Handbuch der Mythologie - Christoph Jamme - E-Book

Handbuch der Mythologie E-Book

Christoph Jamme

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Beschreibung

Ob Prometheus, Romulus, Freyja oder der Gelbe Kaiser: Die Mythen der Welt sind von beeindruckender Vielfalt. Sie prägen unser kulturelles Gedächtnis und beeinflussen die Wahrnehmung fremder Länder und Gebräuche. Dieses Handbuch macht mit der Mythologie der einflussreichsten Kulturen bekannt. Neben der griechisch-römischen und der germanischen Mythologie werden erstmals auch die in Mesopotamien, Ägypten, Asien, Amerika und Ozeanien vorherrschenden Mythen berücksichtigt. Fundierte Einzelartikel erklären Bedeutung und Wirkung ausgewählter Mythen. Zahlreiche Abbildungen von Kunstwerken und Kultgegenständen dokumentieren deren künstlerische Darstellung von der Antike bis zur Moderne. Informationen zum Mythos in Wissenschaft und Künsten runden den Band ab.

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Christoph Jamme/Stefan Matuschek

HANDBUCH DER MYTHOLOGIE

Unter Mitarbeit vonThomas Bargatzky, Renate Bartl,Manuel Baumbach, Kai Brodersen,Hans-Werner Fischer-Elfert,Iris Gareis, Manfred Krebernik,Ylva Monschein und Thomas Oberlies

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitungdurch elektronische Systeme.

Der Philipp von Zabern Verlag ist ein Imprint der WBG.

© 2014 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.Layout, Satz und Prepress: schreiberVIS, BickenbachEinbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a. MainEinbandabbildungen: Carlo Saraceni: Sturz des Ikarus. Neapel,Galleria Nazionale di Capodimonte. © picture-alliance/akg-images.Die vogelfüßige Göttin Ištar. Terrakottarelief aus altbabylonischerZeit (18. Jh. v. Chr.). London, British Museum. Aus: André-Salvini,Béatrice (Hrsg.): Babylon. L’album de l’exposition. Paris 2008.Cesare Mussin: Leda und der Schwan. Mailand, Accademia Di BelleArti Di Brera Quadreria. © akg-images/De Agostini Picture Lib.Antonio Canova: Perseus triumphiert über Medusa. Rom, VatikanischeMuseen. Foto: Eric Vandeville. © Gamma-Rapho viaGetty Images

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8053-4753-2

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-8053-4833-1eBook (epub): 978-3-8053-4834-8

