Valencia - Kerstin Frolik - E-Book

Valencia E-Book

Kerstin Frolik

5,0

Beschreibung

Livia liebt Spanien, das Meer und ihre Unabhängigkeit. Nach einem persönlichen Tiefschlag kehrt sie ihrer Heimat Deutschland den Rücken und wagt den Schritt in die Selbständigkeit an der spanischen Küste. Mit Mut und Zuversicht schlägt sie ein neues Kapitel in ihrem Leben auf …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 202

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Torjubel in Valencia

Epilog

Torjubel in Valencia

Ola, Livia, que tal (wie geht’s)?«, Pedro, der Fischer und sein Kollege Javier betraten die kleine Café-Bar wie jeden Morgen, wenn sie vom Fischfang zurückkehrten. Lang vor Sonnenaufgang fuhren sie hinaus aufs Meer und kamen im Morgengrauen mit ihren Netzen zurück. Sobald sie ihren Fang im Hafen verarbeitet und an Händler und Restaurants verkauft hatten, nahmen sie in Livias Bar ihr Frühstück ein bevor sie am Strand ihrer eigentlichen Arbeit nachgingen.

Livia hatte vor mehr als zwei Jahren das Restaurant in einem kleinen Badeort in Valencia von Pedros Cousin Xabi übernommen. Durch einen Zufall erfuhr sie, dass er keine Lust mehr hatte, bis spät abends wegen ein paar wenigen Gästen hinter dem Tresen zu stehen. Xabi war von Haus aus ein eher mürrischer und wortkarger Zeitgenosse, was sich in der Gastronomie schnell unter den Gästen und Touristen rumsprach. Dass Xabi aufhören wollte war vor allem für seine Mutter eine Tragödie, da sie gerne in der Küche stand und die klassische spanische Küche in Perfektion beherrschte. Allerdings war auch die Inneneinrichtung im Laufe der Jahre immer mehr herunter gekommen und hätte einer gründlichen Renovierung bedurft. Doch wenn man draußen vor dem Lokal saß, konnte man über die Straße hinweg am Ende der nächsten Gasse das Meer sehen. Eine Aussicht die für vieles entschädigte. Und dieser Anblick hatte sich in Livias Herz gebrannt als sie zum ersten Mal hier gewesen war.

Sie war vor drei Jahren zu einem Spontanurlaub nach Valencia gekommen, nachdem sie in der Beziehung mit ihrem Freund Florian einen absoluten Tiefpunkt erreicht hatte. Sie wollte damals für ein paar Tage weg von zu Hause sein, da sie in ihrem Freundeskreis niemand hatte mit dem sie im Vertrauen über ihre damalige Situation hätte sprechen können. Mit ihrer Mutter verstand sie sich nicht so besonders, zu ihrem Vater hatte sie wenig Kontakt und es bestand auch kaum noch Verbindung zu ihren jüngeren Geschwistern. Bei den wenigen Zusammenkünften mit ihren Eltern war sie jedes Mal entsetzt, wie deren Ehe verlief. Kalt und emotionslos. Sie überlegte dann oft ob das schon früher so gewesen war oder ob die Eltern nichts mehr mit sich anzufangen wussten, nachdem die Kinder das Haus verlassen hatten.

Livia fasste den Entschluss, ein paar Tage irgendwo auszuspannen, um nach ihrer Rückkehr mit der notwenigen Entschlossenheit für eine Änderung in ihrem Leben zu sorgen.

