Hannah Arendt - Gisela Riescher - E-Book

Hannah Arendt E-Book

Gisela Riescher

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Beschreibung

Hannah Arendts politische Theorie sucht in Aussagekraft, Bedeutung und Rezeptionsgeschichte ihresgleichen. Seit ihrer Lebenszeit ist ihr Denken und Werk zentraler Referenzpunkt für mannigfache akademische Disziplinen und findet größtes öffentliches Interesse. Gisela Riescher und Astrid Hähnlein eröffnen einen leicht verständlichen und umfassenden Zugang zu Leben und Werk Arendts. Dabei wird Arendts Denken eingebettet in die Gesprächs-, Erfahrungs-, Lektüre- und Wissenskonstellationen ihrer Werke - gemäß ihrem Selbstverständnis: "Ich will verstehen. Und wenn andere Menschen verstehen - im selben Sinne, wie ich verstanden habe -, dann gibt mir das eine Befriedigung wie ein Heimatgefühl". Briefe, Interviews und Lebensstationen verknüpfen sich mit Arendts großen Werken und werfen neue Schlaglichter auf ihr Denken.

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Politisches Denken in der Gegenwart

Herausgegeben von Gisela Riescher

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

 

   https://shop.kohlhammer.de/politisches-denken

Die Autorinnen

Astrid Hähnlein unterrichtet Ethik, Philosophie, Gemeinschaftskunde und Geschichte am Rotteck Gymnasium in Freiburg und ist Lehrbeauftragte am Seminar für Wissenschaftliche Politik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Dort promovierte sie 2021 im Bereich der politischen Philosophie mit der Arbeit Urteilsvermögen – Kommunikation – Ereignis. Ein Beitrag zur Theorie politischen Denkens bei Hannah Arendt mit Bezugnahme auf die Existenzphilosophie von Karl Jaspers.

Gisela Riescher ist Professorin für Politische Philosophie, Politische Theorie und Ideengeschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Zuletzt veröffentlichte sie Spannungsfelder der Politischen Theorie (Stuttgart 2014) mit Themen wie »Gleichheit und Gerechtigkeit«, »Freiheit und Sicherheit«, »Gemeinwohl und Interesse« und ist Mitherausgeberin einer neuen Einführung in die Politische Theorie (Stuttgart 2020).

Gisela Riescher/Astrid Hähnlein

Hannah Arendt

Im Gespräch die Welt verstehen

Verlag W. Kohlhammer

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Umschlagabbildung: Hannah Arendt unterrichtet an der amerikanischen Wesleyan University (Foto: Wesleyan University Library, Special Collections & Archives).

 

 

 

 

1. Auflage 2022

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-031876-2

 

E-Book-Formate:

pdf:    ISBN 978-3-17-031877-9

epub: ISBN 978-3-17-031878-6

Inhaltsverzeichnis

1      Im Gespräch die Welt verstehen: Eine Hinführung

2      Arendt im Gespräch mit Heidegger und Sokrates: Die Philosophie

3      Arendt im Gespräch mit Aristoteles und Sternberger: Arbeiten, Herstellen, Handeln

4      Arendt im Gespräch mit Luxemburg und Jefferson: Revolutionen, Rätesysteme, Föderationen

5      Arendt im Gespräch mit Eichmann und Scholem: Das Böse

6      Arendt im Gespräch mit Rahel Varnhagen und Blumenfeld: Das Judentum

7      Arendt im Gespräch mit Blücher: Totale Herrschaft

8      Arendt im Gespräch mit Jaspers: Das Urteilen

9      Arendt über Grundlage und Bedingungen des Gesprächs

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1   Im Gespräch die Welt verstehen: Eine Hinführung

In Auseinandersetzung mit den totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts wie den Traditionsbeständen seit der Antike schuf Hannah Arendt (1906–1975) eine politische Theorie, die in ihrer Aussagekraft, Bedeutung und Rezeptionsgeschichte ihresgleichen sucht. Seit ihren Lebzeiten sind ihr Denken und ihr Werk – in teils affirmativer, teils ablehnender Manier – zentraler Referenzpunkt für mannigfache akademische Disziplinen (Politikwissenschaft, Philosophie, Geschichtswissenschaft, Soziologie etc.) und finden über die universitären Diskurse hinaus größtes öffentliches Interesse.

