Harro Harring - Rebell der Freiheit - Peter Mathews - E-Book

Harro Harring - Rebell der Freiheit E-Book

Peter Mathews

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Beschreibung

Der vergessene Rebell: Die erste Biografie über den Freiheitskämpfer, Dichter und Maler Harro Harring Harro Harring ist der tragische Held der politischen Romantik, der "Dichter Unbekannt" des 19. Jahrhunderts. Der gebürtige Friese liebte die schönen Künste – und er liebte den Kampf für die Freiheit. Zu Lebzeiten gleichermaßen verehrt und gefürchtet, kämpfte er an der Seite von Guiseppe Mazzini für ein vereintes Europa ohne Grenzen, schrieb flammende Plädoyers zur Gleichberechtigung der Frau und berichtete als einer der ersten von der Sklaverei in Brasilien. In Peter Mathews, fesselnder Biografie verdichtet sich die Lebensgeschichte des heute nahezu vergessenen Rebellen zu einer Meistererzählung des stürmischen deutschen Vormärz. 1798 als Sohn eines Deichgrafen bei Husum geboren, zog Harro Harring in die Welt, um das Malen zu lernen. 1821 ging er nach Griechenland, um für die Freiheit Griechenlands gegen die Türken zu kämpfen, und verfasste nach dem Warschauer Aufstand 1830 einen entlarvenden Bericht über Polen unter russischer Herrschaft, der unmittelbar ein Bestseller, aber auch sofort verboten wurde und in Deutschland eine Polenbegeisterung auslöste. 1832 wurden seine Lieder auf dem Hambacher Schloss gesungen. Harring gehörte zum Kreis des Geheimbundes des "Jungen Europa", das 1834 unter der Leitung von Giuseppe Mazzini ein vereintes Europa ohne Grenzen forderte, und wurde von Metternichs Agenten verfolgt. Er floh nach England, Helgoland und Brasilien, traf in New York Edgar Allen Poe und Margaret Fuller und versuchte 1848 vergeblich, die Friesen zum Kampf für die Freiheit zu rufen. Über zwanzig Mal wurde der Lyriker und Romancier für seine Aktivitäten verhaftet, er war als vogelwilder Rebell berühmt und scheiterte wie die Revolution selbst. Harring war ein Wegweiser in eine neue Zeit und starb doch vergessen und verarmt 1870 durch eigene Hand.

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1. eBook-Ausgabe 2017

© 2017 Europa Verlag GmbH & Co. KG,

Berlin · München · Zürich · Wien

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie

Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung zweier Bilder

von © ÖNB/Wien PORT_00020390_01 und © Paul Harro Harring /

Instituto Moreira Salles Collection

Redaktion: Rüdiger Dammann

Layout & Satz: Robert Gigler, München

Konvertierung: Brockhaus/Commission

ePub-ISBN: 978-3-95890-175-9

ePDF-ISBN: 978-3-95890-176-6

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

INHALT

Prolog: Harro Harring – wer?

1 Memoiren eines Kindes1810 Ibenshof – 1817 Husum

Harro und seine Brüder / Der Vater / »Hüte dich vor Nekkepenn« / Der Deichgraf stirbt / Die Kindheit wird begraben / Das Pendel / Blockadespiel / In der Lehre / Ersatzvater Todsen / So wie Asmus Jacob Carstens sein / Der Lebensplan / Schiller bei den Schafen / Harros Abschied und Ankunft Theodor Storms / EXKURS – NAPOLEONS IDEE VON EUROPA

2 Hamlet sein1819 Dresden – 1820 Wien, von Wien nach Kopenhagen

Einladung beim Kronprinzen / Der Freund Johann Christian Dahl / Der Tod des Jünglings / Im Atelier von Caspar David Friedrich / Der Zweifel / Mit süßem Beben / Zu Tode betrübt / Die Liebe, die Religion, die Freiheit / Carl Sand – Mörder oder Märtyrer/ Schopenhauer beim »Italiener« / Wilhelm Boldemann und der romantische Terror / »Auf Freiheit und Tod« / In geheimer Mission / Erst zum Friseur / Wiener auf Abruf / Ein Bild für Carl Sands Eltern / Ein Sommer mit Wilhelm Bissen in Charlottenlund