Das Reisebüro unterbreitete ihr ein Angebot für einen Kurztrip in ein kleines Appartementhotel in Valencia gleich in Strandnähe, das ihr sofort zugesagt hatte. Auch im Hinblick auf ihre Vorliebe für Spanien und ihre, wenn auch minimalen, Sprachkenntnisse. Die Tage dort verbrachte sie am Meer mit Spaziergängen am Strand, mit Faulenzen und aß zu Abend in Xabi’s Tapas-Bar, die sie am dritten Tag ihres Aufenthaltes entdeckt hatte. Sie war sofort Feuer und Flamme von dieser einfachen, landestypisch eingerichteten, wenn auch etwas heruntergekommenen Lokalität. Und als eines Abends nicht viel los war, erschien Xabis Mutter aus der Küche und kam mit Livia ins Gespräch. Sie war ziemlich erstaunt darüber, dass eine so junge Frau alleine hier Urlaub machte, weil sie in einer Krise zu stecken schien. Möglicherweise hatte sie aber auch aufgrund der Kommunikationsschwierigkeiten nicht alles richtig verstanden. Was sie allerdings sehr genau wahrnahm, war, dass Livia ganz vernarrt in die Bar war und die Augen aufriss, als sie erfuhr, dass Xabi sie aufgeben wollte, um mit einem Kompagnon ein Internetcafé im Stadtzentrum zu eröffnen. Sehr zum Leidwesen seiner Mutter, denn Lula, wie Xabis Mutter hieß, hielt nichts von so modernen und ihrer Meinung nach kurzlebigen Geschäften wo es nicht einmal etwas gekochtes zum Essen gab sondern Fastfood aus der Mikrowelle. Außerdem ließ sie ihren noch unverheirateten Sohn ungern aus den Augen. Es war ihr schon lange ein dringendes Anliegen, ihn endlich unter die Haube zu bringen, wogegen er sich bisher erfolgreich wehrte.

Livia hörte dem Klagen Lulas voller Anteilnahme zu und bedauerte sehr, dass die ältere Frau vom Sohn so aufs Abstellgleis geschoben werden sollte. Über fünfzehn Jahre hatte diese ihn unterstützt, gekocht, geputzt und organisiert und dann sollte einfach Schluss sein, weil ihn das Moderne mehr reizte. Wahrscheinlich musste er in einem Internet-Café nicht übertrieben höflich zu den Gästen sein. Zumindest glaubte Lula, dass Xabi so dachte. In Livias Kopf drehten sich die Gedanken im Kreis.

Auf dem Rückflug nach Deutschland sah sie aus dem Fenster und war noch mehr verunsichert was ihren weiteren Lebensweg betraf, als zu Beginn ihrer Reise. Sie hatte nie etwas mit Gastronomie zu tun gehabt, dafür aber große Leidenschaft für diesen kleinen Ort am Meer entwickelt.

Als sie aus dem Flugzeug stieg, hatte sie das Gefühl, ihr Zuhause zurückgelassen zu haben anstatt heimzukommen. Nach einigen Wochen im alten Trott und der anhaltenden Ignoranz von Seiten ihres Freundes Florian ihr gegenüber fasste sie einen weitreichenden Entschluss. Zum Entsetzen ihres Onkels, Leiter der örtlichen Bank-Filiale, kündigte Livia ihren Sparvertrag, beendete still und leise ihren Job in der Buchhaltung eines Transportunternehmens und verließ Florian quasi über Nacht. Sie wollte das Wagnis einer eigenen kleinen Bar in Valencia eingehen. Sie war in diesem Jahr dreißig Jahre alt geworden und fand dass der Zeitpunkt, ihrem Leben eine entscheidende Wende zu geben, jetzt gekommen wäre.

Während sie wieder im Flieger saß – diesmal ohne Rückflugticket – wurde sie das Gefühl nicht los, sich von einer zentnerschweren Last befreit zu haben und sah mutig in die Zukunft. Sie war bereit und hatte den Kopf voll Ideen.

******

»Hola!« begrüßte Livia ihre täglichen ersten Frühstücksgäste und setzte den Kaffeevollautomaten in Gang um zweimal Espresso mit Milch für Pedro und Javier aufzubrühen. Gleichzeitig ließ Lula, die es sich nicht hatte nehmen lassen, Livia in der Küche weiterhin unter die Arme zu greifen, etwas Butter für zwei Omelette in ihre alten Pfannen gleiten, die die beiden Fischer jeden Morgen zum Frühstück aßen. Sollten sie je einmal ihre Gewohnheiten ändern wollen, mussten sie Livia am Vortag darüber informieren, denn ihre Mahlzeit war feste Routine in Livias Bar, die jetzt Besitos (Küsschen) hieß. Xabi und seine Mutter waren mit der Namensänderung einverstanden und nachdem Livia eine kleine Ablösesumme mit dem Geld aus dem Sparvertrag bezahlt hatte war sie die Chefin des Hauses. Und allzu gerne nahm sie das Angebot der Mithilfe in der Küche von Lula an und bezahlte ihr dafür ein kleines Gehalt.

