Harper - Collateral Damage - Stephan Michels - E-Book

Harper - Collateral Damage E-Book

Stephan Michels

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Beschreibung

Der zweite Fall für Simon Harper. Ein Pfleger der Uniklinik Düsseldorf verschwindet spurlos. Der ehemalige Elitesoldat Simon Harper, der als "Troubleshooter" unkonventionell die Probleme seiner Klienten löst, gerät bei seinen Recherchen schnell zwischen die Fronten und bringt dadurch auch seine Freunde und seine Geliebte in tödliche Gefahr. Harper hat es mit gnadenlosen Gegnern zu tun, denn es geht um Rache, Macht, Ruhm und Profit. Und dafür ist kein Preis zu hoch ...

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Prolog
Kapitel 1 Sonntag
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4 Montag
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10 Dienstag
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16 Mittwoch
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28 Donnerstag
Kapitel 29
Kapitel 30 Bagdad
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34 Freitag
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46 Montag
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51 Provinz Xinjiang, China

Stephan Michels

Harper

Collateral Damage

Ruhrkrimi-Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2022 Stephan Michels

© 2022 Ruhrkrimi-Verlag

© Coverfoto: Stefan Gries

Druck: BoD, Norderstedt

Taschenbuch: ISBN 978-3-947848-52-2

e-Book: ISBN 978-3-947848-53-9

Originalausgabe /05/2022

Alle Personen, Namen und Ereignisse sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen, Namen und Ereignissen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten!

Die Verwendung von Text und Grafik ist auch auszugsweise ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

https://ruhrkrimi.de

Stephan Michels, Jahrgang 1965, wuchs in Kleve am Niederrhein auf und zog nach Abitur und Studium nach Düsseldorf, wo er im IT-Umfeld tätig ist.

Seit 20 Jahren wohnt er mit seiner Familie in Wegberg in unmittelbarer Nähe zur deutsch-niederländischen Grenze und pendelt seitdem regelmäßig zwischen Land und Stadt. Er liebt spannende Literatur und liest gerne Krimis und Thriller. So ist es kaum verwunderlich, dass er sich auch schreibend in diesem Genre tummelt – mit Kurzkrimis und nun schon mit dem zweiten Roman.

Prolog

Er hatte die Augen geschlossen. Eine angenehme Leere war in seinem Kopf. Es gab nichts, was man verzweifelt festhalten wollte, weil es sonst für immer verloren war. Nichts Neues und Ungewohntes. Nur diese wohltuende Leere.

Jemand näherte sich. Er konnte es riechen. Ein süßlicher Fliederduft. Er wollte die Augen öffnen, seine Hand heben. Aber er konnte sich nicht bewegen. Etwas Kaltes berührte seinen kahlen Schädel. Jemand setzte kreisförmige Markierungen. Unwillkürlich verkrampfte er.

Dann eine Stimme. Seltsam gedämpft, so als wäre der Mund hinter einer Maske verborgen.

»Wir haben alle Vorbereitungen getroffen. Entspannen Sie sich! Wir werden gleich mit der Prozedur beginnen.«

Kapitel 1 Sonntag

Leon Dorn schlenderte betont gelassen den Flur entlang. Er kannte sich hier aus. Seit dem Ende seiner Ausbildung zum Pfleger vor drei Jahren arbeitete er in der Uniklinik Düsseldorf. Er wusste, dass es hier im Verwaltungstrakt an einem Samstagabend um 18:30 Uhr menschenleer war. Seine Schuhe quietschten auf dem Linoleumboden. Er blickte sich um, als er vor der Tür von Professor Mertens‘ Büro stehen blieb. Alles ruhig.

Er atmete einen Moment durch. Dann gab er sich einen Ruck.

Den Nachschlüssel hatte er sich anfertigen lassen, als er noch bei Professor Mertens gearbeitet hatte.

Mein Gott, was konnte der Prof manchmal vertrauensselig sein. Ein riesiger Mann, der seinen Patienten Zuversicht demonstrierte. Dass alles gut werden würde. ›Balu‹ nannten sie ihn auf der Station.

Nachdem Leon die Tür entriegelt hatte, schaltete er seine Taschenlampe an und ging zum Schreibtisch. Sauber aufgestapelt lagen Patientenunterlagen rechts und links neben der Tastatur.

Leon strich sich durch seine schwarzen Locken und rückte sein hellgrünes Brillengestell zurecht. Er schaltete den Computer und den Bildschirm ein. Surrend fuhr der PC hoch. Das Kennwort war kein Problem. Leon selbst hatte dem Professor vor einem Monat bei der Inbetriebnahme des Computers geholfen und dabei den Code erfahren. Klar, dass Mertens ihn nicht geändert hatte.

Der Startbildschirm verschwand und Leon öffnete den Dateiexplorer. In das Suchfeld tippte er einen Namen ein: ›Friedrich Kauner‹. Dann startete er die Suche. Nach wenigen Sekunden zeigte das System einen Treffer.

Leon setzte sich in den Bürosessel des Professors, rollte ihn dicht an den Schreibtisch und beugte sich vor. Der Bildschirm beleuchtete sein Gesicht. Leon wechselte in das angegebene Verzeichnis. Auf dem Monitor waren WORD-Dateien, die mit Patient-01 bis Patient-10 benannt waren, aufgelistet, außerdem ein Dutzend weitere PDF-Dateien, deren Titeln nur aus Ziffern bestanden.

Leon öffnete das als Treffer angezeigte Dokument. Er überflog den Inhalt. Allgemeine Daten zum Patienten Friedrich Kauner. Dass er über 80 Jahre war, wusste Leon bereits und auch, dass er in der Seniorenresidenz Curanum lebte. Verwitwet, keine Kinder.

Leon blätterte weiter nach unten und überflog die Einträge. Auf dem Flur hörte er Schritte und lachende Stimmen.

Er sollte sich beeilen.

Leon tastete seine Hosentaschen ab.

Verdammt, er hatte seinen USB-Stick vergessen. Er dachte für einen Moment daran, die Dateien per E-Mail zu senden, aber er verwarf diese Idee wieder. Er wollte keine digitalen Spuren hinterlassen, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit, dass der Professor sein Eindringen hier bemerken würde, äußerst gering war. Leon zückte sein Smartphone und fotografierte den Bildschirminhalt ab. Dann schloss er die Datei. Als Nächstes öffnete er eine PDF-Datei.

Zuerst fielen ihm die chinesischen Schriftzeichen auf. Leon konnte sie nicht lesen, aber er vermutete, dass in den aufgeführten Tabellen medizinische Werte und Angaben zu verabreichten Medikamenten standen.