Vor diesem Hintergrund möchte der Band Hannah Arendt: Im Gespräch die Welt verstehen einem interessierten Leser:innenkreis einen leicht verständlichen und zugleich umfassenden Zugang zu Leben und Werk Hannah Arendts eröffnen. Hierfür wird ein spezifischer Zugang gewählt, der Arendts eigenen Grundannahmen folgt: Für Hannah Arendt ist politisches Denken Verstehen. Diesem grundlegenden Selbstverständnis ihrer politischen Theorie verleiht Hannah Arendt Ausdruck in einem vielbeachteten Interview mit Günter Gaus: »Ich will verstehen. Und wenn andere Menschen verstehen – im selben Sinne, wie ich verstanden habe –, dann gibt mir das eine Befriedigung wie ein Heimatgefühl« (IV 48 f.).1 Es geht ihr folglich nicht nur um das eigene Verstehen, es geht ihr um ein gemeinsames, ein geteiltes Verständnis dessen, was ihrem Denken entspringt. Zu diesem Verstehen wiederum trägt wesentlich das Gespräch bei. Von Günter Gaus im oben genannten Interview darauf angesprochen, dass sie mit ihrem ehemaligen Lehrer Karl Jaspers »in besonderem Maße als Partner in einem immerwährenden Dialog verbunden« sei, hebt sie den Dialog mit ihm als »stärkstes Nachkriegserlebnis« heraus: »Daß es ein solches Gespräch gibt! Daß man so sprechen kann!« (IV 71 f.). Hannah Arendts Verstehen entwickelt sich im Gespräch mit anderen Menschen, die ihrerseits im Dialog mit ihr lernen können, zu verstehen.

Hannah Arendt war immer im Gespräch. Und dies nicht nur im philosophischen Denken, das für sie im sokratischen Sinne auch ein Gespräch mit sich selbst war: als innerer Dialog Zwei-in-Einem, sondern insbesondere im Gespräch mit Freund:innen. Oft sind dies unmittelbar sich ergebende Gespräche in persönlichen Begegnungen, wie z. B. bei Einladungen in ihre New Yorker Wohnung am Riverside Drive. Solche Gespräche ergeben sich auch während ihrer Besuche von und bei Freund:innen, wie beispielsweise mit Karl Jaspers und seiner Frau Gertrud Jaspers, mit denen sie auch gemeinsame Urlaube verbrachte, mit Gershom Scholem bei den Treffen in Israel und wohl am intensivsten mit ihrem zweiten Ehemann Heinrich Blücher.

Über diese direkten Gespräche wissen wir allerdings vergleichsweise wenig, so sie nicht aufgezeichnet wurden oder auf sie in Briefen Bezug genommen wird. Margarethe von Trottas Film Hannah Arendt (2012) vermittelt uns eine Idee davon, wie diese direkten Gesprächssituationen verlaufen sein mögen. Von Jürgen Habermas und Hans Magnus Enzensberger gibt es Zeugnisse von den Einladungen in die Arendt’sche Wohnung. Jahre später halten sie in der Hannah Arendt gewidmeten Ausgabe der Kulturzeitschrift du (Oktober 2000/Heft Nr. 710) fest, welchen Eindruck die Gastgeberin auf sie machte. Habermas erinnert sich:

»Fasziniert hat mich von Anbeginn jener Begriff von kommunikativer Praxis, mit dem die Erzeugung legitimer Macht und die Konstituierung von Freiheit verknüpft sei. Die gemeinsame politische Willensbildung geht aus einem kommunikativen Handeln hervor, das dem schutzbedürftigen einzelnen Solidarität sichert, aber gleichzeitig zumutet, selber Initiativen zu ergreifen und Unvorhersehbares zu tun« (Habermas 2000, 53).

