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Ein Familienkrieg. Eine junge Frau zwischen den Fronten. Kollateralschaden oder das perfekte Mittel zum Zweck?
Shane Brandon ist hin- und hergerissen zwischen seiner korrupten Familie und dem wilden, alles dominierenden Verlangen nach Emily Stevens - einer Frau, die offensichtlich nicht die ist, die sie vorgibt zu sein. Hat Shane etwa der Falschen vertraut? Wird am Ende gar Emily das Familienimperium zerstören und nicht sein hasserfüllter Bruder?
Shane ist entschlossen, auch noch das letzte intime Geheimnis von Emily aufzudecken, einen heißen Kuss nach dem anderen. Wer sie ist, was sie will, woher sie kommt. Doch während Shane die Rätsel um die Frau in seinem Bett löst, bedroht das Martina-Kartell das Familienerbe und sein Unternehmen - und sie kennen seine größte Schwachstelle: Emily.
»Hard Rules - Dein Begehren« ist der zweite Band der mitreißenden, verführerischen und spannenden »Dirty Money«-Serie der New-York-Times-Bestsellerautorin Lisa Renee Jones. Der dritte Teil »Dein Versprechen« folgt in Kürze!
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Seitenzahl: 469
Cover
Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Brief an die Leser
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
Kapitel Acht
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Kapitel Elf
Kapitel Zwölf
Kapitel Dreizehn
Kapitel Vierzehn
Kapitel Fünfzehn
Kapitel Sechzehn
Kapitel Siebzehn
Kapitel Achtzehn
Kapitel Neunzehn
Shane Brandon ist hin- und hergerissen zwischen seiner korrupten Familie und dem wilden, alles dominierenden Verlangen nach Emily Stevens – einer Frau, die offensichtlich nicht die ist, die sie vorgibt zu sein. Hat Shane etwa der Falschen vertraut? Wird am Ende gar Emily das Familienimperium zerstören und nicht sein hasserfüllter Bruder?
Shane ist entschlossen, auch noch das letzte intime Geheimnis von Emily aufzudecken, einen heißen Kuss nach dem anderen. Wer sie ist, was sie will, woher sie kommt. Doch während Shane die Rätsel um die Frau in seinem Bett löst, bedroht das Martina-Kartell das Familienerbe und sein Unternehmen – und sie kennen seine größte Schwachstelle: Emily.
New York Times-Bestsellerautorin Lisa Renee Jones verführt Leser auf der ganzen Welt mit ihren sinnlichen Liebesromanen und wurde mehrfach mit Genrepreisen ausgezeichnet. Jones lebt gegenwärtig in Colorado Springs. »Hard Rules – Dein Begehren« ist der zweite Band der mitreißenden, verführerischen und spannenden »Dirty Money«-Serie. Der dritte Teil »Dein Versprechen« ist bereits in Planung.
LISA RENEE JONES
HARD RULES
DEIN BEGEHREN
Aus dem Amerikanischenvon Sonja Fehling
beHEARTBEAT
Deutsche Erstausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2017 by Lisa Renee Jones
Published by arrangement with St. Martin’s Press, LLC. All rights reserved.
Titel der Originalausgabe: »Damage Control«
Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin’s Press LLC durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen, vermittelt.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Clarissa Czöppan
Covergestaltung: © Birgit Gitschier unter Verwendung von Motiven von © shutterstock/Vandathai
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-37325-4229-1
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Liebe Leserinnen und Leser,
ich freue mich so, Hard Rules – Dein Begehren mit Ihnen zu teilen. Falls Sie Band 1 Dein Verlangen nicht gelesen haben, sollten Sie es nachholen, bevor Sie mit diesem Roman beginnen, da unsere Geschichte dort anfängt, wo Dein Verlangen aufhört.
Hier noch eine kleine Spoiler-Warnung: Ich werde Ihnen nun eine Zusammenfassung von Dein Verlangen geben.
Wir haben damit geendet, dass Shane Emily mit ihrer falschen Identität konfrontierte. Er wusste schon lange, dass sie ein Geheimnis mit sich herumträgt, wollte jedoch erreichen, dass sie ihm vertraut und es ihm von sich aus mitteilt. Dank Seth, Shanes rechter Hand (dem Problemlöser, der noch seine eigene Geschichte bekommen wird!), weiß Shane nun allerdings, dass Emily nicht diejenige ist, für die sie sich ausgibt, und er fürchtet, sie könnte entweder für das FBI oder seine Familie arbeiten und ihn hintergehen.
Doch wie sind die beiden überhaupt an diesen Punkt gekommen?
Das Ganze begann mit einem vertauschten Kaffee: Emily nimmt aus Versehen entgegen, was Shane bestellt hat, und trinkt davon. Als Shane ihr den Becher abnimmt und ebenfalls daran nippt, landet ihr Lippenstift auf seinem Mund. Diese Situation führt zu einem One-Night-Stand, und es folgen Leidenschaft, Liebe und Freundschaft. Emily ist die einzige Person in Shanes Leben, die nicht falschspielt, während er darum kämpft, das Imperium seiner Familie vor deren Korruptionsmachenschaften zu bewahren. Für ihn ist es geradezu lebenswichtig, dass er Emily vertrauen kann und sie seinen Glauben an die Liebe und das Leben wiederherstellt. Wird er diesen Glauben nun verlieren? Das ist die wichtigste Frage. Und falls sie ihn hintergangen hat, wie soll die Beziehung sich davon erholen? Können sie das überhaupt schaffen?
Noch ein klein wenig mehr Hintergrundinformationen, um Ihre Erinnerung an das aufzufrischen, was Shane gerade durchmacht:
Wie Sie vielleicht noch wissen, haben wir erfahren, dass Shane auf dem Weg war, einer der besten Anwälte des Landes zu werden, bevor er New York verließ und nach Denver zurückkehrte, um das Unternehmen seiner Familie zu retten. Brandon Enterprises wird schon lange von seinem Vater, Brandon Senior, und seinem Bruder Derek geleitet, die sich beide stets am Rande der Legalität bewegen – wobei Derek sich dabei weniger geschickt anstellt als sein Vater. Shane boxt seinen Bruder und die Firma aus den Konflikten mit dem Gesetz heraus, während bei seinem Vater Krebs im Endstadium festgestellt wird.
Brandon Senior gehört nicht zu den Menschen, die ihre Sünden bereuen, er würde lieber in der Hölle schmoren – allerdings erst, nachdem er seine Söhne in das Rennen um die Leitung des Unternehmens und die Mehrheit im Vorstand geschickt hat. Shane lässt sich anfangs nur widerwillig auf diesen Wettkampf ein, weil er dafür seine hart erarbeitete Karriere als Anwalt aufgeben muss, entschließt sich dann jedoch dazu, den Ruf seiner Familie zu retten. Er will den Kampf um die Leitung des Unternehmens gewinnen, während sein Bruder der Meinung ist, er habe diese Position viel mehr verdient.
Shane kauft ein Pharmaunternehmen, in dem Glauben, dies würde genügend Gewinn abwerfen, um jegliches Schmutzgeld aus der Firma zu verbannen, doch sein Bruder will sich nicht so einfach aus diesem Geschäft drängen lassen. Derek fädelt einen Deal mit einem Drogenkartell ein und schleust ein neues, leistungssteigerndes Medikament (Sub-Zero) bei Brandon Pharmaceuticals ein. Doch die Noch-Ehefrau eines Profibasketballers lässt das Täuschungsmanöver beinahe auffliegen.
So sieht sich Shane mit einem Drogenbaron konfrontiert, mit einem Bruder, der vielleicht sogar dazu bereit ist, ihn oder Emily zu töten, um die Mehrheit im Vorstand zu gewinnen, mit einem todkranken Vater und nicht zu vergessen: seiner Mutter. Steht sie auf seiner oder auf Dereks Seite? Und was ist mit Mike, dem wichtigsten Anteilseigner und Eigentümer eines professionellen Basketballteams? Könnte er zum Problem werden?
Nun jedoch weiter zu dem Moment in der Küche, als Shane Emily verkündet, dass er »keine Lügen mehr« duldet. Zeit herauszufinden, wer Emily wirklich ist!
Ich hoffe, Sie haben Spaß an der Geschichte, und ich danke Ihnen so sehr dafür, dass Sie Ihre Zeit mit einem meiner Bücher verbringen!