Hier nach Essebia, einem kleinen Vorort von Valencia, kamen die meisten Urlauber zum Entspannen und Sport am endlos langen Strand zu treiben oder um Kultur zu erleben. Aber nicht weil sie auf das für viele Urlaubsorte in Spanien typische Nachtleben aus waren. Valencia galt als die Stadt der Künste und der Wissenschaften insbesondere mit dem großen Wirtschaftsmuseum Principe Felipe. Daher war im Grunde nur in den klassischen Ferienmonaten Juni bis September richtig Trubel. Dazwischen kamen überwiegend Kurzurlauber und Städte-Reisende. Diese Saison begann schon Ende Februar und hielt auch bis in den November wegen des milden Klimas an.

Livia veränderte nach ihrer Übernahme die Öffnungszeiten und betrieb ihr Lokal von ganz früh morgens um halb acht bis mittags nach dem Mittagstisch. Da sich im Süden die Menschen mittags zur Siesta zurückzogen, entschied sich Livia vorerst nachmittags nicht aufzumachen, um diese Zeit für ihre Einkäufe oder ihre Abrechnung zu nutzen. In der Anfangsphase wollte sie auch abends nicht öffnen, da ihr das Personal dazu fehlte. Den Sonntag ließ sie aus Rücksicht auf Lula, eine treue Kirchgängerin, ganz geschlossen. Somit konnte sie sich auch den einen oder anderen freien Tag am Strand gönnen. Ein Vorteil des Lebens am Meer!

Vor der Wiedereröffnung musste Livia einige Renovierungsarbeiten durchführen, damit sie sich in den Räumlichkeiten selbst zu hundert Prozent wohlfühlte. Sie strich die Wände, erneuerte die Sanitäranlagen und investierte in neue Möbel und Beleuchtung.

******

Nach und nach kamen weitere Gäste, die im Besitos ihr original spanisches Frühstück bestellten und Livia hatte alle Hände voll zu tun. Die Kapazität im Inneren der Bar umfasste 30 Sitzplätze und draußen vor der Bar rechts und links neben der Eingangstüre stand jeweils ein Tisch mit zwei Stühlen. Im Zuge ihrer Renovierungsarbeiten hatte sie den Eingangsbereich so gestaltet, dass es für viele Gäste ein Lieblingsplatz wurde. Vor allem wegen des Blickes auf Meer durch die gegenüber liegende Straße. Den Innenbereich hatte sie selbst mit cremefarbenen Putz versehen. So entstand die Struktur eines alten Gemäuers. Das Mobiliar in mahagonifarbigem Holz hatte sie günstig erworben. Im gleichen Farbton waren auch die Lederpolster der Stühle und der Barhocker. An den Wänden hatte sie mehrere Schwarzweiß-Fotografien von Flamenco-Tanzszenen in Bilderrahmen angebracht, die von diversen Strahlern, die je nach Lichtverhältnis gedimmt werden können, beleuchtet wurden. Flamenco war Livias heimliche Leidenschaft, sie liebte das Temperament und die Leidenschaft, die der Tanz zum Ausdruck brachte.

Wohnen konnte sie für eine kleine Miete, die sie an Xabis Mutter bezahlte, über der Bar. Die Wohnung bestand aus drei Zimmern und einer Dachterrasse, die beinahe größer als die Wohnung war.

Lula stellte in einem unglaublichen Tempo French Toast, Bocadillos, Omelette und Eier mit Speck in die Durchreiche von der Küche zum Lokal. Die Gäste waren es gewohnt, prompt bedient zu werden. Insbesondere die, deren Arbeitstag nach dem Frühstück begann. Auch Pedro und Javier verabschiedeten sich bereits um ihren Jet-Ski- und Surfbrett-Verleih am Strand zu öffnen. Sie bezahlten immer samstags, da Livia ihnen einen Pauschalbetrag für die ganze Woche angeboten hatte. Sie war von den Einheimischen sehr gut aufgenommen und akzeptiert worden, auch ihre Sprachkenntnisse waren nach mehr als zwei Jahren durchaus vorzeigbar. Sie dachte nur noch selten an den Umstand, der sie nach Valencia gebracht hatte und weshalb sie Freund und Familie den Rücken gekehrt hatte.

