Happy End in Edinburgh - Kerstin Frolik - E-Book

Happy End in Edinburgh E-Book

Kerstin Frolik

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Beschreibung

Brooke geht Familie über alles. Ihr Mann Tom, ihre beiden Kinder und die Eltern, mit denen sie gemeinsam eine kleine Schreinerei im Süden Englands betreibt sind ihr Lebensmittelpunkt. Als aus heiterem Himmel ihre Ehe in die Brüche geht und beide Elternteile kurz nacheinander versterben, kehrt sie England den Rücken und versucht einen Neuanfang in Schottland.

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Brooke bearbeitete konzentriert einen antiken Schrank, den sie für einen Kunden restaurierte, als der aufheulende Motor eines heranfahrenden Sportwagens sie zusammenzucken ließ. Dies konnte nur der neue Eigentümer der Villa oberhalb ihres Grundstückes sein. Ihr Cottage und das weiter oben gelegene Anwesen waren die einzigen beiden Häuser auf einer Anhöhe, die bei Edinburgh in den Hügeln nahe des Holyrood Parks lagen. Die Straße, die an Brookes Haus vorbei ein Stück weit nach oben zur Villa führte, war als Privatweg gekennzeichnet und nur durch das elektronische Öffnen eines Tores durch berechtigte Personen zu befahren.

Sie wohnte nunmehr seit drei Jahren in dem einstigen Bauernhaus, das vermutlich ehemals als Unterkunft für die Angestellten des Herrschaftshauses diente. Während dieser Zeit hatte sie nach und nach an und hauptsächlich im Gebäude massive Umbauten vorgenommen und auch die angrenzende Scheune nach ihren Bedürfnissen umgestaltet. Seit sie hier zugange war, blieb das Haus oberhalb unbewohnt.

Brooke war handwerklich äußerst geschickt und konnte es, was Werkzeuge wie Hammer und Bohrer betraf, mit manchem Mann aufnehmen. Das lag daran, dass ihr Ex-Ehemann Tom sie mit der von ihren Eltern gegründeten Schreinerei in Oxfordshire quasi über Nacht allein ließ, als ihre Kinder erst drei und fünf Jahre alt waren. Sie war schon immer gerne zuerst ihrem Vater und später Tom in der Werkstatt zur Hand gegangen, weil sie das Arbeiten mit Holz faszinierte. Doch ihrem Mann war eines Tages plötzlich der Gedanke gekommen, dass sein eigentlicher Lebensmittelpunkt in den Wäldern von Kanada lag und er sofort aufbrechen musste. Er fühlte sich in ihrer Ehe eingeengt und sah sich nicht dauerhaft in der Rolle als Familienvater. Und obwohl es ihrer beider Entscheidung gewesen war, Kinder zu bekommen, warf er ihr nun vor, ihn mit der Familienplanung überrumpelt zu haben. Auch die Verantwortung für die Schreinerei belastete ihn von einem Tag zum anderen. Völlig unerwartet stellte er Brooke vor die Tatsache, dass es schon seit geraumer Zeit sein größter Wunsch gewesen sei, in der rauen Welt der Holzfäller in Kanada sein Glück zu versuchen.

Brooke, die mit ihrem Ehemann bereits seit der Schulzeit zusammen war und sie in ihrer Clique immer als das Traumpärchen galten, fiel aus allen Wolken. Er hatte es in der Vergangenheit anscheinend nicht für nötig gehalten, ihr von seinen Träumen zu erzählen. Auch nicht davon, dass er sie ab sofort ohne Wenn und Aber in die Tat umzusetzen gedachte. Und leider kamen in diesem Zukunftsplan weder eine Ehefrau noch Kinder vor. Es war, als hätte er einen Blackout und nahm keinerlei Rücksicht mehr auf sein Umfeld. Er ließ sich durch nichts bremsen und verschwand quasi über Nacht. Es halfen keine Tränen, kein Flehen und kein Bitten um ihn aufzuhalten. Aus heiterem Himmel war Brooke von heute auf morgen auf sich selbst gestellt.