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Inhaltsverzeichnis

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Impressum

Inhalt

Vorwort

WELTEN DES MYTHOS

Mythos und Mythologie

Mythostheorien

Mythos und Philosophie

Mythos und Theologie

Mythos und Ethnologie

Mythos und Psychologie

Mythos und Politik

Mythos und Kunst

MYTHEN DER WELT

1. Europa

Griechische MythologieChristoph Jamme/Stefan Matuschek

Einleitung

Theogonie

Achilleus/Achilles

Antigone

Aphrodite/Venus

Apollon

Argonauten

Artemis/Diana

Athene/Minerva

Daidalos und Ikaros

Demeter und Persephone/Ceres und Proserpina

Dionysos

Herakles/Herkules

Iphigenie

Medea

Musen

Narziss

Ödipus

Odysseus

Orpheus

Perseus

Phaidra und Hippolytos

Prometheus

Theseus

Trojanischer Krieg

Unterweltmythen

Uranos und Kronos

Zeus

Römische MythologieChristoph Jamme/Stefan Matuschek

Einleitung

Aeneas

Ceres

Ianus

Laren und Penaten

Metamorphosen

Romulus

Vesta

Germanische MythologieStefan Matuschek

Einleitung

Balder

Freyja

Freyr

Loki

Odin/Wotan

Riesen

Thor/Donar

Walhall

Der Weltenbaum Yggdrasill

Sigurd/Siegfried

Brynhild/Brünhild

Fafnir und Reginn

Gudrun

Helgi

Atlilied

Nibelungenlied

2. Mythen im Alten OrientManfred Krebernik

Einleitung

Überlieferungsformen und -kontexte

Inhalte und Motive

Schöpfung und Weltordnung

Sukzession von Göttergenerationen und -herrschern

Götterhochzeiten und -zeugungen

Götterreisen

Verschwundene Gottheiten

Menschenschöpfung

Sintfult

Geschichten von Menschen und Göttern

Die Herrscher von Uruk – Gilgameš

Kinderlosigkeit

3. Altägyptische MythologieHans-Werner Fischer-Elfert

Einleitung

Allgemeine Merkmale

Heliopolis

Memphis

Osiris

Eingeschränkte Rezeption

4. Asien

Indische MythologieThomas Oberlies

Einleitung

Die Mythologie des Ṛgveda

Indra

Der jüngere Veda

Āraṇyakas und Upaniṡads

Die ‚Episierung‘ des Mythos

Mahābhārata

Rāmāyaṇa

Die Mythologie des Hinduismus – Die Purāṇas

Viṡṇu

Śiva

Göttinnen

Die Themen der Mythen

Ursprung und Ordnung der Welt

Entstehung des Menschen

Arbeit mit und an Mythen

Chinesische MythologieYlva Monschein

Einleitung

Die drei Erhabenen und die fünf Gottkaiser

Der Gelbe Kaiser

Nügua und Fuxi

Die Königinmutter des Westens

Der Große Yu

Der Göttliche Landmann

Urchaos und Pangu

Der Bogenschütze Yi

5. Amerika

Mythologie NordamerikasRenate Bartl

Einleitung

Das Ideal des Gleichgewichts

Ursprungsmythen

Allgemeine Motive

Die Kulturareale Nordamerikas

Arktis

Subarktis

Nordwestküste

Kalifornien

Südwesten

Plateau

Großes Becken

Prärie und Plains

Südosten

Nordosten

Mythologien Meso- und SüdamerikasIris Gareis

Einleitung

Erschaffung der Welt und Weltzeitalter

Kosmische Ordnung

Götter, Kulturheroen und mythische Wesen

Herkunft der Menschen und ihre Beziehung zu den anderen Wesen

6. Australien und OzeanienThomas Bargatzky

Einleitung

Das Land als Existenzgrundlage

Grundbegriffe

Ethographische Grundtatsachen

Australien

Melanesien

Mikronesien

Polynesien

Fabeln, esoterische Mythen und Charta-Mythen

Fabeln

Esoterische Herkunftsmythen und Genealogien

Charta-Mythen bei den Trobriandern

Vegetative Kosmogonien

Australien:Der Traumzeit-Heros Karora

Ostpolynesien: Papa und Vatea

Der Ursprung des Yams auf Pentecost, Vanuatu

Generative Kosmogonien

Kosmogonie auf Samoanisch

Cook-Inseln: Die Landnahme-Mythe von Karika und Tangiia

Mythos heute:Christianisierung und Inkulturation

Register

Mythische Namen

Personennamen

Vorwort

Mythen sind ein vielfältiges, weltweit verbreitetes und dauerhaftes kulturelles Phänomen. Es gründet darin, dass Menschen sich Geschichten erzählen, um sich in der Welt zu orientieren. Solche Geschichten können fantasiegeborene Erklärungen sein (wie etwa die Deutung von Blitz und Donner als Waffen und Herrschaftszeichen eines mannsgestaltigen Gottes), sie können die erfahrbare Wirklichkeit überhöhen (wie etwa in der Vorstellung unbesiegbarer, maßlos kräftiger Helden), sie können das ausmalen, was der Erfahrung unzugänglich ist (wie etwa die Entstehung der Welt oder das Schicksal der Gestorbenen), oder auch einer Fabulierlust entspringen, die emotionale Bedürfnisse nach Unterhaltung, Gemeinschaftsbildung und Sinngebung erfüllt (was in unserer Gegenwart besonders von den großen Kinofilmen angeboten wird). Mythen gehören zu den ältesten kulturellen Überlieferungen. In Europa reichen sie, was die Texte betrifft, bis ins 8. Jh. v. Chr. zurück, im alten Orient bis ins 3. Jahrtausend v. Chr. Die antiken griechischen Götter- und Heldenerzählungen, die seit der Wende vom 8. zum 7. Jh. mit Hesiods Theogonie und den homerischen Epen Ilias und Odyssee dokumentiert sind, geben die Basis, auf der sich die Vorstellung vom ‚Mythos‘ gebildet hat. Allerdings wäre es falsch, von einem ursprünglichen Mythos im Singular zu reden. Verschiedene Mythen waren vielmehr an jeweils bestimmte Orte und Kulte gebunden. Die schriftliche Sammlung und Fixierung bei Hesiod und Homer markiert ein Spätstadium, in dem die Mythen schon ihre ursprüngliche auf Mündlichkeit beruhende religiöse Funktion verloren hatten und in ästhetisch-poetische Distanzierung übergegangen waren.

