundene von der Geschichtsschreibung, von Tatsachenberichten oder sachlich zutreffenden Erklärungen, Deutungen und Sinngebungen ab. Hier wirkt der Mythosbegriff als Kritik: Er brandmarkt diejenigen Erzählungen, die nicht wahr sind. Wer in einer sachbezogenen Debatte Berichte, Darstellungen und Erklärungen als Mythen bezeichnet, bezichtigt sie der Haltlosigkeit oder gar der Lüge. Positiv ist der Begriff dagegen dort, wo er als Hinweis auf die Wirkung einer Erzählung verstanden wird. Dann zeichnen sich Mythen als solche Geschichten aus, die eine gemeinschaftliche Überlieferung, Verbreitung und Resonanz gefunden haben, so dass sie trotz ihrer Unbeweisbarkeit als Deutungen, Erklärungen und Sinnstiftungen angenommen werden. Hier wirkt der Mythosbegriff als Anerkennung: Er hebt diejenigen Erzählungen hervor, die Gemeingut geworden sind und deshalb nicht einfach als Unwahrheit erledigt oder als beliebige Produkte einer individuellen Erzählfantasie abgetan werden können. Wer die Erzählungen vom Germanenführer Hermann dem Cherusker, der ein einiges Germanenvolk gegen die Römer hat triumphieren lassen, oder die amerikanische Selbstdeutung als ‚God’s own country‘ als Mythos bezeichnet, erkennt mit diesem Begriff an, welche reale Macht unbeweisbare oder sogar nachweislich falsche Erzählungen gewinnen können. Gemäß diesen beiden Verständnissen gibt es eine negative und eine positive Perspektive auf den Mythos, je nachdem, ob man mehr die Unwahrheit kritisieren oder die Wirkungsmacht unbeweisbarer Erzählungen anerkennen will. Freilich kann sich auch beides verbinden, indem man kritisch auf allgemein anerkannte Erzählungen blickt und das als bloßes Produkt der Erzählfantasie kennzeichnet, was andere für Wahrheit halten. Religionskritik kann so aufreten und die religiösen Überlieferungen im kritischen Sinne als Mythen brandmarken. Oder auch wissenschaftliche Korrekturen überlieferter falscher Vorstellungen: Wer Blitz und Donner meteorologisch erklärt, entlarvt die Vorstellung des blitzeschleudernden Donnergottes als bloße Erzählfantasie oder, um ein aktuelleres Beispiel zu nennen, wer die vielen personellen Kontinuitäten zwischen Nationalsozialismus und Nachkriegszeit aufweisen kann, erkennt in der Rede von der ‚Stunde Null‘ einen Mythos, der zur Selbstentlastung der Nachkriegsgesellschaft diente. Mythen als solche zu erkennen ist ein Prozess der Aufklärung.
Das gilt auch in epochaler Hinsicht. Denn unser heutiger Mythosbegriff ist ein Produkt der Aufklärung. Das altgriechische Wort ‚mythos‘ (‚Rede‘, ‚Erzählung‘) ist, wenn es nicht neutral nur den Handlungsverlauf einer Erzählung meint, einseitig negativ konnotiert und hebt die Dichtererzählungen von der Geschichtsschreibung, den Tatsachendarstellungen und der begrifflichen Argumentation ab. ‚Mythos‘ steht hier im Kontrast zu ‚logos‘, der im Gegensatz zu den unbeweisbaren Dichtererzählungen die überprüfbare und beweisbare Rede meint. Es waren erst die Philosophen und Altertumsforscher des 18. Jh., die in den überlieferten Dichtererzählungen eine eigene Form der Weltanschauung und Weltdeutung erkannten und Mythos nicht nur negativ als bloße Erfindung, sondern positiv als eine Form der erzählerischen Welterklärung verstanden. Als Erklärungen, die nicht logisch-wissenschaftlich verfahren, sondern durch Personifizierungen und andere bildhafte Vorstellungen das beschreiben und ausmalen, was anfangs unerklärlich scheint. So wird von Blitz und Donner auf den mächtigen Herrschergott geschlossen, der damit seine Kraft zeigt. Im Übergang von Aufklärung und Romantik um 1800 wertete man dies nicht nur als eine kindliche, durch Erkenntnisfortschritt zu überwindende, sondern als eine typisch menschliche, auch in der modernen, aufgeklärten Gesellschaft weiterhin produktive Form der Welterklärung. Mythen bewahren etwas, was sich in der rationalen, begrifflichen Weltdeutung verliert: den emotionalen, sinnlichen und affektiven Bezug des Menschen zu der Welt, in der er lebt. Das ist der Grund, warum Mythen bis heute ein produktives Phänomen sind: Sie sind der immer wieder durch Weitererzählung akzeptierte und erfolgreiche Versuch, sich durch die Erzählfantasie ein Verständnis der Zusammenhänge zu schaffen, die durch begriffliche Abstraktion oder Berechenbarkeit nicht menschlich befriedigend erfasst werden können. Das trifft in besonderer Weise natürlich für diejenigen Bereiche zu, zu denen es keine Erfahrung gibt: wie zum Beispiel für die Frage, was nach dem individuellen Tod passiert. Aber auch für das Bedürfnis nach Sinngebung, wie und wozu es zu etwas gekommen ist und wohin es führen soll. Sich durch Erzählfantasie in der Welt zurechtzufinden ist eine menschliche Eigenschaft, die nicht ausgestorben ist. Deshalb ist es falsch, die Geschichte der Mythen zweizuteilen in eine Zeit, in der die Menschen noch an sie geglaubt, und eine Zeit, in der sie sich durch Aufklärung von diesem Glauben gelöst hätten. Es gibt nicht die beiden Epochen in und nach den Mythen. Die Rede vom Mythos beginnt in der antiken griechischen Philosophie als Kritik an den Dichtererzählungen und deren Wirkung und sie hat sich bis heute als eine Doppelperspektive von Kritik und Anerkennung etabliert. Mythen als Mythen zu verstehen heißt nicht, sie zu beseitigen, sondern ihre spezifische Funktion und Wirksamkeit zu erkennen.
Heute, in der Zeit einer arbeitsteiligen, in Fachdisziplinen ausdifferenzierten Wissenschaft, ist diese Erkenntnisarbeit auf viele Fächer verteilt. Die anschließenden Kapitel geben eine Übersicht über die wichtigsten, die daran beteiligt sind, und sie skizzieren, wie man den Mythos in philosophischer, religiöser, ethnologischer, psychologischer, politischer und künstlerischer Hinsicht verstehen kann. Ein umfassendes Mythosverständnis kann sich heute nur noch interdisziplinär aus der Ergänzung und dem Dialog der verschiedenen Disziplinen ergeben. Eine wissenschaftliche ‚Mythologie‘ als ‚Lehre von dem Mythen‘ gibt es nicht. Denn dieser Begriff steht nicht in Analogie zu Biologie oder Ethnologie für eine wissenschaftliche Disziplin, sondern für die Gesamtheit der Mythen eines jeweiligen Kulturkreises. Der Ausdruck Mythologie markiert die Bemühung um Übersicht. So spricht man von der griechischen, der römischen, der germanischen und auch vielen außereuropäischen Mythologien, wobei man sich allerdings bewusst machen muss, dass der Grundbegriff Mythos am altgriechischen Exempel, und hier insbesondere an den homerischen Epen und an Hesiod gebildet ist und man sich kritisch fragen muss, inwiefern er auf außereuropäische Kulturen übertragen werden kann. Von einer Lehre oder einem Wissen (-‚logie‘) kann insofern gesprochen werden, als es um eine geordnete Zusammenstellung und Auswertung der überlieferten Erzählungen und Darstellungen geht. Darunter darf man sich jedoch kein einheitliches Gesamtbild vorstellen, in dem jeder Figur eine bestimmte, durch alle Überlieferungen konstante Eigenschaft und Rolle zuzuweisen wäre. Die Überlieferungen sind vielfältig und widersprüchlich, durchweg von einer lebendigen Erzähl- und Darstellungsfantasie bestimmt und niemals von der Sorge, ein stimmiges Gesamtsystem an Götterzuständigkeiten und Heldenschicksalen zu errichten. Mythologie ist kein Glaubenssystem, sondern die Sammlung und Zusammenstellung von Erzähl- und Darstellungstraditionen. Deshalb ist sie auch keine Angelegenheit einer längst vergangenen Vorzeit. Sie stammt nur daher und hat sich bis heute erhalten. An den Mythologien wurde über Jahrhunderte und wird bis heute weiter gearbeitet. Sie bleiben produktiv, in den Literaturen und Künsten, im Film, aber auch in politischen Debatten, in den Wissenschaften und mitunter auch der Technik. Der zweite Teil dieses Buches gibt eine Sammlung und Übersicht auf aktuellem Stand. SM
Zeus, Bronze-Plastik, griech., 5. Jh. v. Chr., Berlin, Altes Museum
Statt der Frage nach dem ‚Wesen‘ des Mythos erscheint die Suche nach den Funktionen, die mythische Erzählungen haben, fruchtbarer. In allen Naturvölkern vereinigt der Mythos verschiedene Grundfunktionen: (1) Kultisch-religiös vermittelt er heilige Wahrheiten und entscheidet über Schuld oder Unschuld; (2) historisch-sozial erzählt er die Geschichte einer Institution, eines Ritus oder einer gesellschaftlichen Entwicklung; (3) politisch sind Mythen der Ausdruck eines primären kollektiven Narzissmus und dienen der Selbstdarstellung einer Gesellschaft. Hinzu kommen (4) die lehrhafte Funktion (exemplum) wie (5) die ästhetische. Alle diese Funktionen sind heute längst auseinandergetreten; der Mythos ist Gegenstand ganz unterschiedlicher Denktraditionen: Eine Gesamtgeschichte des Mythos gibt es nicht, sondern nur diverse Mythen-Begriffe der Einzelwissenschaften, die ihre je eigene Einzelgeschichte haben. So sprechen wir heute von einem anthropologisch-ethnologischen, einem soziologischen, einem philosophischen, einem psychologisch-psychoanalytischen, einem literaturwissenschaftlich-diskurstheoretischen und einem religionswissenschaftlichen Mythosbegriff.