Nachdem sie den ersten Schock überwunden hatte und aus einer tiefen Lethargie erwachte, reiste sie ihm nach und versuchte ihn erneut zu einer Rückkehr zu bewegen. Sie erkannte Tom nicht wieder, als sie ihm in British Columbia, der Holzfäller-Stadt in Kanada schlechthin, gegenüberstand. Ihr Ehemann wies sie schroff ab und befahl ihr, zu verschwinden und zu den Kindern zurückzukehren. Diese warteten zu Hause in Großbritannien auf die Rückkehr beider Elternteile während sie von den Großeltern versorgt wurden. Den ganzen Rückflug über zermarterte Brooke sich den Kopf, wie sie ihnen schonend beibringen konnte, dass ihr Vater sie Hals über Kopf in der Nacht auf Nimmerwiedersehen verlassen hatte. Müde und abgeschlagen nach einem langen Transatlantikflug stand sie an den Betten der Geschwister, die unschuldig unter ihren Decken schliefen. Sie konnten nicht ahnen, dass ihr Vater für immer fort gegangen war. Genauso wenig wie sie es selbst wahrhaben wollte. Es graute ihr vor dem nächsten Morgen, an dem sie damit konfrontiert wurde, ihnen die ganze Wahrheit zu sagen. Sie strich ihrem schlafenden Sohn das verschwitzte Haar aus der Stirn, als er sich im Schlaf hin und her wälzte und weinte dabei lautlos. Luke war fünf und Savannah erst drei Jahre alt. Sie würde vielleicht eher über die Trennung der Eltern hinwegkommen. In jungen Jahren verblasste die Erinnerung schneller. Zumindest redete sich Brooke das ein. Sie selbst wusste nicht, wie man diesen Schmerz aushalten sollte.

Mit Hilfe ihres Vaters, der nun wieder aktiv in das Geschäft einsteigen musste, nachdem er sich zuvor so weit als möglich aus der Schreinerei zurückgezogen hatte als Tom damals die Leitung übernahm, versuchte sie das Geschäft aufrecht zu erhalten. Brookes Stärke lag aber eher in der Gestaltung mit Möbeln als an deren Erschaffung. Trotzdem erlernte sie das Handwerk der Be- und Verarbeitung von Holz zu einzigartigen, funktionalen Möbelstücken von Grund auf. Doch dann wurde ihrem Vater aus Altersgründen die körperliche Arbeit einfach zu schwer und auch weil sie ihrer Mutter nicht die Erziehung ihrer Kinder allein überlassen wollte, trafen sie nach gründlicher Überlegung die gemeinsame Entscheidung, die Schreinerei aufzugeben. Den Erlös vom Verkauf der Maschinen legte Brooke für die Ausbildung ihrer Kinder zurück und versuchte sich freiberuflich als Inneneinrichterin und Restauratorin. Die ersten Jahre ihrer Selbständigkeit behielt sie als überaus schwierig in Erinnerung. Sowohl organisatorisch als auch finanziell. Und deshalb war sie sehr dankbar, dass sie bei ihren Eltern wohnen konnte und die Kinder ein sicheres Zuhause mit geregelten Mahlzeiten hatten.

Große Unterstützung erhielt sie auch von Tante Sully, der Schwester ihrer Mutter. Bei ihr entledigte sich Brooke all ihrer Sorgen, die sie ihrer Mutter nicht aufbürden wollte. Ihre Eltern bemühten sich nach Kräften, Brooke zu unterstützen. Aber sie mussten traurig mit ansehen, wie ihre Tochter damit kämpfte, die Kinder den seelischen Ballast, den sie mit sich herumtrug, nicht spüren zu lassen. Mit kaum vorstellbarer Anstrengung bemühte sich Brooke um Normalität im Alltag und wenn die Kräfte sie doch einmal verließen, wandte sie sich an Tante Sully. Sie war eine überaus robuste, tatkräftige Frau mit nahezu unerschöpflicher Energie. Man sagte ihr die Fähigkeit des Vorhersehens nach. Immer wieder trafen Ereignisse ein, die sie vorausgesagt hatte. Später, als Brookes Eltern plötzlich und kurz hintereinander verstarben, blieb Sully mit großer Unterstützung an ihrer Seite und es schien, als wäre sie auf diese Situation vorbereitet gewesen. Auch schob sie Brooke immer wieder die eine oder andere Banknote zu bevor diese auf eigenen Beinen stehen konnte. Obwohl sie selbst kaum genug hatte.