Beide, Arendt und Habermas, sind sich in New York begegnet und Habermas war gemeinsam mit Uwe Johnson »sonntags um vier zum Kaffee eingeladen« in die Wohnung am Riverside Drive. Habermas beschreibt sie als »hochgemute Frau von starken Urteilen, [die] aus den elitären Vorurteilen, die ihre Herkunft aus dem alten deutschen Gymnasium verriet, keinen Hehl« machte. Er erfuhr in den Gesprächen mit Hannah Arendt, wie er selbst sagt, »die philosophische Produktivität des weiblichen Blicks« (ebd.). Ähnlich erinnert sich Hans Magnus Enzensberger an eine Gesprächssituation »an einem langen Nachmittag in New York«: »so habe ich sie in Erinnerung behalten: unerbittlich, fair und von löwenhaftem Mut« (Enzensberger 2000, 53).

Neben dem persönlichen Austausch sind Briefe für Arendt und ihre Freund:innen die wesentliche Gesprächsform, die sie über weite räumliche Distanzen hinweg oft ein Leben lang verbindet. Hannah Arendt ist eine ungewöhnlich zuverlässige und treue Briefpartnerin, die über Jahrzehnte hinweg intensive Briefwechsel mit ihren Freund:innen, vor allem in Europa und Israel, pflegte. Die inzwischen zunehmende Veröffentlichung dieser Briefwechsel legt ausdrucksvolles Zeugnis davon ab. Sie eröffnen neben privaten Einblicken auch Einschätzungen der politischen Situationen und gegenseitigen Gedankenaustausch über Manuskripte oder Interpretationen der veröffentlichten Texte. Ein umfassendes Bild davon zeichnen die Briefwechsel mit ihrer Freundin Mary McCarthy, ihren akademischen Lehrern und Freunden Martin Heidegger und Karl Jaspers, den jüdischen Briefpartnern Gershom Scholem und Kurt Blumenfeld sowie mit ihren Freunden aus der Studienzeit, Dolf Sternberger und Hans Jonas, und nicht zuletzt mit ihrem Ehemann Heinrich Blücher.

Arendts Gespräch mit sich selbst dokumentieren in besonderer Weise ihre Denktagebücher. Ursprünglich von ihr in Schreibheften angelegt, finden sich hierin kurze Eintragungen von Gedanken, Ideen und Lektürenotizen aus den Jahren zwischen 1950 und 1973; in den Jahren nach Blüchers Tod hält sie darin nur noch Reisedaten und kürzere Notizen fest.

Die Werke Hannah Arendts erschließen eine weitere Gesprächsebene. Es sind die intensiven Auseinandersetzungen mit historischen Personen, fiktiven Gesprächssituationen gleich, mit denen sie sich in ihren Texten auseinandersetzt: So etwa mit Sokrates, Thomas Jefferson, Rosa Luxemburg und zahlreichen anderen. Sie führt den Dialog mit ihnen aus der Lektüre ihrer Schriften heraus, bedenkend, verwerfend oder auch in ihre Gedanken übernehmend.

Der vorliegende Band nimmt in der Konzeption diese unterschiedlichen Gesprächsebenen auf und erschließt von diesen Gesprächen her wesentliche Stationen von Hannah Arendts Leben und ihren Schriften. Auf diese Weise entwickelt er einen spezifischen Zugriff: Hannah Arendts politisches Denken und Werk wird nicht isoliert dargestellt. Vielmehr wird es eingebettet in die Gesprächs-, Erfahrungs-, Lektüre- und Wissenskonstellationen ihrer Werke. Briefe an Freund:innen, Interviews sowie Lebensstationen, historische und für sie aktuelle Ereignisse verknüpfen sich dabei mit ihren großen Werken – von Rahel Varnhagen über Vita activa oder Eichmann in Jerusalem bis zum Spätwerk Vom das Leben des Geistes – und werfen hierbei neue Schlaglichter auf ihr Denken. In der Konzeption der einzelnen Kapitel findet sich dieser Zugang abgebildet.