Er fotografierte mit seinem Smartphone den Inhalt zweier Dokumente.

Leon hob den Kopf. Hatte er ein Geräusch vor dem Büro gehört? Er hatte das Gefühl, als würde er beobachtet. Doch alles blieb ruhig. Leon öffnete die nächste Datei. Bevor er sie sich näher ansehen konnte, schloss sie sich wieder. Leon versuchte erneut, sie zu öffnen, aber der Zeiger seiner Maus reagierte nicht mehr. Auch die Tastatur war tot. Leon starrte auf den Bildschirm. Etwas stimmte nicht.

Er steckte langsam sein Smartphone ein. Jetzt schloss sich wie von Geisterhand der Dateiexplorer. Leon versuchte erneut, den Mauszeiger zu bewegen, um den Computer herunterzufahren. Plötzlich starrte Leon in sein eigenes Gesicht. Einen Moment setzte sein Atem aus. Panik ergriff ihn. Aber dann holte er tief Luft. Er musste die Bildschirmkamera, die im Monitor integriert war, versehentlich aktiviert haben.

Leon schaltete den Bildschirm aus und betätigte den Schalter am PC. Nach einigen Sekunden verstummte der Ventilator des Rechners und es war still.

Leon öffnete die Bürotür und spähte auf den Flur. Verlassen und totenstill, wie es an einem Samstagabend sein sollte. Er wollte es sich nicht eingestehen, aber etwas machte ihm Angst. Vermutlich lag es daran, dass das Adrenalin in seinem Körper nicht mehr wirkte.

Erst als er die Uniklinik durch den Personaleingang verließ, atmete er auf.

Kapitel 2

Als der Mann die Meerbar am Düsseldorfer Hafen betrat, nahm kaum jemand von ihm Notiz. Die Gäste genossen an diesem Novemberabend das außergewöhnliche Essen oder blickten durch die tiefen Scheiben des noblen Restaurants auf die beleuchteten Schiffe, die den Rhein scheinbar lautlos stromauf oder –abwärts glitten.

Ein schwarz gekleideter Kellner neigte den Kopf und schritt voran. Der Mann folgte lautlos mit den fließenden Bewegungen eines Raubtiers. Er hielt sich gut in Form und wusste, dass er nicht wie Anfang vierzig wirkte, sondern mindestens zehn Jahre jünger. Im hinteren Teil des Restaurants saßen keine Gäste, und das war dem Mann recht. Er kam hierher, wenn er nach einem langen Tag seine Ruhe genießen wollte.

Der Kellner führte ihn hinter eine Trennwand zu einem Tisch mit schneeweißem Tischtuch, an dem für eine Person gedeckt war.

»Ihr Stammplatz«, sagte der Kellner. »Unsere Küche würde sich freuen, Ihnen etwas von unseren Spezialitäten anzubieten. Zum Beispiel …«

»Bringen Sie mir den Chateau Batailley!«, unterbrach ihn der Mann. »Den Fisch suche ich mir selbst aus.«

Der Kellner nickte und verschwand in einem Nebenraum. Der Mann wandte sich dem Aquarium mit den Forellen zu. Als er sich näherte, stoben die Fische auseinander. Instinktiv schienen sie Schutz zu suchen und schwammen in Panik in die entfernteste Ecke.

Der Mann sah diesem Schauspiel unbewegt zu. Nur seine Augen folgten den hektischen Fluchtversuchen der Fische.

Die Tür zur Küche öffnete sich und der Chefkoch trat mit einem Lächeln, welches nur von seiner makellosen weißen Kochuniform überstrahlt wurde, auf den Mann zu.

»Monsieur, ich bin überglücklich … Wenn ich Ihnen ein Exemplar empfehlen kann …«

Eine Handbewegung des Mannes brachte den Küchenchef zum Schweigen. Er zeigte auf eine Forelle, die vor den anderen schwamm und seinen Blick zu erwidern schien.

»Sehr gerne. Sie wünschen die Zubereitung wie immer?«, fragte der Küchenchef.

Der Mann nickte. Der Chefkoch winkte einen Kellner herbei. Dieser tauchte ein Netz in das Aquarium, trennte die gewählte Forelle von ihren Artgenossen, hob sie mit einer fließenden Bewegung heraus und ließ den Fisch in einen mit Wasser gefüllten Eimer gleiten. Der Küchenchef schritt in die Küche voran und scheuchte mit einem »Vite, vite!« das Personal heraus.

Der Mann zog zwei schwarze Plastikhandschuhe, die ihm der Küchenchef reichte, über. Der Arbeitsbereich aus Edelstahl vor ihm war blankgescheuert, die Abläufe für die Flüssigkeiten sauber. Vor seinem Auge tauchte für einen Moment das Bild eines Autopsieraums auf. Erinnerungen aus einer anderen Zeit. Aber es war die gleiche Erregung, die ihn überkam.

Der Mann blickte nach rechts und links. Er hatte die Küche nun für sich allein. Ohne zu zögern, griff er mit beiden Händen in den Eimer zu seinen Füßen. Er presste die Forelle auf die polierte Arbeitsfläche. Die Schwanzflosse zuckte hin und her. Die Kiemen öffneten und schlossen sich hektisch. Der Mann starrte dem Fisch in die Augen. Er hoffte, sein Opfer würde ihn sehen und erkennen, dass er es war, der ihm das Leben nahm.

Die Bewegungen des Fisches wurden langsamer. Entschlossen griff der Mann zum Filetiermesser, welches zu seiner Rechten lag und trennte mit einem geraden Schnitt der Forelle den Kopf ab. Ein paar Sekunden durchzuckten elektrische Impulse den Körper des Fisches, dann lag er still da.

Der Mann holte tief Atem.

Manchmal brauchte er diese Momente. Normalerweise arbeitete er im Hintergrund. Er war derjenige, der steuerte, der Anweisungen gab, der alles im Blick hatte. ›Phönix‹ nannten sie ihn ehrfurchtsvoll. Der Name gefiel ihm, verkörperte er doch Weisheit und Macht.

Aber er kannte seine eigenen dunklen Seiten. Auch denen musste er Raum geben. Denn sie gehörten genauso zu ihm, wie seine anderen Talente und machten ihn erst zu dem, was er war.

Der Phönix warf die Plastikhandschuhe in einen Abfallbehälter und blickte an seinem Anzug herunter. Makellos.

Er verließ die Küche. Der Küchenchef und das Personal wieselten hinein, während der Phönix sich an seinen Tisch setzte. Der Kellner stand bereit und ließ ihn den Wein kosten. Der Phönix nickte zustimmend. Als er sich entspannt zurücklehnte, klingelte sein Smartphone.