Als wichtige Methoden der Mythendeutung lassen sich drei klassifizieren: (1) Nach der funktionellen Theorie rechtfertigen Mythen soziale Gegebenheiten und legitimieren den jeweiligen Status quo der gesellschaftlichen Verhältnisse. (2) Die symbolische Theorie betrachtet den Mythos als eine Denkweise, die Ähnlichkeiten mit dem Traum habe. Die Gesetze der Zeit, der Natur und der Gesellschaft, die uns geläufig sind, haben hier keine Gültigkeit. Ähnlichkeiten und Parallelen zwischen Mythen aus verschiedenen Gesellschaften legen nahe, dass sie allgemeingültige Denkweisen wiedergeben (C. G. Jung). (3) Die strukturelle Methode zerlegt den Mythos in seine Elemente, in Begebenheiten und Motive, und erörtert, wie diese untereinander in Beziehung stehen, damit man, ähnlich einem Querschnitt durch unterirdische geologische Schichten, die zugrunde liegende Struktur offenlegen kann. Ein in Mythen gefundenes Grundmuster ist die Wechselwirkung von Oppositionen. C. Lévi-Strauss etwa versteht Mythen als Gebilde von Gegensätzen: Natur und Kultur, männlich und weiblich, Ordnung und Chaos. In jedem Fall ist unsere Distanz zum Mythos unüberbrückbar geworden – wo uns Mythen begegnen, sind es zumeist schon „Restmythen“ (Taubes), etwa die biblischen Mythen vom Sündenfall oder die von der Weltschöpfung.
Im Zeitalter der Renaissance und der ersten großen überseeischen Entdeckungen erfuhr das überlieferte christliche Weltbild eine tiefe Krise. Die Frage nach einer allen Religionen gleichermaßen zugrundeliegenden ‚natürlichen Religion‘ wurde akut angesichts des Auffindens völlig unbekannter Völker in Amerika, dann in Japan, China und Hinterindien. Christliche Missionare untersuchten im 16. und 17. Jh. die Kulthandlungen der ‚Wilden‘ mit der größten Gründlichkeit. Der christliche Eurozentrismus unterwarf sich die Mythen der anderen Völker. Die Missionare wandten die Prinzipien der Spätantike an und verglichen indianische Kulte und Heiligtümer mit den antiken: Der südamerikanische Kannibalismus erschien so als direkter Abkömmling der antiken Bacchanalien.
Auch im 18. Jh. erweiterte die Ethnographie den Horizont für Vergleiche ‚primitiver‘ zeitgenössischer Religionsformen. Im frühen 18. Jh. entstanden deshalb die ersten Ansätze zu einer historischen Bewertung der klassischen Religionen. Nachdem man vom 15. bis 17. Jh. die griechischen mit den alttestamentlichen und orientalischen Göttern und Gestalten gleichgesetzt hatte, empfand F. J. Lafitau 1724 die griechischen und indianischen mythologischen Erzählungen als gleichartig. Von Freidenkern wurde die Religion der ‚Wilden‘ der christlichen Kirche als die reine Vernunftreligion entgegengestellt. Für die Aufklärung gehörte die Mythologie zur Finsternis der Abgötterei; die griechische Religion galt als Aberglaube. Erst der Verlust des Glaubens an den wahren geistigen Gott habe zur Anbetung personifizierter Naturgewalten geführt. Erlaubt war die Mythologie höchstens noch als für Künstler, Gelehrte und alle Gebildeten nützliches, lexikalisch inventarisierbares Wissen, wie es sich in dem bis zum Ende des 18. Jh. verbreiteten Gründlichen mythologischen Lexicon von Benjamin Hederich dokumentiert. Beherrschend blieb die historische Kritik am Mythos als vergangener, überholter Erkenntnisform.
Benjamin Hederich: Gründliches mythologisches Lexicon, 1770, Frontispiz
Um 1800 konnte der Mythos weder einen religiösen noch einen moralischen Anspruch erheben; er überlebte aber als poetische Existenz. Diese Auffassung des Mythos als poetisches Verfahren ist ohne G. Vico nicht vorstellbar. Vico betonte 1725 gegen die folgende Aufklärung die Eigenständigkeit des ästhetisch-bildlichen gegenüber dem logisch-diskursiven Prinzip; die Sprache des Mythos galt ihm als Entsprechung zur dichterischen Sprache. Im mythischen Verfahren sah er eine eigenständige Interpretation der Wirklichkeit und entwickelte die Idee eines mythologischen Weltwörterbuchs. Vico sah in der Mythologie einen autonomen und trotz seiner Primitivität legitimen Weg zur Wirklichkeit und zur Transzendenz. Mit seiner Sicht des Mythos als kulturgeschichtlichen Zeugnisses der ersten Völker, als anfänglichen poetischen Bewusstseins der Menschheit sicherte Vico die Lebendigkeit der Mythologie durch die mythenfeindliche Zeit der Aufklärung hindurch und schuf die Grundlage für die Mythenrezeption der deutschen Klassik, vor allem der Romantik.
Von Vico beeinflusst entzog dann Herder den Mythos endgültig der aufklärerischen Kritik, indem er ihn für poetische bildliche Sprache erklärte. Es ging Herder nicht mehr um eine Bestimmung von Mythos und Wahrheit, sondern nur noch um poetische Anwendung, kurz gesagt: um die Ehrenrettung des Mythos als poetisches Werkzeug. Von Herder ausgehend, legte C. G. Heyne die Grundlagen des modernen Mythosbegriffs; F. A. Wolf, F. Schlegel, F. Creuzer, W. v. Humboldt waren seine Hörer. Der Mythos ist bei ihm eine Vorstellungs- und Ausdrucksform der Kindheit des Menschengeschlechtes. Endgültig haben die Mythen ihre allegorische oder religiöse Funktion verloren. Versuche des 19. Jh., wie der Creuzers, im Mythos wieder primär das religiöse Phänomen zu sehen, blieben von vornherein zum Scheitern verurteilt; das gilt noch für R. Wagner. In der Einleitung zu seiner 1795 erschienenen Götterlehre verwirft K. P. Moritz jede allegorische Deutung der griechischen Götterwelt ganz ausdrücklich. Bei den griechischen Mythen handele es sich um ‚schöne Dichtung‘, und diese Dichtungen müssten „als eine Sprache der Phantasie betrachtet werden“. Nur ästhetische, nicht ethische Kriterien würden den mythischen Dichtungen gerecht: Die Götter-Darstellung sei „über alle Begriffe der Moralität erhaben“. Die Mythologie sei also weder bloße Allegorie noch Niederschlag einer alten Geschichte, sondern eine schöne Dichtung. Nur in ihrer ästhetischen Funktion haben die mythologischen Erzählungen Existenzrecht. Hauptzweck der Mythologie ist die Schönheit; die Götterlehre wird zur Ästhetik. Diese ästhetische Deutung der griechischen Götterwelt ist J. W. Goethe und F. Schiller ebenso nahe, wie sie von Einfluss auf Schelling und A. W. Schlegel gewesen ist.
Es ist vor allem die (deutsche und englische) Romantik, durch die der Mythos für die Moderne dann ganz frei verfügbar wird, was sich an W. Blake und Novalis aufzeigen lässt. Die Idee einer ‚neuen Mythologie‘ soll die allegorische Reduktion des Mythischen überwinden und das moderne Gesamtkunstwerk heraufführen. Programmatisch ist das im sog. Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus von 1797 ausgeführt. Gegen die allegorische und euhemeristische Deutung opponiert im 19. Jh. vor allem F. W. J. Schelling: Seine Philosophie der Mythologie von 1842 weist alle aufklärerischen Interpretationen der Mythologie ab, indem sie versucht, die Möglichkeit eines realen Umgangs der Menschen mit personifizierten Prinzipien philosophisch zu erweisen.