3 Freiheit oder Tod – die tragikomischen Abenteuer eines Philhellenen1821 über Hamburg nach Marseille – 1822 nach Hellas

Abschied von der Mutter / Muttersohn als Märtyrer? / Hamburger für Hellas’ Freiheit / Rotbärte, Landsknechte und eine schöne Spanierin / Die Philhellenenschar / Ein Duell / Das Korps verlässt Marseille / EXKURS – OSMANISCHE ZUSTÄNDE / In der Bucht von Navarino / Sieben Piaster / Wo bitte ist der Tod? / Das Freikorps / Unter Räubern / Der Degen als Lösegeld

4 Rom – Fieber des Herzens1822 Ancona, Rom, Livorno

In Quarantäne / Fieberträume / Der Kirchenstaat / Auf der »Via Dolorosa« / Das Alter Ego Rhonghar Jarr / In Thorvaldsens Atelier / Die Muse Vittoria Caldoni / Eine edle Spende / Abschied von Freund Moßdorf / Sievekings Säbel / Der gelehrige Schüler in Sachen Liebe / Fieber des Herzens / Auf der Suche nach Milordo / Shelleys Tod / Lord Byron im Meer

5 Alles Theater1822 München – 1825 Schweiz, München – 1826 Wien – 1827 Prag – 1827 München

Harro wird Grieche / Mit Hellas erobert Harro Münchens Theater / Audienz bei Ludwig I. / Aussicht auf Karriere / Gottfried Semper kommt nicht zum Duell / Ein schlechtes Stück / Mutter und Tod / Die schöne Gräfin / Ypsilantis in Theresiestadt / Besuch im Gefängnis / Befreiungsversuch à la Shakespeare / Gerüchte verhindern die Flucht / EXKURS – DIE SCHLACHT VON NAVARINO / Des Königs Pläne für Griechenland / Befreiung und Tod Ypsilantis’ / Harring und Heine, die ungleichen Brüder / »Dichter unbekannt« / Der Münchner Händel / Geistige Kleinstaaterei / Der Freier flieht vor sich selbst

6 In Polen unter russischer Herrschaft1828 Warschau

EXKURS – DIE LAGE IN KONGRESSPOLEN NACH 1815 / Comte de Diques, die fatale Lüge / Der große Irrtum / Audienz beim Großfürsten / Die Angst des Großfürsten Konstantin Pawlowitsch Romanow / König der Nacht / »Es ist nicht nach der Form« / Baron von Saß, oberster Spion Seiner Majestät / Ein lebensgefährliches Angebot / Letzter Ausweg Flucht / Kein Verrat – niemals

7 Für eure und unsere Freiheit1830 Leipzig – 1831 Straßburg

Das Vorbild der Julirevolution in Paris / Mitglied der Freimaurerloge »Apollo vom Oriente« / Die Memoiren über Polen / Der russische Agent Baron von Schweizer / Anton Philip Reclam zeigt Mut / Der Warschauer Aufstand / Elegie an Bernhard Moßdorf / Erfolgreich und verboten / Redakteur der Zeitschrift »Deutschland« / Ramorino in Straßburg / EXKURS – GEORG BÜCHNERS BRIEF AN SEINE ELTERN / Der Zeitgeist lässt sie ähnlich denken / Abschied von Straßburg

8 Es ist kein Traum – das Hambacher Fest1832 Neustadt – 1832 La Chaume – 1833 Straßburg

Am Grenzposten / Alias Louis Haubenstricker / Beim Buchhändler / Beim Bürgermeister / In Rheinbayern / Das Fest zur »Wiedergeburt Deutschlands« / Neustadt in Schwarz-Rot-Gold / Vivat Börne! / Der Spaziergang / Börne will nicht reden / Der Abend vor dem Fest / »Hinauf zur Burg!« / »Es ist kein Traum« / »Europa! Europa!« / Die Gunst der Stunde / »Wer sich zum deutschen Volk bekennt« / Die gestohlenen Uhren / Kompetenz / EXKURS – O SCHILDA, MEIN VATERLAND! / Überstürzte Flucht / Siebenpfeiffer, Wirth und andere werden verhaftet / Exil in Frankreich / Frankfurter Wachensturm / Doch den Aufstand wagen / Die heilige Schar