Er hörte einen Moment zu.

»Senden Sie das Foto!«, sagte er.

Das Vibrieren seines Smartphones signalisierte den Eingang einer Nachricht. Er öffnete sie. Das Bild zeigte das bläulich angestrahlte Gesicht eines jungen Mannes mit dunklen lockigen Haaren, der scheinbar hochkonzentriert auf eine Stelle leicht unterhalb der Kamera starrte.

»Er konnte die Daten also nicht herunterladen, sondern nur abfotografieren, bis Sie den PC übernehmen konnten?«, fragte er seinen Gesprächspartner. Er hörte einen Moment zu.

»Ich kümmere mich persönlich darum.«

Der Phönix beendete das Gespräch. Ich habe geahnt, dass es dazu kommen würde, dachte er. Gut, dass ich vorbereitet bin. Jagdfieber ergriff ihn. Das war besser als die Episode in der Restaurantküche. Das war kein Spiel mehr. Er würde es genießen. Und länger als nur ein paar Minuten.

Kapitel 3

Simon Harper betrat die überdachte und von Heizstrahlern erwärmte Terrasse des Beijing Palace. Das chinesische Restaurant lag am nördlichen Stadtrand Düsseldorfs, wohin keine Touristen kamen. Die wenigen Gäste verteilten sich im Innenraum. Harper wählte jedoch einen Platz am Rand der Terrasse, wo er durch Sträucher halb verdeckt war, und setzte sich mit dem Rücken zur Wand des Gebäudes. Von hier hatte er einen guten Blick auf das Geschehen vor ihm, brauchte aber nicht zu befürchten, von hinten überrascht zu werden. Eine Angewohnheit aus seiner Zeit beim Special Air Service, der Spezialeinheit der britischen Streitkräfte, in der er jahrelang gedient hatte, bis er vor einigen Jahren aus der Armee ausgeschieden war.

Eine junge Frau Mitte 20, die ihr langes schwarzes Haar zu einem Zopf zusammengebunden hatte, nahm seine Bestellung auf. Harper wählte einen chinesischen grünen Tee und eine Wan Tan Suppe. Er sah der Frau nach. Er hatte sie schon öfter gesehen. Sie hatte asiatische Gesichtszüge, jedoch unterschieden sie sich von denen der anderen Mitarbeiterinnen des Lokals.

Es sind ihre Augen, dachte Harper.

Sie schien eine Außenseiterin unter den Angestellten zu sein, denn während die anderen miteinander sprachen und scherzten, stand sie meist abseits. Vermutlich lag es daran, dass sie hier nur jobbte, um ihr Medizinstudium zu finanzieren. Harper hatte es in einem kurzen Smalltalk mit ihr erfahren.

Heute Abend machte sie aber einen besonders bedrückten Eindruck. Harper sah, wie sie auf ihrem Weg zur Küche an einem alten Mann vorbeikam, dem sie liebevoll über die Schulter strich. Harper wusste, dass es der Vater des Besitzers war. Er saß den ganzen Abend still neben dem Durchgang zur Küche, ein Holzbrett vor sich, auf dem er runde Spielsteine hin- und herschob. Dies war sein Stammplatz. Immer, wenn Harper kam, saß er dort, stumm in sein Spiel vertieft.

Harper zog sein kleines Notebook aus dem Rucksack. Er loggte sich ein und rief seine E-Mails ab. Wo er schon einmal hier war, konnte er auch das freie WLAN des Restaurants nutzen.

Harper hatte eine schlichte Web-Seite erstellt, auf der er mit wenigen Worten seine Dienstleistung beschrieb und über die Klienten mit ihm Kontakt aufnehmen konnten.

Er war ein Troubleshooter. Seine Mission bestand darin, Probleme von Menschen zu lösen, die damit nicht zur Polizei gehen wollten. Die meisten Aufträge bekam er, weil zufriedene Kunden ihn weiterempfahlen. Sie schätzten seine Professionalität und Verschwiegenheit. Und das war auch notwendig, denn Harper lebte undercover. Seine geschiedene Frau und seine 14-jährige Tochter wohnten in London. Harper traf sich nur selten mit ihnen, und wenn, dann unter den größtmöglichen Sicherheitsvorkehrungen. Harper hatte sich bei Einsätzen für den Special Air Service Feinde gemacht. Feinde, die nicht vergaßen und die Rache geschworen hatten. Grund genug, inkognito zu leben und unter dem Radar offizieller Stellen zu bleiben.

Harper rief seine E-Mails ab, aber keine einzige Anfrage war in seinem Posteingang. Er hatte zwar Rücklagen gebildet, ein Auftrag würde ihm jedoch guttun. Nicht nur seinen Finanzen, sondern auch seiner Seele. Er musste beschäftigt und abgelenkt bleiben, sonst würden ihn die Erinnerung an seine Vergangenheit und der Ausblick in eine ungewisse Zukunft verschlingen. Die Antidepressiva allein, die ihm seine Psychotherapeutin verschrieben hatte, konnten keine dauerhafte Lösung für ihn sein.

Vielleicht werde ich bald hinter untreuen Ehemännern herschnüffeln müssen, dachte Harper, verstaute sein Notebook und starrte auf die Straße.

Die junge Frau, die seine Bestellung aufgenommen hatte, brachte Harper eine handtellergroße Porzellanschale und eine weiße Kanne. Sie füllte die Schale behutsam mit grünem Tee.

»Sie machen einen traurigen Eindruck«, sagte sie.

Harper sah sie an. Sie schien ihn zu durchschauen. »Ich war in Gedanken. Nur der Job. Was ist mit Ihnen? Auch Sie scheint etwas zu bedrücken.«

»Nur der Job«, sagte sie und lächelte ihn an.

»Dann haben wir ja etwas gemeinsam.«

Bevor sie antworten konnte, wandte sie sich um. Ein junger Mann mit schwarzen Locken und grünem Brillengestell betrat die Terrasse des Restaurants. Sie ging auf ihn zu und führte ihn am Arm zur anderen Seite der Terrasse. Der junge Mann flüsterte aufgeregt auf sie ein, während er sich setzte. Sie nahm neben ihm Platz und legte ihre Hand auf seine.

»Was ist los, Leon?«, fragte sie.

Verdammt, ich werde alt. Zu uninteressant für junge Frauen, dachte Harper.

Er nippte an dem heißen Tee. Er mochte den leicht bitteren Geschmack und das Gefühl, wie er langsam seine Kehle hinunterrann.