Titanic-Filmplakat, 1943
In der gegenwärtigen Diskussion liegt der Wert der philosophischen Mythologie in der Möglichkeit eines erweiterten Erklärungsmotivs des Wesens von Rationalität, letztlich menschlicher Kultur überhaupt. Der Mythos wird zum Zeichen einer Selbstkritik moderner Philosophie und der sie tragenden Rationalitätskonzepte; diese Kritik mündet zum Teil in eine anarchistische Revolte gegen die Vernunft, die mit Herrschaft gleichgesetzt wird (,Postmoderne‘), und in den Versuch, zu Totalität und Unmittelbarkeit zu gelangen. Der Feminismus spitzt das Problem zu auf den Gegensatz zwischen matriarchalischem Mythos und patriarchaler Vernunft. Der Mythos wird hier wie anderswo instrumentalisiert für bestimmte politische Interessen.
Eine weitere wichtige Tendenz der gegenwärtigen Diskussion ist die stärkere Berücksichtigung anthropologischer und paläontologischer Forschungsergebnisse und der Blick auf andere Kulturen. Die Ethnologen verweisen darauf, dass die Bestimmung des Mythos am Spannungsverhältnis von Logos/Mythos aufzubrechen ist, um die tiefgreifende Verschiedenheit zwischen mündlichen und schriftgestützten Kulturen beschreiben zu können. Die Gefahr bei der Konzentration auf die schriftliche Fixierung des Mythos bestehe in der Herauslösung von Mythen aus ihrem sozialen kulturellen Umfeld. Mythen einzelner Gesellschaften können sinnvoll nur kontextuell interpretiert werden.
Der inflationäre Gebrauch des Begriffs ‚Mythos‘ in den Medien und politisch-kulturellen Debatten ist z.T. negativ (im Sinne von ‚Illusion‘), z.T. positiv (im Sinne des Legendären, z.B. der ‚Mythos Titanic‘) besetzt. Zugleich ist ‚Mythos‘ in fast allen Geistes- und Kulturwissenschaften ein immer noch viel diskutierter Begriff.
Gefragt wird u.a. nach den Restbeständen mythischer Potentiale in unserer Gegenwart. Was erfüllt heute, in unserer vorgeblich mythenlosen Gesellschaft, die Funktion, die in traditionalen Gesellschaften die Mythen erfüllt haben? Die Frage nach den Orten und den Weisen, an und in denen vormoderne Sichtweisen in der Moderne überlebt haben, muss zunächst an der Nebenbedeutung des Mythos ansetzen. Erste Hinweise hat hier L. Kolakowski gegeben. Ihm ging es um die Integration der unser Handeln leitenden nicht-vernünftigen Gründe in einem umfassenden Weltentwurf, wie sie sich aufdrängen durch das Problem des Todes und der Liebe. Es geht um die Verwandlung des Zufälligen (Kontingenz) in etwas für unsere Biografie Notwendiges. Das Bedürfnis nach Welt- und Selbstinterpretation verlangt nach Ausdrucksmöglichkeiten, die selbst nicht realer, sondern fiktionaler Natur sind: Einzelne wirkliche Erlebnisse müssen sich in Geschichte verwandeln, d.h. in zahlreiche – vorgestellte, mögliche – Geschichten. Was ist das Wirkliche, und wie erleben wir es? ‚Wirklich‘, d.h. lebensbedeutsam wird dieses Wirkliche nur, wenn es in Geschichten aufgehoben und schließlich in die eine Lebensgeschichte überführt worden ist. Erst ein mythisches Modell, das die erfahrene Fremdheit der Welt in einen universalen Sinnzusammenhang reintegriert, hebt die „Gleichgültigkeit der Welt“ auf.
Auch andere Theoretiker erkennen dem Mythos allein die Fähigkeit sozialen und historischen Sinnverständnisses zu. So ist der Mythos für G. Brand der Ort der Frage nach dem letzten Sinn (die jedem sozialen Verhalten unverrückbar zugrunde liege) und die zeitenthobene Bedingung jedes sozialen Selbstverständnisses. Mythen bestimmen deshalb auch in weitreichender Weise das politische Denken. Unser höchst ernüchtertes, versachlichtes, rationales Leben ist von mythischen Strukturen beherrscht, die nur andere Namen erhielten.
LITERATUR
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J. de Vries: Forschungsgeschichte der Mythologie. Freiburg 1961
M. Fuhrmann (Hg.): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. München 1971
G. Brand: Gesellschaft und persönliche Geschichte. Stuttgart u.a. 1972
W. D. Wetzels (Hg.): Myth and Reason. A Symposium. Austin 1973
J. W. Rogerson: Myth in Old Testament Interpretation. Berlin 1974
J. Hani (Hg.): Problèmes du mythe et de son interprétation. Paris 1978
A. Horstmann: Der Mythosbegriff vom frühen Christentum bis zur Gegenwart. In: Archiv für Begriffsgeschichte 23, 1979, S. 7–54, 197–245
M. Frank: Vorlesungen über die Neue Mythologie, 2 Teile, Frankfurt a. M. 1982/83
R. Schlesier (Hg.): Mythos. Wien 1983
C. Lévi-Strauss/J.-P. Vernant u.a.: Mythos ohne Illusion, Frankfurt a. M. 1984
R. Schlesier (Hg.): Faszination des Mythos. Studien an antiken und modernen Interpretationen. Basel 1985
R. Schlesier/R Faber (Hg.): Die Restauration der Götter. Antike Religion und Neo-Paganismus. Würzburg 1986
G. v. Graevenitz: Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit. Stuttgart 1987
L. Brisson/C. Jamme: Einführung in die Philosophie des Mythos. 2 Bde. Darmstadt 1991
C. Jamme: Mythos. In: Metzler Lexikon Religion. Hg. v. C. Auffarth/J. Bernhard/H. Mohr. Bd. 2 Stuttgart/Weimar 1999, S. 515–521
M. F. Meyer: Die Bedeutungsgenese der Begriffe ‚Mythos‘ und ‚Logos‘ in der griechischen Antike. In: Archiv für Begriffsgeschichte 41, 1999, S. 35–63
G. Williamson: The Longing for Myth in Germany, Religion and Aesthetic Culture from Romanticism to Nietzsche. Chicago/London 2004 CJ
Der Mythos (im Singular) ist ein theoretisches Konstrukt der europäischen Wissenschaften. Das Problem, wie Mythen (philosophisch) zu deuten seien, entzündet sich an der Homer-Interpretation. Deutlich wird das bei Platon. Man könne nicht angemessen über Gott sprechen, wenn die vielen Götter, von denen Homer erzählt, menschliche Gestalt und Schwächen haben. Platon ersetzt diese Mythen deshalb durch eine vernunftorientierte „Rede über das eine Göttliche“ (theo-logia). In der Dichterkritik der Politeia stellt Sokrates bei der Erörterung von Erziehungsfragen fest, dass man den Kindern zuerst ‚Mythen‘ erzähle; diese Mythen als das ‚Unwahre‘ seien dem ‚Wahren‘ entgegengesetzt. Im Symposion ist die Wahrheit mythischen Ursprungs, wird aber der Philosophie überantwortet. Im Phaidros lässt Platon die Frage nach der Wahrheit offen, weist aber mit gleich ironisch eingefärbtem Nachdruck auf die Schwierigkeiten hin, die ganz und gar nicht gering sind und eine interpretatorische Enthaltsamkeit empfehlen. Indes hat Platon selbst in seinen Dialogen Mythen erzählt, die allerdings keinen Bezug zu einem Kult haben und logisch geläutert sind. Präsentieren sich die Mythen in der Antike in kultischen Manifestationen, dann in poetischer Varianz in der Tragödie, so ist die philosophische Wahrheit aus den heiligen Bezirken ausgezogen und für den Alltag handhabbar geworden.
Theodor W. Adorno (1903–1969)
Blieb trotz allem bei Platon und Aristoteles insgesamt das Verhältnis von Mythos und Logos weitgehend unbestimmt, so ist in der Folge eine immer stärker werdende Festigung dieses Verhältnisses zu beobachten. Hier pflegte vor allem die Stoa die allegorische Methode der rational umdeutenden Interpretation, die in den Göttern personifizierte Naturmächte sah. In der Folgezeit hielten die Philosophen Mythen lange für Allegorien der philosophischen Wahrheiten. Der Neuplatonismus suchte dann die antike Mythologie auf den Begriff zu bringen, nachdem die Mythen unter den Römern ihre kultische und rechtfertigende Funktion verloren hatten. Das Primäre ist der philosophisch fixierte und systematisierte Gedanke. Die philosophische Mythenauslegung im Neuplatonismus machte den Mythos zur philosophisch-funktionalen Metapher oder zur Allegorie. Als religiöses Phänomen wird er dadurch mehr und mehr zerstört. Bis ins 19. Jh. werden die antiken Göttermythen allegorisch oder symbolisch interpretiert. Blieb in der christlichen Spätantike, für die die heidnischen Religionen als Entstellung der im Paradies geoffenbarten Urreligion galten, die Nutzung der Allegorese für die Schriftauslegung eine Ausnahme, so wurde im Mittelalter das allegorische Auslegungsverfahren differenziert. Auch die Renaissance verteidigte den Wert paganer Fabeln mit dem allegorischen Sinn, der sich dahinter verbirgt, weshalb es auch für Christen von Gewinn sei, die Werke heidnischer Autoren zu lesen. Daneben behauptete sich der Euhemerismus, der in Mythen den Niederschlag historischer Ereignisse und hinter Göttern menschliche Persönlichkeiten vermutete, die sich um die Menschheit besonders verdient gemacht haben und deshalb nach ihrem Tode zu Göttern erhoben worden seien.