9 Jetzt und immer – das junge Europa1833 Genf – Schweiz

Die erste Begegnung mit Giuseppe Mazzini / Napoleons General / Vorbereitungen für den Einmarsch in Savoyen / Ein kläglicher Aufstand / Der Verräter Romarino / EXKURS – DIE GEBURT EUROPAS / Worte eines Menschen, im Geiste Pater Lamennais’ / Aufbruch in Religion und Philosophie / Diplomatischer Druck auf die Eidgenossen

10 Exil und Verfolgung1834 von Frankreich nach London – 1835 London, Belgien, Paris, Schweiz – 1836 Zürich, London, Jersey

Exil in London / EXKURS – DER ERSTE INTERNATIONALE GEHEIMDIENST / Ausweisung / Wutgedichte / Politische Romantik / »Die Möwe« / Übervater Goethe / Joseph Garniers Verrat an Kaspar Hauser / Nach Polen? / Ein feministisches Revolutionsdrama / Noch ein Duell / Bei Börne in Paris / Moralisches Fieber / National oder international? / Der Züricher Studentenmord / Wieder alles verraten / Die Verbesserung der Welt / Wieder einmal Memoiren / Das Duell von Hampton / Ein Hund von Mazzini / Skizze aus London

11 Insel des Verrats1838 Helgoland, Jersey, Helgoland – 1839 Bordeaux

Heimlich in Hamburg / Auf Helgoland / In Ketten / Die Furie Suicidia / Zurück auf die Insel des Verrats / Nach Süden / Asyl in Bordeaux / Ein Auftrag in Rio

12 Tropische Skizzen1840 Brasilien – 1841 London – 1842 Rio de Janeiro

Bilder über die Sklaverei in Brasilien / In der türkischen Botschaft in London / Bettelbriefe an den dänischen König / Die Vereinigten Staaten von Südamerika / Dolores, der große Roman über Südamerika / Im Auftrag Garibaldis nach New York

13 In bester Gesellschaft – bei Uncle Sam 1844 New York – 1846 London, Philadelphia

Die Stadt der Einwanderer / Giuseppe Avezzana, der Vater von »Little Italy« / Der geöffnete Brief / New Yorks High Society / Bei »Uncle Sam« / »Welcome Mr. Harring« / Samuel Gridley Howe, der amerikanische Humanist / Alexander H. Everett, Diplomat und Biograf / Edgar Allan Poe, der Geistesverwandte / Der Skandal um »Dolores« / Margaret Fuller, Kritikerin, Frauenrechtlerin, Beschützerin / Zu viel des Guten ? / Ralph Waldo Emerson, the American Scholar / Zur falschen Zeit am falschen Ort

14 1848 – Revolution in der Heimat1848 auf See, Schleswig-Holstein

Die Märzrevolution / Kopenhagener Erbfolge / Der deutschdänische Krieg / Es hat in Paris angefangen / Die leidige Schleswig-Holstein-Frage / Große Pläne auf See / Zurück bei der Familie / Großer Empfang in Tönning / Die Rede in Bredstedt / Für ein freies Friesland / Ein Gedicht zum 50. Geburtstag / Die zehn Gebote er Freiheit / Louise Aston und die Liebe zur Freiheit / Keine Grenz- und keine Klassenfrage

15 Volksheld in Norwegen1849 Christiania

Habseligkeiten / Weltberühmt in Norwegen / EXKURS – NORWEGEN MITTE DES 19. JAHRHUNDERTS / Petition an den König / »Testament fra America« / An Harring ein Exempel statuieren / Norwegens erste Großdemonstration / Der »Fall Harring« spaltet das Land

16 Verraten, verfolgt, vergessen1850 London – 1853 New York – 1855 Rio de Janeiro

EXKURS – KARL MARX UND DER KONFIDENT EDGAR BAUER / Harro im Visier des Agenten / Abrechnung mit den Kommunisten / Karl Marx über die »Großen Männer des Exils« / Für wen schreibt Marx den Bericht? / Makler für einen Tag / Eingesperrt in Hamburgs »Vagabundengefängnis« / Der verschmähte Däne

17 Die schwarze Möwe1857–1870 Jersey

Am Strand von St. Helier / Der schwarze Zweifel / Sturmsegler / »Leb wohl! Leb wohl!« / Das Attentat auf Napoleon III. / Victor Hugos Haushälterin / Friedrich Engels zu Pferde / Conrad Schramm, auch ein Freibeuter der Freiheit / »Jersey politics« / Schatten / Der letzte Brief / »I am my own enemy, not of mankind« / Friede

Epilog und Dank

Literatur

Personenregister

Anmerkungen

Abbildungsverzeichnis

Erzähle auch uns davon,Göttin, Tochter des Zeus,und fang einfach irgendwo an.