Auch wenn der Begriff und seine ursprüngliche Anschauung damit altgriechisch sind, bleibt das Phänomen, das wir heute mit dem Ausdruck ‚Mythos‘ bezeichnen, nicht auf das griechische Altertum beschränkt. Es findet sich in anderen europäischen und außereuropäischen Kulturen weltweit, und es ist auch keine Angelegenheit nur der alten, ‚unaufgeklärten‘ Zeiten. Denn Aufklärung lässt Mythen nicht einfach verschwinden. Sie schafft vielmehr Einsicht in deren spezifische Beschaffenheit und Wirksamkeit. So leben wir heute nicht in einer Zeit ohne Mythen, sondern in einer solchen, die sich über die Präsenz und Funktion des Mythischen kritisch Rechenschaft zu geben versucht. Das verbindet uns mit den altgriechischen Philosophen, die den Begriff ‚Mythos‘ eben nicht zur gläubigen Hingabe an die Götter- und Heldengeschichten geschaffen haben, sondern zur kritischen Reflexion auf deren Beschaffenheit und Wirksamkeit.

Dieses Handbuch der Mythologie führt in die Vielfalt, die weltweite Verbreitung und die Dauerhaftigkeit der Mythen ein. Es bemüht sich dabei um eine Balance aus stofflicher Präsentation und begrifflicher Klärung. So sollen die Mythen als Geschichten, d.h. in der Sinnlichkeit ihrer Inhalte, und zugleich in den Bedingungen und Funktionen ihrer Überlieferung kenntlich werden. Der erste Teil, Welten des Mythos, gibt eine Übersicht über die wissenschaftliche Diskussion des Phänomens Mythos, dessen Vielfalt in unserer arbeitsteiligen Wissenschaftswelt zu einer Aufgabe mehrerer Disziplinen geworden ist. Der zweite Teil, Mythen der Welt, stellt die Mythen der verschiedenen Kulturkreise in ihren wichtigsten Elementen vor, wobei das für die gesamte europäische Kultur grundlegende griechisch-römische Altertum den Schwerpunkt bildet. Die germanische Mythologie stellt den eigenen Fall dar, dass ihre Göttergeschichten und -lehren gar nicht durch kulturell authentische Dokumente belegt sind, sondern erst von einer späteren, christlichen Warte aus rekonstruiert wurden. In den Europa-Kapiteln geht es zusammen mit den alten Zeugnissen auch um die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte bis heute. Dabei sollen exemplarisch möglichst viele der Aspekte sichtbar werden, die der erste Teil begrifflich entfaltet. Die Kapitel zu den außereuropäischen Kulturen führen in die jeweiligen Entstehungs- und Überlieferungsbedingungen sowie in die Funktionen dessen ein, was der europäischen Vorstellung vom Mythos entspricht, ihr nahe kommt oder vergleichbar ist. Denn die Übertragbarkeit dieses Konzepts auf außereuropäische Kulturen ist keine Selbstverständlichkeit, sondern in ihren Möglichkeiten zu prüfen und zu bestimmen. Dabei zeigen sich viele Unterschiede, aber eben auch viele funktionale, inhaltliche und motivische Entsprechungen. Menschlich-kulturelle Gemeinsamkeiten stehen neben kulturräumlichen Differenzen. In einem einzigen Buch so viel Unterschiedliches zu bringen, ist ein Wagnis, das wir nur dadurch eingehen konnten, dass die außereuropäischen Kapitel von jeweils einschlägigen Spezialistinnen und Spezialisten verfasst wurden. Freilich ist in diesen Fällen die Auswahl noch viel enger als im europäischen Teil. Aber so ist doch immerhin ein Anfang gemacht, den Mythos als ein allgemeines Phänomen menschlicher Gesellschaft zu sehen.

