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Dieses eBook: "Harald Harst Krimis" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Inhalt: Zwei Taschentücher Das Geheimnis des Czentowo-Sees Die Rätselbrücke Die Rose von Rondebosch Der Piratenschoner Der Spangenschuh der Lady Broog Das Geheimnis der Kabine 24 Die Steinhütte am Buarbrä Das Rätsel der Trollhätta-Insel Das Gespenst des Skien-Museums Lord Plemborns Verbrechen Die Schreckensnacht im Hotel Dahlen Die Leiche im Gletschertunnel Die herrenlose Motorjacht Sechs leere Briefbogen Das Licht in der Eiche Der Obstkahn am Elisabeth-Ufer Der Wolfshund des Herrn Krabarty Die Motorjacht ohne Namen Die Insel der Seligen Die große Null Der Sultan von Padagoa Der Fakir ohne Arme Das Kranichnest Das Kreuz auf der Stirn Der Spiritistenklub Die drei Päckchen Der rätselhafte Gast Lydia Salnavoors Testament Traudes Hochzeitsabend Amalgis Ahnengalerie Dämon Rache Einer von der Hammonia Die schwarzen Katzen Der neue Graf von Monte Christo Das Eiland der Toten Auf dem See des Schweigens Wie Doktor Amalgi starb Die Millionenerbin Doktor Amalgis Vermächtnis Timitri, das Leichenschiff Robbenfang Fürst Spinatri Das Urwaldrätsel Jakob Maschel, der Hausierer Die unerforschte Stadt Die Geheimnisse der Prinz Albert-Berge Pension Dr. Buckmüller Vier Tote Dr. Haldens Patient Das Ende einer Mainacht Drei Löwen Moderne Verbrecher Dämon Chanawutu Wer?! Salon Geisterberg Die Talmifabrik Das Tor des Todes Ein Glaubensfanatiker Der Stern von Kabinur Die Mühle des Mr. Mac Tuppy Die leuchtende Eule Der alte Gobelin Banditen des Olymp Der weiße Maulwurf Das alte Fräulein Födösy Die weiße Schlange Allan Garps letzte Stunde Der Kongreß der Stummen Die Kaschemme Mutter Binks ... Walther Kabel (1878-1935) gilt als einer der meistgelesenen deutschen Volks-Schriftsteller der 1920er Jahre, der über 15 Jahre jede Woche eine neue Story veröffentlichte.
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Seitenzahl: 3476
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Über 70 Titel: Die Leiche im Gletschertunnel, Wer?!, Moderne Verbrecher, Das Geheimnis der Kabine 24, Dämon Chanawutu, Der Piratenschoner, Das Rätsel der Trollhätta-Insel, Die Insel der Seligen...
Assessor Harst beendete seinen Vortrag, den er seinem Vorgesetzten soeben über die Mordsache Luckner-Birt gehalten hatte, mit den Worten: »Ich glaube, dieses Beweismaterial genügt zur Erhebung der Anklage gegen diesen ebenso raffinierten wie verstockten Menschen, Herr Geheimrat.«
Der Erste Staatsanwalt streckte ihm die Hand hin und sagte herzlich: »Lieber Harst, – es genügt vollauf! Und – es ist wieder einmal Ihr alleiniges Werk, all diese feinen Fäden zu einem Netz vereinigt zu haben, aus dem es für den Täter kein Entrinnen mehr gibt. Ich danke Ihnen. Nur selten findet man unter uns Juristen einen so scharfsinnigen Kopf wie Sie. Ich habe den Herrn Minister bereits auf Sie aufmerksam gemacht, und Ihre Ernennung zum Staatsanwalt dürfte noch vor Ihrer Hochzeit erfolgen, verehrter Kollege. Diese ist doch für nächsten Mittwoch festgesetzt, wenn ich mich recht erinnere. – Auf Wiedersehen! Und – machen Sie für heute Schluß mit der Arbeit! Dieses prachtvolle Maiwetter lädt geradezu ein zu einem Spaziergang – zumal wenn man verlobt ist!«
Noch ein Händedruck, und Harald Harst kehrte in sein Dienstzimmer zurück, wo er das Aktenstück »Luckner-Birt« wegschloß und sich dann zum Ausgehen fertig machte. Er tat dies mit der ihm eigenen Sorgfalt, die er seinem äußeren Menschen stets schenkte. Es war ihm Bedürfnis, sich tadellos zu kleiden und die Gewißheit zu haben, daß jede Kleinigkeit an ihm selbst vor dem kritischsten Blick bestehen konnte. Er besaß dabei einen ausgesprochen vornehmen Geschmack, und nichts an seiner Erscheinung verriet, daß er aus einer sehr einfachen, wenn auch reichen Familie stammte. Seine schlanke, mittelgroße Gestalt und das frische, magere Gesicht mit dem kurz gestutzten blonden Bärtchen ließen ihn weit jünger erscheinen, als er es in Wirklichkeit war. Sein gemessenes Wesen, die Ruhe seiner Bewegungen und seine langsame, überlegte Art zu sprechen, seine unerschütterliche Gelassenheit und der kühle, scheinbar all und jedem gegenüber gleichgültige Blick der grauen, dunkelbewimperten Augen waren das Ergebnis strengster Selbstzucht. Sein Gesicht mit den vorspringenden Backenknochen, der allzu kräftigen Kinnpartie, der hohen, eckigen Stirn und der messerscharfen Hakennase durfte auf Schönheit keinen Anspruch erheben. Aber es war eines von denen, die Eindruck machen, auffallen und dem Menschenkenner sofort überlegene Geistesgaben verraten. – Das war Harald Harst, den seine Kollegen oft den großen Schweiger nannten, da er wenig mitteilsam, ja sogar eine verschlossene, insichgekehrte Natur war.
Als er nun in den warmen Mittagssonnenschein hinaustrat, der den Platz vor dem Kriminalgericht in Berlin-Moabit in blendende Helle tauchte, war es genau 12 Uhr mittags. Um halb eins hatte er sich mit Marga vor dem Kaufhaus des Westens verabredet. Sie wollten dort gemeinsam einige Besorgungen erledigen. Er hatte also noch genügend Zeit, ein Stück zu Fuß durch den Tiergarten zu gehen. Inmitten der frischgrünen Lenzespracht schüttelte er gewaltsam alle Gedanken an dienstliche Angelegenheiten von sich ab, zwang sich, nur mit dem geliebten Wesen sich zu beschäftigen, das nun in kurzem sein Weib werden sollte.
Marga Milden war das einzige Kind des Senatspräsidenten Robert Milden und seiner Frau, einer geborenen Gräfin Blinkfeld. Trotz ihrer erst zwanzig Jahre war sie ein völlig ausgereifter Charakter mit ernsten Lebensanschauungen. Jedenfalls hatten sich, als sie den Assessor Harst vor einem Vierteljahr kennen und sehr bald lieben lernte, nicht gerade die Gegensätze wie so oft angezogen, denn Marga und Harald waren in der Hauptsache verwandte Naturen. Als Brautpaar wußten sie in Gegenwart anderer stets zu verbergen, wie leidenschaftlich sie sich zugetan waren. Nur im trauten Alleinsein enthüllten sie ohne Scheu ihre heißen Herzen und schwärmten in schlecht verhehlter Sehnsucht von der köstlichen Zukunft, wo sie sich dann restlos angehören durften. –
Auf der Tauentzienstraße vor dem riesigen Sandsteinbau des Kaufhauses des Westens wogte wie immer um die Mittagstunde ein doppelter Menschenstrom auf der Lasterseite auf und ab. Harst schlenderte vor den großen Schaufenstern hin und her und machte seine Studien an den Menschen, die gleich ihm die Auslagen bewunderten. Er verstand sich darauf, aus winzigen Kleinigkeiten treffsichere Schlüsse zu ziehen, und es war eine fast krankhafte Angewohnheit von ihm, selbst im Straßentreiben der Millionenstadt auf alles zu achten, was ihn vielleicht auf die Spur irgend einer entweder schon vollendeten oder erst geplanten Gesetzesübertretung führen konnte. Daher wurde er auch Taschendieben besonders gefährlich. Er durfte sich rühmen, bereits mehr als ein Dutzend dieser Gauner hinter Schloß und Riegel gebracht zu haben.
Jetzt stutzte er plötzlich. War das nicht der Komiker-Maxe, Max Schraut, der doch letztens wieder wegen Handtaschen-Abkneifens ein Jahr Gefängnis bekommen hatte? – Ohne Zweifel: dieser frühere Schauspieler, der schnell zum Taschendieb auf der schiefen Bahn des Lasters herabgesunken war, mußte aus der Strafanstalt entwichen sein! Er trug jetzt eine gar nicht schlechte Verkleidung, spielte den alten, ehrwürdigen Herrn. Für Harsts Augen hatte der falsche Bart aber doch eine zu stumpfe Farbe.
Harst trat hinter den Komiker-Maxe, der es auf eine junge Dame abgesehen zu haben schien, und flüsterte ihm zu: »Gehen Sie langsam voraus in die Nebenstraße, Max Schraut. Aber – keine Dummheiten –!«
Der Taschendieb gehorchte. Er mußte große Geistesgegenwart besitzen. Er war nicht einmal zusammengezuckt bei dem unerwarteten, verhängnisvollen Befehl.
Nun aber begann er den Assessor flehentlich zu bitten, ihn laufen zu lassen. »Ja, ich bin ausgebrochen. Nur deshalb, weil meine alleinstehende Mutter todkrank ist – nur deshalb! Jetzt ist sie gestorben – gestern abend. Ich möchte ihr doch wenigstens das letzte Geleit geben. Dann – mein Wort darauf! – stelle ich mich freiwillig.«
»Und soeben wollten Sie wieder Ihren alten Trick versuchen, Schraut. Sie hatte die kleine Beißzange ja schon in der Hand.«
Der Dieb stöhnte auf. »Die – die Beerdigungskosten,« flüsterte er, und ein paar Tränen rannen ihm in den falschen Bart.