Lisa
XOXO
Shane
»Keine Lügen mehr«, wiederhole ich, während ich die Hände hinter Emily auf die Arbeitsplatte stütze und sie so mit meinem Körper an der Kücheninsel gefangen halte, wobei ihr Netz aus Lügen gerade ihr eigentliches Gefängnis ist – und meine persönliche Hölle. »Ich weiß, du bist nicht die Person, für die du dich ausgibst.«
In ihren wunderschönen blauen Augen, die ich noch vor Kurzem für das Fenster zu ihrer unschuldigen Seele gehalten habe, flackert Panik auf, und sie legt mir die Hand auf die Brust, als würde sie sich darauf vorbereiten, mich wegzustoßen. »Wovon redest du?«, will sie wissen. Offensichtlich versucht sie abzuwägen, wie groß der Schlamassel ist, in dem sie steckt. Dennoch klingt ihre Stimme fest, und sie strahlt eine erstaunliche Gelassenheit aus. Die Art von Gelassenheit, für die man Übung und Talent braucht. Die Art von Gelassenheit, die jemand an den Tag legt, der undercover arbeitet.
»Keine Spielchen mehr, Emily. Oder wie auch immer du heißt. Seth hat Nachforschungen über dich angestellt, und all die Infos zu deiner Person passen irgendwie nicht zusammen.«
»Nachforschungen«, wiederholt sie. »Klar. Warum solltest du die Frau in deinem Bett auch nicht überprüfen lassen?«
»Da die Person, für die du dich ausgibst, nicht existiert, war das offensichtlich richtig.«
»Meine Geheimnisse gehen niemanden etwas an. Nur mich. Und ich bestimme, wann ich bereit bin, sie mit jemandem zu teilen.«
»Und wann genau wärst du bereit gewesen?«
Sie krallt ihre Finger in mein gestärktes weißes Hemd. »Ich wollte dich nie belügen«, sagt sie und lügt damit ein weiteres Mal. Auch ihre Stimme klingt nun nicht mehr so fest, stattdessen schwingt ein tiefes Zittern und Beben mit.
»Aber du hast mich belogen«, erinnere ich sie, während ihr eine ihrer langen dunklen Locken ins Gesicht fällt – ein Schleier, der sie genauso wenig beschützen wird wie weitere Lügen.
»Ich hatte nie vor, mit dir essen zu gehen, und schon gar nicht, dir so nahezukommen.« Sie zögert. »Ich dachte, das mit uns wäre nur für diese eine Nacht. Eine Nacht … Der Rest ist einfach so passiert.«
»Ach ja. Das Essen. Der Abend, an dem die Lügen begannen.«
»Nein«, entgegnet sie mit gepresster Stimme. »Meine Geheimnisse haben weder mit dir begonnen, noch werden sie mit dir enden. Und ganz sicher hätte ich sie nicht vor einem Fremden ausgebreitet.«
»Ich bin verdammt noch mal kein Fremder.«
»Aber das warst du zu diesem Zeitpunkt«, erinnert sie mich. »Als ich dir gesagt habe, wer ich bin, warst du für mich ein Fremder.«
»Das bin ich aber schon lange nicht mehr, und das wissen wir beide. Ich will die Wahrheit hören.«
»Die kann ich dir nicht erzählen«, erwidert sie und senkt ihren Blick auf die Knopfleiste meines Hemdes. Dass ich weder eine Krawatte noch ein Jackett trage, ist ein Beweis dafür, wie entspannt ich noch vor fünfzehn Minuten war.
Mit einer Hand fasse ich Emily am Kinn und zwinge sie, mich anzusehen. »Wirst du aber«, beharre ich, und die Worte klingen fast kehlig, während Gefühle, die ich nicht näher benennen möchte, mich wie Splitter durchbohren.
»Lass mich los«, fordert Emily mich auf und stößt mich energisch von sich. »Geh beiseite, Shane.«
Doch ich bewege mich nicht von der Stelle. »Ich lasse dich jetzt nicht gehen«, sage ich und kralle die Hand an ihrer Taille in den Stoff ihrer marineblauen Bluse. »Wer bist du?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Und dabei bleibt es. Mehr werde ich dir nicht erzählen, Shane.«
»Was willst du von mir? Wer hat dich angeheuert?«
»Klar«, stößt sie ärgerlich hervor. »Natürlich will ich dich ausspionieren. War ja zu erwarten, dass du das denkst.« Wieder versetzt sie mir einen Stoß gegen die Brust. »Geh zur Seite. Lass mich hier raus.« Nach einem weiteren, ebenso ineffektiven Stoß starrt sie mich finster an und verkündet: »Hier geht es nicht um dich oder deine verkorkste Familie, Shane.«
»Was soll ich denn deiner Meinung nach denken?«
»Genau das, was du gedacht hast. Was, wenn ich es mir recht überlege, auch der Grund dafür war, dass ich bei dir geblieben bin. Du warst immer viel zu sehr mit deiner Familie beschäftigt, um mich wirklich wahrzunehmen. Dadurch war ich sicher.«
Dieser Vorwurf lässt mich zusammenzucken, und ich will nicht, dass sie recht damit hat. »Ich habe dich wahrgenommen. Zumindest dachte ich das.«
»Offensichtlich hast du es nicht.«
»Ich lasse mir jetzt nicht von dir den Schwarzen Peter zuschieben. Wenn es hierbei nicht um mich geht, um was dann? Um wen?«
»Mich. Es geht um mich. Nur mich. Warum muss es unbedingt um dich gehen?«
Ich starre sie an, sehe ihr prüfend in die Augen, und verdammt – ich entdecke Qualen und Angst darin und will nicht, dass diese Gefühle mit ihrem Verrat zu tun haben. Ich will, dass sie von etwas anderem herrühren. Etwas, das ich regeln kann, aber mich zum Narren halten zu lassen kann ich mir nicht leisten. Abrupt lasse ich Emily los, gehe auf die andere Seite der Kücheninsel und halte mich an der Kante der Arbeitsplatte fest. Mein Blick fällt auf die Aktenmappe, die nun zwischen uns liegt, bevor ich erneut zu Emily hinüberschaue. »Dann erklär mir das, was sich darin befindet.«
»Ich werde mir das nicht mal ansehen«, entgegnet sie und weigert sich tatsächlich, einen Blick in die Aktenmappe zu werfen, während die Knöpfe an meinem Hemd immer interessanter zu werden scheinen. »Ich weiß alles, was es über mich zu wissen gibt.«
»Interessiert dich denn gar nicht, was ich über dich weiß?«
Sie atmet geräuschvoll ein, bevor sie meinem Blick begegnet und dann mit fester Stimme erwidert: »Das würde nur zu Fragen führen, die ich nicht beantworten kann.«
»Mach die Mappe auf«, fordere ich sie auf und mache mit meinem schneidenden Ton und unbeirrbaren Willen klar: Ich dulde keinen Widerspruch!
Und sie hat die Botschaft verstanden. Das kann ich daran erkennen, wie sie das Kinn vorstreckt und ihre Brust sich hebt, während sie den Atem anhält. Sie öffnet die Mappe und blättert die Zusammenfassung ihres falschen Lebenslaufs und die anderen Dokumente durch, aus denen die vielen Lücken in ihrer Vergangenheit hervorgehen. Es gibt keine Jahrbuchfotos von ihr, und ihr Führerschein wurde erst vor einigen Jahren ausgestellt. Wegen dieser dummen Fehler würde ich eine Teilnahme an einem Zeugenschutzprogramm ausschließen. Allerdings habe ich mich bereits eingehend mit Fehlern seitens des FBI beschäftigt, um einige Klienten vor dem Knast zu bewahren – einschließlich meines Bruders und Vaters –, daher weiß ich, dass die in der Behörde alles andere als fehlerfrei arbeiten. Aber ist Emily tatsächlich eine von denen?
Die Sekunden vergehen, und aus ihnen wird eine volle Minute, bis Emily die Mappe schließt, mich ansieht und sich eine Haarsträhne hinters Ohr schiebt. Dann schlingt sie schützend die Arme um sich. »Du weißt, dass ich nicht die Person bin, für die ich mich ausgebe. Das hatte ich bereits kapiert.«
»Wie heißt du?«
»Emily.«
»Keine Spielchen. Wie heißt du wirklich?«
»Die Person, die ich war, existiert nicht mehr.«
Ich nehme mir den Umschlag, der noch immer mitten auf der Kücheninsel liegt, und hole den erdrückenden Beweis für ihren Verrat heraus. »Erklär mir das hier«, verlange ich und klatsche die hochvertraulichen Papiere, die Seth in Emilys Schreibtisch gefunden hat, vor sie auf die Arbeitsplatte. Das Wort »Spionage« passt einfach verdammt noch mal zu gut auf diese Situation, um es zu ignorieren.