Platon, Marmorbüste, Rom, Kapitolinische Museen
Die mit Schelling abgebrochene Tradition der Romantik wurde im 20. Jh. von W. F. Otto wieder aufgenommen. Auch E. Cassirer schloss sich an Schelling an, selbst wenn er mit der Entwicklung einer neuen Theorie des Bewusstseins, nämlich der Lehre von den symbolischen Formen, weit über Schelling hinausging. Der Mythos erscheint bei Cassirer als Teil einer Lebensform. Nach seiner Übersiedlung in die USA widmete sich Cassirer der Untersuchung von Mythen in Bezug auf heutige Gesellschaften; Frucht dieser Bemühungen um eine ideologiekritische Bewertung ist sein letztes Werk Der Mythus des Staates, in dem er „die Technik der modernen politischen Mythen“ untersucht, um die Genese des nationalsozialistischen Staates zu verstehen. Hier gibt es eine Verbindung zu G. Sorel, der zwar mehr oder weniger zynisch den fiktiven Charakter von Mythen erkannt, aber nichtsdestoweniger ihre Benutzung als Instrument politischer und sozialer Kontrolle für gerechtfertigt gehalten hatte. Eine alternative Konzeption dazu entwickelte das Hauptwerk von T. W. Adorno und M. Horkheimer Dialektik der Aufklärung von 1947. Der vorgeschichtliche Mythos bestehe in der Moderne fort in zunächst unkenntlichen Verwandlungen, zugleich stellt aber der antike Mythos schon eine Urform emanzipatorischer Rationalität dar: „Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.“ Der hier zugrundegelegte Mythosbegriff als die Entsprechung einer (durch die Technik) vergewaltigten und unterdrückten (und damit furchtbaren) Natur und die auf ihn zurückgehende Theorie der Zivilisation wird aber heute zunehmend in Frage gestellt. H. Blumenbergs Arbeit am Mythos versteht sich als ein Gegenstück, als eine polemische Antwort auf die Dialektik der Aufklärung. Der Mythos ermögliche eine zum Ästhetischen tendierende Entmachtung archaischer Ängste. Indem der Mythos bestimmte Lebenssituationen und Ängste bewältigt, gewinnt er seine erste Distanz und ist anfängliche Rationalität. Diese Arbeit des Mythos kann nur in einer nie endenden Arbeit am Mythos realisiert werden. K. Hübner sucht den Mythos mit der Rationalität (und zwar der der modernen Naturwissenschaften) zu versöhnen.
Die phänomenologischen Mythen-Theorien zeichnen sich dadurch aus, dass sie in engem Wechselgespräch mit (neu entstehenden) zeitgenössischen ethnologischen und prähistorischen Forschungen entwickelt wurden. So begrüßt bereits Husserl im Zusammenhang der Arbeit an der Krisis-Abhandlung die Arbeiten des Pariser Religionsethnologen und Völkerpsychologen L. Lévy-Bruhl, dessen ihm „vom Verfasser 1929“ zugesandtes Buch Die geistige Welt der Primitiven er nicht nur gründlich studierte und mit Randbemerkungen und Anstreichungen versah, sondern auf das er auch in einem Brief an den Autor vom 11.3.1935 explizit reagierte. Spuren dieser Beschäftigung mit kultureller Fremdheit finden sich im Werk dann auch in den (um 1930 entstandenen) Forschungsmanuskripten zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Im Zusammenhang des Verstehens „primitiver Menschen“ und Kulturen stellt sich Husserl auch das beunruhigende Problem der Konfrontation mit fremden Mythen. Unter Mythen versteht er ein den Generationswechsel überbrückendes Erzählen, das die Identität und damit den Fortbestand der fremden Heimwelt sichert. In der Konfrontation mit mythischer Fremderfahrung stellen sich vor allem zwei Probleme: einmal das der Relativierung der eigenen Kultur und damit das Problem historischer Relativität überhaupt, sodann das Problem des Verstehens dieser fremden Mythen. Konkret auf die Griechen bezogen diskutiert Husserl das Problem des Mythos sodann im Wiener Vortrag (7./10. Mai 1935). Der Mythos, so heißt es hier, gehöre notwendig zur „Umwelt“ der Griechen, d.h. zu ihrer „Weltvorstellung – […] mit all den dann geltenden Wirklichkeiten, z.B. den Göttern, den Dämonen usw.“. Aber er reduziert ihn letztlich nur zu einem Horizont, der sich für eine Interessiertheit öffnet, und konfrontiert den Mythos mit der Freiheit der Theoria.
M. Heideggers Einstellung zum Mythos bleibt lange ambivalent. In Mythen werde einerseits auf uneigentliche, metaphorische Weise die Urbewegung des Daseins dargestellt. Das Dasein, so heißt es 1927/28 über dessen Selbsterschlossenheit, „vollzieht zunächst keinen begrifflichen Unterschied zwischen der Seinsart seiner selbst und der Seinsart der Dinge, zu denen es sich verhält, und das so wenig, dass es zunächst sein eigenes Sein mit dem der Dinge identifiziert. So ist es in allem mythischen Denken […].“ Mythen beinhalten eine Verfallenheit an die Dinge, was das alltägliche Besorgen ebenso wie die Philosophie betrifft. Die Auffassung des Mythos als Seinsverfehlung prägt auch Sein und Zeit: Wenn wir uns metaphorisch, mythisch verstehen, führen wir eine uneigentliche Existenz. Andererseits hat aber das mythische Dasein noch ein Bewusstsein der Trennung zwischen ungemessener und alltäglicher Zeit, zwischen „Ungemessenheit, Mächtigkeit“ (die die transzendentale Zerstreutheit des Daseins überwindet) und „Alltäglichkeit“, d.h. zwischen der Zeit der Feste und der vulgären Zeiterfahrung (als unterschiedslos homogener). Heidegger bezog sein Wissen über den Mythos zu jener Zeit aus E. Cassirer, wie seine Interpretation des mythischen Daseins in der Rezension des 2. Bandes der Philosophie der symbolischen Formen 1928 zeigt. Heidegger paraphrasiert hier Cassirer in der Sprache von Sein und Zeit: Er konfrontiert die Schicksalsordnung des Mythos mit der alltäglichen Zeit, d.h. Heiliges mit Profanem. Der Mythos ist für Heidegger vorwissenschaftliche Wissenschaft (er geht vor allem von aitiologischen, d.h. solchen Mythen aus, die Ursprung und Beschaffenheit der Naturphänomene erklären), steht nicht in Bezug zur Religion, sondern ist allenfalls religiös. Mit der hier erhobenen Forderung einer neuen Philosophie des Mythos im Anschluss an Schelling und Cassirer bereitet sich eine Neubewertung des Mythos im Zuge der sogenannten ‚Kehre‘ vor: Ab 1929 wird W. F. Otto mit seinem Buch Die Götter Griechenlands – eine erste objektivistische Mythos-Interpretation – wichtig, dann Hölderlin und die griechische Tragödie. Heidegger wollte die Erfahrung des Göttlichen durch ein Zusammenwirken von Dichten und Denken neu zur Entscheidung stellen. Mit der Verkehrung der ‚aletheia‘ (d.h. der ursprünglichen Vorstellung von Wahrheit als ‚Unverborgenheit‘) zur Richtigkeit hängt zusammen, dass der Mythos – das Wort und die ‚Sage‘ – aus seinem Eigenwesen und in den Gegensatz zum Logos gedrängt wurde. Es war die Sprache und Dichtung Homers, die den Griechen ihre Götter gegeben hat. So soll Hölderlin den Deutschen den Weg bahnen für den kommenden Gott – wenn er Gehör findet. Der späte Heidegger betont deshalb immer wieder, dass „der Mythos […] das Denkwürdigste bleibt“. Mit einer historisch gelehrten ‚Mythologie‘ hat dies aber nichts zu tun.
In seiner an die Religionsphänomenologie anschließenden frühen Hermeneutik der Symbole sucht P. Ricœur nach Richtlinien für das kritische Verstehen der Primärsprache symbolischer Selbstauslegung, als die er den Mythos versteht. Ricœur möchte den ursprünglichen Begriff des Mythos wiederherstellen und gegen Übergriffe von Pseudomythologien schützen. Mit M. Eliade betont Ricœur vor allem die „Symbolfunktion“ des Mythos, d.h. „sein Vermögen, die Bindung des Menschen an das ihm Heilige zu entdecken, zu entschleiern“. Der Mythos ist die „symbolische Wiedergutmachung und Wiederherstellung“ der verlorenen Ureinheit und Ganzheit. Ricœurs kritisches Verständnis des Mythos ist Platon verpflichtet; er gebraucht den platonischen Begriff des Mythos, um das primäre Bewusstsein und die Sprache des Mythos zu entziffern. Ricœur sieht zwei Charakteristika des Mythos: „Dass er Wort ist, und dass bei ihm das Symbol die Form der Erzählung annimmt.“ Das Faktum des Schuldigwerdens sperrt sich jeder Beschreibung. Nur in der Konkretheit des Mythos und in der Sprache des Bekenntnisses kann das Fehlen bzw. das Schuldigwerden ausgesprochen werden. In seiner weiteren Entwicklung erscheint Ricœur diese frühe Hermeneutik der Symbole immer mehr zu einer Hermeneutik von Texten erweiterungsbedürftig. Im Grunde wäre alles schon zu Symbol und Mythos Gesagte aus der Perspektive der späteren sprachtheoretischen Arbeiten (vor allem zu den Themenbereichen ‚Metaphern‘ und ‚Erzählung‘) wiederaufzugreifen.