Harst schaute ihn prüfend an, gab ihm dann einen Hundertmarkschein und sagte: »Nach der Beerdigung melden Sie sich bei mir. Ich wohne Schmargendorf, Blücherstraße 10.«
Dann schritt er davon. –
Es wurde eins. Marga erschien nicht. Und sie war doch die Pünktlichkeit selbst. Um halb zwei läutete Harst bei Mildens in der Bismarckstraße in Charlottenburg vom nächsten Zigarrengeschäft an. Seine Schwiegermutter gab ihm den Bescheid, Marga wäre bereits um zehn Uhr von Hause weggegangen.
Er war ein geduldiger und ebenso verliebter Bräutigam. Er hatte sich so sehr auf das Wiedersehen gefreut, zumal er Marga gestern nachmittag daheim nicht angetroffen und abends hatte arbeiten müssen. Noch bis zwei Uhr wollte er warten. Dann mußte er nach Hause. Seine Mutter hatte ihm heute eins seiner Leibgerichte gekocht. – Er schlenderte wieder vor dem Warenpalast auf und ab, ohne viel Hoffnung, daß die Ersehnte jetzt noch erscheinen würde. Sie hatte sicherlich eine ganz dringende Abhaltung. Anders ließ sich diese verpaßte Verabredung nicht erklären.
Um zwei Uhr rief er dann Mildens abermals an. Marga war noch nicht zurückgekehrt. Niemand wußte, ob sie etwas Besonderes vorgehabt hätte.
Leicht beunruhigt machte Harst sich auf den Heimweg. Die Straßenbahn war ziemlich leer. Er stand bequem auf der hinteren Plattform und grübelte über die Gründe nach, die dieses Stelldichein für Marga vereitelt haben könnten. Je länger er alle Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten prüfte, desto besorgter wurde er. Seine Braut, sagte er sich nun mit Recht, hätte ihn niemals vergeblich warten lassen, wenn sie nicht durch Umstände ferngehalten worden wäre, die ihre freie Entschlußfähigkeit ausgeschaltet hätten. – Nur ein Unfall konnte hier vorliegen.
Ihm wurde ganz heiß bei diesem Gedanken. Dann wieder suchte er seine Angst zu zerstreuen, tröstete sich mit der Annahme, es läge vielleicht ein sehr harmloser Grund vor. Doch nur Minuten währte diese Selbsttäuschung. Wieder kroch ihm die ungewisse Furcht zum Herzen, in dem nur für weniges Raum war: für Marga, für seine Mutter und für seinen Beruf.
Von seiner Haltestelle der Straßenbahn hatte er noch einen kurzen Weg bis nach Hause. Frau Auguste Harst wohnte noch in demselben alten Gebäude, wo sie an der Seite des Tischlermeisters und späteren Holzhändlers Emil Harst 25 Jahre zufrieden und glücklich gelebt hatte und nun nach dessen plötzlichem Tode ganz in Liebe und Fürsorge für ihr einziges Kind aufging.
Das Haus lag weit von der Straße zurück inmitten eines Gartens mit uralten Linden, der sich nach hinten zu bis an ein Laubengelände ausdehnte. Harald Harst bewohnte im Erdgeschoß die drei Zimmer rechts von dem großen, durchgehenden Flur. Die Räume links standen leer. Er eilte jetzt die breite, gewundene Treppe empor, fand seine Mutter in der Küche am Herde, küßte sie zärtlich und nickte auch der alten Malwine, die bei Harsts nun schon einige zwanzig Jahre diente, einen freundlichen Gruß zu. Dann begann er der kleinen, rundlichen Mutter, der das schwarze Häubchen stets schief auf dem falschen Zopf thronte, sofort von dem vereitelten Stelldichein zu berichten. Frau Auguste tätschelte ihm die Backen. »Harald – man soll nicht gleich das Schlimmste sich ausmalen,« meinte sie. Und doch fühlte auch sie eine gelinde Angst um die Schwiegertochter, die sie aufrichtig liebte, obwohl ihr Junge seit seiner Verlobung ihr nur noch halb gehörte.
Harst lief jetzt in seine Wohnung hinab. Er, der jede hastige Bewegung vermied, war wie ausgewechselt. Seine drei Zimmer, mit erlesenem Geschmack eingerichtet, verrieten sofort, daß sein Vater ein Millionenvermögen hinterlassen hatte. Jedes Stück der Ausstattung besaß hohen Kunstwert.
Im seinem Arbeitszimmer nahm Harst den Hörer von dem auf dem Schreibtisch stehenden Fernsprecher und ließ sich mit Mildens verbinden. Es war jetzt halb drei. Der Senatspräsident kam selbst an den Apparat. – »Lieber Harald, wir fangen an, uns zu ängstigen,« sagte er ehrlich.
Harst erwiderte, er würde das Polizeipräsidium Berlin anrufen und bitten, bei den Unfallstationen und in den Krankenhäusern Nachfrage zu halten. Das ginge so am schnellsten. Er wäre auf dem Präsidium gut bekannt, und man täte ihm gern diesen Gefallen.
Nachdem dies erledigt war, ging er wieder zu seiner Mutter nach oben. Das Mittagessen war schon aufgetragen. Er berührte es kaum, und es herrschte ein bedrücktes Schweigen während der Mahlzeit. Frau Auguste wußte nur zu gut, daß ihr Junge sich jetzt nicht mehr durch Redensarten würde beruhigen lassen.
Nach Tisch wollte Harst sich zerstreuen, schritt im Gemüsegarten auf und ab und säuberte ein paar Rosenstöcke von Blattläusen. In dem Gärtnerhäuschen am hinteren hohen Holzzaun wohnte seit Jahren die kränkliche Witwe eines früheren Kutschers der Firma Emil Harst mit ihrem jetzt fünfzehnjährigen Jungen. Karl Malke hatte mit Harstschem Gelde das Gymnasium bis Quarta besucht. Doch er kam nicht vorwärts. Das Stillsitzen und Lernen haßte er. Jetzt pflegte er seine Mutter, besorgte allein den kleinen Haushalt und spielte bei Harsts Faktotum für alles. Der langaufgeschossene Junge mit dem altklugen Gesicht war ausgesprochen praktisch veranlagt und ein heller, findiger Kopf. Harst verehrte er, obwohl dieser den bei aller guten Charakterveranlagung recht abenteuerlustigen und unstäten Knaben häufig streng ins Gebet nahm, weil dieser noch immer für einen bestimmten Beruf sich nicht entschieden hatte, während ihm doch dank der Freigebigkeit Frau Augustes jede Laufbahn offen gestanden hätte.
Zwischen Harst und Karl Malke herrschte im übrigen ein vertraulicher Ton. Der Junge, der soeben das Unkraut aus den Frühbeeten entfernte, hatte Harst eine Weile beobachtet und sagte nun zögernd: »Herr Assessor, Ihnen muß irgend was passiert sein. Sie sind so unruhig.«
Harst trat neben den Jungen und sog den süßlichen Duft der aus dem Frühbeet noch nicht versetzten Heliotroppflanzen ein. – Heliotrop! Margas Lieblingsparfüm! – Und schon krampfte sich sein Herz in jäher Angst zusammen.
Dann antwortete er dem Jungen, erzählte ihm von seinen plötzlichen Sorgen. – Karl hatte eigentlich für Marga nicht viel übrig, da sie es gewesen, die seiner Mutter letztens dringend geraten hatte, eine Verwandte zu sich zu nehmen, damit der Junge irgendwo in die Lehre gegeben werden könnte. Und es hatte Karl viel Tränen gekostet und all seiner Überredungskünste bedurft, ehe die Mutter ihm zugesagt hatte, noch bis zum Herbst ihm diese goldene Freiheit zu belassen.
Jetzt aber fand er doch aufrichtig gemeinte Worte, die seine Teilnahme für seines verehrten Gönners Besorgnis um die Braut verrieten.
Dann eine Stimme vom Wohnhause her, die der alten Malwine:
»Herr Harald – Herr Harald!«
Harst zuckte zusammen. Ein Etwas in diesem Ruf ließ ihn Schlimmes befürchten, irgend eine Nachricht über Margas Verbleib.
Malwines bleiches, verstörtes Gesicht sagte ihm genug. Er stürmte in sein Arbeitszimmer. Dort saß die Mutter im Schreibtischsessel mit tränenumflorten Augen.
»Mein – mein armer Junge!« brachte sie nur mühsam hervor.
In ihrem Schoß lag der Telephonhörer mit der grünen Seidenschnur. Harst nahm ihn auf, meldete sich.
Sein Studienbekannter und Klubgenosse Kriminalkommissar von Perbram meldete sich.
Harst erblaßte. Ganz schonend teilte ihm Perbram das Furchtbare mit. Marga war vor einer halben Stunde in einer Laube des Laubengeländes an der Bahnstrecke Halensee-Heerstraße mit einer Stichwunde im Herzen tot, ermordet offenbar, aufgefunden worden.
Harst jagte in einem Auto an den Tatort. Eine Reihe von Lauben mit sorgfältig gepflegten Gärtchen zog sich hier an der Bahn entlang. Nur die letzte Laube dicht am Rande des Grunewalds unweit des Bahnhofs Heerstraße war von dem Besitzer aufgegeben worden, sah verwahrlost aus und hatte nicht einmal mehr eine Tür. Es war nichts als eine Bretterbude mit dem nach hinten abfallendem Pappdach und einem großen Fenster.