Ihre Tante hatte ihren Ehemann vor vielen Jahren bei einem tragischen Busunglück verloren und sie verbat es sich eisern, nach einem neuen Partner suchen. »Wenn du einmal die große Liebe gefunden hast, spürst du es sofort. Da kommt nichts mehr nach«, sagte sie zu Brooke. »Das haben wir uns immer gesagt und es ist die Wahrheit. Ich habe es kommen sehen, dass unsere gemeinsame Zeit nicht unendlich sein würde und ich vermisse ihn schrecklich. Aber mir fehlt es außer an Walther an gar nichts. Eines Tages folge ich ihm dorthin wo er auf mich wartet. Aber Du, Du hast nicht die große Liebe verloren, denn der Kerl ist es nicht wert, dass man ihm eine Träne hinterher heult. Der war niemals deine große Liebe. Dieser Versager …«. So und nicht anders sprach sie über Tom. »Wenn der Richtige kommt, wirst Du es wissen. Du wirst es spüren. Es wird der Tag sein an dem die Sonne heller scheint und die Vögel lauter singen. Du wirst in diesem besonderen Augenblick an mich denken. Und ich weiß, ich darf es noch mit Dir erleben.« Brooke lächelte jedes Mal nachsichtig über diese Aussage der alten Dame und wies den Gedanken an einen anderen Mann weit von sich. Solche Weissagungen waren ihr suspekt und sie wollte sie gar nicht hören.

Nach einigen Jahren harter Arbeit erwarb sie sich in kleinen und mittleren Hotels einen Namen und konnte fortlaufend Aufträge für die Neugestaltung von Hotelzimmern, Konferenzräumen sowie der Aufbereitung und Neupolsterung von Sitz-Möbeln an Land ziehen. Gerade als sie darüber nachdachte, sich ein eigenes Heim mit einer Werkstatt einzurichten, starben aus heiterem Himmel zuerst ihre Mutter und drei Monate später ihr Vater, der den Verlust seiner Frau nicht verschmerzen konnte. Die Ehe ihrer Eltern hatte sich Brooke stets als Vorbild für ihre eigene genommen. Bis zu jenem Tag, an dem sie durch Tom den Glauben an die Ehe verlor.

Diese Tragödie war erneut ein großer Einschnitt in Brookes Leben und wieder einmal musste sie stark genug sein, um ihre Trauer vor den Kindern zu verbergen. Als zu guter Letzt Tante Sully wegen des Klimas zu einer alten Schulkameradin auf die Ille of Skye an die Küste zog, war sie kurz vor dem Zusammenbrechen. Vorwurfsvoll beschuldigte sie ihre Tante nun doch egoistisch zu handeln, indem sie sie ausgerechnet jetzt in einer so schwierigen Situation alleine ließ. Sully verstand ihre Wut und ihre Angst ohne ihr deswegen böse zu sein: »Eines Tages wirst Du mich verstehen. Wir können den Wind nicht ändern, nur die Segel anders setzen …,« zitierte sie Aristoteles. Allerdings sprach sie dabei mehr zu sich selbst.

In dieser schweren Zeit lernte Brooke, die einen Restaurationsauftrag im Hotel Hyatt erhalten hatte, George McMullan und dessen Frau Tessa aus Edinburgh in Schottland kennen.

George stellte sich ihr als Immobilienmakler und Investor vor, der mittels Darlehenssummen einer Privatbank, in der er sowohl stiller Teilhaber als auch Finanzberater war, in verschiedene Groß-Projekte investierte und so zu seinem ersten eigenen Hotel gekommen war. Wie sie sich die Arbeit von George vorzustellen hatte, war für Brooke zu Anfang ihrer Bekanntschaft nicht durchschaubar. Manches Mal war er mit seiner Frau Tessa monatelang in Amerika ohne den genauen Termin für ihre Rückkehr nennen zu können. Im Zuge dieser Aufenthalte investierte er anscheinend auch in Filmprojekte auf dem US-Markt. Darüber sprach er aber so gut wie nie, lediglich Tessa hatte es einmal beiläufig erwähnt. Die Verhandlungen über die Finanzierung vor Ort wurden durch eine weitere Person abgewickelt. Dann wiederum gab es Monate, in denen er ausschließlich in Edinburgh als Immobilienmakler tätig war. Die Eheleute Tessa und George arbeiteten als Team zusammen mitten in der Stadt, wo sie in jenem eigenen Hotel das Obergeschoß bewohnten. Tessa unterstützte ihren Mann dabei bei den Immobilien. Sie beriet seine Kunden als Innenarchitektin, wenn diese den Wunsch nach diesem besonderen Service äußerten. Bis sie aufgrund der Schwangerschaft ihre Freundin Brooke als Vertretung miteinbezog und somit einen Teil ihrer Kunden an sie weitergab.