(frei nach Homer,Die Odyssee, 1. Gesang)

Prolog:Harro Harring – Wer?

Wenn Sie den Namen Harro Harring noch nie gehört haben, geht es Ihnen nicht anders als den allermeisten Germanisten oder Historikern. Selbst Heinrich-Heine-Ludwig-Börne-Vormärz-Spezialisten ist der Name meist nicht geläufig. Er ist der »Dichter Unbekannt« des 19. Jahrhunderts. Und einer der maßgeblichen Rebellen des Vormärz und Kämpfer für ein Europa ohne Grenzen. Seine Abenteuer, Werke, Taten, Erfolge und Niederlagen ergeben in der Summe eine Art »Meistererzählung« der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848.

In den Aufzählungen der 1848er-Revolutionäre sucht man ihn heute allerdings oft vergebens, denn er wurde verfolgt, verfemt und dann vergessen. Zu seiner Zeit – vor allem in der Zeit vor 1848 – war Harro Harring berühmt, berüchtigt und wurde viel gelesen. Seine »Memoiren über Polen« wurden in wenigen Wochen zum Bestseller, bis sie von der preußischen Zensur verboten wurden. Sein Steckbrief lag an allen Grenzstationen des Deutschen Bundes aus. Allein die Ankündigung, Harro Harring würde erscheinen, löste in manchen Zeiten bei den Liberalen freudige Unruhe und den Behörden diplomatische Hektik und Truppenbewegungen aus. Als bayrische Soldaten ihn im Mai 1832 nach dem Hambacher Fest verhaften wollten, floh er nach Bergzabern und in die Stadt Weißenburg im Elsass. In Bergzabern stellten sich die Bürger dem Militär in den Weg und verhalfen ihm so zur Flucht. In Weißenburg ermöglichten sie seinen Verbleib in Frankreich. Und 1849 ging der junge Henrik Ibsen in Christiania, dem heutigen Oslo, mit tausend anderen auf die Straße, als man Harring wegen eines Theaterstücks bei Nacht und Nebel außer Landes schaffen wollte. Der »Fall Harring« beschäftigte danach die skandinavische Politik über Jahre.

Wer war dieser Harro Harring?

»In London ist meine Qual eingetroffen, jener skandinavische Dichter, der der beste Mann auf der Welt ist und der quälendste Dummkopf dieser Zeit«, schrieb 1842 der nach England geflüchtete Revolutionär und spätere Nationalheld Italiens Giuseppe Mazzini an seine Mutter.

Karl Marx überzog ihn 1852 in seinem »Die großen Männer des Exils«1 seitenlang mit Hohn und Spott und endete mit dem vernichtenden Urteil über »die Abenteuer unsres demagogischen Hidalgo aus der soderjylländischen Mancha. In Griechenland wie in Brasilien, an der Weichsel wie am La Plata, in Schleswig-Holstein wie in New York, in London wie in der Schweiz: Vertreter bald des Jungen Europa, bald der südamerikanischen Humanidad, (…) verkannt, verlassen, ignoriert, überall aber irrender Ritter der Freiheit, (…) wird aller Welt zum Trotz von sich sagen, schreiben und drucken, dass er seit 1831 das Haupttriebrad der Weltgeschichte war.« Wer sich wie Harring über die »communistischen Spekulationen« von Marx erregte, konnte keine Gnade erwarten. Marx gab im Londoner Exil den scharfen Ton vor, den noch hundert Jahre später alle »Abweichler« von der kommunistischen Parteilinie zu erwarten hatten.