Auch für den tschechischen Husserl- und Heidegger-Schüler J. Patocka ist der Mythos eine Aufhebung der profanen Zeit. Wie Ricœur begreift er ihn als ewige rituelle Wiederholung eines Urereignisses und damit erblickt er in der „mythischen Urzeit“ „den Schlüssel zu allem, was wirklich geschah“. Für den Mythos ist die Realität „Erzählen“, und insofern ist er „die ursprüngliche Form, in der der Mensch seine Beziehung zur Welt in ihrer Totalität reflektierte“. Die „Kehrseite“ des Mythos liege in der Verführung des Menschen zur Passivität; um für die Zukunft offen zu werden, bedürfe der Mensch des Glaubens. In seinen späteren Schriften stellt Patocka der vorgeschichtlichen natürlichen Welt (die er mit H. Arendt als von reiner Selbstreproduktion bestimmt sieht) die Welt der Geschichte gegenüber. Mit Polis und Philosophie tue sich zwischen den Menschen und den ihm bisher vertrauten Dingen ein Abgrund auf, der den Beginn der Geschichte markiere. An die Stelle des dunklen Erratens des Mythos trete das ausdrücklich fragende Suchen der Philosophie. Es ist vor allem die mit der Schrift einhergehende Entstehung eines kollektiven Gedächtnisses, die dazu führt, dass der Mythos auf „höherer Ebene“ wiederholt wurde. Es ging darum, „das Menschenbild des Mythos beim Wort zu nehmen, eine Tat, welche ihresgleichen nicht hat in der Geschichte des menschlichen Geistes“. Jetzt erst entsteht die Voraussetzung für ein Suchen nach Gründen und Begründung, wie es die Philosophie darstellt.
LITERATUR
T. W. Adorno, M. Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M. 1969
P. Ricœur: Die Symbolik des Bösen. München 1971
L. Kolakowski: Die Gegenwart des Mythos. München 1973
G. Vico: Principi di Scienza nuova (1725). ND 3 Bde. Torino 1976
E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bde., ND der 2 Aufl. 1953. Darmstadt 1977
H. Poser (Hg.): Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium. Berlin 1979
H. Blumenberg: Arbeit am Mythos. 2 Aufl. Frankfurt a. M. 1981
K. Hübner: Die Wahrheit des Mythos. München 1985
S. H. Daniel: Myth and Modern Philosophy, Philadelphia 1990
E. Husserl: Die Krisis des europäischen Menschtums und die Philosophie. Mit einer Einführung von Bernhard Waldenfels. Weinheim 1995
C. Jamme: „Gott an hat ein Gewand“. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1999
B. Šijaković: Myth and Philosophy: Theories of Myth and Greek Mythmaking. A Bibliography. Beograd 2012 CJ
Die Verhältnisbestimmung von (christlichem) Glauben und Mythologie ist ebenso sachlich unausweichlich wie historisch und systematisch schwierig. Die moderne Geschichte dieses Verhältnisses beginnt mit dem historischen Mythos-Begriff der Aufklärung, innerhalb deren der Mythos zu einem methodischen Leitbegriff der Bibelwissenschaft geworden ist. Besonders deutlich wird dies dann bei David Friedrich Strauss in seinem 1835 erschienenen Werk Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, in dem er unter Rückgriff auf Schellings frühen Aufsatz Ueber Mythen, historische Sagen und Philosopheme (1793) den Mythos-Begriff auf Jesu Leben anwendet. Neutestamentliche Mythen seien „geschichtsartige Einkleidungen urchristlicher Ideen“.
Ein Markstein zu Beginn des 20. Jh. wurde das 1917 veröffentlichte Buch des Marburger Religionsphilosophen Rudolf Otto Das Heilige, das Schleiermachers Ablehnung der Rationalisierung und Moralisierung der Religion fortführte, indem es das Heilige als das „ganz Andere“ bestimmte und an diesem Heiligen das „Numinose“ (d.h. die Heiligkeit ohne allen sittlichen und erkenntnishaften Einschlag), das „Tremendum“ (d.h. das, was frommes Schaudern weckt), das „Mysteriöse“ und schließlich das „Fascinosum“ (d.h. das Hinreißende) unterschied. Husserl, der durch Heidegger und dessen Freund Ochsner auf dieses Buch aufmerksam gemacht worden war, glaubte hier, den Ansatz zu einer Phänomenologie der Religion gefunden zu haben. Cassirer wiederum glaubte gegenüber Otto, der die Kategorie des Heiligen einer besonderen Sphäre vorbehalten wollte, alles zusammenfassen zu müssen, indem er dem Heiligen eine Stellung im Bereich des Mythos anwies. Einen Fortsetzer hat Ottos Religionsphänomenologie heute in Hermann Timm gefunden.
Die protestantische Theologie, die Rudolf Ottos Buch willkommen hieß, lobte, dass nach einer Phase der erbaulichen und rationalistischen Reduktion dessen, was Glaube, Religion, Gottesbegriff ist, erstmals wieder der Versuch gemacht worden sei, die absolute Macht Gottes zu formulieren. Wirkungsmächtiger aber als der Einfluss Ottos (der übrigens umstandslos für die völkische Erneuerung vereinnahmt werden konnte) wurden innerhalb der protestantischen Theologie heideggersche Kategorien. Einmal war es Hans Jonas, der den Mythen der Gnosis unter Verwendung von Kategorien aus Sein und Zeit eine Existenz-analytische Bedeutung gegeben hat, zum anderen hat Rudolf Bultmann, ein Todfeind Rudolf Ottos, in seiner existentialen Interpretation Begriffe Heideggers und dessen hermeneutische Methode übernommen. Die hermeneutische Debatte nach 1945 war geprägt von der Diskussion um die „Entmythologisierung“. Der Begriff, den Jonas 1930 geprägt hatte, wurde berühmt 1941 durch Bultmanns Aufsatz Neues Testament und Mythologie. Hier entwickelt Bultmann die These, dass dem Neuen Testament ein mythisches Weltbild zugrunde liegt, das der Darstellung des Heilsgeschehens entspricht. In Weiterführung älterer Ansätze wie der der historischen Bibelkritik (A. Drews, 1910) und ausgehend von der (aufklärerischen) These, dass der Mythos das Vorstadium der Wissenschaft ist und dass die empirische Einsicht in die Funktionsweise der Phänomene in ihrer Weiterentwicklung deshalb die mythische Auffassung ablehnen muss, gelangt er zu der Feststellung, dass die neutestamentlichen Mythen dem modernen Menschen nicht mehr vermittelbar seien. Auch die Gestalt Jesu wurde mythisch verstanden, wobei der Mythos ursprünglich dazu diente, Jesu Gestalt ins Göttliche zu steigern. „Das Weltbild des NT ist ein mythisches. […] Dem mythischen Weltbild entspricht die Darstellung des Heilsgeschehens, das den eigentlichen Inhalt der neutestamentlichen Verkündigung bildet“, die in „mythologischer Sprache“ redet, die „für den Menschen von heute unglaubhaft [ist], weil für ihn das mythologische Weltbild vergangen ist. Die heutige christliche Verkündigung steht also vor der Frage, […] ob die Verkündigung des NT eine Wahrheit hat, die vom mythischen Weltbild unabhängig ist; und es wäre dann die Aufgabe der Theologie, die christliche Verkündigung zu entmythologisieren.“ Diese Mythen müssen vielmehr existential interpretiert werden. Die existentiale Interpretation ist Bultmann schon früh (1920/21) durch die religionsgeschichtliche Schule vermittelt worden, ab 1923 war es der Kontakt mit Heidegger in Marburg. Diese These fand vielfach Widerspruch; gegen Bultmann gerichtete Versuche der Rehabilitation des Mythos finden sich etwa bei E. Buess, F. Vonessen, K. Hübner, vor allem aber bei K. Jaspers und P. Tillich. Jaspers protestiert vor allem wegen Bultmanns negativer Verwendung des Mythos-Begriffs: „Die Herrlichkeit und das Wunder der mythischen Anschauung muss gereinigt, aber nicht abgeschafft werden. Entmythologisierung ist ein fast blasphemisches Wort.“ Für Tillich, der sich intensiv mit Schelling auseinandergesetzt hatte, kann die Religion den Mythos nicht hinter sich lassen. Die Vorstellungsinhalte der Religion (insbes. das Gottes- und Geschichtsbild) sind Mythen.