******

Florian und Livia lernten sich während der Schulzeit kennen. Livia war schon seit sie denken konnte, in ihn verliebt gewesen. Florian war ihr Traummann und auch sonst allseits beliebt, sah gut aus, war witzig und wo er auftauchte, war er im Mittelpunkt des Geschehens. Er dagegen hatte sich immer eher für Margit interessiert, eine Klassenkameradin von Livia. Sie war ebenfalls sehr beliebt und ausgesprochen hübsch. Sie hatte eine tolle Figur, eine meist aufwendig gestylte blonde Lockenpracht und ewig lange Beine. Livia war mehr der brünette und sportliche Typ, band ihre bis auf die Schultern reichenden dunkelbraunen, leicht gewellten Haare meist zusammen wenn es morgens schnell gehen musste und fand sich selbst eher zu üppig gebaut. An ihren kräftigen Oberschenkeln hatte sie von jeher etwas auszusetzen. Keinesfalls würde sie sich mit Margit messen können. Die wiederum hatte Florian stets links liegen lassen. Irgendwann hatte er dann seine Bemühungen eingestellt und im Rahmen der Schulabschlussfeier hatte Livia dann den entscheidenden Schritt getan und ihn mutig um die Begleitung zum Abi-Ball gebeten. Sie dachte, dass es unter Umständen die letzte Gelegenheit war, sich mit ihm zu treffen. Im fortgeschrittenen Teil des Abends tat der Alkohol sein übriges: es hatte dann doch gefunkt und seitdem waren die beiden ein Paar.

Livia begann nach dem Abitur eine Ausbildung bei einem Transportunternehmen und Florian studierte. Zuerst war es ihr Einkommen, das sie beide über Wasser hielt. Später dann, als sie es sich leisten konnten weil er eine gut dotierte Stelle in der Maschinenbau-Branche bekam, zogen sie zusammen. Livia allerdings merkte nach der anfänglichen Euphorie, nach Einzug des Alltags, nicht, dass Florian keine Anstalten zeigte, aus ihrem Zusammenleben mehr zu machen, als eine wohnraumbezogene Partnerschaft. Livia ging es nicht grundsätzlich ums Heiraten und Kinderkriegen, sie dachte aber, dies wäre die logische Fortsetzung ihrer ›Liebe‹. Sie war glücklich in ihrer Beziehung. Sie unternahmen viel zusammen, hatten einen großen Freundeskreis und reisten viel. Sie war der Überzeugung, dass alles immer so bleiben würde. Es fiel ihr aber nicht auf, dass irgendwann die gemeinsamen Unternehmungen immer weniger wurden.

Sie tat alles um Florian den Rücken frei zu halten. Wenn er mehr arbeiten musste, kümmerte sie sich darum, dass es ihm an nichts fehlte und er sich entspannen konnte. Und dann kam eine Zeit, in der der Job Florian noch mehr abverlangte und ihre freie Zeit zusammen deutlich knapper wurde. Als Vertreter eines Unternehmens, das Industrielackieranlagen in viele Länder vertrieb, musste Florian plötzlich mehr reisen, war immer öfter am Wochenende unterwegs oder übernahm auf Messen persönlich den Standdienst.

Er seufzte, als er sich wieder einmal von ihr verabschiedete, um zur Messe nach München aufzubrechen. Was er allerdings nicht wusste war, dass Livia ihn am nächsten Abend zu seinem Geburtstag überraschen wollte. Sie saß also in München in seinem Hotel in der Lobby und behielt den Hoteleingang im Auge. Zu vorgerückter Stunde war sie mehr als verwundert darüber, dass er so spät von der Messe zurückkehrte. Es war bald halb elf Uhr und sie fragte sich, ob sie ihn wohl verpasst hatte. Livia wollte aber nicht zum wiederholten Mal den Nachtportier fragen, ob Florian nicht doch schon auf seinem Zimmer war, als ein Taxi vor der Drehtür anhielt und er ausstieg, nicht mehr ganz nüchtern, wie sie an seine schwankenden Bewegungen erkennen konnte. Florian trank eigentlich nie, er fand betrunkene Menschen widerlich. Als Livia ihn erkannte und aufstehen wollte, setzte ihr Herzschlag aus. Florian zog eine ziemlich große Blondine hinter sich aus dem Auto. Margit! Und sie schienen sehr vertraut miteinander als sie, nichts um sich herum wahrnehmend, einander eng umschlungen zum Aufzug liefen. Wobei Florians Hand nicht auf Margits Hüfte lag, sondern auf ihrem wohlgeformten Hintern. Es war offensichtlich, dass sie nicht in getrennten Zimmern zu verschwinden gedachten. Livia schickte ein Dankgebet zum Himmel, dass der Portier sie wohl vergessen hatte und Florian nicht auf sie aufmerksam machte.