Er blickte zu dem jungen Paar, welches die Köpfe zusammengesteckt hatte. Der Mann redete ohne Unterbrechung und deutete auf das Display seines Smartphones. Harper hörte nur ein paar Wortfetzen.

»Professor Mertens … Daten … Unterlagen …«

»Shenmi!« Der Ruf des Restaurantbesitzers Bao Feng knallte wie ein Schuss über die Terrasse. Shenmi, die junge Frau, warf den Kopf nach oben. Feng rief ihr einen kurzen Befehl auf Chinesisch zu, doch sie rührte sich nicht von der Stelle und sprach weiter mit ihrem Begleiter.

Feng murmelte ärgerlich vor sich hin, nahm ein Tablett mit einer Schale Suppe von der Anrichte und kam auf Harper zu.

»Alles muss man selbst machen«, sagte er, während er servierte. »Selbst auf die Familie ist kein Verlass mehr.«

»Ist sie Ihre Tochter?«

»Meine Nichte, die Tochter meines Bruders. Aber Familie zählt nichts mehr, wenn man nur Flausen im Kopf hat.«

»Das sind junge Leute«, sagte Harper. »Wir waren auch mal jung.«

Feng lachte. »Sie sind es ja noch. Ich gehe auf die 50 zu.«

»Unmöglich! Ich hätte Sie wie mich auf Mitte 30 geschätzt.«

»Das liegt an dem gesunden chinesischen Essen. Und am regelmäßigen Training! Seit meiner Militärzeit mache ich jeden Morgen meine Übungen.« Er schlug sich auf Brust und seinen leichten Bauchansatz. »Das hält fit!«

»Sie waren in der Volksarmee?«, fragte Harper.

»Bewaffnete Volkspolizei, die chinesische Elitetruppe. Wir waren die Besten, die Härtesten, die Klügsten und die Schönsten!«

»Das behaupten alle Elitesoldaten von sich«, sagte Harper.

»Sie sind aber auch Soldat«, sagte Feng. »Ich sehe das an Ihrer Art, sich zu bewegen.«

»Das ist Vergangenheit. SAS. Britische Armee«

Feng schnalzte mit der Zunge. »Der berühmte Special Air Service. Die zweitbeste Truppe der Welt.«

Harper deutete auf einen freien Stuhl an seinem Tisch. »Setzen Sie sich doch zu mir!«

»Sehr gerne! Aber nur, wenn ich Sie einladen darf.«

»Das kann ich nicht annehmen«, sagte Harper. »Ich werde die Rechnung bezahlen.«

Feng lachte. »Und was machen Sie, wenn ich Ihnen keine Rechnung stelle? Kein Streit unter Waffenbrüdern!« Feng streckte seine Hand aus. »Ich heiße Bao.«

Harper erhob sich und ergriff die ausgestreckte Hand. »Simon. Aber jetzt setz dich zu mir!«

***

Der Phönix hatte im Vorbeifahren einen Blick auf das Restaurant geworfen. Die Terrasse war leer bis auf das junge Paar auf der einen und die beiden Männer auf der anderen Seite.

Er parkte seinen schwarzen Mercedes S450 Coupé halb auf dem Gehweg. Er dachte einen Moment nach. Abwarten war nicht seine Art. Es konnte nicht schaden, sich umzusehen. Er stieg aus, holte eine dunkle unauffällige Jacke aus dem Kofferraum und näherte sich von der Seite dem Restaurant. Rechts und links des Gebäudes standen hohe Büsche, die schon lange nicht mehr beschnitten worden waren und eine akzeptable Deckung boten. Die Dunkelheit würde sein Vorhaben begünstigen. Während das junge Paar in ein Gespräch vertieft war, behielten die beiden Älteren die Umgebung im Auge.

Eine Gruppe junger Männer zog lärmend am Beijing Palace vorbei. An der Aufmachung erkannte der Phönix, dass es sich um einen Junggesellenabschied handelte. Der Alkoholpegel hatte ein vernünftiges Maß deutlich überschritten.

Das ist eine Gelegenheit, dachte er.

***

Harper und Feng sahen dem Trupp junger Männer nach, der grölend am Beijing Palace vorbeizog. Als sie ihre Unterhaltung wieder aufnehmen wollten, erschütterte ein lauter Knall die abendliche Ruhe. Harper und Feng sprangen gleichzeitig auf. Shenmi und Leon blickten erschrocken um sich.

Das Geräusch war von der Seite des Restaurants gekommen. Feng lief an den Büschen vorbei um die Ecke des Gebäudes. Harper folgte. Er warf einen Blick zurück auf Shenmi und ihren Begleiter. Der junge Mann starrte ihnen nach, Shenmi hatte sein Handy an sich genommen und hielt es verkrampft in beiden Händen.

Feng fluchte auf Chinesisch. Durch eine große Seitenscheibe des Restaurants zog sich ein diagonaler Riss von links oben nach rechts unten. Davor lag ein faustgroßer, schmutziggrauer, schwerer Stein. Von innen starrte ihnen Fengs Ehefrau entgegen. Harper brauchte kein Chinesisch zu verstehen, um zu erkennen, dass auch sie fluchte.

»Verdammte Bande!«, brüllte Feng. Harper erfasste die Umgebung. Auf den ersten Blick war kein Verdächtiger zu sehen. Er hörte das leiser werdende Grölen der jungen Männer. Wenn es jemand aus dieser Gruppe gewesen war, dann musste er um das Restaurant herumgelaufen sein, um möglichst schnell aus dem Blickfeld zu verschwinden.

»Ich sehe hinten nach!«, rief Harper, doch Feng hielt ihn zurück. Er atmete heftig und versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bringen.

»Mach dir keine Mühe! Der Kerl ist weg. Ich lasse das morgen reparieren. Die Versicherung zahlt.«

»Er ist vermutlich noch in der Nähe«, sagte Harper.

Feng nahm ihn am Arm und hielt ihn fest. »Es lohnt den Aufwand nicht. Das waren nur dumme Jungs!«

Er führte Harper zurück auf die Terrasse. Shenmi und Leon standen an ihrem Tisch.

Feng ging zu Shenmi und knurrte: »Geh wieder an die Arbeit!«

Shenmi funkelte Feng an, dann erhob sie sich betont langsam.

»Zeit für eine Pause«, sagte sie und wandte sich an ihren Begleiter: »Ich hole nur meine Sachen.«

»Verabschiede dich von deinem Freund, und dann braucht die Küche deine Hilfe!«, sagte Feng.