Emily blickt darauf, dann sofort wieder zu mir. »Shane …«
»Für wen arbeitest du?«, frage ich leise, und meine Stimme klingt angespannt vor Wut, die ich kaum zurückhalten kann, obwohl ich mich sonst bei allem, was ich tue, sehr gut im Griff habe. Emily hat Knöpfe bei mir gedrückt, die niemand drücken sollte. Ich habe diese Frau in mein Leben gelassen und ihr Einblick in meine Gedanken gewährt, habe ihr vertraut, und jetzt will ich naiverweise glauben, dass sie mir das alles erklären kann.
»Diese Dokumente hab ich für dich zusammengestellt«, entgegnet sie und gibt mir damit eine Antwort, mit der ich nicht gerechnet hatte.
»Du musst dir schon was Besseres einfallen lassen, Süße.«
»Hast du sie überhaupt gelesen, oder hat Seth dir bloß gesagt, dass sie belastend sind, und du hast ihm geglaubt?«
»Sag du’s mir«, fordere ich sie auf. »Was in den Papieren steht und alles andere auch.«
»Dein Vater hat irgendwas mit dem Hedgefonds geplant, den er gründen will. Die Unterlagen habe ich dir besorgt, damit du sie dir genauer ansehen kannst.«
»Diese Dokumente enthalten noch weit mehr als nur Informationen über den Hedgefonds.«
»Ich war allein in der Firma und hab mich ins Büro deines Vaters geschlichen.« Sie presst die Hände auf die Arbeitsplatte und blickt zu mir, sieht mich zum ersten Mal richtig an, seit ich sie mit ihren Lügen konfrontiert habe. »Shane«, sagt sie leise. In ihrer Stimme schwingt eine Bitte mit, und aus ihren Augen spricht eine Verletzlichkeit, die man sicher nicht vortäuschen kann. »Mir ist klar, wie das für dich aussehen muss, aber ich schwöre dir, ich hab dich nicht hintergangen. Die Situation, in der ich mich befinde, hat nichts mit dir oder deiner Familie zu tun.«
Eingehend schaue ich sie an, versuche herauszufinden, warum ich ihr glauben will, obwohl ich momentan keinen Grund dafür habe, ihr mein Vertrauen zu schenken. »Womit dann?«, will ich wissen.
»Es ist kompliziert«, entgegnet sie, und erneut beginnt ihre Stimme zu zittern.
Mit Mühe widerstehe ich dem heftigen Drang, die Lücke zwischen uns zu schließen, sie an mich zu ziehen, zu küssen und ihr verdammt noch mal zu sagen, dass alles wieder in Ordnung kommt. »Erzähl’s mir.«
»Ich kann nicht.«
Ein seltenes Gefühl unbeherrschter Frustration durchströmt mich. »Verflucht, Emily«, herrsche ich sie an. Wütend fahre ich mir mit den Fingern durch mein dunkles Haar, das wohl bald ergrauen wird. Schließlich lege ich die Hände wieder auf die Arbeitsplatte und blicke Emily direkt in die Augen. »Wie zum Teufel heißt zu wirklich?«
»Emily«, wiederholt sie. »Und das hier führt doch zu nichts.« Sie stößt sich von der Kücheninsel ab. »Es tut mir leid. Ich hätte mich nie auf dich einlassen sollen. Ich gehe, und du wirst mich nie wiedersehen.«
Da es nur einen direkten Weg zur Tür gibt, bleibt ihr nichts anderes übrig, als direkt an mir vorbeizugehen. Doch auch wenn ich verstehe, dass sie sich gerade wie ein Tier im Käfig fühlt und flüchten will, werde ich das ganz sicher nicht zulassen. »Du gehst nirgendwohin, bis ich ein paar Antworten bekomme«, sage ich. Bevor sie an mir vorbeigehen kann, packe ich sie am Arm und drehe sie zu mir um, sodass sie das brennende Misstrauen in meinen Augen sieht. »Hier geht es nicht nur um uns beide, sondern auch um ein Unternehmen, das ich geschworen habe zu beschützen.«
»Sieh dir die Überwachungsaufnahmen vom Hotel an«, entgegnet sie. »Als ich gestern Abend hier war, hatte ich eine Mappe dabei. Das beweist zwar nicht, dass darin auch genau diese Unterlagen waren, aber das waren sie.« Sie versucht, sich loszureißen, doch ich verstärke meinen Griff. »Bitte, lass mich gehen«, sagt sie, und in ihrer Bitte schwingt beinahe so etwas wie Bedauern mit. Andererseits: Was kann ich bei ihr noch für bare Münze nehmen? Was konnte ich je bei ihr für bare Münze nehmen?
Bedeutungsschwer ziehen die Sekunden vorbei, während ich Emily anstarre, mir mit meiner Reaktion Zeit lasse und meine brodelnde Wut im Zaum halte. Doch ich lasse sie meine Wut spüren, durchbohre sie mit meinen Blicken und gebe ihr keine Möglichkeit, sich wegzuducken oder auszuweichen. Schließlich lasse ich sie los, doch bevor sie sich rühren kann, habe ich sie erneut um die Taille gefasst und an mich gezogen. Wie ihre weichen Kurven dabei auf meinen Körper wirken, fühlt sich etwas zu gut an dafür, dass ich sie so verdammt falsch eingeschätzt habe.
»Sag’s mir«, verlange ich erneut, und meine Stimme bebt vor Gefühlen, die ich weder benennen noch spüren will. Genauso wenig will ich Emily in die Augen sehen und nach etwas suchen, das ich sowieso nicht finden werde. Was auch immer es ist. Oder vielleicht doch – und genau das ist das Problem. Sie will ebenfalls nicht, dass ich es sehe, und senkt den Blick, um ihn erneut auf meine verfluchten Knöpfe zu heften. »Schau mich an«, fordere ich sie auf.
Sie atmet leise ein – ein Geräusch, das ich nicht sexy finden will, aber – verfluchte Scheiße – an dieser Frau ist einfach alles sexy, und dieser Gedanke entfacht meine Wut aufs Neue. Emily hebt das Kinn, sieht mich mit diesen viel zu blauen Augen an und flüstert: »Es tut mir leid.«
»Ist das ein Geständnis?«
»Das ist eine Entschuldigung.«
»Wofür?«
»Alles.«
Diese Antwort gefällt mir nicht. Genau genommen hasse ich sie, und Hass ist ein Gefühl, das ich ebenso selten empfinde wie Liebe. Schlimmer noch: Ich bin mir verdammt sicher, dass ich bei dieser Frau auf eins von beidem zusteuere; vielleicht empfinde ich sogar schon beides. Mein Blick senkt sich auf Emilys Mund, verweilt dort, und meine Lippen können es kaum abwarten, ihre einzunehmen, um sie zu bestrafen. »Ich frage mich«, setze ich an und suche ihren Blick, während in meinem Unterleib ein Hitzestrom zu köcheln beginnt, halb aus Lust, halb vor Wut, »wie es sein kann, dass ich deine Lügen nicht auf deiner Zunge geschmeckt habe. Und ich frage mich auch, ob sie jetzt, da ich Bescheid weiß, anders schmecken.«
Ich senke den Kopf und beuge mich vor, um die Antwort auf meine Frage herauszufinden, doch Emily versetzt mir erneut einen Stoß gegen die Brust, begleitet von einem resoluten »Nein!«. Dann dreht sie sich von mir weg, und mir bleibt keine andere Möglichkeit, als sie loszulassen, wenn ich sie nicht verletzen will. Ich lasse sie gehen. Ich kann mir viele Arten von »Bestrafung« vorstellen – ihre freiwillige Unterwerfung eingeschlossen.
Emily nutzt ihre wiedergewonnene Freiheit, stürmt, ohne Zeit zu verschwenden, sofort in den Eingangsbereich. Einen Moment lang stehe ich einfach nur da und atme tief durch, um mich zu beruhigen, während ich über meinen nächsten Schritt und ihre potenzielle Flucht nachdenke. Wenn ich sie gehen lasse, kann ich herausfinden, wohin ihre Panik sie führt und zu wem. Aber finde ich dann je wirklich heraus, wie ihre Lügen schmecken und warum ich sie nicht bemerkt habe? Da das für mich nicht infrage kommt, setze ich mich in Bewegung und überwinde mit ausholenden Schritten die Distanz, die Emily zwischen uns aufgebaut hat. Ich verlasse die Küche und betrete gerade noch rechtzeitig das Foyer, um zu sehen, wie sie sich ihre Handtasche quer über die Brust hängt.