»Arendt im Gespräch mit Heidegger und Sokrates« ( Kap. 2) zeigt Arendt, die sich nicht als Philosophin bezeichnen lassen will, denn der Philosophie hat sie »endgültig Valet gesagt« (IV 46), im Gespräch mit Philosophen auf der Suche nach einem weltzugewandten Neuentwurf der Philosophie. Dabei geht sie in das Gespräch mit Sokrates, dem Urtyp des Philosophen auf öffentlichen Plätzen der Polis. Er ist in ihrem Denken, wie später auch Kant oder Jaspers, ein politischer Philosoph, der nicht von der »Feindseligkeit gegen alle Politik« (IV 47) befallen war. Heidegger dagegen, ihr Lehrer und Geliebter aus Marburger Studienzeiten, ist für sie ein weltabgewandter Philosoph, der meint, er könne sich »von der Welt billig loskaufen […], aus allem Unangenehmen rausschwindeln und nur Philosophie machen« (BAJ 178).

»Arendt im Gespräch mit Aristoteles und Sternberger« ( Kap. 3) rekonstruiert aus dem aristotelischen Denken wie auch aus dem Briefwechsel mit Sternberger, dem Freund seit ihrem gemeinsamen Studium in Heidelberg und später hier Professor für Politikwissenschaft, ihre Grundgedanken der Vita activa (Erstausgabe: The Human Condition, Chicago 1958; dt. 1960). Die zentrale Frage dieses großen Werkes: »Was wir tun, wenn wir tätig sind« (VA 12), wird von Hannah Arendt aus der aristotelischen Politik und aus der griechischen Polis heraus beantwortet. Sie orientiert sich an der bekannten Trias von Arbeiten, Herstellen und Handeln. Dolf Sternberger ist voller Bewunderung dafür, doch vermisst er das für ihn politisch Relevante: die politischen Institutionen und insbesondere den Entscheidungsprozess.

Rosa Luxemburg und Thomas Jefferson sind Arendts literarische Gesprächspartner:innen, die sie in Über die Revolution zu Rate zieht. Darin geht es um die Frage, was eine gelingende Revolution ausmacht. Sie müsse in der Verfassungsgebung münden, um Rätesysteme und kleinräumig-partizipative Organisationseinheiten zu stiften, die über Revolutionen hinaus politisches Handeln ermöglichen. Mit Blick auf das Gesamtwerk Hannah Arendts kommt dieses Buch dem Entwurf einer Staatsform mit politischen Strukturen und Prozessen am nächsten, was dem Gespräch mit Luxemburg und Jefferson geschuldet ist. Allerdings sind beide mit ihren Ideen und Idealen in der konkreten Umsetzung wenig erfolgreich. Weder das Rätesystem noch Jeffersons kleinräumige Republiken konnten sich politisch durchsetzen; auch Arendts eigene Überlegungen hierzu bleiben skizzenhaft ( Kap. 4).

Die beiden nächsten Kapitel berühren in besonderem Maße Hannah Arendt als Jüdin. Auch wenn sie sich in den Aussagen zu ihrer Kindheit an ihr Jüdisch-Sein als selbstverständlich oder unproblematisch erinnert, begleitet die Auseinandersetzung mit dem Jüdisch-Sein ihr ganzes Leben und durchdringt ihre Werke. Ihre Gespräche mit Freund:innen, insbesondere den jüdischen, kreisen um die Fragen des Zionismus, der Vertreibung und Vernichtung des jüdischen Volkes, um Palästina und die Staatsgründung von Israel.

In »Arendt im Gespräch mit Eichmann und Scholem« ( Kap. 5) steht die Thematisierung des Bösen im Mittelpunkt. Für keines ihrer Werke wurde Hannah Arendt so angegriffen wie für Eichmann in Jerusalem. Die Berichterstattung über den Eichmann-Prozess, in der sie von der »Banalität des Bösen« spricht, von Adolf Eichmann, dem Organisator der Deportation der jüdischen Bevölkerung, als einem Hanswurst, über den sie nur lachen könne (vgl. IV 64), ist für ihre jüdischen Freund:innen unerträglich und verletzend. Die tiefe Freundschaft zu Gershom Scholem geht darüber verloren. Andere versuchen sie eines Besseren zu belehren oder klammern dieses Thema aus, um nicht mit ihr darüber in Konflikte zu geraten, was das radikal Böse oder das banal Böse sei.