Er kehrte zu Harper zurück. »Manchmal denke ich, dass ich der Einzige bin, der so etwas wie Pflichtgefühl hat. Aber dieses Wort kennen vermutlich nur noch wir alten Soldaten.«

»Sei nicht zu streng!«, sagte Harper.

»Es ist auch eine Frage der Erziehung. Weißt du, Shenmi ist die Tochter meines Bruders aus Turpan im Nordwesten Chinas. Er bat mich, hier auf sie aufzupassen. Ich bin für sie verantwortlich. Und leider ist sie seit kurzem nicht mehr so zuverlässig, wie sie vorher war. Seitdem sie diesen Leon kennt.«

»Liebe macht blind.«

Harper zog sein Portemonnaie aus der Tasche, doch Feng sagte: »Schon vergessen, dass du eingeladen bist? Beim nächsten Mal können wir uns in Ruhe unterhalten und alte Geschichten austauschen!«

»Dann vielen Dank und bis bald!«

Harper nahm seinen Rucksack, stand auf und streckte sich. Bis zu seiner Behausung war es eine Viertelstunde zu Fuß.

An der Straße standen Shenmi und Leon. Leon stieg in einen grünen Ford Fiesta, auf dessen Seiten Aufkleber prangten, die den Atomausstieg, das Ende des Braunkohleabbaus und den Stopp von Tierversuchen forderten. Er wendete seinen Wagen und fuhr in Richtung Innenstadt. Shenmi holte ihr Smartphone aus der Jacke und schien durch ihre Nachrichten zu blättern. Harper ging an ihr vorbei.

»Schönen Abend noch«, sagte er im Vorbeigehen, aber Shenmi reagierte nicht. Harper sah zurück. Sie starrte konzentriert auf ihr Smartphone. In diesem Moment bemerkte Harper, dass eine schwarze Limousine vom Straßenrand anfuhr, wendete und ebenfalls Richtung Innenstadt fuhr.

Harper vertraute seinem Instinkt für Gefahr. Manchmal hatte er ihm das Leben gerettet. Manchmal hatte er ihn aber auch in Schwierigkeiten gebracht. Aus diesem Grund zögerte er einen Augenblick. Dann kehrte er zu Shenmi zurück.

»Kann es sein, dass Ihr Freund Ärger hat?«, fragte er.

Sie sah überrascht auf.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Als Sie sich vorhin unterhalten hatten, schien ihr Freund sehr aufgeregt zu sein. Und als er gerade losgefahren ist, hat eine schwarze Limousine gewendet und ist ihm gefolgt. Es muss nichts zu bedeuten haben, aber …«

Shenmi sah die Straße hinunter, die die Fahrzeuge genommen hatten.

»Wollen Sie ihn vielleicht anrufen?«, fragte Harper.

Shenmi blickte auf ihr Handy. »Es ist nichts«, sagte sie. »Sie müssen sich geirrt haben.«

Harper wartete. Manchmal war das die beste Reaktion, um weiter zu kommen.

Schließlich wählte Shenmi eine Nummer.

»Keine Verbindung«, sagte sie.

»Wo wohnt Ihr Freund?«, fragte Harper.

»Leon wohnt in Bilk, in der Nähe der Unikliniken.«

»Dann lassen Sie uns hinterherfahren. Nur um sicherzugehen, dass er gut angekommen ist.«

Shenmi zögerte einen Moment. »Haben Sie ein Auto?«, fragte sie.

»Zu weit weg, um es zu holen. Da kommt gerade ein Taxi.«

Harper winkte ein freies Taxi heran, auf dessen Seiten eine Fastfood-Kette mit den größten Burgern der Stadt warb. Harper setzte sich auf den Beifahrersitz, Shenmi stieg hinter ihm ein.

»Richtung Uniklinik« sagte Shenmi, »Himmelgeister Straße 80.«

»Wir haben es eilig«, ergänzte Harper.

»Immer haben es alle eilig«, sagte der Taxifahrer, der wie ein Buddha auf seinem Fahrersitz thronte. »In der Ruhe liegt die Kraft.«

»Ein Notfall«, sagte Harper. »Wir sind das mobile Virus-Nachverfolgungs-Kommando des Ordnungsamtes.«

Die Erwähnung des Ordnungsamtes schien den Fahrer zu beeindrucken, denn er beschleunigte merklich. Trotzdem hielten die verkehrsabhängigen Ampelschaltungen sie immer wieder auf. Harper entdeckte weder Leons Fiesta noch die schwarze Limousine. Er hoffte, dass sein Instinkt ihn trügen würde und Leon sich nicht in Gefahr befand. Er sah nach hinten. Shenmi saß über ihr Smartphone gebeugt.

»Ich versuche, Leon eine Nachricht zu schreiben«, sagte sie, als sie Harpers Blick sah.

»Versuchen Sie noch einmal, ihn anzurufen!«

Sie fuhren quer durch Düsseldorf, parallel zum Rhein auf dem Kennedydamm entlang, passierten das Hochhaus des Ergo-Konzerns und sahen zur Rechten den Hofgarten. Die Straßen wurden leerer. Es waren vor allem Taxis, die Touristen und Geschäftsleute in die Altstadt brachten oder die Frühheimkehrer von dort wieder abholten. Durch den Kö-Bogen-Tunnel und die Berliner Allee verließen sie bald die Innenstadt und näherten sich dem im Süden Düsseldorfs gelegenen Universitätsviertel.

»Hat Leon auf Ihre Nachricht geantwortet?«, fragte Harper.

»Nein, auch auf meinen Anruf nicht. Aber vielleicht haben Sie Unrecht. Er muss sich nicht in Gefahr befinden.«

»Ich hoffe, dass ich mich irre«, antwortete Harper.

Der Taxifahrer warf Harper einen verstohlenen Seitenblick zu, erhöhte das Tempo und überquerte bei Gelb die Bilker Allee. Wenig später bogen sie in die Himmelgeister Straße ein. »Dort steht Leons Auto«, sagte Shenmi, die sich vorbeugte und über Harpers Schulter nach vorn deutete. »Sehen Sie, alles ist in Ordnung.«

»Lassen Sie uns hier aussteigen!«, sagte Harper und gab dem Fahrer dreißig Euro, nachdem er einen Blick auf das Taxameter geworfen hatte.

Die Himmelgeister Straße war eine breite Straße, die zu Stoßzeiten viel Verkehr in die Innenstadt hinein und aus ihr wieder hinausbeförderte. Um diese Zeit jedoch war es merklich ruhiger. Zu beiden Seiten erhoben sich mehrstöckige Wohngebäude, in deren Erdgeschossen kleine Geschäfte und Imbisse untergebracht waren.