Die Mordkommission war vor kaum zehn Minuten eingetroffen und hatte auch einen Polizeihund mitgebracht, der aber völlig versagte. Die Herren machten dem ihnen wohlbekannten Assessor bereitwilligst Platz. Höfliche, teilnehmende und herzliche Händedrücke nahm Harst mit völlig versteinertem Gesicht schweigend hin. Der Photograph hatte seinen Apparat gerade über der mitten in der Hütte liegenden Leiche aufgestellt. Als Harst die tote Marga erblickte, hörte er das leise Knacken des Objektivverschlusses. Das Geräusch empfand er wie einen körperlichen Schmerz. Es machte ihm klar, daß seine Braut jetzt nicht mehr sein eigen war. Sie gehörte der Kriminalpolizei; sie war – ein neuer Kriminalfall geworden.
Er schaute der geliebten Toten in das von einem Ausdruck furchtbaren Entsetzens entstellte Gesicht. Er schloß schnell die Augen. Er merkte, wie alles um ihn herum sich zu drehen begann. Doch seine Willenskraft siegte. Dann sprach er mit dem Vorsitzenden der Mordkommission ganz sachlich über dieses in jeder Einzelheit rätselhafte Verbrechen.
Nichts war in der Laube gefunden worden, das irgendwie auf den Täter hingedeutet hätte, nicht einmal die Waffe, die wahrscheinlich ein langes Dolchmesser gewesen. Der Polizeihund hatte nur dreißig Schritt nach dem nahen Vorort Halensee zu eine Fährte aufgenommen. – Was hatte Marga Milden hierher geführt? – Das war eine der Hauptfragen. – Man konnte sie nur an diesen vormittags ganz einsamen Platz gelockt haben. Aber – wodurch? – Und dann das Motiv zu diesem Mord an einem jungen Weibe, die durch ihre gesellschaftliche Stellung und ihre Lebensgewohnheiten nie Gelegenheit gehabt hatte, sich die Rachsucht irgend eines Menschen zuzuziehen und deren ganzer Charakter ebenso sehr dagegen sprach, daß sie etwa sich auf irgend welche verhängnisvollen Abenteuer eingelassen haben könnte.
Gewiß – die Leiche war vollständig ausgeplündert worden. Ringe, Brosche, das goldene Handtäschchen mit Inhalt, – alles fehlte. Dennoch erklärte der Kriminalkommissar Stolten, der Spezialist für Kapitalverbrechen war, daß er an einen Raubmord nicht recht glaube. »Der Schmuck ist nur zur Verdunkelung der Tat mitgenommen worden, Herr Assessor,« sagte er kurz. Er war für seine rücksichtslose Art bekannt. »Da ein Mord aus Rache wohl ausscheiden muß, bleibt nur verschmähte Liebe als Motiv übrig. An diesen Punkt müssen wir uns halten. Helfen Sie mir. Kennen Sie jemand, den Fräulein Milden als Freier abgewiesen hat?«
Harst verneinte. »Meine Braut hat vor mir keinen Bewerber gehabt. Sie war eine so zurückhaltende Natur, daß sie in Herrenkreisen wenig Anklang fand.«
Nachher fuhr Harst zu seinen Schwiegereltern. Diese waren durch den Verlust des einzigen Kindes gänzlich gebrochen. Die Präsidentin hatte man zu Bett bringen müssen. Gleich nach Harst traf Kommissar Stolten ein. – »Ich bitte mir zu gestatten, das Zimmer der jungen Dame zu durchsuchen,« sagte er zu dem tief gebeugten Vater.
Harst half ihm und dem Kriminalwachtmeister Salewski, einem der besten Beamten der Berliner Polizei, bei dieser Arbeit. In Margas behaglichem Zimmer packte ihn abermals für Sekunden ein namenloser Jammer, dem er zu erliegen drohte. Stolten sah den halb irren Blick seiner umflorten Augen, sagte leise: »Denken Sie an die Vergeltung, Herr Assessor! Das lenkt die Gedanken wohltätig ab!«
Das war das rechte Wort zur rechten Zeit. – Vergeltung! Marga sollte gerächt werden! – So war er denn jetzt der eifrigste bei dieser peinlich genauen Durchsuchung, der nichts entging, bei der jede Kleinigkeit sorgfältig geprüft wurde, besonders alles, was an Briefen und Schriftstücken vorhanden. Doch – auch diese zweistündige Arbeit war umsonst. Dann fragte Stolten den Präsidenten und die beiden Hausangestellten, die bejahrte Köchin Marie und das Stubenmädchen Helene, beide seit Jahren bei Mildens im Dienst und goldtreu, danach aus, ob Marga vielleicht in letzter Zeit oder gar heute früh von einer ihr fernstehenden Person oder in sonstwie auffälliger Art an den Fernsprecher gerufen worden wäre. Er betonte bei dieser zwanglosen Besprechung, der er alle Förmlichkeit nahm, um die beiden Mädchen nicht einzuschüchtern, daß hier jede, auch die unscheinbarste Beobachtung von großem Wert sein könnte.
Abermals nichts! Das Dunkel, in das dieser Mord gehüllt war, wurde nur noch undurchdringlicher. – Der Präsident Stolten und Harst vereinbarten nun, daß eine Belohnung von 20 000 Mark für die Ermittlung des Täters oder für sachdienliche Angaben ausgesetzt werden sollte.
Erst gegen sieben Uhr abends war Harst wieder daheim. Seine Mutter nahm die Hände ihres großen Jungen in die ihren und ließ sich erzählen, was er inzwischen getan hatte. Sie war eine einfache Frau geblieben, trotz des Millionenvermögens, war auch eine kluge Frau, soweit es auf Lebenserfahrungen und praktischen Blick ankam. Sie hätte es gern erreicht, daß ihres Sohnes ungeheurer Schmerz sich in Tränen Luft gemacht hätte. Diese Starrheit an ihm, diese unnatürliche Ruhe, mit der er von den Bemühungen der Polizei sprach, erschreckten sie.
Harst fand keine Tränen. Jetzt nicht mehr, denn erst allmählich war er sich über die ganze Größe seines Verlustes klar geworden. Marga war die restlose Ergänzung seines eigenen Ichs gewesen. Mit ihr war jedes Interesse am Leben, an der Zukunft in ihm gestorben. –
Die Tage gingen hin. Marga Milden war längst beerdigt; der Mörder aber noch immer unentdeckt. So ungeheures Aufsehen dieses Verbrechen auch zunächst in der Reichshauptstadt erregt hatte, – nur zu bald drängte es der stetig neue Sensationen erzeugende Pulsschlag der Millionenstadt immer mehr in den Hintergrund. Trotzdem blieb der Eifer der Polizei und verschiedener Privatdetektive, die freiwillig der hohen Belohnung wegen sich der Sache angenommen hatten, noch eine Weile der gleiche. Doch: jedes Streben muß früher oder später erlahmen, wenn es auch nicht von dem geringsten Erfolg gekrönt wird. Und so war es hier. Nirgends der kleinste Hinweis auf den Täter, nirgends die Möglichkeit, ein Motiv für diese Ermordung eines jungen, harmlosen Weibes zu finden!
Harald Harsts Gemütszustand änderte sich nicht. Er hatte sich sofort auf längere Zeit von seiner Behörde beurlauben lassen, wollte später seinen Abschied einreichen und auf Reisen gehen. Die abwechselnden Eindrücke fremder Länder und Völker sollten ihm helfen, sein seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Frau Auguste hatte ihm dies geraten. Sie verzehrte sich in Sorge um den Sohn, der in stumpfem Brüten die Tage verbrachte und sich ganz von der Außenwelt abschloß. Sie hatte mit Kommissar Stolten hierüber gesprochen. Und dieser hatte ihr erklärt, er hätte gehofft, daß bei dem Herrn Assessor die Anregung, die er ihm gleich am Tage des Mordes durch den Hinweis auf die Vergeltung gegeben, etwas länger wirken und ihn veranlassen würde, selbst sich mit Ermittlungen zur Aufklärung des Verbrechens zu beschäftigen und auf diese Weise wohltuend seine schmerzlichen Gedanken abzulenken. »Freilich,« hatte er hinzugefügt, »wo soll man in diesem Falle mit Ermittlungen beginnen?! Man muß doch wenigstens einen Ausgangspunkt dafür haben. Hier gibt es keinen.« – Frau Harst nickte traurig. »Das hat mir mein Sohn auch gesagt, Herr Kommissar. – Mutter, hat er zu mir gesagt, wenn ich irgendwo auch nur den Schimmer einer Spur sehen würde, die zu dem Mörder hinführen könnte, dann sollte die Welt es erleben, daß der Wunsch nach Vergeltung den Täter in meine Gewalt bringt! Doch – selbst dieser Schimmer einer Spur fehlt! Ich kann doch nicht zwecklos durch die Straßen laufen und auf einen blinden Zufall hoffen, der mich den Anfang einer Fährte entdecken läßt! – Solche Zufälle sind doch zu selten.« –
Frau Auguste drängte den Sohn immer wieder, abzureisen und zunächst nach Italien zu gehen. Inzwischen waren ja seit Margas Tod zwei Wochen verstrichen, ohne daß in Harald Harsts Seelenzustand auch nur die geringste Änderung eingetreten wäre. Vor- und nachmittags wanderte er auf den Kirchhof an das Grab der Geliebten. Nachmittags verbrachte er zumeist noch eine Stunde in ihrem Zimmer, in dem auf seinen Wunsch nicht das geringste geändert worden war. Dort saß er dann in dem Korbsessel am Fenster und grübelte regungslos vor sich hin. – So auch jetzt. Draußen lachte die Sonne. Aber in Harsts Seele war tiefste Nacht eines Schmerzes, den er nie verwinden würde. Er erhob sich schwerfällig, wollte noch für eine halbe Stunde mit seinen Schwiegereltern zusammensein, die seine Gegenwart als Trost empfanden. Beim Aufstehen schob er das nur aufgelegte Sitzkissen des Korbsessels nach vorn. Es fiel herab, und gleichzeitig auch ein zusammengeknülltes Taschentuch, das Harst schon früher bemerkt hatte. Es war halb unter das Kissen von der Seite geklemmt gewesen. Er hatte es bisher nicht beachtet. Jetzt hob er es mit auf. Unwillkürlich führte er es an die Nase. Es mußte ja eines von Margas Tüchern sein, und er wollte den feinen Heliotropduft einatmen, der allen ihren Sachen ganz unaufdringlich anhaftete.