Als sie mich bemerkt, rennt sie sofort zur Tür, und ich warte, bis sie diese erreicht hat, bevor ich sie von hinten festhalte. Trotzdem versucht sie noch, nach dem Türknauf zu greifen, aber ich stemme die Hand gegen das Holz und halte die Tür zu. Emily dreht sich um, und wir stehen direkt voreinander – so dicht, dass ich unmittelbar in diesem Moment herausfinden könnte, wie ihre Lügen schmecken. Ich könnte sie hier und jetzt in den Arsch ficken, genauso, wie sie mich schon seit Tagen in den Arsch fickt.
»Du bist so ein Wichser«, faucht sie und überrascht mich mit ihrer Angriffslust. »Wieso siehst du nicht, dass ich dich nur schützen will?«
»Mich schützen? Wie?«, frage ich, während mir alle möglichen Bedrohungen durch den Kopf gehen. Das FBI. Das Martina-Kartell. Mein Bruder. »Und vor wem?«, füge ich hinzu.
»Da ich dir zu deinem eigenen Schutz nicht gesagt habe, was mit mir los ist, wäre es hinfällig, wenn ich es dir doch sagen würde. Und was genau ist eigentlich der Unterschied, wenn du, um mich zu schützen, so tust, als hättest du mit dieser Frau gevögelt, und ich, um dich zu schützen, Geheimnisse habe?«
»Du bist nicht die Person, für die du dich ausgegeben hast. Das ist der verdammte Unterschied.«
»Was ist wohl schlimmer: eine andere zu vögeln oder meine wahre Identität geheim zu halten, um dich zu schützen?«
»Da ich keine andere gevögelt habe, du dagegen deine wahre Identität geheim gehalten hast, ist die Antwort darauf ziemlich eindeutig.«
»Dazu könnte ich jetzt eine Menge sagen, aber dann würdest du nur Beleidigungen auf mich abfeuern, die ich nicht verdiene. Du hast mich nicht mal gefragt, warum ich verschleiert habe, wer ich wirklich bin. Stattdessen hast du mich direkt beschimpft.«
»Das hier ist auch keine Lappalie.«
»Nein«, entgegnet sie. »Das ist es nicht. Ganz und gar nicht, aber aus anderen Gründen, als du denkst.«
»Du versuchst immer noch, mir den Schwarzen Peter zuzuschieben, aber das funktioniert nicht. Du hättest einfach nur zu sagen brauchen: ›Ich kann dir das erklären‹, und es anschließend tun müssen. Hättest du das gemacht, würden wir uns jetzt ganz anders miteinander unterhalten.«
»Genau«, erwidert sie, »und ein Gespräch mit ›keine Lügen mehr‹ zu beginnen ist sicher die beste Methode, um mich dazu zu bewegen, dir meine tiefsten, dunkelsten Geheimnisse anzuvertrauen.«
»Ich hab dir jeden Grund gegeben, mir zu vertrauen. Jeden Grund, mit mir über das zu sprechen, was du mir jetzt nicht sagen willst. Du willst, dass ich diskret und vorsichtig nachfrage? So bin ich nicht und ganz sicher nicht, nachdem ich von jemand anderem erfahren habe, dass du mich die ganze Zeit belogen hast und ich jede Sekunde, die ich mit dir verbracht habe, hinterfragen muss.«
»Wir sind fertig miteinander«, sagt Emily mit rauer Stimme und räuspert sich leise, bevor sie ergänzt: »Das wissen wir doch beide, also lass es uns nicht unnötig in die Länge ziehen. Lass mich hier raus.«
Einige Momente lang betrachte ich sie und lese Unsicherheit aus ihrem Gesicht – eine Reaktion, die ich ergründen und ein wenig zu sehr auf meiner Zunge schmecken will. »Ja«, sage ich mit gepresster Stimme. »Lass uns hier abhauen, bevor ich dich nackt ausziehe und ficke, was wir zwar garantiert beide genießen würden, aber ich wäre mir nicht sicher, wer hier wen verführen würde. Und so verdammt nackt will ich mich bei dir nie wieder fühlen.«
»Ich hab dir doch gesagt, warum ich das getan habe, Shane«, murmelt sie, und in ihrer Stimme schwingt Resignation mit.
»Um mich zu schützen. Witzig: Mein Vater benutzt das auch gern als Ausrede.«
»Du hast die gleiche Ausrede benutzt, als du mit dieser Frau zusammen warst«, kontert sie, und da ist wieder diese temperamentvolle Seite an ihr, die mir viel zu gut gefällt.
»Ich hab nicht mit dieser Frau gevögelt, und das weißt du.«
»Ach ja? Du schließt nämlich vom Verhalten deiner Familie auf mich, obwohl ihr Blut durch deine Adern fließt und nicht durch meine.«
Ich presse die Fäuste gegen die Tür, direkt neben Emilys Kopf. »Dich wie ein Miststück aufzuführen hilft dir gerade nicht sonderlich.«
»Dich wie ein Arschloch aufzuführen beweist, dass du eins bist.«
»Zu lügen macht dich nur zu …«
»Einem ehrbaren Menschen, auf eine Weise, die du nie verstehen wirst«, feuert sie zurück.
»Oh doch, das werde ich«, versichere ich ihr. »Und zwar schneller, als du denkst.«
»Und ich würde gerne gehen, und zwar schneller, als du denkst.«
»Wir gehen nach unten ins Hotelrestaurant und essen was.«
Sie wird blass. »Was? Nein. Ich gehe ganz sicher nicht mit dir essen.«
»Doch, das wirst du. Die Lügen haben bei einem Abendessen angefangen, also ist es nur passend, wenn sie auch dabei enden.«
»Nein …«
»Du wirst mitkommen, weil du mir das verdammt noch mal schuldig bist.«
»Was soll das Essen denn ändern, Shane, außer die Sache hier noch weiter in die Länge zu ziehen?«
»Wir gehen essen«, beharre ich in dem Wissen, dass sie zwar versuchen könnte wegzulaufen, aber gleichzeitig observiert wird. Letztendlich könnte dies meine einzige Möglichkeit sein herauszufinden, um wen oder was es bei ihr tatsächlich geht.
»Was sollte mich davon abhalten, einfach abzuhauen?«
»Nur du«, versichere ich ihr.
»Ich gehe.«
»Dann geh, Emily. Ich bekomme die Antworten auf meine Fragen auch von jemand anderem. Die sind dann allerdings durch dessen Urteil gefärbt. Wenn du das mit uns tatsächlich so enden lassen willst, sagt das eine Menge darüber aus, wer und was wir wirklich sind.«
»Hör auf damit.«
»Ich bin einfach nur ehrlich, eine Eigenschaft, die ich sehr schätze.«
»Wenn du wüsstest, was …«
»Aber das tue ich nicht«, entgegne ich und stoße mich von der Tür ab – fest entschlossen, sie endlich aus dieser verdammten Wohnung zu bekommen, bevor ich ihr wirklich die Klamotten vom Leib reiße. Und so kalt und hart, wie ich sie im Moment ficken würde, gäbe es danach kein Zurück mehr. Außerdem bin ich anscheinend immer noch naiv genug, um mich an die Hoffnung zu klammern, dass sie für all das hier tatsächlich eine Erklärung hat. Als wollte Emily diesen Gedanken direkt im Keim ersticken, sagt sie schnell: »Das Essen ändert nichts daran, dass ich selbst entscheide, was ich dir erzählen will und was nicht.«
Verärgert – und das in vielerlei Hinsicht – drehe ich sie zur Tür um, sodass sie mit dem Rücken zu mir steht und ihr knackiger Po sich dicht an meine intimste Stelle schmiegt. Ich beuge mich vor, bis meine Lippen dicht an ihrem Ohr sind, und lege ihr die Hand auf den Bauch. »Es hat sich schon vieles geändert, Emily«, versichere ich ihr. Der blumige Duft ihres Parfüms steigt mir in die Nase und verhöhnt mich mit bittersüßen Erinnerungen an die Momente, in denen ich von diesem Duft eingehüllt wurde, in denen ich von dieser Frau eingehüllt wurde, wer immer sie auch ist. »Und bald wird sich noch viel mehr ändern.«
»Ich war schwach«, murmelt sie. »Ich hätte das mit uns frühzeitig beenden sollen, um zu verhindern, dass du dich so fühlst, wie du es jetzt tust.«
»Aber das hast du nicht«, entgegne ich und mache mir gar nicht erst die Mühe, nach dem Grund zu fragen. Die Antwort liegt in den Geheimnissen, die sie mir – ihrer Ansicht nach – heute Abend nicht offenbaren wird.