Rudolf Bultmann (1884–1976)
Aufschlussreich ist die Entwicklung innerhalb der aktuellen Theologie. Vor 70 Jahren hat Bultmann das mythische „Weltbild“ für erledigt erklärt, heute ist von den mythischen Potentialen des Glaubens die Rede. Deutlichstes Indiz eines Rehabilitationsversuches des Mythos von theologischer Seite war der 6. Europäische Theologenkongress im September 1987 in Wien, der unter dem Thema ‚Mythos und Rationalität‘ stand. Wie kontrovers das Verhältnis des Christentums zum Mythos gegenwärtig diskutiert wird, erhellt hier aus den Beiträgen von W. Pannenberg und H. Bürkle. Pannenberg sieht den wesentlichen Unterschied des Mythos zum Christentum darin, dass der Mythos sich an Urzeit binde, während für das AT die Geschichts- und Zukunftsidee bestimmend werde, so dass das Christentum nicht eigentlich mythisch sei; Bürkle dagegen vertritt die These, das christlich Verkündete sei auch mythisch bestimmt.
Im katholischen Raum ist es vor allem Eugen Drewermann, der mit seinem – kritisch vor allem gegen Bultmanns Entmythologisierung-These gerichteten – neuen Ansatz, die biblische Überlieferung tiefenpsychologisch zu erschließen (und in diesem Zusammenhang auch hinter den biblischen Geschichten die Struktur archetypisch-mythischer Symbole zu entdecken), Aufsehen erregte, in der Wissenschaft aber vornehmlich Skepsis hervorgerufen hat. Dass die Rede vom Mythos vielleicht eine Möglichkeit darstellt, die Rede von Religion zu hinter- und zu umgehen, wurde auf dem Kongress der ‚Deutschen Vereinigung für Religionsgeschichte‘ 1984 in Berlin deutlich, wo nicht die „neue Religiosität“, sondern der „Untergang von Religionen“ zur Diskussion stand. Im Gegensatz zu dem häufig untersuchten Problem, wie neue Religionen entstehen, sind die Bedingungen des Untergangs von Religionen bisher in der Tat kaum erforscht. Neben der Beschäftigung mit den antiken Religionen des Mittelmeerraumes und Vorderasiens (deren Untergang zum Teil im Zusammenhang mit dem Sieg des Christentums gesehen werden muss) bildete die sogenannte Säkularisierungsproblematik einen Schwerpunkt des Kongresses. Seit der Aufklärung werden Religion und Wissenschaft als konkurrierende Mächte angesehen; in Wahrheit jedoch – und das zeigen alle neueren Studien zur Vernunftreligion der deutschen Aufklärung – spielen Philosophie und Naturwissenschaft in der säkularisierten neuzeitlichen Gesellschaft eher die Rolle von Testamentsvollstreckern als von Liquidatoren von Religion. Damit entsteht auch die Frage, wie ein Glaube aussehen soll, der der Aufklärung gewachsen ist, und welche Mechanismen die Wissenschaft zur Abwehr des ‚wilden Denkens‘ entwickelt hat. Ursprünglich erfand der Mensch seine Mythen als Mittel in der Auseinandersetzung mit der ihm unwirtlichen Natur; später musste er die Mythen verdrängen, um die Natur endgültig seiner Subjektivität unterwerfen zu können.
LITERATUR
R. Bultmann: Neues Testament und Mythologie. 1941
H. W. Bartsch: Kerygma und Mythos. Hamburg 1951
C. Hartlich, W. Sachs: Der Ursprung des Mythosbegriffs in der modernen Bibelwissenschaft. Tübingen 1952
K. Jaspers, R. Bultmann: Die Frage der Entmythologisierung. München 1954
R. Bultmann: Geschichte und Eschatologie. Tübingen 1958
E. Drewermann: Tiefenpsychologie und Exegese. 2 Bde. Freiburg 1984/1987
H. H. Schmid (Hg): Mythos und Rationalität. Gütersloh 1988
O. Bayer (Hg.): Mythos und Religion. Stuttgart 1990
E. Rudolph (Hg.): Mythos zwischen Philosophie und Theologie. Darmstadt 1994
CJ
Ethnologische Mythenforschung ist ein mindestens in der aktuellen Ethnologie vernachlässigtes Feld; eine Ausnahme bildet der 1992 erschienene Band Mythen im Kontext. Seit Anbeginn der Ethnologie gibt es aber eine intensive Diskussion um die Frage, wieweit der wissenschaftliche Wirklichkeitsbegriff tauglich sei zu einem angemessenen Verständnis der magischen und religiösen Vorstellungen traditionaler Gesellschaften. Früher dachten alle Ethnologen, dass ihre Unterscheidungen von ‚rational‘ und ‚mythisch‘ auch von den primitiven Völkern selbst gemacht würden. Zum Beispiel besteht Bronislaw Malinowski – trotz des Aufweises einer permanenten Interferenz von Arbeit und Magie bei den Eingeborenen des Trobriand-Archipels – darauf, dass seine Unterscheidung von „mythischem und rationalem Verhalten“ auch von den Eingeborenen gemacht wird. Zur Begründung führt er an, dass Eingeborene Arbeit nicht durch Magie ersetzen. Das aber – so der Einwand Hans G. Kippenbergs – heißt nur, „dass der Eingeborene ein weniger mechanistisches Verständnis von Magie hat als Malinowski“. Die von Malinowski getroffene Unterscheidung zwischen instrumentellem und magischem Handeln setzt Max Webers soziologischen Begriff der Zweckrationalität voraus, der sich aber in der okzidentalen Gesellschaft erst historisch entwickelt hat. Die Unterscheidung zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und religiösem Schein folgt dem Modell bürgerlicher Religionssoziologie. Die außereuropäischen Völker treffen diese Unterscheidung aber gar nicht. Die Dichotomie von ‚sakral‘ und ‚profan‘, so die These von Jack Goody 1961, werde keineswegs von den Handelnden selbst gemacht, sondern sei eine Kategorie des wissenschaftlichen Beobachters. Immer wieder geht es um die Frage, wie sowohl das mythische Bewusstsein als auch die Lebenswelt (vermeintlich) ‚exotischer‘ Gesellschaften zu einem Gegenstand der wissenschaftlichen Reflexion zu machen ist. Gerade die Glaubensvorstellungen fremder Ethnien zu verstehen bzw. in ihrem gesamtkulturellen Kontext zu erfassen erweist sich als besonders schwierig, ist ja Kultur – ein Symbolsystem (mittels Bildern, Wörtern und Ritualen) zur Ordnung der erfahrenen Wirklichkeit – direkter Beobachtung nicht zugänglich; was beobachtbar ist, sind Handlungen oder Verhaltensweisen von Individuen oder Gruppen. Nicht zufällig ist die Auseinandersetzung über das Verstehen fremden Denkens intensiv durch ein ethnologisches Paradigma angestoßen worden, nämlich durch die Monographie des Malinowski-Schülers Edward E. Evans-Pritchard über Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande (1937), das als methodisches Paradigma für das Verstehen und Erklären fremder Denkformen auch intendiert war. Am Ende dieser Diskussion stand die Auflösung der Antithese zwischen Mythos und Logos beziehungsweise Mythos und Rationalität. Bahnbrechend für die Einsicht, dass der Mythos eine rationale Leistung darstellt, wurden die Arbeiten von Claude Lévi-Strauss. Es gibt, so seine These, eine Vielzahl (unbewusst wirkender) geistiger Operationen, die über kulturelle und zeitliche Abstände hinweg allen Menschen gemeinsam sind. Diese universelle Tätigkeit des menschlichen Geistes erzeugt die symbolische Ordnung der menschlichen Gesellschaft. Bei allen kulturellen Unterschieden zwischen den verschiedenen Teilen der Menschheit ist der menschliche Geist überall mit den gleichen Fähigkeiten ausgestattet. Heute weiß die Ethnologie, dass Menschen in primitiven Gesellschaften genauso rational denken wie in modernen, nur die Art der Rationalität ist eine andere. Mythen nehmen stets die Erzählform an; seine „doppelte Struktur, historisch und ahistorisch zugleich“ (Lévi-Strauss), ist die charakteristischste Eigenschaft des Mythos. Mythische Geschichten in allen, noch so verschiedenen Erzählkulturen operieren mit einer vergleichsweise kleinen Anzahl immer gleicher Elemente, die unendlich variiert werden. Mit einer genialen Metapher nennt daher Lévi-Strauss den mythischen Erzähler den „mythischen Bastler“: „Der Bastler ist in der Lage, eine große Anzahl verschiedenartigster Arbeiten auszuführen; doch im Unterschied zum Ingenieur macht er seine Arbeit nicht davon abhängig, ob ihm Rohstoffe oder Werkzeuge erreichbar sind, die je nach Projekt geplant oder beschafft werden müssten; die Welt seiner Mittel ist begrenzt, und die Regel seines Spiels besteht immer darin, jederzeit mit dem, was ihm zur Hand ist, auszukommen.“ Die Mythen sind überall nach einem Grundmuster aufgebaut, das im Detail sehr komplex ist, sich aber in vier Hauptthemen auflösen lässt. Diese Themen zerfallen wiederum in zwei Gegensatzpaare, nämlich einmal in den Gegensatz zwischen einer vollkommenen Schöpfung und einer unvollkommenen gegenwärtigen Welt und zum anderen in den Gegensatz zwischen Erfolg und Misserfolg. In Mythen bzw. Mythengruppen wird „ein Thema, sein Gegenteil und ihre Umkehrungen ein[ge]-schlossen“ (Lévi-Strauss). Es entstehen „Strukturen mit vier Termini, die untereinander verschränkt sind und untereinander eine Homologiebeziehung bewahren“ (Lévi-Strauss). Bei einigen ethnischen Gruppen fehlen Elemente des vielfachen Komplexes, obwohl man bei benachbarten Stämmen mit ähnlicher Kulturtradition diese Elemente kennt. Nicht jeder Stamm besaß eine spezifische Schöpfungsgeschichte, selbst wenn ein reicher Erzählungsschatz über den Ursprung des Sterbens und andere Züge einer verdorbenen Welt vorhanden war. Da ferner die Hauptthemen unterschiedliche Sonderthemen enthalten, hatten benachbarte Stämme zuweilen nicht das gleiche Sonderthema gemeinsam, sondern die eine Gruppe hatte dieses, die nächste ein anderes. Bei einigen ethnischen Gruppen findet man unterschiedliche, ja sogar offensichtlich gegensätzliche Versionen desselben Themas, was weitere Komplikationen mit sich bringt. Derart widersprüchliche Variationen finden sich jedoch noch im Einklang mit dem generellen vierfachen Schema. Eine Eigenheit von Mythen, die manche verwirrend finden, ist die Tatsache, dass die mythologischen Elemente unterschiedlich kombiniert werden können. Dies führt dazu, dass spezifische Themen ineinander übergehen und es unmöglich ist, ganze Geschichten systematisch zu klassifizieren, weil sie sich mit Geschichten anderer Kategorien überschneiden, wie auch immer diese bestimmt sein mögen. Gerade diese Möglichkeiten, das Thema zu variieren, führen dazu, dass Angehörige derselben ethnischen Gruppe unterschiedliche Versionen einer Geschichte erzählen, die in der Betonung von Details variieren oder sogar einander widersprechen. So entstammen zum Beispiel die heimischen nordamerikanischen Mythen einem Gebiet, in dem nicht weniger als 236 bekannte ethnische Gruppierungen leben. Im Allgemeinen besitzt – oder besser besaß – jede ethnische Gruppe ihre charakteristische Mythologie und Religion, die eng verwoben war mit den regionalen topographischen Verhältnissen und auch die örtliche Fauna und Flora widerspiegelte.