Christoph Jamme, Stefan Matuschek

WELTEN DES MYTHOS

Mythos und Mythologie

Mythen sind historisch nicht überprüfbare oder durch ihren fantastischen Charakter wunderbare Erzählungen, die dennoch als Erklärungen, Deutungen oder Sinnstiftungen funktionieren. Der Begriff hat damit eine negative und eine positive Seite: Negativ ist er, wenn er als Hinweis auf die Unwahrheit des Erzählten verstanden wird. Dann heben sich Mythen als das bloß Erfundene von der Geschichtsschreibung, von Tatsachenberichten oder sachlich zutreffenden Erklärungen, Deutungen und Sinngebungen ab. Hier wirkt der Mythosbegriff als Kritik: Er brandmarkt diejenigen Erzählungen, die nicht wahr sind. Wer in einer sachbezogenen Debatte Berichte, Darstellungen und Erklärungen als Mythen bezeichnet, bezichtigt sie der Haltlosigkeit oder gar der Lüge. Positiv ist der Begriff dagegen dort, wo er als Hinweis auf die Wirkung einer Erzählung verstanden wird. Dann zeichnen sich Mythen als solche Geschichten aus, die eine gemeinschaftliche Überlieferung, Verbreitung und Resonanz gefunden haben, so dass sie trotz ihrer Unbeweisbarkeit als Deutungen, Erklärungen und Sinnstiftungen angenommen werden. Hier wirkt der Mythosbegriff als Anerkennung: Er hebt diejenigen Erzählungen hervor, die Gemeingut geworden sind und deshalb nicht einfach als Unwahrheit erledigt oder als beliebige Produkte einer individuellen Erzählfantasie abgetan werden können. Wer die Erzählungen vom Germanenführer Hermann dem Cherusker, der ein einiges Germanenvolk gegen die Römer hat triumphieren lassen, oder die amerikanische Selbstdeutung als ‚God’s own country‘ als Mythos bezeichnet, erkennt mit diesem Begriff an, welche reale Macht unbeweisbare oder sogar nachweislich falsche Erzählungen gewinnen können. Gemäß diesen beiden Verständnissen gibt es eine negative und eine positive Perspektive auf den Mythos, je nachdem, ob man mehr die Unwahrheit kritisieren oder die Wirkungsmacht unbeweisbarer Erzählungen anerkennen will. Freilich kann sich auch beides verbinden, indem man kritisch auf allgemein anerkannte Erzählungen blickt und das als bloßes Produkt der Erzählfantasie kennzeichnet, was andere für Wahrheit halten. Religionskritik kann so aufreten und die religiösen Überlieferungen im kritischen Sinne als Mythen brandmarken. Oder auch wissenschaftliche Korrekturen überlieferter falscher Vorstellungen: Wer Blitz und Donner meteorologisch erklärt, entlarvt die Vorstellung des blitzeschleudernden Donnergottes als bloße Erzählfantasie oder, um ein aktuelleres Beispiel zu nennen, wer die vielen personellen Kontinuitäten zwischen Nationalsozialismus und Nachkriegszeit aufweisen kann, erkennt in der Rede von der ‚Stunde Null‘ einen Mythos, der zur Selbstentlastung der Nachkriegsgesellschaft diente. Mythen als solche zu erkennen ist ein Prozess der Aufklärung.

Das gilt auch in epochaler Hinsicht. Denn unser heutiger Mythosbegriff ist ein Produkt der Aufklärung. Das altgriechische Wort ‚mythos‘ (‚Rede‘, ‚Erzählung‘) ist, wenn es nicht neutral nur den Handlungsverlauf einer Erzählung meint, einseitig negativ konnotiert und hebt die Dichtererzählungen von der Geschichtsschreibung, den Tatsachendarstellungen und der begrifflichen Argumentation ab. ‚Mythos‘ steht hier im Kontrast zu ‚logos‘, der im Gegensatz zu den unbeweisbaren Dichtererzählungen die überprüfbare und beweisbare Rede meint. Es waren erst die Philosophen und Altertumsforscher des 18. Jh., die in den überlieferten Dichtererzählungen eine eigene Form der Weltanschauung und Weltdeutung erkannten und Mythos nicht nur negativ als bloße Erfindung, sondern positiv als eine Form der erzählerischen Welterklärung verstanden. Als Erklärungen, die nicht logisch-wissenschaftlich verfahren, sondern durch Personifizierungen und andere bildhafte Vorstellungen das beschreiben und ausmalen, was anfangs unerklärlich scheint. So wird von Blitz und Donner auf den mächtigen Herrschergott geschlossen, der damit seine Kraft zeigt. Im Übergang von Aufklärung und Romantik um 1800 wertete man dies nicht nur als eine kindliche, durch Erkenntnisfortschritt zu überwindende, sondern als eine typisch menschliche, auch in der modernen, aufgeklärten Gesellschaft weiterhin produktive Form der Welterklärung. Mythen bewahren etwas, was sich in der rationalen, begrifflichen Weltdeutung verliert: den emotionalen, sinnlichen und affektiven Bezug des Menschen zu der Welt, in der er lebt. Das ist der Grund, warum Mythen bis heute ein produktives Phänomen sind: Sie sind der immer wieder durch Weitererzählung akzeptierte und erfolgreiche Versuch, sich durch die Erzählfantasie ein Verständnis der Zusammenhänge zu schaffen, die durch begriffliche Abstraktion oder Berechenbarkeit nicht menschlich befriedigend erfasst werden können. Das trifft in besonderer Weise natürlich für diejenigen Bereiche zu, zu denen es keine Erfahrung gibt: wie zum Beispiel für die Frage, was nach dem individuellen Tod passiert. Aber auch für das Bedürfnis nach Sinngebung, wie und wozu es zu etwas gekommen ist und wohin es führen soll. Sich durch Erzählfantasie in der Welt zurechtzufinden ist eine menschliche Eigenschaft, die nicht ausgestorben ist. Deshalb ist es falsch, die Geschichte der Mythen zweizuteilen in eine Zeit, in der die Menschen noch an sie geglaubt, und eine Zeit, in der sie sich durch Aufklärung von diesem Glauben gelöst hätten. Es gibt nicht die beiden Epochen in und nach den Mythen. Die Rede vom Mythos beginnt in der antiken griechischen Philosophie als Kritik an den Dichtererzählungen und deren Wirkung und sie hat sich bis heute als eine Doppelperspektive von Kritik und Anerkennung etabliert. Mythen als Mythen zu verstehen heißt nicht, sie zu beseitigen, sondern ihre spezifische Funktion und Wirksamkeit zu erkennen.