Sie lehnt sich zurück, schwankt fast unmerklich, bevor sie sich an mich schmiegt. »Ich hab’s versucht«, wispert sie und lässt die Hände zu meinen Schenkeln gleiten. Heilige Scheiße, ihre Berührung fühlt sich verdammt noch mal zu richtig an, als dass Emily so falsch sein könnte. Dieser Gedanke lässt mich zusammenzucken, einen Schritt zurücktreten und sie mit mir ziehen, um die Tür zu öffnen, bevor ich Emily von mir schiebe und in den Flur dränge. »Zeit zum Essen und Reden.«
Emily stolpert leicht, und – verflucht – ich möchte sie auffangen. Ich will sie retten, wobei wahrscheinlich ich derjenige bin, der nach all dem hier, nach der Zeit mit ihr, gerettet werden muss. Ich sehe zu, wie sie das Gleichgewicht wiederfindet und sich dann gemächlichen Schrittes in Bewegung setzt, obwohl ich das Gefühl habe, sie würde am liebsten davonlaufen. Und auch wenn ich weiß, dass Seth sie beschatten lässt, will ich nicht, dass sie davonläuft. Ich greife hinter mich, um die Tür zuzuziehen, und schließe dann mit einigen großen Schritten zu Emily auf, aber sie schaut mich nicht an. Es ist ziemlich offensichtlich, dass sie das Misstrauen in meinen Augen genauso wenig sehen will wie ich die Lügen in ihren. Wieder ein Beweis dafür, wie gut wir zusammenpassen, wenn auch in völlig verkehrter Hinsicht.
Wie so oft fallen wir in Gleichschritt, was ich noch bei keiner Frau erlebt habe. Doch anstatt sie wie sonst an mich zu ziehen, tue ich es diesmal nicht, aus demselben Grund, warum ich uns so schnell wie möglich aus der Wohnung gedrängt habe. Ich darf mir nicht die Sinne vernebeln lassen von den Gefühlen, die diese Frau anscheinend in mir auslöst, obwohl ich es nie für möglich gehalten hätte. Sie will mich also beschützen? Ich kann mich selbst schützen, und ich bin mir nicht sicher, was mir mehr zu schaffen machen würde: Dass sie meinen Schutz deshalb ablehnt, weil sie mir nicht traut oder weil sie mein Feind ist?
Nach einer Minute sind wir bereits um die Ecke gebogen und halten vor den Aufzügen, ohne einander eines Blickes zu würdigen. Ich drücke die Ruftaste, während Emily erneut die Arme um sich schlingt – eine defensive Haltung, die mir nichts verrät, was ich nicht schon weiß: Sie ist vorsichtig. Das war sie schon die ganze Zeit über, und das wusste ich auch. Ich wusste, sie trägt einige Dämonen mit sich herum, aber ich dachte, dabei ginge es um Dinge, die sie mir noch nicht erzählen wollte, nicht um etwas, das sie vollkommen aus ihrem Leben verbannt hat. Fast sofort ertönt das Klingeln des Fahrstuhls, und ich halte die Tür für sie auf; nicht nur, weil sich das für einen Gentleman so gehört, sondern auch, weil ich jeden Moment, den ich heute Abend mit ihr verbringe, kontrollieren will.
Emily betritt den Fahrstuhl, und obwohl sie sonst oft so frech und streitlustig ist, geht sie heute auf die andere Seite hinüber und lehnt sich dort an die Wand, die Arme immer noch vor der Brust verschränkt. Ich folge ihr in die Kabine, betätige die Taste für die Lobby und drehe mich dann zu ihr um, bevor ich die Hände auf das Geländer hinter mir lege. Emilys langes braunes Haar glänzt seidig, ihr marineblauer Rock und die gleichfarbige Bluse sind schlicht, aber geschäftsmäßig – wobei ich mich gerade frage, ob ihre Distanziertheit selbst gewählt oder den Umständen zuzuschreiben ist. Ich frage mich eine Menge Dinge, über die ich mir schon früher hätte Gedanken machen sollen.
Die Aufzugtüren schieben sich zu und schließen uns in dem Stahlkasten ein, zusammen mit Emilys Lügen und meinen Fragen. Als der Lift sich in Bewegung setzt, treffen sich unsere Blicke, und die Verbindung fühlt sich an wie ein Stich in der Brust. Ich will nicht, dass Emily die Macht dazu hat, aber sie hat sie nun mal. Eigentlich hatte ich mir geschworen, nie so verletzlich zu werden durch eine Frau – oder überhaupt durch irgendjemanden –, und ich hatte tatsächlich die Lektionen vergessen, die meine Familie mich vor Jahren gelehrt hatte. Und die Warnung meiner Mutter bezüglich Emily. Die Menschen, die dir am nächsten stehen, können dir am meisten wehtun … Fest presse ich die Zähne zusammen und durchbohre Emily mit vorwurfsvollen Blicken, so scharf wie Glasscherben.
Offensichtlich ist sich Emily dessen deutlich bewusst, denn sie hebt das Kinn und sagt: »Ich werde nicht mit dir an einem Tisch sitzen, wenn du mich die ganze Zeit so ansiehst.«
»Wie sehe ich dich denn an?«
»So, als wäre ich einer von den vielen Menschen, denen du nicht vertrauen kannst und die dich hintergangen haben.«
»Dann ändere meine Meinung.«
»Also habe ich recht«, stellt sie mit brüchiger Stimme fest. »Du hältst mich wirklich für eine von denen.«
»Mir gehen gerade eine Menge Dinge durch den Kopf.«
»Ich hab dir doch gesagt …«
»Sag mir gar nichts hier im Fahrstuhl.«
»Ach ja«, entgegnet sie steif. »In deiner Familie beobachtet ja jeder jeden, also gibt es auch hier Kameras.«
»Du kennst mich und meine Familie ziemlich gut«, erwidere ich trocken. »Und trotzdem weiß ich über dich weitaus weniger, als ich wissen will.«
»Ich dachte, hier im Fahrstuhl willst du nicht reden.«
»Ich will aber mehr über dich wissen«, fahre ich zweideutig fort. »Und das kann ruhig jeder hören.«
»Du weißt schon mehr, als du denkst«, gibt sie schnell zurück. Sie wählt ihre Worte sorgfältig aus, schließlich spielt sie vor demselben Publikum wie ich.
»Und trotzdem bist du immer noch ein Rätsel für mich«, kontere ich, und genau in diesem Moment wird der Aufzug langsamer und kommt mit einem Klingeln zum Stehen. Emilys Blick huscht zu den Türen hinüber, und als ich nach oben schaue, stelle ich fest, dass wir uns erst im dritten Stock und somit noch nicht an unserem Ziel befinden. Da ich nicht zulassen werde, dass eine menschliche Wand Emily eine Fluchtmöglichkeit bietet, schließe ich die Lücke zwischen uns, und als ihr Blick zu mir zurückwandert, stehe ich bereits direkt vor ihr. Sie sieht zu mir auf, öffnet überrascht die Lippen, und unsere Blicke begegnen sich. Die Qualen, die in ihren Augen aufblitzen, sind nicht zu übersehen, und ich wünschte, ich würde sie verstehen.
Die Fahrstuhltüren öffnen sich, und Männerstimmen sind zu hören. Im nächsten Augenblick schließen deren Besitzer Emily und mich ein und zwingen mich so dazu, den einen Schritt Abstand, den ich zwischen uns gelassen habe, zu schließen und meine Hände an ihre Taille zu legen. Bei der Berührung atmet Emily hörbar ein. Mit den Händen umfasst sie meine Handgelenke, und ich bin mir nicht sicher, ob sie mich festhält oder sich wünscht, mich wegschieben und flüchten zu können. Zu meiner Rechten schließen sich die Türen, und mit einem Ruck fährt der Lift an, woraufhin Emily nach vorn stolpert und sich mit der Hand an meiner Brust abfängt. Offensichtlich verblüfft über ihre Reaktion versucht sie, die Hand wegzuziehen, doch ich lege meine darauf und presse sie an mich. Instinktiv scheinen Emilys Augen sich von den faszinierenden Knöpfen an meinem Hemd zu lösen und zu meinem Gesicht hochzuschießen, sodass ich einen flüchtigen Blick auf die Verwirrung erhasche, die darin liegt. Sie weiß nicht, ob sie sich an mir festhalten oder mich von sich stoßen soll. In diesem Punkt sind wir uns einig, aber ihre widersprüchlichen Gefühle beruhigen mich nicht. Sie sitzt in der Falle, in die sie sich durch ihre eigenen Lügen hineinmanövriert hat. Was sie mit der Freiheit anfängt, die ich ihr in Kürze bereit sein werde zu geben, wird eine Menge darüber aussagen, wer sie ist und in welcher Beziehung wir zueinander stehen.