Claude Lévi-Strauss (1908–2009)
Manche schriftlose Völker unterscheiden selbst zwischen verschiedenen Gattungen der mündlichen Überlieferung, wobei die Grenzen fließend sind. So kennen die Trobriand-Insulaner in Melanesien kukwebanu (Märchen, zur Unterhaltung erzählt, fiktive Ereignisse), wosi (Gesänge), vina-vina (Liedchen beim Spiel), megwa oder yopa (magische Formeln) und schließlich libogwo, was wörtlich „alte Reden“ heißt und sowohl geschichtliche Erzählungen (über Taten früherer Häuptlinge etc.) wie Mythen über die übernatürlichen Geschehnisse der Vorzeit umfasst. Die Mythen werden als lili’u von den übrigen libogwo unterschieden, gehören andererseits aber als Berichte über wirkliche Geschehnisse zu ihnen. Beide, geschichtliche Überlieferungen wie Mythen, gelten uneingeschränkt als wahr und werden von Fabeln und anderen erdichteten Erzählungen unterschieden. Eine Grenze zwischen wahr und falsch, heiligen und profanen Berichten lässt sich nicht ziehen; die Unterscheidung zwischen verschiedenen zeitlichen Ebenen ist vielmehr primär, die nämlich zwischen der Urzeit und der jetzt gültigen Weltordnung.
Baal-Statue aus Syrien, späte Bronzezeit (um 1300 v. Chr.)
Ein weiteres wichtiges Ergebnis der ethnologischen Forschung des 20. Jh. (in Neuguinea, Nord- und Südamerika sowie Afrika) ist die Erkenntnis, dass der Mythos ein notwendiger Bestandteil des Kultus bzw. Ritus ist: Mythen treten immer im Zusammenhang mit Ritualen auf, als kognitiver Teil zu einem praktischen Vollzug, Mythen sind immer mündlicher Kommentar einer Kulthaltung. Darauf beruht ihre magische Wirkung: Ein Geschehnis der Urzeit wird durch die Erzählung wieder lebendig gemacht. Auch die grundlegende Zeitstruktur der Mythen, die Wiederholung, wird von hier aus verständlich. Nach der Auffassung der Naturvölker gewährleistet eine mythische Erklärung für die Entstehung eines Dinges dessen Existenz. Berühmt wurde Adolf Ellegard Jensens Deutung des Mythos von Hainuwele von der Insel Ceram. Der Mythos, so zeigte sich hier, ist die Gestaltung eines wichtigen Teils des Kulturlebens. Erst eine Parallele in einem eindrucksvollen Ritus bildet die Grundlage des Initiationsverfahrens, gibt Aufschluss über das Problem des Todes und der Zeugung und erklärt, wie die Nahrungspflanzen entstanden sind. Mythen dienen somit auch der Vermittlung von Natur und Kultur.
Beispiele für die enge Verzahnung von Mythos und Ritus gibt es zuhauf. So pflegte man in Syrien Darstellungen der Triumphe des Fruchtbarkeitsgottes Baal über seine Feinde rituell zu rezitieren und auch darzustellen, um einen ähnlichen Sieg der Fruchtbarkeit über die Trockenheit auf Erden zu erwirken. Mythen werden in Verbindung mit Riten gebraucht, um Kraftquellen zu erschließen und zu sonst nicht erreichbaren Erfahrungen zu gelangen. Die Akteure des Ritus werden aus unserer Welt herausgehoben und werden eins mit den Gestalten des Mythos, mit den Göttern und den Ahnen. Dramatische Beispiele hierfür gibt es bei den Voodoo-Zeremonien und den Riten der australischen Ureinwohner.
In allen naturvölkischen Ethnien, so lehrt uns die Ethnologie, vereinigt der Mythos verschiedene Grundfunktionen: ‚kultisch-religiös‘ vermittelt er heilige Wahrheiten und entscheidet über Schuld oder Unschuld; ‚historisch-sozial‘ erzählt er die Geschichte einer Institution, eines Ritus oder einer gesellschaftlichen Entwicklung, d.h. Geschichten berichten eingehend über den Ursprung detaillierter Formen des sozialen Lebens; ‚politisch‘ sind Mythen der Ausdruck eines primären kollektiven Narzissmus und dienen der Autorepräsentation, dem sozialen Identitätsbewusstsein. Dabei bleibt ein grundsätzliches methodisches Problem ungelöst: Lässt sich das Präreflexive reflektieren? Sind Mythen notwendig gebunden an ein magisches Weltverständnis, nach dessen Zerfall wir die Mythen höchstens noch ihren verbalen Inhalten nach kennen? Mit der Kenntnis des Mythos steht also immer auch das Problem des Verhältnisses von Mythos versus Erkenntnis zur Diskussion. Während der gelebte Mythos eine Deutung weder benötigt noch erlaubte, muss eine wissenschaftliche Behandlung die Entstehungsbedingungen für bestimmte Rationalitäten aufweisen. Dabei dürfen wir den Mythos weder zum „Prä-logischen“ (Lévy-Bruhl), zum Ausdruck einer durch Wissenschaft längst überholten Kindheitsstufe der Menschheit abstempeln noch ihn vorschnell in uns vertrautes wissenschaftliches Denken transformieren (Lévi-Strauss). Im ersten Fall bleibt die Frage der Bedeutung der Mythen für die Gegenwart unbeantwortet (der rätselhafte Mythos ist ja nicht irgendwo begraben in der versunkenen Prähistorie, sondern gehört unaufhebbar zu unserer Erfahrung), im zweiten Fall wird die Fremdheit des paganen Denkens eliminiert. In beiden Weisen des Umgangs mit dem Mythos wirken Denkschemata der Aufklärung nach, die es zu korrigieren gilt: Mythos ist nichts, was mit dem Einbruch des theoretischen Denkens überwunden ist.
CJ
LITERATUR
P. Ehrenreich: Die allgemeine Mythologie und ihre ethnologischen Grundlagen. Leipzig 1910
B. Malinowski: Argonauts of the Western Pacific. Dutton/New York 1922
A. E. Jensen: Mythos und Kult bei den Naturvölkern. Wiesbaden 21950
E. Leach: Mythos und Totemismus. Frankfurt a. M. 1973
C. Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie. Frankfurt a. M. 1977
C. Lévi-Strauss: Das wilde Denken. Frankfurt a. M. 1979
C. Lévi-Strauss : Mythologica, 5 Bde. Frankfurt a. M. 21980
H. G. Kippenberg, B. Luchesi (Hg.): Magie. Frankfurt a. M. 1987
K. H. Kohl (Hg.): Mythen im Kontext. Frankfurt a. M./New York 1992
Der Zusammenhang von Mythologie und Psychologie ist in zwei Richtungen zu sehen, indem beide wechselweise zur Erklärung der jeweils anderen herangezogen werden. Grundlegend ist dabei die Annahme, dass die Mythen eine Art Spiegel der menschlichen Psyche sind, dass – anders gesagt – die Menschen als Mythenerfinder unwillkürlich ihr eigenes Innere, ihre Empfindungen, Gefühle, Einstellungen, Wünsche, Hoffnungen u.a. offenbaren. Auf dieser Grundlage lassen sich einerseits die Eigenschaften des Mythos aus der menschlichen Psyche ableiten und andererseits die Eigenschaften der menschlichen Psyche aus den Mythen rekonstruieren. Produzent und Produkt, Mensch und Mythos sollen sich so wechselseitig erklären.