In einem frühen Werk, 1933 bereits begonnen, betrachtet Hannah Arendt das Judentum und jüdisches Leben in historischer und literarisch-biographischer Perspektive. In der Lebensgeschichte von Rahel Varnhagen, einer deutschen Jüdin in der Romantik, werden die schmalen Möglichkeiten jüdischen Lebens zwischen Anpassung und Assimilation gezeigt. Freund:innen und Biographinnen (Young-Bruehl, Grunenberg) vermuten, Hannah Arendt habe dabei ihre eigene Lebenssituation aufgearbeitet. Der Blick auf ihre Biographie und ihre Positionen zum Judentum ihrer Zeit, zum eigenen Jüdisch-Sein und ihre politische Haltung markieren im sechsten Kapitel allerdings deutlich die Unterschiede zu Rahel Varnhagens Leben ( Kap. 6).

Mit Heinrich Blücher, dem Gefährten seit 1936 im Vorkriegsparis, den sie 1940 heiratete und mit dem sie aus Südfrankreich über Lissabon nach New York floh, verbindet sich Hannah Arendts erstes großes Nachkriegswerk, das sie berühmt machte: In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 1951 in den USA erschienen (The Origins of Totalitarianism), beschreibt Arendt kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die großen europäischen Katastrophen: Antisemitismus, Imperialismus und Totalitarismus. Viele der darin verarbeiteten Gedanken und Analysen zur totalen Herrschaft resultieren aus gemeinsamen Erfahrungen, Erlebnissen und Gesprächen mit Heinrich Blücher. Er war der ›Sokrates an ihrer Seite‹, dem sie nicht nur Gewissheit und Halt in ›finsteren Zeiten‹, sondern auch – wie sie sagt – historisch-politisches Sehen verdankte ( Kap. 7).

In ihrem Spätwerk Vom Leben des Geistes, das sie mehr als alle anderen ihrer Werke als Philosophin auszeichnet, zeigt sich Hannah Arendt im Gespräch mit ihrem akademischen Lehrer und Freund Karl Jaspers. In Analogie zu den in Vita activa beschriebenen Tätigkeiten (Arbeiten, Herstellen, Handeln) stehen hier die geistigen Tätigkeiten im Mittelpunkt: das Denken, das Wollen und schließlich unvollendet, da kurz vor ihrem Tod begonnen, das Urteilen. Die politischste Tätigkeit des Geistes, darüber urteilen zu können, was richtig und was falsch ist, sieht sie in Karl Jaspers verwirklicht und im Austausch mit ihm zur Geltung gebracht. Praktisch-weltliche Orientierung und persönliche Verantwortlichkeit sind ihm und seinem Denken eigen. Der Titel des vorliegenden Bandes, Im Gespräch die Welt verstehen, zeigt im Kapitel über das Urteilen noch einmal seine besondere Bedeutung, insofern ›Welt‹ bei Hannah Arendt der Raum für Politik ist ( Kap. 8).

Mit der Auswahl der Texte, Gesprächspartner:innen und Situationen, die in diesem Band vorgestellt werden, wird ein Bogen gespannt von den Anfängen der antiken griechischen Philosophie bis zu Arendts Auseinandersetzungen mit der politischen Gegenwart. Die Gesprächspositionen sind hierfür repräsentativ ausgewählt: Für das antike Denken Sokrates und Aristoteles, für die politische Theorie der Gegenwart Blücher und Sternberger, für das jüdische Denken Rahel Varnhagen, Scholem und Blumenfeld; Luxemburg und Jefferson für politisch-praktische Positionen. Die Philosophen werden repräsentiert durch ihre akademischen Lehrer und Freunde, Heidegger und Jaspers, und schließlich singulär für das Böse steht Eichmann. Die Auswahl der Texte und Gesprächspartner:innen bezieht zudem die wichtigsten biographischen Stationen sowie in besonderer Weise ihre große Werke ein und zeigt dabei Hannah Arendt nicht nur als Wissenschaftlerin, sondern auch als Gesprächspartnerin und Freundin.