Plötzlich weiteten sich seine Augen. Sein Kopf fuhr hoch, und mit einem Ausdruck ungläubigen Staunens breitete er das Tüchlein nun aus, sah es sich genauer an, stutzte wieder und schaute sinnend über die gegenüberliegenden Dächer hinweg in das endlose Blau des sonnendurchstrahlten Himmels.
Sein Gesicht veränderte sich langsam. Ein belebter Ausdruck strich die feinen Falten hinweg, die die letzte Zeit um seinen Mund eingegraben hatte. Er verließ das Zimmer, schloß die Tür wie stets hinter sich ab, steckte den Schlüssel zu sich und ging in die Küche, wo das Stubenmädchen am Fenster silberne Löffel putzte. Er fragte Helene, ob Marga dieses Taschentuch gehöre oder ob es vielleicht Eigentum seiner Schwiegermutter sei. Das Mädchen verneinte. »So billiges Zeug besitze ich nicht mal, Herr Assessor,« erklärte sie. »Es ist son Ding, nur fürs Ansehen berechnet. Und noch der häßliche rosa und hellblau gestreifte Rand!« Sie nahm es und faltete es auseinander.
»Oh – das ist ja auch Patschuli-Parfüm! Wie zuwider war dieser Geruch dem gnädigen Fräulein! Ich weiß das nur –« Sie stockte plötzlich und wurde rot und verlegen.
Harst wurde jetzt mit einem Schlage ein anderer, wurde wieder der, dessen scharfer Geist den Aufbau einer Anklageschrift zu einem übersichtlichen, mit den feinsten logischen Schlußfolgerungen ausgestatteten Kunstwerk gestaltet hatte. Das Taschentuch hatte ihn wach gerüttelt. Und des Mädchens verlegenes Rotwerden sagte ihm weiter, daß er hier vielleicht auf etwas gestoßen war, das mit Margas unerklärlicher Ermordung irgendwie im Zusammenhang stand, wenn auch in einem ganz lockeren.
Er blieb äußerlich jedoch ganz ruhig. Er durfte Helene nicht merken lassen, daß er diesem Tüchlein eine besondere Bedeutung beimaß. Sie war ein scheues, ängstliches Ding, und schon bei jenem zwanglosen Verhör durch Stolten hatte sie deutlich gezeigt, daß jeder Polizeibeamte für sie wie für viele Leute trotz des besten Gewissens ein Schrecknis war. – Er glaubte bereits ziemlich bestimmt, daß sie über die Herkunft dieses Tüchleins irgend etwas wüßte, war aber auch ebenso überzeugt, daß sie aus irgend welchen Gründen ihn belügen würde, wenn er sie gerade heraus danach fragte. – »Das Tuch lag im Musikzimmer auf der Tastatur des Flügels unter dem Deckel,« meinte er gleichgültig. »Sie haben ganz recht, Helene, – es ist billigste Schundware. – Habt ihr vielleicht in letzter Zeit eine Reinemachefrau im Hause gehabt. Der mag es dann gehören.«
Bei der Erwähnung des Flügels hatte das Mädchen ihn so überrascht angesehen, wie dies nur jemand getan hätte, der genau Bescheid wußte, daß das Taschentuch gerade dort nicht vergessen sein konnte. – Harst war jedenfalls mit dem Erfolg dieses ersten Versuchs, Helene in die Enge zu treiben, ganz zufrieden. Als das Mädchen nun erklärte, Mildens nähmen nie Reinemachefrauen an, meinte er: »Wer mag es dann hier in der Wohnung nur zurückgelassen haben? Kennen Sie vielleicht die betreffende Person?« – Sehr hastig verneinte Helene diese Frage, so hastig und so scheu zur Seite blickend, daß Harst ihr jetzt am liebsten zugerufen hätte: »Sie lügen ja!« – Er hütete sich, es zu tun, sagte vielmehr: »Schließlich ist das ja auch gleichgültig.« Dann fragte er noch nach dem Ergehen von Helenes Bräutigam, der unlängst in seiner pommerschen Heimat als Zimmerpolier an einem rostigen Nagel sich eine Blutvergiftung zugezogen hatte. Dabei steckte er das Tuch ganz unauffällig zu sich.
Nachher nahm er ein Auto und fuhr nach dem Laboratorium des Gerichtschemiker Doktor Heiker. Dieser arbeitete noch an einer Blutuntersuchung. Harst kannte ihn seit längerem persönlich. Auf Heikers Schweigen konnte er sich verlassen. Er teilte ihm das Nötige mit, zeigte ihm das Tüchlein und erklärte weiter:
»Ich fand es in einer Weise zerknüllt vor, daß ich vermute, es muß feucht – vielleicht von reichlich vergossenen Tränen – unter das Sitzkissen geschoben worden sein. Bitte, untersuchen Sie es, Herr Doktor. Tränen enthalten ja wohl außer salzigen noch andere kennzeichnende Bestandteile.«
Dann begab er sich heim. Vor der Gitterpforte des Vorgartens ging ein ärmlich gekleideter, älterer Mann mit dünnem, leicht ergrautem Vollbart auf und ab. Harsts Gedanken waren noch bei Helene Burg und dem Tüchlein. Sonst hätte er den Mann wohl schärfer gemustert. Er war schon an ihm vorüber, als eine leise Stimme ihn anrief: »Herr Assessor – einen Augenblick.«
Harst drehte sich um. Ein prüfendes Anschaun, dann: »Ah – also doch! Ich glaubte schon, Sie würden sich nicht mehr sehen lassen, Max Schraut. – Sind Sie krank gewesen? Ihr Gesicht ist inzwischen ja der reine Totenkopf geworden.«
»Sehr krank, Herr Assessor. Ich bin erst heute früh aus dem Krankenhaus entlassen worden, wo ich mit falschen Papieren wegen Lungenentzündung Aufnahme gefunden hatte. Ich habe deshalb auch der Beerdigung meiner Mutter nicht beiwohnen können. – Aber auch Sie sehen schlecht aus, Herr Assessor, – ganz verändert, ganz grau im Gesicht.«
Harst überlegte kurz. Dann forderte er den Taschendieb auf, mit in seine Wohnung zu kommen. Hier sagte er zu ihm: »Ich müßte Sie nun eigentlich der Polizeibehörde übergeben. Für die Gefängnisluft sind Sie jedoch noch zu elend. Sie sollten sich erst bei mir erholen, wo niemand Sie verraten wird. Ich stelle aber eine Bedingung. Meine Braut ist ermordet worden. Sie scheinen von diesem Verbrechen im Krankenhaus nichts gehört zu haben. Ich beabsichtigte, da der Täter bisher nicht entdeckt ist, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Sie und noch jemand, ein Knabe, sollen mir dabei helfen. – Wollen Sie’s tun?«
Komiker-Maxe begann vor Rührung zu weinen. »Ob ich will! Natürlich! – Herr Assessor, Sie sollen an mir einen treuen Gehilfen haben. Ich bin noch nicht so tief gesunken, um einem Manne wie Ihnen gegenüber undankbar zu sein.«
Max Schraut bezog eins der unbenutzten Erdgeschoßzimmer. Bereits nach einer Stunde fand dort zwischen ihm, Harst und Karl Malke eine längere Besprechung statt. Und noch an demselben Abend übernahm eine Berufspflegerin, die Harst bezahlte, die Wartung der kränklichen Witwe des früheren Kutschers.
Frau Auguste Harst konnte an diesem Abend sich gar nicht genug über die plötzliche Veränderung wundern, die mit ihrem geliebten großen Jungen vor sich gegangen war. Dann erfuhr sie nach dem Abendessen den Grund. Harald erzählte ihr alles, was der heutige Nachmittag ihm gebracht hatte und was er nun weiter plante.
Sie drückte seine Hände. »Recht so, mein Junge, recht so! Nun wirst du wieder aufleben – Gott sei Dank!«
Ja – Harst lebte sehr schnell wieder auf. Am folgenden Vormittag erschien er bei Mildens. Sein Benehmen freilich ließ nicht erkennen, daß er mit fieberhaftem Eifer eine schwache Fährte weiterzuverfolgen sich bemühte. Er schien abermals nur in Margas Zimmer eine Weile seinen schmerzlichen Gedanken nachhängen zu wollen. Er schloß sich ein und begann dann sofort nochmals den zweifenstrigen Raum zu durchsuchen. Damals hatte Kommissar Stolten ja auch jenes buntgeränderte Tüchlein in der Hand gehabt und es als wertlos wieder unter das Sitzkissen an dieselbe Stelle geschoben. Hatte er das Taschentuch auf diese Weise unbeachtet gelassen, konnte ein gleiches leicht auch mit anderen Dingen geschehen sein.