Sie war wie vor den Kopf gestoßen. Nie im Leben hatte sie in Erwägung gezogen, Florian könnte sie betrügen. Gut, ihr Liebesleben zündete kein Feuerwerk und war in letzter Zeit ziemlich auf Eis gelegen. Livia hielt sich selbst auch nicht gerade für eine Sexbombe. Aber sie hatte das Desinteresse seinerseits auf den Stress im Büro zurückgeführt. Sie wusste, dass sie in diesem Leben nicht mehr an die Figur von Frauen wie zum Beispiel Margit mit deren ultralangen Beinen, einer nach wie vor sehr schlanken Silhouette und einer top gestylten Mähne rankam. Aber Florian hatte sich nie beschwert. Und Livia war selbstbewusst genug, mit ihrer etwas kurvigeren Figur zufrieden zu sein. Sie überschminkte auch nicht ihre Sommersprossen und bleichte nicht ständig ihre Zähne. Sie war mit sich im Reinen bis zu diesem Abend.

Im ersten Moment wusste sie auch gar nicht wie sie reagieren sollte. Dann verkroch sie sich in ihrem Sessel und starrte dem Pärchen fassungslos hinterher. Erst überlegte sie sich, ein Zimmer zu nehmen, dann entschied sie sich dagegen. Sie wollte nicht mit den beiden unter einem Dach übernachten und ihnen dann womöglich beim Frühstück über den Weg laufen. Nein. Sie nahm den nächsten Zug zurück nach Hause und überlegte sich die ganze Fahrt über, wie sie Florian zur Rede stellen wollte ohne dass dabei alles in die Brüche ging. Allerdings kam sie dabei zu keinem Ergebnis weil sie im Augenblick gar nicht wusste, ob sie mit Florian zusammen bleiben konnte geschweige denn wollte.

Drei Tage lang übte sie vor dem Spiegel, wie sie ihm gegenübertreten wollte. Erst gelassen, dann wütend, dann enttäuscht. Als er dann am Donnerstag zurückkehrte, seine Schmutzwäsche im Bad einfach auf den Boden warf und sich nach einer Dusche auf die Couch fallen ließ, war ihre Stimmung bereits auf hundertachtzig. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf, legte die Füße hoch und seufzte: »Messen sind einfach mörderisch. Und dann jeden Abend die gleich hohlen Gespräche an der Bar.« Da war es mit ihrer Beherrschung vorbei und all die Szenarien, die sie sich zurecht gelegt hatte, waren Geschichte. »Ist Margit genauso hohl oder bumst sie einfach nur gut?« fuhr sie ihn wütend an. Seine Reaktion war es wert, die Angelegenheit so ordinär anzusprechen. Kreidebleich sah er sie an: »Was meinst du? Wie kommst du auf so was?«

»Nicht von ungefähr! Ich hab euch gesehen. Ich wollte dich am Samstagabend überraschen und wurde selbst sehr überrascht!« Florian hatte sich gleich darauf wieder im Griff und winkte ab: »Wir haben uns auf der Messe getroffen und wollten uns nicht zu den ganzen Idioten an die Bar setzen. Darum sind wir noch auf ein Bier auf ihr Zimmer gegangen. Da war gar nichts!« Livia schnaubte: »Ja. Genau so sah es auch aus!« Damit ließ sie ihn sitzen und ging ins Bad um die Wäsche zu sortieren. Insgeheim hoffte sie, er würde kommen und versuchen, sie von seiner Unschuld zu überzeugen. Als sie aber hörte, wie der Fernseher anging und ein Fußballspiel lief, kamen ihr die Tränen. Sie wusste, er würde nicht kommen. Später machte sie sich fürs Bett fertig und ging auf dem Weg ins Schlafzimmer am Wohnzimmer vorbei. Da lag er auf der Couch, schlief friedlich vor dem Fernseher und machte keinen schuldbewussten Eindruck auf sie. Mit Tränen in den Augen ließ sie ihn im Wohnzimmer zurück und ging ins Bett. Wobei sie nicht genau wusste, was sie mehr verletzte: dass er sie belogen hatte oder dass er die Affäre ungeklärt im Raum stehen ließ. Livia war nicht der Typ von großen Szenen, sondern sie zog sich zurück und war bemüht, sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen.