Shenmi und Harper verließen das Taxi. Harper inspizierte den Ford Fiesta, der schräg in einer Parkbucht stand. Er konnte nichts Auffälliges erkennen.

»Leon wohnt auf der anderen Straßenseite«, sagte Shenmi und deutete auf das Haus gegenüber. Nur wenige Fenster waren in dem fünfstöckigen Gebäude erleuchtet.

Die beiden überquerten die Straße und näherten sich dem im Dunkel liegenden Hauseingang. Harper zückte eine kleine LED-Taschenlampe und beleuchtete das Klingelschild. Dabei fielen ihm rötliche Fingerabdrücke an der ansonsten sauber gestrichenen Hauswand auf. Auch auf dem Boden erblickte er nun frische Blutspuren.

Shenmi murmelte etwas auf Chinesisch und bedeckte ihren Mund erschrocken mit ihren Händen.

Harper beleuchtete die Haustür. Sie stand einen Spalt offen. Er näherte sich vorsichtig.

»Bleiben Sie hinter mir!«, flüsterte er. Er ergriff den Türknauf und zog langsam die schwere Tür auf. Harper hörte ein Stöhnen. Er schaltete die Flurbeleuchtung ein. Vor ihm saß Leon, an die Wand gelehnt, die Beine ausgestreckt. Mit einer Hand stützte er sich ab, mit der anderen betupfte er vorsichtig die Nase.

Shenmi schob sich an Harper vorbei und kniete sich neben Leon.

»Mein Gott, Leon, was ist passiert?«

Benommen starrte er sie und Harper an.

»Ich weiß nicht. Als ich an der Tür stand, tauchte jemand auf und verpasste mir eine. Ich muss kurz das Bewusstsein verloren haben.«

»Konnten Sie ihn erkennen?«, fragte Harper.

»Er war schwarz gekleidet. Er… oder sie… keine Ahnung… trug ein schwarzes Tuch vor dem Gesicht… wie ein Ninja …«

Leon richtete sich mit Harpers Hilfe auf.

»Wer sind Sie? Und was machen Sie hier?«, fragte er stockend.

»Ich heiße Simon Harper. Wir haben bemerkt, dass Sie verfolgt wurden. Spätestens von dem Moment an, als Sie mit Ihrem Auto vom Beijing Palace losgefahren sind.«

Shenmi ergänzte: »Er hatte das Gefühl, dass du in Gefahr sein könntest.«

Leon schüttelte vorsichtig den Kopf. »Meine Wohnung ist gleich hier im Erdgeschoss«, sagte er.

»Wir kommen schon klar«, sagte Shenmi. »Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

»Ich bringe Ihren Freund noch hinein«, sagte Harper.

Leon fingerte seinen Wohnungsschlüssel hervor. Dann tastete er hektisch seine Jacken- und Hosentaschen ab. »Mein Smartphone ist weg!«, rief er.

»Wir bringen Sie erst in Ihre Wohnung«, sagte Harper. »Dann kümmern wir uns um alles andere.«

Leon Dorns Wohnung bestand aus einem Wohnraum, in dem Ordner, Bücher und Papiere wild durcheinander auf Regalen und auf dem Boden verstreut waren. An den Wänden hing ein zerknittertes Plakat, das die riesigen Schaufelräder eines Braunkohlebaggers zeigte und mit der Aufschrift ›Stoppt RWE! – Rettet den Hambacher Forst!‹ betitelt war.

Leon fegte einen Stapel Zeitschriften von einem verblichenen blauen Sofa und ließ sich darauf fallen. Shenmi kam mit einem feuchten Handtuch aus der Küche und reichte es ihm. Leon tupfte vorsichtig seine Nase ab, dann legte er es sich auf die Stirn.

»Ich nehme an, dass nichts gebrochen ist«, sagte Harper. »Sie haben vermutlich noch Glück gehabt. Aber wir sollten den Überfall der Polizei melden.«

»Keine Bullen«, stöhnte Leon. »Die stehen sowieso immer auf der falschen Seite. Es ist nur ein altes Smartphone geklaut worden. Ich wollte mir sowieso ein Neues kaufen.«

»Niemand jagt mit einer sportlichen Limousine hinter einem Smartphone her, selbst wenn es das neueste Modell ist. Also versuchen Sie nicht, mich zu veralbern!«

»Sehen Sie sich hier um! Glauben Sie, ich hätte etwas, was jemand anderen interessiert?«

»Ich habe mich bereits umgesehen. Ziemlich unaufgeräumt hier.«

»So bin ich halt«, sagte Leon.

»Aber dass Sie keinen PC oder kein Notebook haben, das können Sie mir nicht erzählen.«

Leon richtete sich abrupt auf. Er sah zu dem schmalen Tisch in der Ecke des Zimmers.

»Verdammt!« Er ließ sich fallen. »Verdammt! Verdammt!« Dann murmelte er: »Das wird er mir bezahlen.«

»Wollen Sie mir nicht endlich erzählen, was hier los ist?«, fragte Harper.

Leon sah Harper an.

»Ich habe Recht gehabt.«

»Womit?«

»Nichts, was Sie etwas angeht.«

»Wenn ich dreißig Euro für ein Taxi investiere und meine Zeit opfere, dann geht es mich schon etwas an. Im Beijing Palace haben Sie von Professor Mertens und irgendwelchen Daten gesprochen. Was meinten Sie damit?«

Harper blickte von Leon zu Shenmi und wartete. Keiner sprach.

»Was haben Sie mit diesem Professor zu schaffen?«, hakte Harper nach. »Verdammt, Sie stecken in Schwierigkeiten, merken Sie das nicht?«

»Sie sind ja echt eine Plage«, murmelte Leon. »Wir haben nur über ihn gesprochen, weil wir ihn beide kennen. Shenmi studiert bei ihm Medizin und ich arbeite in seiner Abteilung.«

»Und was haben Sie Shenmi auf Ihrem Smartphone gezeigt?«

»Privatsache. Das geht nur mich etwas an.«

»Offensichtlich nicht!« Harper wartete, dass Shenmi etwas sagte, aber sie starrte nur stumm auf den Boden.

»Merken Sie nicht, dass Sie jemandem auf die Füße getreten sind?«

»Ich kann selbst auf mich aufpassen«, sagte Leon.