Harst suchte geduldig und mit jener kühlen, klaren Überlegung, die ihm vor Margas Verlust stets zu eigen gewesen. Den kleinen, modernen Damenschreibtisch nahm er zuletzt vor. In der Schublade unter der Platte lagen seine Briefe, die er an Marga geschrieben, obwohl sie sich fast täglich gesehen hatten. Daneben stand eine elegante Stahlkassette, in der der Schlüssel noch von der ersten Durchsuchung steckte. Darin befand sich unter anderem Margas Sparkassenbuch. Harst besichtigte es. Auch Stolten hatte dies getan und es wieder weggelegt. Harst prüfte die Abhebungen jetzt wie alles hier mit kritischem Geist. Dann steckte er das Buch zu sich. Sonst aber fand auch er nichts weiter, das ihm beachtenswert erschienen wäre. Er ging nun zu seiner Schwiegermutter hinüber, brachte das Gespräch unauffällig auf Margas bescheidene Geldbedürfnisse und fragte, ob sie in letzter Zeit wohl größere Ausgaben gehabt hätte. Die Präsidentin verneinte. »Im Gegenteil – eigentlich war sie seit ihrer Verlobung noch sparsamer. Sie wollte, wie sie sagte, doch wenigstens ein paar Pfennige Mitgift Dir mit einbringen, lieber Harald, da wir ja nur die Aussteuer geben konnten.«
Harst verabschiedete sich bald und ging nach der Nebenstelle der Städtischen Sparkasse, nahm den betreffenden Beamten beiseite und fragte, ob diesem Fräulein Marga Milden vielleicht von Ansehen bekannt sei. Der Beamte nickte eifrig. »Sehr gut sogar. Die junge Dame brachte häufig kleinere Beträge. Wir alle hier von der Nebenstelle haben ihren Tod aufrichtig bedauert. Noch am Tage vor ihrer Ermordung hat sie fünfhundert Mark abgehoben.«
»Ja – und zehn Tage vorher vierhundert Mark. – Ich bin ihr Verlobter, Assessor Harst. –Ich danke Ihnen für die Auskunft.«
Harst fuhr weiter zum Polizeipräsidium. Stolten war nicht anwesend, aber Wachtmeister Salewski konnte ihm den Bescheid geben, daß bisher von den Marga geraubten Schmuckstücken nichts bei Händlern oder Hehlern aufgetaucht wäre. Als sie noch miteinander sprachen, trat Stolten ein. Er kam von einem »neuen Fall«. An der Jannowitzbrücke hatte man eine weibliche Leiche aufgefischt, die schon längere Zeit im Wasser gelegen haben mußte und deren Schädeldecke durch Hammerschläge zertrümmert worden war, während das Gesicht – fraglos von dem Mörder – durch Messerschnitte vollständig unkenntlich gemacht worden war. – »Abermals eine ziemlich aussichtslose Sache,« meinte Stolten mißgestimmt. »Nichts ist an der Leiche vorhanden, das eine Rekognoszierung erleichtert. Aus der Wäsche sind sogar die Monogramme herausgeschnitten worden.« Er faßte in die Brusttasche und holte ein in Zeitungspapier gehülltes flaches Päckchen heraus und warf es auf den Tisch. »Nur ein Taschentuch fand ich bei der Toten, die noch jung gewesen sein muß und deren Kleidung billigster Tand ist.«
Harst griff nach dem Päckchen mit einem »Sie gestatten doch«, wickelte das noch feuchte Tüchlein aus und sagte dann, nachdem er es berochen hatte: »Wie lange gerade Patschuli selbst im Wasser seine Duftkraft bewahrt!«
»Stimmt!« meinte Stolten. »Auch die Seidenbluse der Ermordeten hat den Geruch noch festgehalten.«
Harst hatte alle Mühe, seine Erregung zu verbergen.
»Die Tote bleibt doch noch einige Zeit im Schauhause?« fragte er nun. »Ich möchte sie mir ansehen. Seit dem Morde an meiner Braut interessieren mich alle Kapitalverbrechen.« Dann verließ er das Präsidium.
Stolten sagte kopfschüttelnd zu Salewski: »Merkwürdig! Bisher habe ich nichts davon bemerkt, daß Harst für Morde größeres Interesse hat. Nun – mag er! Für den armen Menschen wär’s ganz gut, wenn er sich bemühte, sein Unglück zu vergessen.« –
Harald Harst begab sich zu Doktor Heiker. Dieser begrüßte ihn sofort mit den Worten: »Ihre Vermutung trifft zu. Das Taschentuch muß von Tränen ganz durchweicht gewesen sein. Außerdem befindet sich darauf am Rande ein Fleck von roter Fettschminke.«
Harst dankte, zahlte vierzig Mark und kehrte, das von ihm leicht angefeuchtete Tüchlein in der äußeren Jackentasche, nach dem Präsidium zurück. Stolten war noch mit dem Bericht über den neuesten Fall beschäftigt. Das bei der Wasserleiche gefunden Tuch lag neben ihm auf dem Schreibtisch. Harst fragte, ob Stolten es für zweckdienlich hielte, nochmals eine große Anzeige unter Hervorhebung der Belohnung von 20 000 Mark in die Zeitungen einzurücken. Der Kommissar meinte, schaden könnte es nichts, obwohl er die Hoffnung schon beinahe aufgegeben hätte, daß der Mord an Marga Milden jemals aufgeklärt werden würde. Harst nahm das Tüchlein vom Tisch und besichtigte es, hielt es auch gegen das Licht und sagte so nebenbei:
»Die Ermordete scheint Schminke benutzt zu haben. Ich sehe hier einen rötlichen Schimmer in der einen Ecke.«
»Ganz recht, Herr Assessor. Es wird Schminke sein. Die Tote war ja auch wie eine Theaterprinzessin fünften Ranges gekleidet – alles Schein und Schund!«
Harst entschuldigte sich, abermals gestört zu haben, und fuhr mit der Ringbahn bis Schmargendorf. Er hätte »sein« Tüchlein, das dem andern ja völlig glich, leicht gegen dieses bei Stolten vertauschen können. Er hatte es auch beabsichtigt, um das andere bei Doktor Heiker gleichfalls auf Spuren von Fettschminke untersuchen zu lassen, aber es war dann nicht mehr nötig gewesen. Er hatte ja selbst die rötliche Stelle in der einen Ecke bemerkt.
Seit Wochen spielte jetzt wieder einmal ein leises Lächeln um Harald Harsts Lippen. Es war ein Lächeln voller Zufriedenheit mit dem, was er bisher erreicht hatte.
In dem alten Hause in der Blücherstraße empfing ihn die Mutter mit der Mitteilung, der Schauspieler hätte bereits zweimal vor kurzem Harald am Telephon verlangt. »Du sollst diese Nummer hier anrufen. Ich habe sie mir aufgeschrieben, mein Junge,« fügte sie hinzu.
Harst hatte den Komiker-Maxe, den er seiner Mutter als harmlose Zufallsbekanntschaft vorgestellt hatte, denn vor einem Taschendieb und Ausbrecher hätte selbst das mitleidige Herz Frau Augustens wohl gestreikt, sehr bald am Apparat.
»Sie ist mit Koffer, Karton, Hutschachtel und zwei Schirmen um elf Uhr von M’s direkt nach dem Stettiner Bahnhof mit der Straßenbahn gefahren,« meldete Schraut. »Dann hat sie eine Fahrkarte nach Pasewalk gelöst und sitzt nun im Wartesaal, da ihr Zug erst zwei Uhr dreißig abgeht.«
Harst hätte diese Nachricht nie vermutet. Also Helene Burg machte sich aus dem Staube! – Er hatte sie durch Schraut und den Jungen abwechselnd bewachen lassen, um dahinter zu kommen, mit wem sie verkehrte. Und nun reiste sie ganz plötzlich ab, nachdem er gerade kurz vorher Margas Zimmer durchsucht hatte! Ob er dabei etwa von ihr durch das Schlüsselloch beobachtet worden war? Möglich war’s schon! Er hätte das Schlüsselloch verhängen sollen. Nun – diese plötzliche Fahrt nach ihrer Heimatstadt, wo ja auch ihr Verlobter wohnte, war vielsagend genug.
Harst erteilte Schraut nun den Bescheid, er würde ihm seinen eigenen kleinen Koffer und eine größere Geldsumme durch Karl nach dem Stettiner Bahnhof schicken. »Bleiben Sie ihr also auf den Fersen, Schraut! Und sobald Sie etwas Wichtiges festgestellt haben, sofortige Nachricht durch Ferngespräch. – Auf Wiedersehen – guten Erfolg!«
Dann rief er die Präsidentin an. – »Liebe Mama, eure Helene wollte mir die Adresse einer guten Handschuhwäscherin geben –« – – »Schade, lieber Harald. Sie ist vor anderthalb Stunden auf eine Depesche hin, daß es ihrem Verlobten schlechter ginge, nach Pasewalk Hals über Kopf abgereist. Ich habe den Eindruck, daß sie nicht mehr zu uns zurück will, und werde mich daher leider nach Ersatz umsehen müssen.« – »Hat sie Dir die Depesche gezeigt?« – »Nein. – Und – merkwürdig! – Vorhin vertraute mir Marie an, daß sie dieses Telegramm für lediglich erfunden hielte. Du scheinst ja auch diesen Verdacht zu hegen.« – »Vielleicht, Mama. – Wiedersehen.«
Frau Auguste Harst hatte all dies mitangehört und meinte nun ganz verwirrt:
»Junge, hältst du etwa das Stubenmädchen für – für die Mörderin?«
»Aber Mutter! – Ausgeschlossen! Ich sage Dir schon zur rechten Zeit, wer mir mein Lebensglück vernichtet hat und – wen ich vernichten werde!«
Frau Harst eilte nach oben in die Küche an den geliebten Kochherd. Harald ging langsam in seine Bibliothek hinüber. Hier hing an der Wand ein Haustelephon, das nach dem Gärtnerhäuschen führte. Er bestellte den Jungen zu sich. – Karl Malke sah heute wie ein junger Geck aus. Harst schenkte ihm stets seine meist noch tadellosen Sachen, die ein gefälliger Onkel Schneidermeister dem langen, dünnen Burschen dann umarbeitete.