Als der Lift zum Stehen kommt, wendet Emily erneut den Blick von mir ab und verbirgt damit sämtliche Antworten, die ich darin hätte finden können. Ich hoffe inständig, dass sie bleibt und ein Tisch im Restaurant ihr die Sicherheit bietet, die sie braucht, um mir die Wahrheit zu sagen, egal wie schlimm diese sein mag. Mühsam bekämpfe ich den Drang, Emilys Hand zu nehmen und sie festzuhalten, stattdessen trete ich beiseite und blicke nach vorn. Sie stellt sich neben mich und schaut zu, wie die Türen sich öffnen, als sei sie bereit, jeden Moment hinauszurennen. Im Stillen erinnere ich mich daran, dass ich meine Antworten so oder so bekommen werde, und obwohl ich mich danach sehne, dass sie bleibt, scheint die einfachste Methode zu sein, sie entkommen zu lassen und ihr zu folgen, wo immer sie auch hingehen mag.
Die anderen Männer verlassen den Aufzug und machen uns damit den Weg in den Gang frei. In diesem Moment fasse ich einen Entschluss: Zum Teufel damit, ihr die Flucht zu erleichtern. Sie hat mich belogen. Ich werde es ihr nicht leicht machen zu gehen. Unvermittelt umfasse ich ihre Taille und ziehe sie im Gehen neben mich, sodass sie nicht entkommen kann. »Shane, ich …«
»Es ist nur ein Essen«, unterbreche ich sie. »Du hast also genügend Leute um dich rum, die dich schützen werden.«
Plötzlich bleibt sie wie angewurzelt stehen, bevor sie sich zu mir umwendet und mir erneut die Hand auf die Brust legt. »Vor dir muss mich niemand beschützen. Du musst höchstens vor mir beschützt werden.«
Wieder schrillen sämtliche Alarmglocken in meinem Kopf. »Weißt du eigentlich, auf wie viele verschiedene Arten man das verstehen könnte? Versuchst du, mich zu warnen, oder was?«
»Nein. Ja. Nein. Nicht so, wie du denkst.«
»Was denke ich denn?«
»Du hast doch gesagt, du denkst, ich spioniere dich aus, aber das tue ich nicht.« Sie presst die Hand vors Gesicht. »Das funktioniert nicht.« Damit lässt sie die Hand sinken und blickt mich an. »Ich muss gehen.« Abrupt tritt sie zurück, und da wir uns in der Öffentlichkeit befinden, muss ich sie gehen lassen, was sie ebenso gut weiß wie ich.
Sie wendet sich um und macht einen Schritt, keucht jedoch erschrocken auf und erstarrt, als mein Vater direkt vor sie tritt. »Mr Brandon.«
Groß ragt er vor ihr auf, sein graues Haar wird langsam schütter, und der blaue Maßanzug hängt lose an seinem mittlerweile gebrechlichen, vom Krebs gezeichneten Körper herab, als gehörte er jemand anderem. Der Blick, mit dem er Emily bedenkt, ist allerdings alles andere als gebrechlich.
»Emily«, bemerkt er. »Sie hätte ich hier nicht erwartet.«
Wie eine Ertrinkende klammert Emily sich an ihre Handtasche, den Rücken kerzengerade aufgerichtet, und mich überkommt ein starker Beschützerinstinkt, der eine Menge über meine Intuition aussagt, was Emily und meinen Vater betrifft. Dicht trete ich an ihre Seite und lege besitzergreifend die Hand auf ihren unteren Rücken. »Was machst du hier, Vater?«, will ich wissen, betont kurz angebunden und fordernd. Ich habe ihm gesagt, er solle seine verdammte Geliebte aus dem Vier Jahreszeiten entfernen, schließlich wohne ich im selben Gebäude.
Streng blickt er mich aus seinen grauen Augen an, die noch immer meinen so ähnlich sind. »Ich wollte zu dir«, verkündet er, greift in die Tasche seines blauen Jacketts und holt einen Umschlag heraus, den er mir hinhält. »Die Eigentumsurkunde für dein Apartment, wie gewünscht. Ich habe es dir überschrieben.«
In dem Bewusstsein, dass er irgendein eigennütziges Ziel verfolgt, entreiße ich ihm den Umschlag und verstaue ihn in meiner Tasche, um damit jegliche Hoffnung auf ein Gespräch, die er hegen könnte, direkt im Keim zu ersticken. »Geh nach Hause zu deiner Frau.«
»Die ist beschäftigt«, erklärt er. »Und das wesentlich häufiger, als du denkst.«
Verflucht, am liebsten würde ich nachfragen, was genau er damit meint, aber die Genugtuung gebe ich ihm nicht. »Kannst du’s ihr verdenken?«
Er presst die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen – ein untrügliches Zeichen dafür, dass ich einen wunden Punkt getroffen habe. Doch seine Antwort fällt anders aus als erwartet. »Nein, das kann ich nicht. Ich gehe jetzt nach oben in die Wohnung, die noch mir gehört und es auch weiterhin tun wird.«
»Das werde ich nicht akzeptieren. Ich will, dass du mitsamt deinem Spielzeug aus meinem Zuhause verschwindest.«
»Na dann, mein Sohn, wird es dich freuen zu hören, dass du es nach Meinung der Ärzte nicht mehr lange aushalten musst. Ich bin sowieso bald tot.«
In meiner Brust bildet sich ein fester, heißer Knoten, und mein gesamter Körper spannt sich an. Emilys Finger krallen sich um meinen Arm, und ganz leicht presst sie die Hüfte an meine. »Die Sterbender-Schwan-Nummer funktioniert bei mir nicht.«
»Wir wissen beide, dass das nicht stimmt, mein Sohn«, entgegnet er. »Ich wünschte, bei deiner Mutter würde es genauso gut funktionieren wie bei dir.« Anstatt uns mit dieser Bemerkung weiter zu provozieren, lässt er uns schmoren und beendet das Gespräch. »Dann lasse ich euch beide mal allein.« Er wirft Emily einen Blick zu. »Wir sprechen uns morgen früh.« Damit geht er an uns vorbei und davon, doch ich rühre mich nicht vom Fleck, und auch Emily versucht nicht zu flüchten, obwohl sie in diesem Moment eine günstige Gelegenheit dazu hätte. Stattdessen steht sie einfach nur da. Genau wie ich. Und sehr zu meinem Ärger hat mein Vater recht. Er hat an mein Mitgefühl appelliert, und natürlich lässt es mich nicht kalt, dass er bald tot sein wird. Tief atme ich ein und bemühe mich, mit dem, was ich fühle – was verdammt viel ist – umzugehen, anstatt es abzulehnen. Denn was man ablehnt, kann man nicht kontrollieren, und Kontrolle ist die einzige Möglichkeit für mich, zu überleben – vielleicht sogar für meine gesamte Familie. Und Emily.
Ich drücke die Hand fester gegen ihren Rücken, um sie vorwärtszudrängen, als erneut die Stimme meines Vaters ertönt. »Sohn.« Sofort halte ich inne, drehe mich jedoch nicht um, während er fortfährt: »Komm Sonntagabend nach Hause. Derek kommt auch. Es wird Zeit, dass wir endlich dieses Schachspiel beenden.«
Ich spüre, wie sich etwas um uns herum verändert, und weiß, er ist gegangen, während er diese Worte im Raum stehen lässt, um mich zu verhöhnen. Bei jedem Familientreffen führen mein Bruder und ich eine Partie fort, die sich bereits über Jahre hinzieht. Was mein Vater mir mitteilen will, ist, dass dieses Spiel bald enden und einer von uns als Sieger hervorgehen muss, da sonst der Vorstand per K.-o.-System über die Leitung des Unternehmens entscheidet. Mein Vater ist der König, der das Turnier manipuliert, und ich hoffe sehr, dass Emily dabei nicht auch ihre Finger im Spiel hat. Entweder hat sie tatsächlich ein Problem, oder sie ist das Problem, und dieser Abend wird nicht enden, ehe ich nicht herausgefunden habe, welche Version stimmt.
Ich könnte mich in Bewegung setzen, aber ich tue es nicht. Stattdessen warte ich – und das aus einem ganz bestimmten Grund. Emily wollte gehen. Soll sie doch, ich werde sie finden. Und ich werde ihre Geheimnisse aufdecken.
»Ich bleibe«, verkündet sie in diesem Moment und hakt sich bei mir unter.