Kennengelernt hatte Brooke die beiden, als sie einen Entwurf für die Umgestaltung des Eingangsbereiches für ein Hotel abgab. Das Haus der gehobenen Kategorie in Edinburgh lag direkt auf der Royal Mile. Es befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits in mehrheitlichem Besitz von George und er war für die Auftragsvergabe verantwortlich. Tessa war von Brookes Vorschlägen so begeistert, dass sie sich von deren Ideen inspirieren ließ und unbedingt Elemente davon in ihren eigenen vier Wänden haben musste. Somit durfte Brooke in der privaten Penthouse-Wohnung des Paares im Hotel ebenfalls einige dekorative Änderungen vornehmen. Sie lehrte Tessa unter anderem die Kunst mit Kieselsteinen zu arbeiten, und zusammen entwarfen sie ein großes Wandmosaik. Die Anfertigung zog sich über beinahe drei Wochen hin und dabei lernten sie einander näher kennen. Unter anderem auch bei der einen oder anderen Whiskey-Vorführung, die in regelmäßigen Abständen für Touristen in der Hotelbar stattfand. Während dieser Zeit wohnte Brooke glücklicherweise mit beiden Kindern ebenfalls im Hotel. Damals war es für die kleine Familie eine willkommene Abwechslung, um dem tristen Alltag im leeren großelterlichen Haus zu entkommen. Richtige Urlaubsreisen konnte sich Brooke bis dahin nie leisten und der kurzzeitige Wechsel von England nach Schottland sowie die Unterbringung im Hotel war für ihre Kinder immerhin ein kleines Abenteuer.

Die beiden Frauen verbrachten viel Zeit miteinander und bemerkten schnell, dass sie sich mochten und sowohl geschäftlich als auch privat viel gemeinsam hatten. Später sprachen sie von einer schicksalshaften Begegnung und einer Seelenverwandtschaft, die sie schnell unabhängig voneinander verspürt hatten.

Brookes Tochter Savannah war zu dieser Zeit dreizehn Jahre alt und fand es ungeheuer spannend, in einem Hotel zu wohnen. Mit der Tochter einer Angestellten erkundete sie die Umgebung. Die Old Town und die New Town Edinburghs ließen sich vom Hotel aus wunderbar zu Fuß erreichen. Die Princess Street mit ihren vielen kleinen Geschäften und Boutiquen übten eine magische Anziehungskraft auf die Mädchen aus. Und wenn die beiden im Hotel frühstückten oder zu Abend aßen, wurden sie, ein wenig abseits zwar, aber wie kleine Königinnen vornehm von den Angestellten bedient. Wenn auch mit einem Augenzwinkern.

Ihr Sohn Luke interessierte sich dagegen ausschließlich für Fußball. Er war äußerst begabt und wurde schon früh von Talentspähern bei inoffiziellen Probetrainings entdeckt. Während Brooke später mit Savannah hin und wieder die Ferien in Edinburgh verbrachte, wurde Luke von einem Trainingslager zum anderen eingeladen. Er war erst fünfzehn Jahre alt aber für sein Alter unglaublich selbständig und immer in der Lage, sich den neuesten Gegebenheiten anzupassen. Brooke musste trotzdem manches Mal die Tränen zurückhalten, wenn ihr ‚Kleiner’ voll bepackt mit Taschen und Rollkoffer in den Zug stieg und mutterseelenallein in ein Trainingscamp fuhr. Zu sehr wünschte sie sich für ihn einen Vater oder Großvater, der stolz ‚seinen‘ Jungen in die fremden Städte gefahren oder ihn zu seinen Spielen begleitet hätte. Wann immer es ihr zeitlich möglich war, versuchte sie an seiner Seite zu sein auch wenn Luke ihr stets versicherte, dass er es nicht von ihr erwartete. Er sah ja, wie sie sich abrackerte, um den beiden eine sorgenfreie Kindheit zu ermöglichen. Es brach ihr das Herz, wenn er dann doch wieder allein losziehen musste.

Zwischen Brooke und Tessa entstand in dieser Zeit eine immer engere Freundschaft. Dies hatte zur Folge, dass sie fast ausschließlich Aufträge aus dem näheren Umfeld von den McMullans annahm und damit immer mehr Zeit in Edinburgh verbrachte. Zwischendurch überlegte sie, ob sie nicht ihren Lebensmittelpunkt dorthin verlegen sollte. Sie wollte es aber ihren Kindern nicht zumuten, nach all den Schicksalsschlägen nun auch noch aus der gewohnten Umgebung mit all ihren Freunden herausgerissen zu werden. Zumindest so lange sie noch zur Schule gingen.