Der Junge war natürlich Feuer und Flamme für sein »neuestes Metier«, wie er sich vornehm ausdrückte. Er durfte Detektiv spielen, – kein Wunder, daß ihm dies zusagte! – Zehn Minuten später verließ er eiligst das Haus, fuhr stolz im Auto nach dem Stettiner Bahnhof und traf hier mit Komiker-Maxe zusammen, der noch seine Verkleidung als älterer, einfacher Mann trug.
»Ich beneide Sie, Herr Schraut,« meinte der Junge ehrlich. »Ich möchte für mein Leben gern an Ihrer Stelle nach Pasewalk fahren. Es wird dort mächtig interessant werden. Wissen Sie, ich denk’ mir, der Herr Assessor hat den Bräutigam im Verdacht –«
»Abwarten, Karl – Unser Auftraggeber wird im übrigen wohl auch hier noch für Dich lohnende Arbeit finden.«
Karl verabschiedete sich. »Unsre Pflegerin bäckt heute zu Mittag Kartoffelpuffer. Da muß ich zur Zeit zurück sein. Kalt sind die Dinger wie Leder. – Na – alles Gute, Herr Schraut!«
Er schritt dem Ausgang der Vorhalle zu. Dann kam ihm der Gedanke, sich doch noch schnell mal von ferne die im Wartesaal sitzende Helene Burg anzusehen. Er machte kehrt. Oben in der Halle vor den Bahnsteigen blieb er jedoch plötzlich stehen und trat dann hinter den Zeitungskiosk. Er hatte Schraut bemerkt, der im Gespräch mit einem sehr großen, hageren, elegant gekleideten Herrn vor der Tür des Waschraumes stand. Harst hatte ihm nun im Vertrauen mitgeteilt, daß der ehemalige Schauspieler von der Polizei gesucht würde und daß daher niemand etwas von dessen Anwesenheit im Hause erfahren dürfte. Karl hegte aus demselben Grunde ein gelindes Mißtrauen gegen Komiker-Maxe, der doch wohl verschiedenes auf dem Kerbholz haben mußte. Als er ihn nun in so eifriger Unterhaltung mit dem langen Hageren sah, regte sich in ihm sofort der Wunsch, hier mal auch ohne Auftrag handelnd aufzutreten. Er wartete also, bis die beiden sich mit einem Händedruck trennten, und schlich dem Hageren dann nach. Dieser schlenderte der Friedrichstraße zu und stellte sich hier vor ein von Passanten dicht belagertes Schaufenster, in dem als Reklame für ein Spielwarengeschäft mechanische Puppen allerhand Künste zeigten. Der aufgeweckte Junge ließ kein Auge von dem Zylinder-Onkel, wie er ihn bereits getauft hatte, da der Lange eine glänzende Angströhre, dazu auch noch Monokel trug. Karl betrachtete ihn nun sehr genau aus nächster Nähe. Der Hagere hatte ein gelbliches, schmales Gesicht, aufgedrehten schwarzen Schnurrbart und sehr starke schwarze Augenbrauen. Er sah ganz wie ein Italiener aus – nach des Jungen Ansicht.
Dann beobachtete er etwas, das er noch nie in seinem Leben mitangesehen hatte. Nur gelesen hatte er darüber in Zeitungen und Büchern. Doch nun konnte er sich selbst davon überzeugen, daß es wirklich solche Leute mit so unheimlicher Fingerfertigkeit gab.
Sein Ehrgeiz aber wurde noch reger. Er mußte unbedingt herausbekommen, wo dieser lange Zylinder-Onkel wohnte, denn er wollte Harst keine halben Neuigkeiten überbringen. Mochten die Kartoffelpuffer auch kalt werden! –
Harst wunderte sich, daß Karl noch immer nicht zurück war. Die Uhr ging nun bereits auf vier. Er saß jetzt an dem im Bibliothekszimmer stehenden Stutzflügel und spielte Wagner – den Fliegenden Holländer –, wenn auch nur mit leisem Anschlag. Er liebte die Musik, und er besaß ein Gehör, das ihm gestattete, alles auswendig zu spielen. Seit Margas Ermordung berührte er heute die Tasten wieder zum ersten Mal. Vordem hatte er stets am Flügel phantasiert, wenn er eine besonders schwere berufliche Arbeit vorhatte. Niemals flogen ihm bessere, klarere Gedanken zu, als wenn seine Ohren von einer Flut von Tönen umrauscht wurden. Es war, als ob die Töne Brücken bauten von einer Schlußfolgerung zur anderen.
Er spielte – und sein Denken umspielte die bisherigen Erfolge seiner Nachforschungen.
Plötzlich stand er auf. – Er mußte herausbringen, wer die unkenntlich gemachte Tote war, – diese herausgeputzte Frau, die ein Taschentuch bei sich getragen, das dem auf dem Korbsessel in allem glich: Stoff, bunter Rand, Patschuligeruch und rote Fettschminke-Flecken! – Er mußte es herausbringen, koste es, was es wolle. Geld – davon besaß er ja übergenug.
Es klopfte an der Tür nach dem Flur. – Endlich – es war Karl Malke. Harst sah ihm sofort an, daß er besondere Nachrichten mitbrächte.
»Setz’ dich! Leg los! Du bist vollgepfropft mit Neuigkeiten,« meinte er freundlich.
»Merken Sie mir das denn an, Herr Assessor? – Ne – hab’n Sie ’n Blick! – Es stimmt nämlich!« Und er erzählte, daß der Hagere vor dem Schaufenster einer Dame aus der Handtasche die Börse herausgefischt und daß jener darauf bei Kempinski zu Mittag gegessen hätte. »Ein Glück, daß ich so ne anständige Kluft habe. Sonst hätten sie mich bei Kempinski nich reingelassen. Ich habe dort auch gegessen. Von den zwanzig Mark zu Auslagen, die Sie mir gaben, ist nun nicht mehr viel übrig, denn nachher ging der Lange noch ins Tauentzien-Cafee, dann schließlich nach Hause. Er wohnt Kantstraße 5, drei Treppen in einem Pensionat. Ich hab’ aus dem Sohn vom Hauswart dort auch den Namen rausgelockt? Violinenkünstler Arpad Tzigan. – Ein netter Violinenkünstler! Taschendieb ist er – nischt weiter!«
»Du hättest Dir diese Mühe sparen können, Junge,« meinte Harst. »Trotzdem, wenn du wieder mal zu solchen Feststellungen Gelegenheit hast, spiele nur abermals den heimlichen Verfolger, – zur Übung! – Den Rest von den zwanzig Mark behalte. Hier hast Du weitere Fünfzig für notwendige Auslagen.«
Karl schob etwas enttäuscht ab. Er hatte gehofft, Harst würde den Hageren von ihm beobachten lassen. Er bedauerte, jetzt wieder »ohne Arbeit« zu sein. Das Abenteuer heute hatte ihm so viel Spaß gemacht, wenn ihn auch die Kellner so merkwürdig lächelnd bei Kempinski und im Tauentzien betrachtet hatten.
Harst saß wieder am Flügel. Er spielte jetzt Beethoven. Dabei überlegte er, ob er sich mit diesem Arpad Tzigan, der ihm nach des Jungen Beschreibung ein völlig Fremder war, näher beschäftigen solle. Dann sagte er sich, daß es in keinem Falle etwas schaden könnte, wenn er sich diesen »Künstler« selbst einmal ansehen würde, zumal er sich ohnedies für verpflichtet hielt, bei der Kriminalpolizei den Taschendieb anzuzeigen. Da er annehmen konnte, daß der Gauner den gegen Abend wieder lebhafter werdenden Straßenverkehr für sein nur in dichten Menschenmassen auszuübendes Gewerbe ausnutzen würde, schrieb er zunächst an Stolten einen Rohrpostbrief und erklärte darin, aus eigener Tasche eine Belohnung von 5000 Mark dem zuzusichern, der über die verstümmelte Tote nähere Angaben liefern könnte. – Dann fuhr er nach der Kantstraße, kaufte sich dort bei einem Optiker zur Vorsicht eine Sonnenbrille mit grauen Gläsern, um sich für alle Fälle wenigstens etwas unkenntlich zu machen. Es war dies sein erster Versuch auf dem Gebiete der Verkleidungskunst. Es blieb nicht der letzte. Später, als er auch hierin Besseres als der beste Schauspieler leistete, belächelte Harst noch oft diese harmlose graue Brille.
Kantstraße 5 schräg gegenüber lag eine Buchhandlung. Dort vor dem Schaufenster längere Zeit die Bücherschätze sich anzusehen, konnte kaum auffallen. Harsts Geduld wurde auf eine schlimme Probe gestellt. Erst kurz vor sieben Uhr abends verließ ein Herr, auf den Karls Beschreibung in jeder Einzelheit paßte, das Haus. Im Menschenstrom der Tauentzienstraße, in dem der Hagere nun verschwand, gelang es Harst sehr bald, ihn sich genauer und aus der Nähe anzusehen. Sein Personengedächtnis und seine Fähigkeit, selbst anders zurechtgestutzte Gesichter schnell zu erkennen, bewährte sich auch jetzt wieder.