Noch 1854 verschickten die Hamburger Polizeibehörden über den so Beschimpften einen Steckbrief an die Grenzbehörden der deutschen Bundesstaaten: »Alter 56; Statur: mittel; Aussehen: etwas kränklich; Haar: schwarz; Bart: schwarz, über das ganze Gesicht gewachsen; Augen dunkel. Hat eine Narbe nach einer Stich- oder Schusswunde. Sprache: deutsch, dänisch mit etwas deutschem Akzent, englisch, spanisch, russisch. Alles sehr fließend.«

Selbst die Beschreibung der Polizei zeichnete den Rebellen als verwegene Figur. Er musste unheimlich wirken. Harro hatte keine dunklen, sondern graue Augen, von der Farbe des Watts, und keine schwarzen Haare, sondern welche, die mit dem trockenen Gras der Marsch gefärbt zu sein schienen. Er war nicht besonders groß, eher schmal. Aber er trug gern einen Dolch bei sich. Und gelegentlich eine Pistole. Aber am meisten fürchteten sich die Jäger vor seinen Hunden.

Harro Harring.

Geboren am 28. August 1798 auf dem Ibenshof in Wobbenbüll bei Husum in Nordfriesland, erstochen am 15. Mai 1870 in St. Helier auf der Insel Jersey von eigener Hand.

Ein Weltbürger, der, in Nordfriesland aufgewachsen, 50 Jahre lang wie ein »Odysseus der Freiheit« durch die Welt zog. Ein Dichter von Hunderten Gedichten und Liedern, vielen Romanen, Essays, die kaum erschienen, bald verboten waren und heute komplett vergessen sind. Ein Rebell, der sich mal Hamlet, mal Kasimirowicz, mal Steward nannte, 22 Mal im Gefängnis oder der Abschiebehaft landete, der überall schrieb, Manuskripte und Koffer zurückließ und nur eins fürchtete: die Furie Suicidia.

Er schrieb romantisch, pathetisch, zärtlich und brutal, am Puls seiner Zeit. Der bayrische König applaudierte ihm. Ein Dichter als Rebell, der die Welt, aber nicht sich selbst liebte. Ein liebenswerter Kerl und penetranter Besserwisser in einer Person, einsam wie eine Möwe am Himmel. Widersprüchlich, aufbrausend und tief traurig, wie das von Niederlagen und Aufbruch geprägte 19. Jahrhundert in Person.

Karl Marx hasste Harring und dessen Freund Mazzini als Konkurrenten. Er meinte, Harrings lächerliche Schriften hatten »am 4. November 1831 das unverhoffte Glück, vom Bundestag verboten zu werden. Das allein hatte dem braven Streiter noch gefehlt, jetzt erst erhielt er die verdiente Bedeutung und zugleich die Märtyrerweihe.« Der Kommunist freute sich als mitfühlender Zeitgenosse über die reaktionären Aktionen des Absolutismus, weil sie einen Gegner trafen.

Marx verspottete »Die Großen Männer des Exils« im Sommer 1852. Er übergab den Text im Juli an den Ungarn J. Bangya, der ihm versprach, das Werk in Berlin zu veröffentlichen, und dem Autor ein stattliches Honorar zahlte. Ungewöhnlich für einen Boten, der das Manuskript denn auch in Berlin nicht an einen Buchhändler, sondern an die preußische Polizei auslieferte. Den Buchhändler, der es angeblich bestellt hatte, gab es nicht.

Zufällig – oder doch nicht? – stand der empfangenden Polizeibehörde Ferdinand von Westphalen vor. Der war preußischer Innenminister und Halbbruder von Jenny von Westphalen, der Frau von Karl Marx. Familienbande waren in den Jahren der deutschen Reaktion nichts Ungewöhnliches, und dass revolutionär Gesinnte gegen Geld als informelle Mitarbeiter der monarchischen Geheimdienste arbeiteten, auch nicht. Man nannte diese informellen Mitarbeiter Konfidenten, Vertraute. Der Deutsche Bund unterhielt mit Russland und Österreich in dem Mainzer Informationsbüro schon seit den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts einen international arbeitenden politischen Geheimdienst. Das war neben der mangelnden Einigkeit der Demokraten der entscheidende Grund, warum sich die Opposition in Deutschland nie richtig organisieren konnte und ins Exil getrieben wurde. Die Folge bestand unter anderem darin, dass sich der Gesinnungsterror eines Robespierre in deutschen Landen umkehrte. Er entwickelte sich in den Händen der Herrschenden zu einer perfekten Überwachungsbürokratie, deren Effektivität bis ins 20. Jahrhundert Maßstäbe setzte. Die zarten Pflanzen der demokratischen Bewegung des Vormärz wurden unter Spitzelberichten begraben.