Im Frühling vor vier Jahren begleitete Brooke Tessa zur Besichtigung in eine Villa in den Hügeln des Holyrood Parks. Der zweigeschossige Bau mit vier Ecktürmen, umgeben von einer halbhohen Ginsterhecke, deren gelb und blassrosa Blüten das Grundstück einhüllten wie eine zarte Wolke, faszinierte sie. Tessa erklärte ihr, dass sie einen Käufer für dieses äußerlich frisch renovierte Herrenhaus suchte und auch einen bestimmten Käuferkreis dafür im Auge hätte. Im Vorfeld wollte sie aber von Brooke wissen wie ihr Eindruck von dem Gebäude wäre und wie man den leeren Räumen Leben einhauchen könnte. Womit sie aber nicht gerechnet hatte war, dass Brooke vor Einfällen nur so sprühte. Jeden Entwurf, den sie Tessa vorlegte, verwarf sie am nächsten Tag und überarbeitete ihn neu. Sie war kaum zu bremsen. Allerdings wurde sie schnell vom Umfang der Kosten und der Vorgabe eines zeitlichen Rahmens auf den Boden der Tatsachen geholt. Sie kalkulierte eine Dauer von mindestens acht bis zehn Monaten für diverse Umbauten in sämtlichen Räumlichkeiten. Dabei würde sie einige Wände versetzen und größere Fenster einbauen lassen. Somit würde das gesamte Erdgeschoss wie ein großer Salon wirken und eine Aussicht über die ganze Stadt ermöglichen. Einmal stand Brooke zufällig bei Einbruch der Dunkelheit an der Terrassentüre und blickte hinab auf die sanften Lichter des angelegten Parks rund um das Scottish Parliament. Und sie sah sich auf einem imaginären Sofa liegen und diesen unglaublichen Ausblick genießen. Da Tessa jedoch davon getrieben war, schnellstmöglich einen Interessenten zu finden, erschien ihr die Dauer der Umbauten zu unrealistisch und aus dem Auftrag wurde zunächst einmal nichts.

Nachdem jedoch die beiden Frauen das Grundstück wieder verlassen hatten, bemerkte Brooke im Vorbeifahren ein eingezäuntes Anwesen unterhalb der Villa. Sie bat Tessa anzuhalten, weil sie den Eindruck hatte, das Haus sei verlassen. Die ältere Bausubstanz war wohl noch in Ordnung und das dreistöckige, schmale Haus aus groben Sandsteinen mit einem hohen Dach hatte eine angrenzende Scheune, die ebenfalls noch gut in Schuss zu sein schien. Dieses Objekt nahm Brooke augenblicklich gefangen und brannte sich in ihr Hirn. Tage- um nicht zu sagen wochenlang kreisten all ihre Gedanken nur um dieses Haus. Es war als hätte sie es nicht etwa zufällig gefunden, sondern das Schicksal habe sie gezielt hierhin geführt. Quasi als Entschädigung dafür, dass sie das kleine Schlösschen weiter oben nicht bearbeiten durfte. Nach intensiver Recherche durch George wurde der Besitzer des Grundstücks ausfindig gemacht. Und George war es auch, der Brooke mit Rat und Tat zur Seite stand, bis sie stolze Eigentümerin war. Alsbald konnte sie dieses wunderschöne Cottage, das früher wahrscheinlich die Angestellten der Eigentümer der Villa beherbergte und später einem Ranger gehörte, der sich um die Tiere und den Naturschutz in den Hügeln gekümmert hatte, mit Brief und Siegel ihr Eigen nennen. Vermutlich wurde die Stelle des Wildhüters nach dessen Rentenantritt nicht mehr besetzt und deshalb blieb das Haus unbewohnt.

Ihre Kinder waren bezüglich des Umzugs von England nach Schottland zuerst geteilter Meinung. Savannah hatte durch das ständige berufliche Pendeln ihrer Mutter bereits mehr Freunde in Edinburgh als in Oxfordshire und begrüßte den Tapetenwechsel. Zudem erinnerte sie in dem alten Haus in Großbritannien vieles schmerzlich an ihre Großeltern. Dazuhin wünschte sie sich schon lange einen Hund und Brooke gab stets die dicht besiedelte Wohngegend ohne viel Grün als Grund für ihr vehementes Nein an. Trotzdem schleppte Savannah immer wieder Pflegehunde an, um ihrer Mutter vor Augen zu führen, alles ginge wenn man nur wolle.

Luke dagegen spielte in der Nachwuchsmannschaft von Arsenal London und sah seine fußballerische Karriere vor dem Aus. Außer er hätte jeden Tag die nötigen viereinhalb Stunden Zugfahrt im Flying Scotsman von Edinburgh nach London auf sich genommen. Aber ihm war bewusst, dass seine schulischen Leistungen sehr darunter leiden würden. Als er seinem Trainer in einem zufälligen Gespräch offenbarte, in welcher Zwangslage er sich befand, packte dieser seinen Schützling breit grinsend an den Schultern. Der langjährige Coach stand ebenfalls vor einer neuen Herausforderung in Schottland und würde Luke nur allzu gerne in den Kader von Celtic Glasgow einbauen. Er bot ihm an, ihn für ein Stipendium vorzuschlagen um dadurch in ein Fußball-Internat aufgenommen zu werden, wenn die Voraussetzungen dafür erfüllt wurden. Und das war bei Luke nach seiner Beurteilung der Fall.