Heute, in der Zeit einer arbeitsteiligen, in Fachdisziplinen ausdifferenzierten Wissenschaft, ist diese Erkenntnisarbeit auf viele Fächer verteilt. Die anschließenden Kapitel geben eine Übersicht über die wichtigsten, die daran beteiligt sind, und sie skizzieren, wie man den Mythos in philosophischer, religiöser, ethnologischer, psychologischer, politischer und künstlerischer Hinsicht verstehen kann. Ein umfassendes Mythosverständnis kann sich heute nur noch interdisziplinär aus der Ergänzung und dem Dialog der verschiedenen Disziplinen ergeben. Eine wissenschaftliche ‚Mythologie‘ als ‚Lehre von dem Mythen‘ gibt es nicht. Denn dieser Begriff steht nicht in Analogie zu Biologie oder Ethnologie für eine wissenschaftliche Disziplin, sondern für die Gesamtheit der Mythen eines jeweiligen Kulturkreises. Der Ausdruck Mythologie markiert die Bemühung um Übersicht. So spricht man von der griechischen, der römischen, der germanischen und auch vielen außereuropäischen Mythologien, wobei man sich allerdings bewusst machen muss, dass der Grundbegriff Mythos am altgriechischen Exempel, und hier insbesondere an den homerischen Epen und an Hesiod gebildet ist und man sich kritisch fragen muss, inwiefern er auf außereuropäische Kulturen übertragen werden kann. Von einer Lehre oder einem Wissen (-‚logie‘) kann insofern gesprochen werden, als es um eine geordnete Zusammenstellung und Auswertung der überlieferten Erzählungen und Darstellungen geht. Darunter darf man sich jedoch kein einheitliches Gesamtbild vorstellen, in dem jeder Figur eine bestimmte, durch alle Überlieferungen konstante Eigenschaft und Rolle zuzuweisen wäre. Die Überlieferungen sind vielfältig und widersprüchlich, durchweg von einer lebendigen Erzähl- und Darstellungsfantasie bestimmt und niemals von der Sorge, ein stimmiges Gesamtsystem an Götterzuständigkeiten und Heldenschicksalen zu errichten. Mythologie ist kein Glaubenssystem, sondern die Sammlung und Zusammenstellung von Erzähl- und Darstellungstraditionen. Deshalb ist sie auch keine Angelegenheit einer längst vergangenen Vorzeit. Sie stammt nur daher und hat sich bis heute erhalten. An den Mythologien wurde über Jahrhunderte und wird bis heute weiter gearbeitet. Sie bleiben produktiv, in den Literaturen und Künsten, im Film, aber auch in politischen Debatten, in den Wissenschaften und mitunter auch der Technik. Der zweite Teil dieses Buches gibt eine Sammlung und Übersicht auf aktuellem Stand.

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