Arpad Tzigan, dachte Harst, du warst früher blond, hattest einen Spitzbart und starke blonde Augenbrauen. Aber ein Taschendieb warst Du auch als Paul Menkwitz, nebenbei auch noch Einbrecher, doch stets ein sehr eleganter. Fraglos hast du auf dem Stettiner Bahnhof Deinen Zunftgenossen Komiker-Maxe wiedererkannt und angesprochen, denn umgekehrt wär’s kaum geschehen. Ich glaube nicht, daß Schraut sich über die Begegnung mit Dir gefreut hat, – genau so wenig, wie Du bei meinem Anblick in Entzücken geraten würdest.
So dachte Harst und hielt sich nun in größerer Entfernung hinter dem »Künstler«. Vielleicht gelang es ihm, Paul Menkwitz alias Monokel-Paul bei einer neuen Fingerfertigkeit zu ertappen. Ein weitergehendes Interesse hatte er nicht an dessen Person. Aber er hatte zur Zeit nichts Besseres vor, und nur deshalb gab er diese Beobachtung des eleganten Spitzbuben noch nicht auf. Sehr bald sprach ihn dann jedoch ein Bekannter an, der gleich ihm Mitglied des Universum-Klubs war, einer Vereinigung, die neben der Pflege der Geselligkeit auch wissenschaftliche Vorträge auf allen Gebieten eine verfeinerte geistige Kost bot. Harst sah gerade noch, daß Monokel-Paul den Laden des Juweliers Birnbacher betrat.
»Lieber Harst, haben Sie kranke Augen?« meinte der Kommerzienrat Kammler und drückte ihm herzlich die Hand. »Ich hätte Sie beinahe nicht wiedererkannt. Die Brille entstellt Sie sehr.«
»Nur eine ganz leichte Bindehautentzündung.«
Sie schritten zusammen weiter.
»Harst, Sie sollten sich mal wieder im Klub sehen lassen,« sagte der noch recht stattliche Großkaufmann und schob seinen Arm vertraulich in den des Assessors. »Gewiß, Sie haben Trauer. Aber die Vortragsabende versäumen Sie nicht. Heute abend spricht unser Kriminalist von Perbram – er ist ja wohl ein Schulfreund von Ihnen – über »Moderne Verbrecherjagd«. Das muß Sie als Assessor bei der Staatsanwaltschaft doch auch interessieren.«
Harst erklärte, er würde sich den Vortrag vielleicht anhören. – Dann kam der Kommerzienrat auf Margas Tod zu sprechen. »Wenn die Polizei doch nur Erfolg hätte und den Mörder erwischte,« meinte er.
»Ich habe wenig Hoffnung. Vielleicht gelingt es einem Privat- oder einem Liebhaberdetektiv, der sich ausschließlich mit dem einen Fall beschäftigt.«
»Lassen Sie mich mit der ganzen Detektivspielerei in Ruhe!« meinte Kammler geringschätzig. »Die Erfolge solcher Leute möchte ich mal sehen! Ich bitte Sie: wo die mit tausend Hilfsmitteln arbeitende Polizei nichts erreicht, kann doch ein Privatmann erst recht nichts ausrichten! Ich ließe gern eine runde Million springen, wenn mir jemand so ’n Wundertier mal zeigt, das zum Beispiel imstande wäre, Ihre arme Braut zu rächen. Jede Wette gehe ich ein: nur die Polizei fängt den Täter, falls er überhaupt zu fangen ist!«
»Wette – hm?! Vielleicht würde sich’s lohnen,« sagte Harst sinnend.
Gleich darauf trennten sie sich. Kammler hatte es wie immer sehr eilig. Er war Junggeselle, schwerreich und alles in allem ein Original.
Juwelier Birnbacher wollte gerade den Laden schließen, als Harst noch Einlaß begehrte. Einen so guten Kunden wie den Assessor durfte man nicht abweisen. Birnbacher verriegelte hinter ihm die Tür und zog die Vorhänge zu.
»Herr Birnbacher,« begann Harst, »Sie könnten mir einen Gefallen tun. Soeben muß ein Herr hier bei Ihnen gewesen sein – groß, hager, Zylinder, Monokel, Perle in der Krawatte.« – Der Juwelier nickte. – »Würden Sie mir vielleicht sagen, was dieser Herr gewollt hat?« fragte Harst weiter. »Ich nehme an, er wird Ihnen etwas zum Kauf angeboten haben.«
Birnbacher nickte wieder. »Halb und halb trifft’s zu, Herr Assessor. Er wollte etwas repariert haben. Als ich ihm dann jedoch erklärte, die Reparatur lohne kaum mehr, da sie sehr teuer werden würde, wurden wir schnell über den Verkauf hadelseinig.«
»Und – was für ein Gegenstand war’s?«
Der Juwelier zog eine Schublade unter dem Verkaufstisch und legte das Betreffende auf eins der sammetbespannten Brettchen.
Harald Harst griff danach. Birnbacher sah, daß der Assessor für einen Augenblick die Farbe wechselte. Dann sagte Harst schon: »Was verlangen Sie dafür?«
Als der Assessor nun den Laden wieder verließ, hatte der Juwelier zweihundert Mark verdient. Daß Harst von ihm strengstes Stillschweigen über dieses gute Geschäft verlangt hatte, bewies ihm, daß mit dem langen Hageren irgend etwas nicht ganz in Ordnung war.
Harst stieg in der Tauentzienstraße in eine leere Taxameter-Droschke. Er hätte auch ein Auto bekommen können. Aber die langsamere Gangart der Droschke war ihm jetzt angenehmer. Sein Inneres war in einem Aufruhr wie nie zuvor. Niemals hätte er geglaubt, daß man gerade als Detektiv bei der Verfolgung einer zunächst recht unsicheren Fährte Minuten eines so alle anderen Empfindungen verdrängenden Triumphs durchkosten könnte.
Er zwang sich zur Ruhe. – Marga, Du wirst gerächt werden, dachte er. Noch schweben all diese Fäden, die ich gefunden habe, frei in der Luft. Aber ich halte sie bereits an dem einen Ende, und vielleicht kann ich sie sehr bald zu einem festen Gespinst vereinen, in dem dann eine mordgierige Wespe sich zu Tode zappeln wird. –
Die Wagenfahrt tat ihm wohl. Seine Gedanken eilten jetzt voraus zu seinen Schwiegereltern. Es würde nicht ganz einfach sein, von diesen unauffällig die Auskünfte zu erlangen, die er haben mußte. Er wollte Mildens noch nicht in seine Absichten einweihen, obwohl er kaum mehr mit einem Fehlschlag rechnete.
Er fand dann nur die Präsidentin vor. Doch das war ihm lieb. Er begann vom Wetter zu sprechen, erzählte dann, er hätte soeben einen Bekannten getroffen, der leider im Leben gestrauchelt sei. – »Es ist doch recht schmerzlich, wenn man sieht, wie ein Mensch, der einmal zu den schönsten Hoffnungen berechtigte, immer tiefer von Stufe zu Stufe sinkt,« meinte er und redete all das zu einem bestimmten Zweck. »Ich kann solchen Leuten gegenüber nie hart sein, wenn sie mich anbetteln. Ein anderer hätte diese fragwürdige Bekanntschaft verleugnet und wäre weitergegangen. Ich bringe so etwas nicht fertig. Ich glaube, Marga glich mir auch in dieser Art von Mitgefühl, liebe Mama.«
Er wartete gespannt auf die Wirkung dieses letzten Satzes. – Da, – die Präsidentin neigte ein wenig den Kopf, seufzte leise und meinte: »Marga ging in dieser Beziehung sogar etwas zu weit, lieber Harald. Wenn Du als Mann mit einer solchen fragwürdigen Erscheinung zusammengesehen wirst, macht das nicht viel aus. Aber ein junges Mädchen, das aus guter Familie stammt, hat mehr Rücksichten zu nehmen.«
»Das klingt ja fast, als hätte Marga Euch gelegentlich durch ihr allzu weiches Herz kompromittiert, Mama –«
»So ist es auch gewesen, Harald. Eine Pensionsfreundin von ihr ist später auf Abwege geraten – durch Genußsucht, Leichtsinn, Arbeitsscheu. Marga hatte gerade dieses Mädchen fast schwärmerisch während des Pensionsjahres in Gotha geliebt. Jene Claire Ruckser war Waise. Ihr Vermögen hat sie auf Reisen mit einem Abenteurer durchgebracht. Dann tauchte sie hier in Berlin auf, drängte sich an Marga heran, bettelte sie an. Marga ist einmal mit dieser auffällig gekleideten Person auf der Straße von Exzellenz von Winterstein gesehen worden. Oh – das gab dann eine böse Szene hier. Mein Mann war empört.«
»Das liegt wohl längere Zeit zurück, liebe Mama?«
»Nur drei Wochen, Harald.«
Harst erinnerte sich jetzt, daß Marga ihm einst in ihrem Photographiealbum das Bild einer ihrer Pensionsschwestern gezeigt und dabei geäußert hatte: »Ein armes, unglückliches Geschöpf!« – Er hatte damals jedoch weiter kein Interesse für jenes Bild und jenes Mädchen gehabt.
Er lenkte jetzt das Gespräch auf andere Dinge. Nachher ging er in Margas Zimmer hinüber und suchte sich aus den vielen Bildern des Albums dasjenige heraus, auf dem auf der Rückseite stand: »In ewiger, innigster Liebe – Deine Claire. Gotha, Weihnachten 19…« – Er steckte es zu sich und fuhr nach Hause.
Frau Auguste wunderte sich, daß er beim Abendbrot so schweigsam war.