»Das habe ich gesehen. Mit Ihrer blutenden Nase waren Sie aber keine beeindruckende Erscheinung.«

»Es kommt nicht auf Muskeln an. Informationen sind wichtig. Wissen ist der Schlüssel. Und da habe ich noch einiges in der Hinterhand.«

»Glauben Sie, Sie jagen jemandem, der nicht davor zurückschreckt, Sie zusammenzuschlagen und Ihre Bude auf den Kopf zu stellen, damit Angst ein? Für den zählen Sie nicht. ›Collateral damage‹ nannten wir bei der Army das damals zynisch. Und wir haben gehofft, dass es dafür eine Rechtfertigung geben würde.«

»Collateral damage«, stieß Leon aus. »Verschonen Sie mich mit Ihrem Militärjargon! Ich bin kein Kollateralschaden. Wer sich mit mir anlegt, der wird es bereuen.«

Harper seufzte. Leon wollte sich nicht von ihm helfen lassen. Vielleicht hatte er sogar Recht.

»Der Angriff auf Sie war keine Bagatelle«, startete Harper einen letzten Versuch. »Sie müssen zur Polizei gehen. Ich kenne eine Polizistin, der Sie vertrauen können. Sie arbeitet im Präsidium.«

»Ihr Gerede ist schlimmer als der Schlag in mein Gesicht. Wenn Sie mich jetzt in Ruhe lassen, verspreche ich, morgen zu ihr zu gehen.«

Skeptisch blickte Harper Leon an. Er hatte die Augen geschlossen.

»Ich bleibe bei ihm«, sagte Shenmi.

»Sorgen Sie dafür, dass er morgen früh zum Polizeipräsidium geht! Er soll sich bei Veronika Feller melden. Ich sage ihr vorher, dass er kommt.«

»Ich tue mein Möglichstes«, sagte Shenmi.

Kapitel 4 Montag

Harper verließ Leons Wohnung. An der Wohnungstür strich er mit den Fingerspitzen über das Türblatt. Dann sah er sich das Schloss an. Ein altes Modell. Mit dem richtigen Werkzeug wäre es für einen Könner kein Problem, es zu knacken.

Es wurde Zeit für Harper, zu seiner eigenen Wohnung zu kommen. Er hatte seine Tabletten noch nicht genommen und, obwohl er gerne auf sie verzichtet hätte, wusste er, dass er sie brauchte.

Doch ein paar Schritte an der Nachtluft würden ihm guttun. Er musste nachdenken.

Leon hatte Informationen über einen Professor Mertens. Sie waren auf seinem Smartphone und Notebook und nun vermutlich im Besitz desjenigen, der diese Informationen schützen wollte. Oder der beabsichtigte, sie für sich selbst zu nutzen. Diese Daten mussten so wichtig sein, dass jemand in Leons Wohnung eingedrungen war und sein Notebook gestohlen hatte. Und er hatte auf Leon gewartet, um sich auch noch sein Smartphone zu besorgen. Dann hätte aber die schwarze Limousine, die Harper und Shenmi verfolgt hatten, nichts mit Leon zu tun. Oder steckte doch mehr dahinter, als es den Anschein hatte?

Harper schlenderte die Himmelgeister Straße zurück in Richtung Innenstadt. Er nahm sein Handy und öffnete den Internetbrowser. Er überflog die Informationen über Professor Ernst Mertens.

Leitender Chefarzt der Klinik für Neurologie der Universität Düsseldorf, davor eine mehrjährige Tätigkeit im Boston Medical Center. Eine Menge Hinweise zu Fachartikeln, deren Überschriften Harper nichts sagten. Mertens war verheiratet, hatte keine Kinder, und schien nur für seinen Beruf zu leben.

Bei Leon Dorn brachte ihn dessen Instagram-Seite weiter. Fotos von Demonstrationen im Hambacher Forst gegen die Rodung, um Braunkohle abzubauen. Aufnahmen der riesigen Ausleger eines Baggers, dessen gewaltige Schaufelräder sich in die Erde fraßen. Fotos, die mit Sicherheit nicht von RWE freigegeben worden waren. Weitere Aufnahmen von Mitdemonstranten und behelmten Polizisten.

Das alles bestätigte Harpers Eindruck. Leon war ein Aktivist. Jemand, der eine Mission hatte. Harper blätterte weiter durch die Fotos. Shenmi war auf keinem abgebildet.

Einem Impuls folgend suchte er nach ihrem Namen. Er erfuhr, dass Shenmi ›geheimnisvolles Mädchen‹ bedeutete. Aber zu ihr selbst fand er nichts in den hunderttausenden Treffern. Dazu wusste er noch zu wenig über sie.

Harper sah auf die Uhr. Bereits ein Uhr. Konnte er Veronika Feller jetzt noch anrufen? Er hatte sie vor einem Jahr kennengelernt, als sie den Mord an einem Rheinschiffer untersuchte und Harper ihr einen Hinweis auf den Täter gab. Da Harper inkognito in Düsseldorf lebte und zu seinem Schutz und dem seiner Familie nicht in die Öffentlichkeit wollte, musste Harper darauf vertrauen, dass Veronika Feller ihn vor Nachforschungen schützte. Sie hatte sein Vertrauen nicht missbraucht. Sie respektierten sich. Harper wusste, dass er auf sie zählen konnte.

Er entschied, dass zu dieser Zeit eine SMS die richtige Art war, den Kontakt herzustellen. Er bat sie um Rückruf, würde sich ansonsten aber am nächsten Morgen melden.

Harper sah sich um. Er war gedankenversunken durch die Stadt gelaufen, ohne darauf zu achten, wohin ihn sein Weg führte. Er stand vor den menschenleeren Düsseldorf Arcaden, einem Einkaufszentrum in Bilk. Die U-Bahn-Station war nicht weit und die U72 würde ihn bis zur Endhaltestelle Hubertushain bringen, von wo er nur wenige Minuten bis zu seiner Unterkunft brauchen würde.

Harper setzte sich in einen der hinteren Wagen. Nur vereinzelt waren die Plätze von Nachtschwärmern besetzt.

Harpers Smartphone vibrierte.

»Hallo Frau Feller. Danke, dass Sie mich zurückrufen.«

»Was für eine Überraschung«, antwortete Feller. Ihr süddeutscher Akzent klang deutlich durch. »Ich habe heute noch an Sie gedacht.«

»Ist das eine gute oder eine schlechte Nachricht für mich?«, fragte Harper.