Vor einigen Minuten hätte ich sie noch nach dem Warum gefragt, doch jetzt ist das nicht mehr wichtig. Jetzt hat mein Vater mich daran erinnert, dass alles – jede Antwort – eine Form von Manipulation sein kann. Das Einzige, was von diesem Moment an zählt, ist, die Wahrheit aus Emily herauszubekommen, egal wie. Selbst wenn das bedeuten sollte, dass ich doch zu meinem ursprünglichen Vorhaben zurückkehren und sie nach oben bringen muss, um sie dort ans Bett zu fesseln und so lange zu ficken, bis ich meine Antworten habe.
Shane
Mit Emily am Arm biege ich um die Ecke, durchquere die Lobby und gehe dann den weiß gefliesten Gang zum Edge entlang, dem Hotelrestaurant. Ich sage kein Wort. Emily auch nicht. Nur ihre Hand auf meinem Arm nehme ich wahr und die lange Reihe von Tischen links von uns mit den voll besetzten gepolsterten Stühlen darum. Das und die erdrückende Stille. Doch ich fülle sie nicht mit Worten aus, genauso wenig wie Emily, aber sie will mir ja ohnehin nicht sagen, was ich wissen will – es sei denn, sie hat ihre Meinung inzwischen geändert. Mein Vater ist ihr gar nicht so unähnlich. Er erzählt mir auch nichts, stattdessen provoziert er und spielt. Er ist der Meisterspieler, der die anderen Spieler lenkt, und das wird er bleiben bis zu seinem bevorstehenden Tod. Und obwohl ich mich dafür verfluche, macht es mir etwas aus, dass er sterben wird, trotz allem. Genau wie ich Emily vertrauen will, obwohl mich meine Familie gelehrt hat, niemandem über den Weg zu trauen.
Ich führe uns nach links, direkt in die schummrige Bar. Sofas und Tische säumen unseren Weg, über denen rote tropfenförmige Lampen von der Decke hängen. Das Zusammentreffen mit meinem Vater lastet ebenso schwer auf mir wie Emilys Geheimnisse. Er wird sterben, aber sehr wahrscheinlich zuerst bettlägerig sein, und anstatt uns das tun zu lassen, was normale Familien tun würden – wertvolle Zeit miteinander verbringen und die Sünden der Vergangenheit wiedergutmachen –, drängt mein Vater mich dazu, bei seinen Sünden auch noch mitzumischen.
Wir gehen rechts an der rechteckigen, mit Glas und Leder verkleideten Theke und an einer Reihe von Barhockern vorbei, während Frank – einer der Manager des Edge, ein kräftiger, muskulöser Typ, mit dem ich ab und zu Gewichte stemme – die Hand hebt. Ich nicke ihm zu, und als wir endlich den Eingang zum Speiseraum erreichen, lässt Emily plötzlich meinen Arm los.
Überrascht wende ich mich zu ihr um. »Shane …« Es sieht aus, als wollte sie noch mehr sagen, doch dann ändert sie ihre Meinung und deutet auf den Gewölbegang, der zu den Toiletten führt. »Ich bin gleich wieder da.« Sie wartet meine Antwort gar nicht erst ab, sondern kehrt mir den Rücken zu und eilt davon, allerdings nicht schnell genug, um die Hilflosigkeit in ihrem Gesicht zu verbergen, die den Teil meiner Seele tief berührt, den bisher nur sie gesehen hat. Sie hat Angst, aber nicht vor mir, und auch wenn ich mir Dummheit nicht leisten kann: Die Vorstellung, dass sie tatsächlich in Gefahr schweben könnte, lässt mich hart auf dem Boden der Realität aufschlagen. Ich wusste, sie hat Geheimnisse, die sie noch nicht mit mir teilen will, trotzdem habe ich sie vorhin genau deswegen angegriffen. Hätte ich ihr stattdessen Fragen gestellt und ihr die Chance für eine Erklärung gegeben, hätte sie sich vielleicht nicht zurückgezogen. Sie hatte recht: Meine Reaktion auf die Hiobsbotschaft von heute Abend habe ich mir von meiner Familie diktieren lassen – und das, obwohl diese Frau derzeit das einzig Gute in meinem Leben ist. Daher kann ich doch gar nicht so falsch liegen, was das oder sie angeht.
Ich greife in meine Tasche und winke gleichzeitig Rita herbei, die rothaarige Kellnerin. Sie ist in den Zwanzigern, und ich kenne sie gut, wie jeder andere Stammgast hier. »Hi, Shane«, begrüßt sie mich. »Wer lässt’s denn heute Abend krachen? Du oder dein Vater?«
Ich ignoriere ihre Anspielung, die sich – wie ich aus früheren Gesprächen weiß – auf meinen Vater und dessen Geliebte bezieht. »Lass in den nächsten Minuten niemanden auf die Damentoilette«, weise ich sie an und drücke ihr einen Hundert-Dollar-Schein in die Hand.
»Soll das ein Scherz sein?«
»Ich scherze nie«, entgegne ich, bereits auf dem Weg zur Toilette, und ich bleibe erst stehen, nachdem ich die Tür aufgestoßen und den Raum betreten habe.
»Shane«, ruft Emily keuchend, als ich hineinkomme und sie in einer Nische mit Sitzgelegenheiten vor einem Spiegel finde.
Innerhalb einer Sekunde bin ich bei ihr, dränge sie gegen die Wand und rahme sie mit den Beinen ein. »Sind wir allein?«
»Verdammt, Shane«, sagt sie und stemmt die Hände gegen meine Brust. »Was machst du da?«
»Sind wir allein?
»Ja, aber das kann sich jeden Moment ändern. Du kannst nicht einfach so in die Damentoilette kommen.«
»Ich habe jemanden dafür bezahlt, uns ein wenig Privatsphäre zu verschaffen«, entgegne ich und lege meine Hände an ihre Taille. »Wieso bist du geblieben?«
»Warum ist das so wichtig?«, will sie wissen. »Ich bin doch hier.«
»Es ist wichtig. Ich dachte erst, es wäre egal, aber das ist es nicht. Also: Wieso bist du geblieben?«
»Shane …«
»Beantworte die Frage.«
»Weil dein Vater es wie kaum ein anderer schafft, deinen wunden Punkt zu treffen, und wenn du zwischen ihm und mir irgendeine Verbindung vermutest – und sei es nur eine emotionale –, wirst du ziemlich heftig auf mich losgehen. Und du wirst nicht eher aufhören, bis einer von uns Probleme bekommt. Oder wir beide.«
»Was für Problemen?«
»Die Art von Problemen, die man abstreiten können muss.« Sie krallt die Hände in den Stoff meines Hemdes. »Glaubwürdig abstreiten, Shane. Du musst mich gehen lassen. Und du darfst mir nicht folgen – und auch keine Nachforschungen im Internet über mich anstellen. Seth könnte schon viel zu viel Aufmerksamkeit auf mich gelenkt haben, und das kann ich mir nicht leisten.«
Sie strahlt Verzweiflung aus, echte Angst, die sicher nichts mit meiner Familie zu tun hat – und wenn doch, agiert sie nicht freiwillig, und dafür wird jemand bezahlen. »Süße«, sage ich und lege sanft die Hände auf ihre. »Bei mir bist du in Sicherheit. Das musst du doch wissen.«
»Seth hat in meiner Vergangenheit herumgewühlt, Shane. Ich bin hier nicht mehr sicher, und wenn ich bleibe, wirst du es auch nicht mehr sein.«
»Seth ist ein Profi darin, unauffällig vorzugehen. Er hat deine Tarnung ganz sicher nicht auffliegen lassen, und er kann dir dabei helfen, unsichtbar zu bleiben.«
»Er glaubt vielleicht, er sei ein Profi. Aber du weißt nicht …« Sie verstummt. »Und du darfst es nicht wissen.«
»Dein größtes Problem sind weder ich noch Seth. Wer immer dir deine falsche Identität verschafft hat, hat große klaffende Lücken hinterlassen. Jeder mit einem geübten Auge kann das sehen, aber wir können das beheben.«
»Nein.« Energisch schüttelt sie den Kopf. »Nein, das kann nicht stimmen. Das ist unmöglich.«
»Aber genau dadurch haben wir rausgefunden, dass du nicht die bist, für die du dich ausgibst«, erkläre ich und frage mich, wem sie in dieser Sache so blind vertraut hat, doch ich dränge sie nicht zu einer Antwort. Ich werde sie überhaupt nicht bedrängen, bis ich wieder mit ihr allein bin – was ich, wie ich jetzt weiß, von Anfang an hätte bleiben sollen. »Und auf die gleiche Weise wird auch jemand anders darauf kommen. Lass uns wieder nach oben gehen, dann zeige ich es dir.«
»Nein. Du denkst, wenn ich mit dir nach oben gehe, erzähle ich dir alles, und das werde ich nicht tun.«
»Wem auch immer du in Sachen Sicherheit vertraut hast: Er schützt dich nicht«, entgegne ich. »Lass mich dir helfen.«
»Du brauchst nicht den Helden für mich zu spielen.«
»Das werde ich aber, ob es dir gefällt oder nicht.«
Es klopft an der Tür, und ich fluche über das schlechte Timing. Dann ruft jemand: »Shane, die Leute stehen bereits vor der Toilette Schlange.« Genervt ziehe ich eine Grimasse und rufe zurück: »Einen Moment noch«, bevor ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Emily richte. »Worum auch immer es hier geht, wir finden eine Lösung.«
»Ich will aber, dass du …«
»… dich gehen lasse? Süße, dafür bedeutest du mir viel zu viel. Deshalb hat mich der Gedanke, dass du mich hintergangen hast, auch so fertiggemacht. Ich lasse dich nicht gehen. Keine Chance.«
»Du kannst es dir aber nicht erlauben, dieses Risiko für mich einzugehen, Shane. Dieses Risiko, das ich darstelle und dessen Ausmaß du nicht mal kennst.«
Beschwörend nehme ich ihr Gesicht in beide Hände. »Ich passe auf dich auf. Und damit basta.« Zärtlich küsse ich sie, lasse tief und sanft die Zunge in ihren Mund gleiten, berühre sie wieder und wieder und wieder, bis sie aufstöhnt und die Hand auf meine Brust legt, während sie mit der anderen an meine Hüfte fasst. Ich kann ihre Angst schmecken, ihre Schuldgefühle, aber noch mehr schmecke ich, dass sie sich hingibt, nicht mir, sondern uns beiden. Dem Band zwischen uns, das keiner von uns erwartet oder gesucht hat, sondern das einfach so entstanden ist. Und obwohl es sich nicht genau definieren lässt, kann man es dennoch nicht leugnen.