Die nächste Zeit sprach sie kaum noch ein Wort mit ihm und er unternahm seinerseits auch keine Anstrengungen, das Thema Margit anzusprechen. Livia wusste, er saß die Geschichte jetzt aus und wartete, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Es brachte sie immer wieder auf die Palme, dass man mit ihm nicht streiten konnte, sondern dass er einfach wartete, bis sich ihr Zorn verzogen hatte. Und sie – ebenso wie er – anschließend tat, als wäre nichts gewesen. Diesmal aber war sie nicht bereit einzulenken, hier ging es nicht um Haare im Waschbecken oder Schmutzwäsche auf dem Boden.

In ihrem Büro stellte sie einen Urlaubsantrag für einen einwöchigen Urlaub und als Florian von seiner nächsten Messe zurückkam, war sie bereits verreist ohne ihm vorher Bescheid zu geben. Von diesem Trip zurückgekehrt, behandelte er sie, als käme sie vom Einkaufen und all ihre Vorsätze, vernünftig mit ihm über ihre gemeinsame Zukunft zu sprechen, verpufften. Sie war regelrecht sprachlos darüber, wie gleichgültig sie ihm geworden war. So reifte ihr Entschluss, ihn zu verlassen und zwar leise und heimlich und sie nahm Kontakt zu Xabi auf.

Bis der Papierkram erledigt und eine Erlaubnis für das Betreiben eines Gastronomiebetriebes in Spanien über die Bühne war, entsorgte sie immer wieder klammheimlich persönliche Gegenstände aus der gemeinsamen Wohnung, die sie nicht behalten wollte. Kleidung, die sie als Paket versenden konnte, brachte sie auf den Postweg nach Valencia. Immer wieder schickte sie einen Teil ihrer Garderobe an die Adresse der kleinen Bar und Lula deponierte es für sie in der darüber liegenden Wohnung.

In der Woche vor ihrer Abreise war es für Livia nicht mehr möglich, unauffällig verschwinden zu können. Florian hatte sie mit seinem Benehmen ihr gegenüber dermaßen in Rage gebracht, dass es ihr ein Bedürfnis war, ihm ihr Vorhaben an den Kopf zu schleudern. Der Ausgangspunkt war eine mehr als harmlose Erkältung, die Florian sich zugezogen hatte, sich aber benahm, als läge er im Sterben. Jedes Abhusten zelebrierte er als einen Akt widerlichen Würgens und zog anschließend so die Nase hoch, dass Livia schauderte. In dieser Zeit fragte sie sich mehrmals täglich, was sie je liebens- beziehungsweise begehrenswert an ihm gefunden hatte. Wo hatte sie nur hingeschaut; hatte die Liebe sie nicht nur blind sondern auch blöd gemacht? Jedenfalls reagierte er auf ihr Vorhaben völlig teilnahmslos, er zuckte lediglich mit den Schultern.

Irgendwann saß sie dann endlich an Bord im Flieger nach Valencia und war doch kurzzeitig überrascht von ihrer eigenen Courage. Ihre Mutter hatte bis zuletzt geglaubt, sie würde wegen eines Urlaubsflirts durchdrehen und deshalb Hals über Kopf nach Spanien reisen und wäre sicher bald wieder da. Sie hatte keine Ahnung, dass das letzte was Livia mit ihrer Abreise im Sinn hatte, ein neuer Mann war. Sie hörte Livia nicht einmal richtig zu und wusste demzufolge auch nicht genau, wohin sie reiste. Sie nahm auch nicht wirklich zur Kenntnis, dass ihre Tochter vorerst einmal nicht zurückkehren wollte. Daher verbürgte sie sich dafür, bis auf weiteres Florian den Haushalt zu organisieren und sich um die Wäsche kümmern zu wollen, was Livia sprachlos machte. Sie brach auf zu einem neuen Kapitel in ihrem Leben und ihre Mutter wollte nicht einmal wissen, wo und wie man sie erreichen konnte. Das Interesse ihrer Mutter galt lediglich dem Verräter ihrer Beziehung. Das erschütterte sie zutiefst.