Bereits 1831, vier Jahre vor dem Verbot der Schriften von Heinrich Heine, wurden Harrings Schriften und alle seine zukünftigen Arbeiten per Beschluss des Obersten Organs des Deutschen Bundes, des Bundestages, verboten. Der Besitz von Flugschriften mit Liedern des Autors stand unter Strafe. Selbst Heine vermied es, in den von ihm redigierten »Annalen« bei einem von Harring verfassten Bericht über Griechenland den Namen des Autors zu nennen, und andere trauten sich nicht, seine Bücher zu verlegen.

Nach seiner Flucht 1830 aus Polen wurde Harring nicht nur vom russischen Geheimdienst, sondern auch von österreichischen, preußischen, badischen Agenten und später dem Mainzer Informationsbüro beobachtet, verfolgt und überall, wo er in deutschen Landen auftauchte, verhaftet, eingesperrt und ausgewiesen. Man hielt ihn für einen gefährlichen Demagogen, heute würde man sagen: »Gefährder«, weil er mit dem Warschauer Aufstand und der »heiligen Schar« der Exil-Polen, dem Frankfurter Wachensturm, dem Hambacher Fest, dem Aufstand in Savoyen in Verbindung gebracht wurde. Und tatsächlich war er überall dabei, aber seine Waffe waren die Worte. Aus dem romantischen Dichter, der voller Pathos Rosen und Möwen besang und vor allem der weiblichen Leserschaft gefallen wollte, wurde der politische Agitator, der sich Freiheit und Fürstentod auf die Fahnen schrieb.

Harrings aktive Zeit als Dichter, Maler und Rebell ist auch politisch eine Epoche. Es ist die Zeit des Deutschen Bundes, wenige Jahre nach dem Wiener Kongress von 1815 bis zur Proklamation des Deutschen Reiches und Harrings Tod im Jahr 1870.

Er war Augen- und Tatzeuge der metternichschen Herrschaft im Deutschen Bund, war am griechischen Freiheitskampf gegen die Osmanen beteiligt, war Chronist des Warschauer Aufstands gegen das russische Zarenreich, auf dem Hambacher Fest, Teil des »Jungen Europa«, kämpfte für Frauenrechte, trat gegen die Sklaverei in Südamerika ein und wollte Freiheit für sein Friesland. Ein Ahasver der Revolution, der dem Jahrhundert dabei zusah, wie es sich verwandelte, und der nach Kräften daran mitwirkte.

Aber wie und warum wird einer, der Künstler werden will, Rebell oder Märtyrer? Harro war früh vaterlos geworden. Ein Junge mit großer Sehnsucht nach dem Wahren, Schönen, Guten. Er lernte Malen, zog dann aber nach Griechenland und mit einer Freischar in den Krieg gegen die Osmanen – mit dem Schlachtruf »Freiheit oder Tod« auf den Lippen. Was trieb ihn nach Hellas? Identitätssuche, Gerechtigkeitsfieber oder die Sehnsucht, durch den eigenen Tod dem Leben Bedeutung zu geben? Von allem etwas, vor allem aber die romantische Sehnsucht nach Identität, Individualität und Freiheit. Diese Suche war der Zeitgeist des 19. Jahrhunderts und der politischen Romantik. Aber nicht nur.

Harro Harring war ein Kind seiner Zeit, getrieben von einer Gesellschaft, die sich selbst nicht traute, und geprägt von Bürgern, von denen verlangt wurde, als Untertanen zu leben. Man strebte nach Einheit, Recht und Freiheit, aber das war lange nicht zu haben. Es gab keine Pressefreiheit, und jede Versammlung stand unter dem Verdacht der Verschwörung. Die demokratische und liberale Bewegung wurde von Politikern wie Metternich gefürchtet und bedrängt, verfemt und verfolgt. Dabei waren die Forderungen der Rebellen zu Beginn moderat. Sie wollten eine Heimat, sie wollten Freiheit und Gleichheit. Und sie wollten ein »Ich« sein, sich verlieben, kämpfen, siegen und traurig sein. »Traurig bin ich sowieso«, war die dunkle Seite der Romantik, deren Vertreter unterdrückt wurden, aber auch überfordert waren von der Verwandlung des Jahrhunderts.

Bei einer seiner vielen Verhaftungen, 1856 in Hamburg, trug Harring einen Zettel bei sich. Auf dem stand: »Sans patrie y sans nation. Harro.« Er war Friese, Däne, Skandinavier, Deutscher, Europäer, US-Bürger, vor allem aber Kosmopolit – und eben dadurch heimatlos.