Als die dreiköpfige Familie nach einem weiteren Jahr umfassender Renovierungs- und Umbau-Arbeiten schlussendlich die Zelte in ihrem alten Zuhause abbrach und in Schottland angekommen war, wurde Brooke das Gefühl nicht los, nach einer Durststrecke ein Zuhause zu haben, das einem Neubeginn gleichkam. Sie war mit dem Umzug von England und dem Hauskauf zwar finanziell ziemlich angeschlagen, aber sie hatte Brücken und Verbindungen abgebrochen, die sie nicht vermissen würde. Es war ihr als würde sie neu Atem holen.

Nun war sie dabei, ihren Kindern beim Einrichten der Zimmer behilflich zu sein. Überall standen Kisten und Kartons und dazwischen der Handwerkskasten und die Bohrmaschine. Wie immer machte sie alles selbst. Mit Schraubenzieher und Bohrer bewaffnet stand sie in Lukes Zimmer auf der Leiter. Als sie eine Lampe an der Decke anbrachte, brach es aus dem sonst so verschlossenen Jungen heraus: »Irgendwann werde ich Dir einmal ein schönes Haus kaufen. Wo Handwerker die Löcher bohren und den Boden verlegen. Wo schon jemand die Wände gestrichen und die Lampen aufgehängt hat. Eines Tages, Mama.« Er verstummte resigniert.

Brooke strich ihm lächelnd über den Kopf, dann zog sie ihn an sich: »Das weiß ich. Dann suchen wir uns ein ganz besonderes. So eines wie da oben.« Sie seufzte. »Das zu kaufen wäre der Wahnsinn.« Mit einer Handbewegung deutete sie in Richtung Villa. Berührt von ihrem Heranwachsenden, der noch nie darüber gesprochen hatte, dass er sich sehr wohl Gedanken über das beschwerliche Leben seiner Mutter machte.

Während Brooke ihr Cottage renovierte, nahm sie keine Aufträge an, sondern konzentrierte sich darauf, so schnell wie möglich voran zu kommen. Zunächst hatte sie sich das mittlere Stockwerk mit den Wohnräumen und den Badezimmern der Kinder vorgenommen, bevor sie im Erdgeschoss ihre Küche und das offene Wohnzimmer neugestaltete. Fast alle Zimmer hatten offene Holzbalken, zum einen als Raumteiler, zum anderen fungierten sie als statische Elemente für die Decke. Brooke schickte bei der Besichtigung ein Stoßgebet gen Himmel, dass die Substanz noch gut wäre und nicht etwa tragende Teile wegen eines Holzwurmbefalls entfernt werden mussten. Aber sie hatte Glück gehabt. Sie konnte das Holz weitgehend erhalten und mit viel Liebe und Sorgfalt bearbeiten und versiegeln. Ganz zuletzt ging sie daran, den Dachstock ausbauen. Es sollte ihr Schmuckstück werden. Ihr Rückzugsort. Sie beließ auch hier alle sichtbaren Holzbalken. Dann öffnete sie die Rückwand des tiefen Raumes einen Meter über den Boden bis hin zum Giebel des Dachbodens und ließ in Hüfthöhe ein Dreiecksfenster über die komplette Fläche von sechs Metern anfertigen. Es kostete sie ein Vermögen. Aber als sie den daraus entstandenen Wandvorsprung unter dem Fensterrahmen auf einen Meter verbreitert, verputzt und gepolstert hatte wurde daraus eine Sitzbank von der sie eine Aussicht über die ganze Stadt hatte. Als Brooke das erste Mal bei Dämmerung in dem fertigen Raum stand und auf das im Abendrot strahlende Edinburgh Castle und die in den Farben des Herbstes leuchtende Old Town blickte, kamen ihr die Tränen. Sie spürte ihr aufgeregtes Herz klopfen und ein tiefes Glücksgefühl überkam sie. Eines Morgens erwachte sie auf eben dieser Bank und ihr erster Blick galt dem gespenstischen Nebel, der aus dem nahegelegenen, von Bäumen umgebenen St. Margaret’s Leoch aufstieg. Sie fühlte die Geborgenheit in ihren vier Wänden. Von nun an ließ sie sich für diesen Alkoven von ihren Kindern zu allen möglichen Anlässen Kissen schenken, die sie auf dieser Fensterbank drapierte. Luke musste sich das eine oder andere Mal den Spott seiner Mannschaftskollegen anhören, wenn er auf einer Auslandsreise nach Möbelhäusern oder Deko-Geschäften Ausschau hielt. Nicht nur einmal hielt ihm ein Mitspieler ein Kissen mit einer mehr oder weniger anzüglichen Botschaft unter die Nase.