Ein weiteres Klopfen ertönt an der Tür, gefolgt von einem lauten »Shane, verdammt noch mal!«. Langsam reiße ich mich von Emilys Mund los und streiche mit dem Daumen über ihre Lippen. »Wer immer dir so eine Angst eingejagt hat, wird es bereuen«, verspreche ich ihr, doch ich lasse ihr keine Zeit für eine Antwort. Stattdessen streiche ich ihr zärtlich das Haar hinters Ohr und füge hinzu: »Ich will dich nicht in Verlegenheit bringen. Versteck dich in einer der Kabinen, dann sieht dich keiner, wenn die Frauen hier reinstürmen. Ich warte draußen auf dich.«
Gerade will ich mich in Bewegung setzen, als sie mich am Arm fasst. »Shane«, flüstert sie. »Du hast keine Ahnung, mit was du es zu tun hast.«
Ich schließe die Arme um sie, umfasse ihren Po und ziehe sie an mich. »Ich passe auf dich auf«, sage ich erneut, woraufhin sie ihre Hand an meine Wange legt.
»Aber wer passt auf dich auf, Shane? Darüber mache ich mir Sorgen.«
»Du. Mehr, als du ahnst.« Ich küsse sie, diesmal hart und schnell, bevor ich gehe, die Tür öffne und die Toilette verlasse – verdammt sauer auf mich, weil ich die Sache sofort auf mich und meine Familie bezogen habe, anstatt auf Emily. Als ich in den Gang trete, werde ich von mehreren Frauen mit finsteren Blicken begrüßt sowie von Rita, die mich in den Gewölbegang zieht, um den Weg zur Tür frei zu machen.
»Du schuldest mir was«, zischt sie. »Mein Chef war stinksauer.«
»Wir sind befreundet«, entgegne ich. »Ich rede mit ihm.« Dann greife ich in meine Tasche und strecke ihr einen Extrahunderter entgegen. »Als Bonus.«
Sie blickt auf den Schein, und ihre Augen weiten sich, während der böse Ausdruck auf ihrem Gesicht sich allmählich in Zufriedenheit verwandelt. »Ich bewache die Tür, wann immer du willst«, verkündet sie und verzieht die Lippen zu einem Grinsen. »Aber lieber wäre ich die Frau, der du auf die Damentoilette gefolgt bist.« Lachend eilt sie davon, und stattdessen nimmt Seth ihren Platz ein. Die Tatsache, dass seine Krawatte fehlt und sein kurzes blondes Haar ziemlich wirr aussieht, ist kein gutes Zeichen.
»Was für eine Geschichte hat sie dir aufgetischt?«
»Dass es weder um mich noch um die Firma geht«, erzähle ich ihm. »Mehr will ich im Moment nicht sagen.«
»Bist du dir sicher?«
»Ja«, entgegne ich.
»Okay, dann zu einem anderen Problem: Wir müssen über die Anschuldigungen deines Kumpels sprechen, dieses plastischen Chirurgen.«
Er meint die Behauptung von Erics Patientin, dass in unserem Pharmaunternehmen illegale Medikamente verpackt werden, und ich kann mir schon gut vorstellen, worauf dieses Gespräch hinauslaufen wird. Das Timing ist allerdings interessant. »Falls du damit vorschlagen willst, ich soll ihn nach dem Namen seiner Patientin fragen …«
»Den brauche ich nicht. Eric hat gesagt, die Patientin sei die Noch-Ehefrau eines Profisportlers, und er hat zwar diverse Beziehungen zum Profisport, aber auf diese Beschreibung passt nur eine.«
Ich hätte wissen müssen, dass er die Antwort bereits herausgefunden hat. »Wer ist es?«
»Kennst du Brody Matthews?«
»Profibaseballer aus Denver«, entgegne ich. »Jeder hier in der Stadt kennt ihn, ich hab ihn sogar schon mal getroffen. Ich weiß ja nicht, worauf du hinauswillst, aber ich verfüge über eine gute Menschenkenntnis, und ich mag den Kerl. Er ist genauso wie Eric: hält sich an klare Grenzen und übertritt sie nicht.«
»Na ja, dein ehrenhafter Ritter war mehrfach verletzt in diesem Jahr, hat heute Abend bei einem Spiel einen Fan verprügelt und ist mit einer Patientin deines Kumpels Eric verheiratet. Und das hier habe ich in seinem Nachtschrank gefunden.« Seth holt sein Handy aus der Hosentasche und zeigt mir das Foto eines Pillenfläschchens mit unserem Etikett und dem Medikamentennamen »Ridel«: Genau das Mittel, unter dessen Namen mein Bruder und das Martina-Kartell vermutlich Sub-Zero durch unsere Firma schleusen.
Ich gebe Seth sein Handy zurück. »Woher zum Geier hast du das?«
»Was du nicht weißt, kann dir auch nicht schaden. Frag nicht, dann kannst du auch nichts erzählen.«
»Jetzt klingst du genau wie Emily.«
Er hebt eine Augenbraue. »Hast du nicht angedeutet, sie hätte dir Antworten gegeben?«
»Sie steckt in Schwierigkeiten und will mich da nicht mit reinziehen.«
»Das kann ich nur befürworten.«
»Klar, weil ich ja auch der Typ bin, der jemanden, der ihm was bedeutet, ganz allein seinem Schicksal überlässt«, entgegne ich. Emilys Bemerkung, ich sei egoistisch, liegt mir noch schwer im Magen. Mein Bruder hat sich mit einem Drogenkartell eingelassen: Wie sehr kann ich sie da wirklich beschützen?
»Ganz locker, Mann«, beruhigt Seth mich. »Ich hatte keine Ahnung, wie ernst das Ganze offensichtlich ist.«
»Zurück zu diesem Medizinfläschchen«, blaffe ich und verschränke die Arme vor der Brust.
Unter seiner Jacke stemmt Seth die Hände in die Hüften. »Leider war es leer, aber ich hab das Fläschchen. Nick kann es auf Rückstände untersuchen.«
Nick ist ein Kumpel von ihm, der früher für das FBI gearbeitet hat und dessen private Sicherheitsfirma ich mittlerweile angeheuert habe. »Ich werde Brody anrufen und ihn zum Essen einladen, unter dem Vorwand, ihn als Sponsor unterstützen zu wollen«, verkünde ich. »Wenn ich ihm gegenübersitze, kann ich einschätzen, wie er gerade tickt. Vielleicht kann ich ihn sogar zum Sprechen bringen.«