Was sie bei ihrem Blick auf die Wolken und die immer kleiner werdende Landschaft unter ihr traurig stimmte, war die Tatsache, dass sie nicht viel zurückließ: keine wehmütige Familie, keine traurige beste Freundin, keine winkenden Arbeitskollegen. Alles ging seinen gewohnten Gang. Wenn sie also scheitern sollte und sie zurückkommen musste, bliebe ihr nichts anderes übrig, als kleinlaut bei ihren Eltern unterzukriechen. Trübe Aussichten und nicht besonders erstrebenswert, fand Livia.

*******

Mats Manning rief noch einmal seine Mannschaft für die letzte Trainingseinheit zusammen: das Auslaufen am Strand. Er war der neue Trainer der Fußballmannschaft des RCD Valencia. Diese befand sich in der heißen Phase der Vorbereitung für die neue Saison. Manning war zusammen mit einigen neuen Spielern für die kommende Saison verpflichtet worden und war im Rahmen des Trainingsprogramms dabei, sich einen Überblick über den Fitnesszustand der gesamten Mannschaft zu verschaffen. Mit dem ersten Eindruck war er sehr zufrieden auch mit den Ergebnissen, die er von den die Einheiten begleitenden Vereinsärzten erhielt. Der Sportvorstand hatte durch die Verpflichtung von Mats Manning hohe Erwartungen, da er in der Vergangenheit in Deutschland schon einige größere Erfolge vorweisen konnte. Bei im Vorfeld der Vertragsverhandlungen geführten Gesprächen hatte der Verein bereits signalisiert, dass man versucht war, ihm jegliche Unterstützung zukommen zu lassen und die Spieler, die er gerne noch im Kader hätte, zu verpflichten. Insofern waren auf dem Papier bereits die Weichen für eine erfolgreiche Saison geschaffen.

Der Trainer gab mit seiner Pfeife das Signal zum Ende des Strandlaufs. Durch Handzeichen signalisierte er den Spielern, dass sie sich um ihn herum versammeln sollten. Das Team hatte in den vergangenen Wochen hart gearbeitet, das merkte man dem einen oder anderen jungen Spieler schon an. Dafür wollte er sie im Rahmen einer Teamführungs-Maßnahme am nächsten Morgen zum gemeinsamen Frühstück einladen und ihnen dann bis Freitagnachmittag freigeben. Das kam auch ihm ein wenig entgegen, da er noch den einen oder anderen Karton in seiner neuen Wohnung auszupacken hatte.

Mats war 38 Jahre alt und aufgrund einer schweren Verletzung in seiner Fußball-Karriere bereits Sportinvalide. Als Sohn einer Spanierin und eines Deutschen war er in Deutschland geboren und ein erfolgreicher Sportler gewesen. Fußballprofi war nicht sein Beruf, sondern seine Leidenschaft und er hatte eine Weile gebraucht, bis er den Abgang von der Fußball-Bühne verkraften konnte. Eigentlich wollte er nie Trainer werden, machte aber den Trainerschein in einer Phase, in der er keine anderen Pläne für seinen Alltag hatte. Er schloss mit Auszeichnung ab und bekam seinen ersten Trainerjob unmittelbar danach. Nachdem er mit einem ursprünglichen Abstiegskandidaten bis in die zweite Liga durchmarschierte, machte er über die Landesgrenzen hinaus auf sich aufmerksam. Die Vereinsführung des RCD Valencia wollte zu einem sehr jungen Team das Wagnis mit einem ebenfalls sehr jungen Trainer eingehen und stand nun vor einer aufregenden Saison, die in Kürze begann. Mats war bereit.

Livia kam bereits eine gute Stunde bevor sie die Bar öffnete in die Küche. Es gab für die große Reservierung am heutigen Morgen eine Menge vorzubereiten. Gestern Nachmittag deckte sie bereits das Frühstücksgeschirr auf und dekorierte die Tische ein wenig mediterran mit kleinen Windlichtern gefüllt mit Sand und Muscheln. Und obwohl sie damit gerechnet hatte, dass Lula schon in der Küche werkelte, nahm sie überrascht zur Kenntnis wie viel sie schon vorgearbeitet hatte. Jede Menge Platten waren belegt mit spanischem Schinken, Käse und salchicha, den typischen kleinen spanischen Würstchen. Unmengen von Brot, Brötchen und Croissants, kleinen Kuchen und Gebäck, gofres (Waffeln) und vor allem Churros, wärmten im Ofen und Paletten von Eiern standen bereit. Lula hatte Ana mitgebracht, eine Nachbarin, die wie Lula eine begnadete Bäckerin war.