»Hast du eine Enttäuschung bei Deinen Nachforschungen erlebt, mein Junge?« fragte sie nach einer Weile.
Da glitt ein kurzes Aufleuchten über sein Gesicht. »Im Gegenteil, Mutter, – im Gegenteil! – Frage jetzt aber nicht nach Einzelheiten. – Ich bin nur nachdenklich, weil ich mich scheue, jene Lokale zu besuchen, in denen die Berliner Lebewelt dritter und vierter Güte sich trifft. Und doch werde ich’s tun müssen. Es geht nicht anders. Auch Karl wird wieder helfen müssen. Für mich allein ist die Arbeit zu umfangreich.«
Sofort regte sich in dem treuen Mutterherzen die Angst um das Leben ihres Einzigen. »Harald, Harald,« warnte sie ernst, »laß Dich nur um Himmels willen nicht auf gefährliche Abenteuer ein! Ich weiß ja nicht, was Du eigentlich vorhast, aber – sei vorsichtig, ich bitte Dich!«
Harst streichelte ihre Hand. »Keine Sorge! Das, was mich in jene Lokale führt, ist ganz gefahrlos.«
Nach dem Abendessen bestellte er den Jungen zu sich und hatte eine lange Unterredung mit ihm, bei der er ihm das Bild Claire Rucksers zeigte und ihn auf die etwas starke Stupsnase, die großen Augen und die auffallend kurze Oberlippe aufmerksam machte.
Karl war begeistert. »Herr Assessor, Sie sollen sehen: Ich bring’s heraus! Ich bin doch helle!«
»Vermeide jedoch jedes unnötige Aufsehen, Junge. Und vergiß nicht: sobald Du den langen Hageren irgendwo bemerkst, sei besonders vorsichtig.« –
In den Ballsälen des Nordens in der Chausseestraße wurde gerade ein moderner Wackeltanz von der Hauskapelle gespielt, als Karl den strahlend hell erleuchteten Saal betrat. Oben zwischen dem Kristallkronleuchter schwamm der Tabakrauch in dichten Wolken. Die Luft war erfüllt von Bier- und Weindünsten und einem Gemisch aller möglichen Wohlgerüche. Einige sechzig Paare schoben sich bald nach dem Takte der Musik über das gewachste Parkett hin.
Der Junge in seinem vielfach geflickten Anzug mit dem umgehängten Korb voller Rosen sah ganz wie einer jener Blumenverkäufer aus, die unter dem Deckmantel eines armseligen Gewerbes doch nur Bettelei betreiben und gerade an diesen Stätten der Genußsucht und falscher Eleganz die besten Geschäfte machen. Nirgend fliegt das Geld ja leichter von Hand zu Hand als gerade hier.
Karl schlich mit demütigem Gesicht von Tisch zu Tisch, bot seine Rosen an und wußte die geschminkte Weiblichkeit durch starke Schmeicheleien stets für sich einzunehmen. An jedem Tisch fand er mindestens eine Gönnerin, an die er sich dann stets leise mit derselben Frage wandte: »Kennen Sie vielleicht die Claire Ruckser? – Ein feiner Kavalier will sie gleich im Cafee Steuer sprechen.« – Dieses Verslein hatte er nun schon unzählige Male hergeleiert, und immer hatte dann die Gönnerin den anderen am Tisch Sitzenden zugerufen: »Wer von euch kennt eine Claire Ruckser?« – Bereits das fünfte Nachtlokal klapperte Karl nun schon auf diese Weise ab. Bisher ohne Erfolg. Harst hatte die heute Nacht zu besuchenden Tanzstätten und größeren Bars zwischen sich und dem Jungen verteilt und je einen Treffpunkt für 12 Uhr nachts und für 2 Uhr morgens mit ihm vereinbart.
Er selbst hatte sich gegen zehn Uhr abends zunächst in ein Konzertcafee der oberen Friedrichstraße begeben. Hier forschte er sehr geschickt die Kellner aus, denen ja die Stammgäste in dieser Art von Lokalen zumeist mit Namen bekannt sind. Das Geld tat auch hier Wunder. Die Kellner erkundigten sich an verschiedenen Tischen, so daß Harst es nicht nötig hatte, selbst diese unangenehme Aufgabe zu übernehmen. – Zwei Cafees hatte er nun umsonst besucht. Das dritte, unweit der Ballsäle des Nordens gelegene, betrat er etwa um halb zwölf. Abermals spendete er den Kellnern je ein Zehnmarkstück und wartete nun, bei Eislimonade in einer Ecke allein sitzend, den Erfolg ab. Der Treppenaufgang zu den Billardsälen lag gerade vor ihm. Mit wachsamen Augen verfolgte er das Leben und Treiben in dem nur mäßig gefüllten, großen Raume. Auf der Treppe vor ihm erschien jetzt ein Kellner, dessen Gesicht ihm schon vorhin aufgefallen war. Er hatte diesen blassen, schielenden Menschen fraglos bereits irgendwo und –wann im Gerichtssaal gesehen. Als Angeklagten kaum, denn dann hätte er ihn sofort wiedererkannt. Also wohl als Zeugen. Der Schielende schlenderte der Drehtür des Ausganges zu. Harsts kritische Blicke stellten in den Bewegungen dieses krankhaft bleichen Menschen etwas gemacht Nachlässiges und Harmloses fest. Er hatte den Eindruck, als wollte der Kellner so recht zum Ausdruck bringen, daß er ganz von ungefähr und ganz ohne bestimmte Absicht der Tür zuschritt, hinter deren Radwindfang er nun verschwand. Harst stand auf, trat an das nahe Fenster und spähte an der Seite durch einen Vorhangspalt hindurch, sah den Schieläugigen mit fliegenden Frackschößen über die Straße laufen und war kaum zwei Minuten später hinter dem Manne drein, der seiner Überzeugung nach irgend etwas Besonderes im Schilde führte. Er besann sich jetzt auch, daß jener, als er ihm genau wie den anderen Kellnern zehn Mark heimlich zugesteckt und ihn gefragt hatte, ob ihm eine Claire Ruckser bekannt wäre, leicht zusammengefahren war, dann aber sofort gemurmelt hatte: »Das verdammte Nervenzucken!« Und er hatte auch wirklich noch verschiedentlich ein paar ruckartige Bewegungen mit dem Kopf gemacht. – Daß dieses Nervenzucken nur eine schlaue Bemäntelung des ersten leisen Zusammenschreckens gewesen, bezweifelte Harst jetzt nicht weiter. Der Mensch kannte Claire Ruckser, das war gewiß.
Harst erkundigte sich bei zwei Streichholzverkäufern nach dem Verbleib des Kellners. Ein Mensch im Frack und ohne Kopfbedeckung, der es so eilig hatte, mußte auffallen, zumal der Fußgängerverkehr hier nur gering war. Er hatte jedoch kein Glück. Der Schielende blieb verschwunden. Harst überlegte, stellte sich dann dem Cafee gegenüber auf die Schattenseite in eine tiefe Haustür. Nach etwa drei Minuten tauchte der bleiche Kellner wieder auf und mäßigte sein Galopptempo erst dicht vor der Drehtür des Lokals, das er dann sehr gemächlich wieder betrat. Der Assessor blieb noch zehn Minuten in seinem Versteck. Es war ja nicht ausgeschlossen, daß der Blasse nochmals das Cafee verließ. –
Die Ballsäle des Nordens lagen nur um die Ecke. Soeben hatte Karl wieder an eine »Gönnerin« die bekannte Frage gerichtet. Und nun – endlich ein Erfolg! – »Ach – die Film-Claire meinst du wohl, Junge?« – »Sie soll große Augen und ne Stupsnase haben,« meinte Karl eifrig. – »Stimmt – det is se. Du, sag’ man dem Kavalier, daß die Film-Claire schon lange nach München abjerutscht is. Sie hat ’n Engagement dort jekriegt.« – Karl war enttäuscht. Aber er war auch schlau genug, diese Quelle weiter anzuzapfen. – »Wissen Sie’s auch janz bestimmt?« fragte er nun. Da deutete die »Gönnerin« nach der einen Saaltür hin, sagte achselzuckend: »Der da mit’s Monokel könnt’ Dir wohl ihre Adresse anjeben. ’t is ihr Freund.«
Karl duckte sich plötzlich hinter ihrem Riesenhut zusammen. Das da drüben war der Zylinder-Onkel, der Violinenkünstler! Und jetzt kam auf den langen Hageren sehr eilig ein bleicher Kellner zu. Sie flüsterten miteinander, schritten der Haupttreppe zu. Karl blieb dicht hinter ihnen. Die Treppe hatte eine scharfe Biegung. Und der Junge fing nun ein einzelnes Wort auf, einen Namen, dem eine Verwünschung folgte.
»Harst! Der Teufel hole den Hund!« –
Harald Harst sah in seinem Versteck nach der Uhr. Gleich zwölf. Und um zwölf wollte er sich mit Karl auf der Weidendammer Brücke treffen. Er schaute sich nach einem Auto um, ging dann zu Fuß der Friedrichstraße zu. Plötzlich hinter ihm eine Stimme: »Sie, Herr, – einen Augenblick –« – Es war der bleiche Kellner in Hut und Mantel. Er war ganz atemlos, hastete nun hervor: »Gut, daß ich Sie noch gefunden habe. Sie wollten doch was über die Claire Ruckser wissen. Ich war inzwischen in den Borussia-Sälen. Dort hab’ ich mich erkundigt. Die Film-Claire soll jetzt Kellnerin in der Goldenen Traube in der Gartenstraße sein. Wenn Sie zehn Emmchen spendieren, Herr, hole ich sie Ihnen heraus für ’n Momang.«