Die Aufteilung der Kapitel auf die beiden Autorinnen folgt ihren akademischen Interessen an Hannah Arendts Werk. Die Forschungsschwerpunkte von Astrid Hähnlein kommen aus der Philosophie. Die von ihr verfassten Kapitel zeigen Hannah Arendt im Gespräch mit Heidegger und Sokrates: Philosophie ( Kap. 2), mit Blücher: Totale Herrschaft ( Kap. 7) und mit Jaspers: Das Urteilen ( Kap. 8). Gisela Riescher ist Professorin für politische Theorie und sieht Hannah Arendt vorrangig als Politische Theoretikerin. Hannah Arendt im Gespräch mit Aristoteles und Sternberger: Arbeiten, Herstellen, Handeln ( Kap. 3), mit Luxemburg und Jefferson: Revolutionen, Räte, Föderationen ( Kap. 4), mit Eichmann und Scholem: Das Böse ( Kap. 5), mit Rahel Varnhagen und Blumenfeld: Das Judentum ( Kap. 6) sind von ihr stärker aus einem politikwissenschaftlichen Zugang geschrieben. Diese gemeinsam verfasste Hinführung wie auch das Schlusskapitel »Hannah Arendt über Grundlage und Bedingungen des Gesprächs« ( Kap. 9) rahmen die Publikation.

Den ursprünglichen Anstoß, den Zugang zum Werk Hannah Arendts über Gesprächssituationen zu suchen, gaben gemeinsame Seminare an der Universität Freiburg. In Gesprächen rund um diese Projektidee wurde der Plan zunehmend konkreter, Hannah Arendts Leben und Werk über Gespräche zu beschreiben. Dass sich diese Idee umsetzen ließ, liegt maßgeblich an Hannah Arendt selbst, ihren umfassenden Briefwechseln, den eindrucksvollen Denktagebüchern, ihren intensiven Bezugnahmen auf Referenzen in ihren Publikationen, ihren erhellenden Interviews – vor allem aber an ihrem Verständnis von Politik und politischer Theorie. Ihr politisches Denken ist kein einsames Denken. Es ist dialogisch angelegt. Pluralität bestimmt ihr Weltverständnis, gemeinsames Handeln und Sprechen begründen den politischen Raum. Im Sprechen zeigt sich der Mensch anderen, im Erklären bleiben Taten nicht stumm. Ihr ganzes politisches Denken ist auf ein gemeinsames Öffentliches ausgerichtet. Und selbst im Denken ist man zu zweit mit sich selbst. Denn, so Hannah Arendt: »Wahrheit gibt es nur zu zweien« (BABl 321).

Wir danken allen, die uns in Gesprächen ermuntert, geraten, zustimmend und kritisch begleitet haben, und ebenso denen, die ganz konkret an der Manuskripterstellung und der Vorbereitung zur Drucklegung beteiligt waren: unseren Sekretärinnen Susanne Schlatter und Athanasia Koiou, der studentischen Mitarbeiterin Lara Husar sowie Julius Alves und dem Team des Kohlhammer-Verlags.

Freiburg, im Frühjahr 2022

Gisela Riescher und Astrid Hähnlein

1      Werke und Briefe Hannah Arendts werden mittels Siglen zitiert. Diese sind im Literaturverzeichnis aufgeschlüsselt.

2   Arendt im Gespräch mit Heidegger und Sokrates: Die Philosophie

Ist Hannah Arendt eigentlich eine Philosophin?

Auf die Frage, wie sie sich als Philosophin, also als Frau in der ›Männerdomäne‹ der Philosophie selbst wahrnehme, antwortet Arendt 1964 im Interview mit Günter Gaus in überraschender Weise. Denn nicht die Frauen- bzw. Emanzipationsfrage ist für ihr Selbstverständnis von Bedeutung, sondern die Zuweisung zum Kreise der Philosoph:innen – gegen die sie sich kategorisch verwehrt: »Ich habe meiner Meinung nach der Philosophie doch endgültig Valet gesagt. Ich habe Philosophie studiert, wie Sie wissen, aber das besagt ja noch nicht, daß ich dabei geblieben bin« (IV 46).