Auch das Bad auf der gegenüberliegenden Seite erhielt bodentiefe Fenster, damit sie in der Badewanne liegend den Himmel über den Baumwipfeln hinter dem Haus sehen konnte.

Ihr persönliches Meisterstück jedoch war ihre Eingangstüre. Nachdem Brooke ihre Ausbildung im elterlichen Betrieb abgeschlossen hatte, eignete sie sich noch die Kunst des Holzbildschnitzens an. Eigentlich hieß der Beruf Holzbildhauer, jedoch benutzte man ein Schnitzmesser um das Holz zu bearbeiten. In der bayerischen Stadt Oberammergau in Deutschland lernte sie die Kunst des weltweit bekannten Herrgott-Schnitzens. Eine Schnitztechnik, die überwiegend aus religiös christlichen Motiven bestand. Diese filigrane Technik erforderte höchste Konzentration und es war eine Ehre für sie, dies erlernen zu dürfen. Ebenfalls ein ganz besonderes Erlebnis war für sie eine Fortbildung im Erzgebirge. Dort belegte sie einen mehrtägigen Kurs, in dem sie alle gängigen Arten des Schnitzens erlernte. Unvergessen blieb ihr, als am letzten Abend die fünf Teilnehmer von ihrem Kursleiter zum Essen nach Hause eingeladen wurden. Sie traf auf eine Großfamilie, die alle Besucher überaus herzlich aufnahm und bewirtete. Nach dem üppigen Essen saßen mehr als zwölf Leute in einer großen Wohnstube und tranken zusammen Wein. Dabei wurde geschnitzt, gestrickt, gestickt und gesungen. Wann immer Brooke mit Familie und Freunden an einem Tisch saß, erinnerte sie sich an diese Zeit. Und es wurde ein Herzenswunsch von ihr, bei möglichst vielen Gelegenheiten alle Menschen, die ihr wichtig waren, an einem großen Tisch zusammen zu bringen.

Sie beließ den alten rustikalen Türrahmen in dem grauen Haus aus Stein, da sich das Holz in seiner silbern verblassten Farbe mit den Jahren der Fassade angeglichen hatte. Nachdem sie ihn ein wenig bearbeitet und durchgängig Ornamente hinein geschnitzt hatte, versiegelte sie das Holz mit einer wetterfesten Lasur. Und in dieses verbleibende edle Grau setzte sie eine himmelblaue Türe mit einem großen halbrunden Türklopfer in der Mitte. Rechts und links vom Eingang dekorierte sie zwei große Laternen mit dicken weißen Kerzen, die sie Sommers wie Winters abends anzündete. Wenn man bei Dunkelheit auf ihren Hof einbog und auf die Eingangstüre zuging, erschien es einem als würde das Haus ihm zulächeln.

Zu der Zeit als Brooke mit dem Einarbeiten von Schrankelementen in die Schräge in ihrem Dachgeschoß beschäftigt war, bemerkte sie hin und wieder Interessenten für die Villa. Insgeheim hoffe sie jedes Mal, dass man keinen potentiellen Käufer finden würde. Einer ihrer Pläne für die Gestaltung der einzelnen Räume war immer noch Tessas Grundlage, wenn sie Kunden durch das Haus führte. Brooke hatte sich bei der Ausarbeitung auf ihr Gefühl verlassen und sich insgeheim als Bewohnerin dieser herrlichen Räume mit den hohen Fenstern gesehen. Sie konnte und wollte sich keinen Fremden darin vorstellen. Mit Annie, der Hauswirtschafterin, die George angestellt hatte, um zwischen den Besichtigungsterminen nach dem Haus samt Garten zu sehen, war Brooke schnell bekannt geworden und konnte bald auf deren Hilfe zurückgreifen, wenn sie selbst Materiallieferungen erwartete aber aus beruflichen Gründen nicht im Cottage sein konnte. Annie half ihr gerne, vor allem als es darum ging, die beiden älteren wilden Katzen zu füttern, die in Brookes Scheune zu wohnen schienen. Vermutlich waren sie Überbleibsel des Vorbesitzers.