»Das kommt darauf an. Da ich aus Ihnen nie so richtig schlau geworden bin, kann ich das nicht sagen. Aber Sie wollten sicherlich etwas von mir. Fangen wir damit an!«

»Ich möchte Sie um etwas bitten«, sagte Harper. »Morgen meldet sich ein Leon Dorn bei Ihnen. Er ist gerade übel zugerichtet worden, als ihm sein Smartphone geraubt wurde. Scheinbar ist auch seine Wohnung durchsucht und sein Notebook gestohlen worden. Vermutlich waren darauf Informationen über einen Professor der Uniklinik gespeichert. Leon wollte nicht so richtig damit herausrücken, worum es ihm eigentlich ging. Auf jeden Fall steckt er wohl im Schlamassel.«

»Und ausgerechnet Sie sollen ihm helfen?«

»Ich bin eigentlich nur über die Angelegenheit gestolpert. Ich weiß nicht, wie viel dahintersteckt. Aber ich habe ihm gesagt, er könne sich vertrauensvoll an Sie wenden. Kann er doch, oder?«

»Eigentlich reicht es, die 110 zu wählen. Oder zur nächsten Polizeiwache zu gehen.«

»Freiwillig macht er das nicht. Er ist Umweltaktivist. Hat vermutlich schon einmal Bekanntschaft mit der Polizei gemacht. Aber ich habe ihm gesagt, Ihnen könne er vertrauen.«

Feller seufzte. »Wenn er kommt, nehme ich mir ein paar Minuten Zeit für ihn und werde ihn verarzten.«

»Vielen Dank! Vielleicht entwickelt sich ja ein interessanter Fall daraus.«

Feller lachte. »Darauf kann ich verzichten. Aber für Sie habe ich eine interessante Info. Sagt Ihnen der Name ›Vincent Cole‹ noch etwas?«

Harpers Nackenhaare sträubten sich, das Adrenalin schoss in seine Blutbahn. Vincent Cole. Erst vor einem Jahr war er bei einem Fall auf ihn getroffen. Cole war ein Auftragskiller für die Sekte ›Church of Inner Freedom‹. Harper hatte gedacht, er wäre tot gewesen, als sein Körper bei Kaiserswerth den Rhein hinabtrieb, aber Cole hatte scheinbar viele Leben, denn er rettete sich, tötete zwei Rheinschiffer und verschwand.

»Was ist mit Cole?«

»Die Briten haben uns informiert. Er ist unter falschem Namen in London Heathrow gelandet und hat heute eine Maschine nach Frankfurt bestiegen. Dann verliert sich die Spur. Ich habe die Information nur zufällig erhalten, weil ein Kollege wusste, dass wir mal Kontakt hatten.«

Verdammt, Cole war hier, um an ihm Rache zu nehmen. Aber Harpers Sorge galt auch seiner Familie, seiner Ex-Frau und seiner 14-jährigen Tochter, die in London lebten. Wegen seiner Vergangenheit konnte er nie sicher sein, dass er sie nicht doch in Gefahr bringen würde.

»Danke für die Info«, presste er heraus. »Ich melde mich.«

»Mr Harper?«

»Ja?«

»Passen Sie auf sich auf, okay?«

»Ich gebe mein Bestes.«

Die U-Bahn näherte sich der Endstation im Norden Düsseldorfs. Harper saß mit einem Mann im Nadelstreifenanzug allein im letzten Wagen. Der Mann hatte die Augen geschlossen. Seine Hände ruhten auf einem Aktenkoffer, der auf seinem Schoß lag.

Harper behielt ihm im Blick, als er eine kurze SMS tippte und sie an seine Ex-Frau verschickte. Nur wenige Worte. »Ich rufe heute früh an. Passt auf euch auf!«

Die U-Bahn hielt. Harper wartete, dass der Geschäftsmann den Wagen verließ, dann stieg er selbst aus. Er blickte ihm hinterher. Der Mann wechselte die Straßenseite und verschwand in einer Nebenstraße.

Um diese Zeit war hier in Düsseldorf-Rath kaum ein Mensch unterwegs. Harper folgte der Reichswaldallee ein paar hundert Meter, dann bog er in den schmalen asphaltierten Weg ab, der zu seiner Baracke führte.

Die Baracke war sein Rückzugsort. Sie lag neben dem alleinstehenden Backsteinhäuschen einer verwitweten 75-jährigen alten Dame, die einen gemauerten Schuppen vor Jahren in ein Einzimmer-Appartment hatte umbauen lassen. Sie hatte es zuerst an Handwerker vermietet, die monatelang auf einer Großbaustelle in Düsseldorf beschäftigt waren. Als es wieder frei war, hatte Harper vor zwei Monaten zugegriffen. In dem Zimmer standen ein Schlafsofa, ein Schrank und ein Tisch. Eine kleine Spüle mit Wasserkocher und Kaffeemaschine und ein Herd vervollständigten die bescheidene Ausstattung. Für Harper war das vollkommend ausreichend. Er stellte keine Ansprüche.

Aber der Standort war ideal für ihn. Der Aaper Wald, ein Waldgebiet im Norden der Stadt, grenzte unmittelbar an die Baracke. Sollte es nötig sein, so war dort sein Rückzugsort.

Musste er sich bereits jetzt darum Gedanken machen?

Im Haupthaus war alles dunkel, seine Vermieterin würde bereits schlafen. Sie kümmerte sich nicht um Harper, weil sie dafür keine Zeit hatte, wie sie ihm einmal gesagt hatte. Sie war mit ihren Yoga-Kursen und Studienfahrten viel zu sehr beschäftigt. Harper war das nur Recht. Je weniger Kontakt er hatte, desto weniger würde er auffallen und andere in Gefahr bringen.

Harper umrundete seine Baracke. Er richtete den Lichtstrahl seiner LED-Taschenlampe auf das Türschloss an der Holztür. Er erkannte nichts Ungewöhnliches. Er schloss auf, trat ein und schaltete das Licht an. Alles war unverändert. Harper schob den schwarzen Holzschrank ein Stück zur Seite. Ein eingemauerter kleiner Wandtresor mit einem elektronischen Zahlenschloss kam zum Vorschein. Es hatte Harper drei Tage gekostet, heimlich das Loch auszustemmen und Steine und Zement im Wald zu entsorgen, ohne dass seine Vermieterin etwas davon mitbekam.

Er entriegelte den Wandsafe. Neben ein paar tausend Euro Bargeld lagen seine Glock 17 und die etwas kleinere Glock 28, daneben ein halbes Dutzend Magazine mit Patronen.

Harper nahm die größere Waffe heraus und schob die Munition in das Lager. Dann schloss er den Safe und rückte den Schrank wieder davor. Schließlich betätigte er einen Schalter und aktivierte damit einen Bewegungsmelder, den er an der Baracke angebracht hatte.

Er war vorbereitet. Er würde sich nicht überraschen lassen.