Arendt studierte Philosophie sowie evangelische Theologie und Gräzistik bei Koryphäen ihrer Zeit (u. a. bei Martin Heidegger, Nicolai Hartmann, Edmund Husserl, Karl Jaspers, Rudolf Bultmann). Gerade in der Philosophie tat sie sich bereits in ihrer frühen Studienzeit durch die Selbstständigkeit ihres Weiterdenkens und Umdenkens des bis dahin Kennengelernten hervor. Sie schreibt gewandt Aufsätze und Zeitungsartikel über philosophische Entwicklungen und Themen des frühen 20. Jahrhunderts (bspw. SK) und wurde bereits 1928 im Alter von 22 Jahren in Heidelberg bei Karl Jaspers mit ihrer Arbeit Der Liebesbegriff bei Augustin promoviert. Auch wenn ihr damaliger Doktorvater und später lebenslanger ›Denkgefährte‹ Jaspers nicht mit allen Zügen der Arbeit einverstanden ist, so erkennt er in ihr doch schon zu diesem Zeitpunkt die eigenständige philosophische Herangehensweise und Denkungsart:

»Sie [Arendt] sucht nicht die Systematik der Lehrstücke in einem Ganzen zu erreichen, sondern gerade ihre Unstimmigkeiten, um darin den Blick auf existentielle Ursprünge des Gedankens zu gewinnen« (das Dissertationsgutachten findet sich hier: LA 129 f.).

Eine solch selbstständige philosophische Denkungsart bezeugt letztlich das gesamte Arendt’sche Oeuvre, so ›unphilosophisch‹ die verhandelten Themen in Teilen auch erscheinen mögen. An zentralen Schnittstellen finden sich immer Kerngedanken, die sie in dichter Auseinandersetzung mit den ihr wesentlich gewordenen Philosophien entwickelt – ob sie Augustinus’ Postulat aufgreift, »damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen« (EU 979), oder den Gedanken Nietzsches, er gebe auf einen Philosophen »gerade so viel, als er im Stande ist ein Beispiel zu geben« (WL 71). Und nicht zuletzt Arendts Denktagebücher sind ein Beleg dafür, dass sie sich ein Leben lang nicht nur mit Literatur, sondern intensiv auch mit klassischen wie modernen Philosophien auseinandersetzt. Denn hier hält sie ihre Notizen, Zitate und weiterführenden Gedanken zu Platon, Marx, Heidegger und vielen anderen über Jahrzehnte hinweg fest.

Vor diesem Hintergrund muss das medienwirksame »Valet« an die Philosophie wohl umso mehr Erstaunen wecken. Arendt selbst erklärt diese Absage an die für ihr eigenes Denken doch so teure Wissenschaft mit der Enttäuschung und Erschütterung über die Feindseligkeit gegenüber dem Bereich der Politik – und dem damit allzu schnell einhergehenden Opportunismus bzw. dem Mitläufertum vieler ›Denker von Gewerbe‹ in der Zeit des Nationalsozialismus. Für sie bestand der Schock zu Beginn der 1930er Jahre darin,

»daß unter den Intellektuellen die Gleichschaltung sozusagen die Regel war. […] Sehen Sie, daß jemand sich gleichschaltete, weil er für Frau und Kind zu sorgen hatte, das hat nie ein Mensch übelgenommen. Das Schlimme war doch, daß die dann wirklich daran glaubten! Für kurze Zeit, manche für sehr kurze Zeit. Aber das heißt doch: Zu Hitler fiel ihnen etwas ein; und zum Teil ungeheuer interessante Dinge! […] Sie gingen ihren eigenen Einfällen in die Falle, würde ich heute sagen« (IV 58).

Diese Erfahrungen sowie selbstverständlich die Eindrücke der persönlichen Diskriminierung, Bedrohung und letztlich der Flucht sind grundlegend für Arendts Abwendung von der Philosophie und Hinwendung zum Bereich der politischen Theorie – welcher analog zu ihrer physischen Wahlheimat Amerika als ihre neue geistige Wahlheimat angesehen werden kann (IV 47).

Martin Heidegger – weltabgewandtes Philosophieren

Einer der Menschen, an die Arendt bei diesen sich im Denken wie im Handeln gleichschaltenden Intellektuellen wohl gedacht haben mag, ist Martin Heidegger (1889–1976). Die beiden eint neben der Begeisterung für die Philosophie eine kurze, heimliche Liebesaffäre in der gemeinsamen Marburger Zeit (1924–1926), in der sie sich als Studentin und Professor begegneten. Die erhaltenen Briefe, Notizen und auch ein Text Arendts, der die Überschrift Schatten