So schnell es ihr finanziell möglich war, baute sie die Scheune zu einer Werkstatt nach ihren Bedürfnissen um. Auch hier legte sie wieder Wert auf große Fenster, damit sie, wann immer sie wollte, darin arbeiten konnte und nicht ausschließlich künstlichem Licht ausgesetzt war. Praktischerweise ging eine Tür von der Küche direkt in ihren neuen Arbeitsraum.

Ganz zuletzt nahm sie den Garten in Angriff. Eigentlich übernahm Savannah hier das Kommando. Savannah hatte das, was man einen grünen Daumen nannte: sie brachte Blumen zum Blühen, die andere längst als hoffnungslose Fälle auf dem Kompost entsorgt hätten. Selbst in dieser rauen Landschaft, die statistisch gesehen deutlich mehr Regentage als Sonnenschein hatte, leuchtete der Garten zu jeder Jahreszeit in anderen Farben. Savannah legte Gemüse- und Rosenbeete an, setzte Zäune und stutzte die Büsche und Bäume. Irgendwann verlor Brooke den Überblick und handelte nur noch auf Anweisung. Am Ende jedoch verschlug es ihr die Sprache. Der Garten war symmetrisch angelegt und die Blumenbeete blieben durch halbhohe Staketenzäune geschützt vor den zahlreichen Hirschen, die sich in der Dämmerung immer wieder ihrem Haus näherten. Trotzdem war alles so naturgetreu gehalten wie nur möglich und zahlreiche Vögel, Eichhörnchen und Kaninchen bevölkerten ihr Grundstück. Savannah hatte eine ausladende Hagebuttenhecke ebenfalls als Schutz vor den größeren Wildtieren stehen lassen, in der man manches Mal mehr Vögel als Früchte ausmachen konnte. Alles was nicht von Savannah angelegt wurde, umgab das Haus wie ein immergrüner Teppich. Wegen des vielen Regens war das Gras stets saftig und kräftig in Wuchs und Farbe.

Und dann geschah es eines Tages doch: zwei Jahre nachdem Tessa das erste Mal mit Brooke in die Hügel gefahren war, verkündete sie stolz Vollzug. Sie hatte die Villa verkauft und der neue Eigentümer sei sehr daran interessiert, dass unverzüglich mit der Inneneinrichtung begonnen werde. Und zwar genauso wie es Brookes Pläne vorsahen. Geld spiele keine Rolle. Brooke konnte nach den langen, kostspieligen Umbauten an ihrem Haus eine neue Einnahmequelle sehr gut gebrauchen und stürzte sich regelrecht auf den neuen Auftrag. Von den Bodenbelägen über die Wandfarbe bis hin zu den Wasserhähnen und der Anordnung der Elektrogeräte in der Küche übernahm der neue Besitzer exakt ihre Pläne. Worauf sie keinen Einfluss hatte war das Fitness-Center auf einer Hälfte des Obergeschosses, das von einem Fachmann eingerichtet wurde und das nach Brookes Einschätzung mehr Geräte beinhaltete, als sie je in einem Sportstudio gesehen zu haben glaubte. Auf jeden Fall hatte sie Mitleid mit den Möbelpackern, die hier beim Anliefern und Einrichten unglaubliches leisteten.

Die andere Hälfte des Dachgeschosses aber hatte sie genauso wie ihr eigenes eingerichtet. Sie ließ dasselbe Fenster anfertigen, errichtete die gleiche Sitzgelegenheit und ließ die Beleuchtung des Raumes in die Holzbalken einarbeiten. Im ganzen Haus dominierten Erdfarben wie braun, beige und creme. Die gleichen Töne hatte sie auch in das Giebelzimmer eingebracht. Selbst die Kissen waren dem Ton angepasst, so dass alles mit den sandfarbenen Wänden und den Dachbalken harmonierte. Die Böden hatte sie beinahe ausschließlich mit schiefergrauem Basalt-Lavastein verlegen lassen. Diese Steinfliese war aufgrund ihrer feinporigen Oberfläche enorm rutschsicher. In den Wohnräumen legte sie zusätzlich behaglich flauschige Hochflor-Teppiche.

Als ihre Arbeiten sich dem Ende zuneigten, saß sie ab und an in Gedanken versunken in dem noch unbewohnten Haus an einem der großen Fenster und sah hinab auf ihr Häuschen und auf die Stadt. Wenn sie ihre Hände in den Schoß legte, spürte sie eine tiefe Zufriedenheit über das Erschaffene und hoffte, der zukünftige Eigentümer würde ebenfalls dieses Gefühl erlangen.