Der psychologische Ansatz macht den Mythos zur rein menschlichen Angelegenheit, auch in dem, was er von Göttern erzählt. Er negiert die Vorstellung, dass Göttergeschichten eine transzendente Dimension hätten. Denn er sieht hier keine göttlichen, sondern nur menschliche Offenbarungen. Was an Göttlichem, Wunderbarem, Übernatürlichem darin steckt, erklärt sich aus der Realität der menschlichen Gefühle. Es ist kein Zeugnis einer außer- oder übermenschlichen Macht, sondern die Projektion der menschlichen Empfindungen und Affekte. Diese Position, die das Potenzial zu einer radikalen Religions- und Glaubenskritik hat, findet sich nicht erst im Prozess der neuzeitlichen Aufklärung. Sie begegnet schon in den ältesten philosophischen Überlieferungen, bei den Vorsokratikern im 6. Jh. v. Chr. Xenophanes werden Äußerungen zugeschrieben, die die Projektionsdiagnose der mythischen Götterwelt aphoristisch pointieren: „Die Äthiopier sagen, ihre Götter seien stumpfnasig und schwarz, und die Thraker behaupten, die ihren hätten hellblaue Augen und rote Haare. Aber wenn Rinder und Pferde […] Hände hätten oder mit ihren Händen malen […] könnten, wie das die Menschen tun, dann würden die Pferde die Göttergestalten den Pferden und die Rinder sie den Rindern ähnlich malen“ (Kirk/Raven/Schofield, Die vorsokratischen Philosophen, Frgm. Nr. 168f.). Psychologisch eindringlicher wird diese These, indem die Furcht als der die Mythenbildung auslösende Affekt identifiziert wird: Aus Furcht vor den Naturgewalten und den eigenen schicksalhaften Gefährdungen haben die Menschen sich für die verschiedenen Gefahrensbereiche zuständige Götter ausgedacht, um durch deren Anrufung und Opferdienste ihre eigenen Ängste beherrschbar zu machen. Bei römischen Autoren des 1. Jh. n. Chr. ist diese psychologische Mythenerklärung wie ein Gemeinplatz verbreitet. Als Sentenz findet sie sich bei den Dichtern Statius (Thebais, III,661) und Petronius (Frgm. 27): „Primus in orbe deos fecit timor“ (Zuerst schuf die Furcht die Götter hier auf Erden). In der neuzeitlichen Aufklärung wird dieses Argument zu einer umfassenden kritischen Religionsphilosophie ausgearbeitet. Eine Abhandlung von dem schottischen Philosophen David Hume trägt die Provokation, die darin für die Gläubigen liegt, schon im Titel: A Natural History of Religion (1757). Wer von der Naturgeschichte der Religion spricht, negiert deren transzendenten Anspruch und leitet sie stattdessen ganz aus der Natur, und das heißt auch für Hume: aus der menschlichen Psyche ab. Die antiken Mythen gelten ihm in ihrem Polytheismus als die ursprüngliche Religionsform, aus der sich der Monotheismus erst später entwickelt habe. Die heidnischen Mythen und das Christentum sind in dieser Perspektive keine Gegensätze, sondern Etappen einer kontinuierlichen Entwicklung. Als deren Auslöser sieht auch Hume die Furcht der unwissenden Menschen, die sich zur eigenen Affektbewältigung menschengestaltige göttliche Mächte ausdenken, in deren Händen sie sich sehen. Im Spannungsfeld von Furcht und Hoffnung werde dann die menschliche Einbildungkraft rege, diese Mächte als handelnde Figuren auszumalen.
Zur etwa gleichen Zeit wie Hume arbeitet der italienische Philosoph Giovanni Battista Vico (Principi di una scienza nuova, Grundzüge einer neuen Wissenschaft, 1725, überarbeitet 1730 und 1744) die psychologische Mythendeutung aus. Anders als Hume geht es ihm nicht um den Zusammenhang von Mythos und Religion, sondern von Mythos, Sprache, Logik und Erkenntnis. Vico erklärt die dichterisch-bildhafte Sprache der Mythen (die homerischen Epen dienen ihm als hauptsächlicher Beleg) aus dem niedrigen Kenntnisstand und der damit einhergehenden gesteigerten Emotionalität und Einbildungkraft der alten Griechen. Ganz gegen die klassizistische Griechenverehrung wertet er die alten Dichtungen nicht als hohe Kunst, sondern als Zeugnisse eines primitiven Urvolks, das sich die Welt nicht anders zu erklären wusste als durch anthropomorphe Göttergeschichten. Die Mythen seien mit ihren konkreten Gestalten und Handlungen im Bewusstsein der Griechen keine bildhaften, sondern die eigentlichen Erklärungen ihrer Wirklichkeit: Erklärungen, die ihrem kindlichen, von Gefühlen und Fantasie bestimmten Denken entsprachen. Vico setzt sich damit von einer jahrhundertelangen allegorischen Mytheninterpretation ab, mit der die christliche und humanistische Tradition des Mittelalters und der frühen Neuzeit die antiken Mythen als bildhaft verschleierte Wahrheiten auszulegen und damit im neuen Glaubenskontext und im Fortschritt des naturwissenschaftlichen Wissens zu retten versuchten. Indem er die mythenbildenden Griechen als primitives Urvolk einschätzt, arbeitet er der ethnologischen Mythenforschung des 19. und 20. Jh. vor, die – wie Vico – die Mythen der Naturvölker nicht als allegorische Kunst versteht, sondern als die eigentliche, im wörtlichen Sinne für wahr gehaltene Welterklärung, als, wie der Ethnologe Bronislaw Malinowski sagt, „gelebte Wirklichkeit“ („a reality lived“) eines mythischen Denkens und Empfindens (Myth in Primitive Psychology, 1926). Anders als die moderne Ethnologie (Malinowski unternahm Feldstudien bei Naturvölkern in Neuguinea und auf den Trobriandinseln im Westpazifik) konnte Vico sich allerdings nicht auf empirische Forschungen zur gelebten Wirklichkeit des Mythos stützen. Durch das Xenophanes-Zitat wissen wir, dass die Griechen des 6. Jh. v. Chr. nicht mehr in das Schema eines primitiven Naturvolks passen. Auch von den ältesten antiken Texten auf eine primitive Psychologie zu schließen, die sich in ihnen spiegeln soll, bleibt also eine Spekulation auf einen noch viel früheren Zustand, der diesen Texten vorausliegt. Zwischen der altgriechischen Literatur, in der der Mythosbegriff fundiert ist, und der empirisch zu erforschenden ‚gelebten Mythologie‘ eines Naturvolks besteht eine Differenz. Der Mythosbegriff überbrückt sie, genauer gesagt: hat sie forschungsgeschichtlich dadurch überbrückt, dass man die aus den altgriechischen Texten spekulativ rekonstruierte, den Mythen zugrundeliegende Denk- und Empfindungsweise auf jüngere, noch beobachtbare Naturvölker übertragen hat. Das psychologische Mythosverständnis wirkt so als ein Schema, um eine archaische Stufe der ‚inneren‘, bewusstseinsgeschichtlich-intellektuellen Menschheitsentwicklung zu beschreiben.
In der durch Sigmund Freud begründeten und von Carl Gustav Jung weitergeführten Tiefenpsychologie wird das Mythische dagegen nicht zeitlich als das Archaische, sondern strukturell als das Unbewusste oder Unterbewusste gedacht. Was die Ethnologen als Psychologie der Naturvölker beschreiben, wird hier als Tiefenstruktur in der Psyche eines jeden modernen Menschen verstanden. Unter dieser Voraussetzung können die überlieferten mythischen Erzählungen genutzt werden, um diese tiefste, dem Bewusstsein verborgene Schicht zu erschließen. Für Freud (Die Traumdeutung, 1900) sind die Mythen damit funktional den Träumen vergleichbar: Er versteht sie als Modellierungen der Problemsituationen, die für die psychischen Erkrankungen seiner Patienten verantwortlich sind. Und so nutzt er sie als Instrumente der psychoanalytischen Diagnose. Das bekannteste Beispiel dafür ist der von Freud so genannte ‚Ödipus-Komplex‘ (▸ Ödipus): Diese Erzählung vom Vatermörder und Muttergatten dient ihm als Modell für die Spannungs- und Konfliktlage, in die das sexuell heranreifende Kind gerate: Rivalität mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil und Begehren des jeweils anderen. Die zweite in diesem Zusammenhang genutzte Mythenfigur ist Narziss, an dessen Anschaulichkeit sich der psychoanalytische Begriff des Narzissmus gebildet hat (