Nach 1870, der Reichsvereinigung, gab es die Einheit in deutschen Landen. Aber es kamen nicht nur die Länder und Fürstentümer, sondern auch die Unarten zusammen. Es blühten Untertanengeist und Chauvinismus, später Rassismus und Größenwahn. Und die Philosophie eroberte die Straße: »Proletarier aller Länder vereinigt euch.« Die Entdeckung des ICH, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Aufklärung die Welt veränderte, wurde politisch vom WIR, der kollektiven Identität, dem Volk, der Nation, der Klasse zurückgedrängt. Harring, der als Ich so gern im Wir der Gemeinschaft aufgegangen wäre, blieb letztlich allein.

Harring entdecken?

Die Manuskripte von Harring lagen vergessen und verstaubt im hintersten Regal, und sie zu lesen war so vergnüglich wie beschwerlich. Was damals gefiel, macht heute Mühe. Es ist wie mit der Mode, der Geschmack und das Gefühl für Material und Schnitt ändern sich. Über Harring ist die Zeit hinweggegangen. Damals war er verboten, heute ist er vergessen. Aber die Mühe lohnt sich. Ihm erging es so ähnlich wie seinem geliebten Vorbild Lord Byron, der auch zu seiner Zeit weltberühmt, später fast vergessen wurde. Harring war ein spätes, aber wie Byron ein Kind der Romantik, und »nachdem sich die geistige Orientierung erneut gewandelt hatte, waren Byrons Werke, die durch und durch das romantische Ideal verkörperten, aber nicht darüber hinausgingen, ipso facto entwertet« – so erklärte der italienische Dichter Giuseppe Tomasi di Lampedusa die Gründe für das Vergessen.2 Und ein weiterer Grund kam bei beiden hinzu. Byron benutzte wie Harring durchaus gängige, aber ältliche Stilmittel und Versformen. Lampedusa markierte Byrons Stil so: »Er goss neuen Wein in alte Schläuche.« Harring schrieb auch in Jamben und Stanzen und schaffte eben nicht oft, wie es Heine und Börne gelang, modern in Wort und Form zu erscheinen. Er teilte mit ihnen, wie vor ihm Byron, Shelley und Keats, das Schicksal, im Exil leben müssen. Nur so früh wie die Engel der englischen Poesie ist Harring nicht gestorben, sodass er noch erleben musste, wie er im Abgrund des Vergessens verschwand.

Harring scheint so etwas wie die schwarze Möwe der deutschen Literatur zu sein. Er war viele, aber keiner von den vielen blieb bislang nachhaltig im Gedächtnis. Ein fliegender Schatten, der die Denkmäler von Heine, Börne und Marx bekleckert. Harring ist schwer zu fassen und neu zu entdecken. Als Maler – das war er auch – war er mittelmäßig, aber als zeichnender und schreibender Chronist der Verhältnisse und der Sklaverei um 1840 in Brasilien noch heute eine singuläre und wichtige Quelle.

Als Lyriker war er zu seiner Zeit äußerst populär, als Romancier und Theaterdichter ein Zeitgeistautor, der seine Saison in München hatte. Als Berichterstatter über die russische Herrschaft in Polen war er einzigartig unerschrocken und hat durch Verbot und Verfolgung bitter dafür bezahlt. Hans Christian Andersen fühlte sich bei der Lektüre von Harring dann doch an Texte von Freund Heine erinnert. Als Revolutionär war er berühmt und ist gescheitert wie die Revolution selbst. Als Mensch hat er gelitten, an sich und für uns, das hatte er auch mit Byron gemein. Der dänische Bildhauer Bertel Thorvaldsen notierte nach einer Porträtsitzung mit Byron: »Er war, vor allem anderen, furchtbar erpicht darauf, tief unglücklich auszusehen.« Leider spielte Harro dieses Gefühl nicht, sondern lebte es. Und doch hat er gesiegt. Seine Ideen von einem freien Europa ohne Grenzen, einer Welt ohne Sklaverei, der Gleichheit von Mann und Frau sind heute unsere Werte. Er war einer der ersten modernen Europäer.

Das 19. Jahrhundert hat die Welt verwandelt, und Harring war dabei, vogelwild. Sein Gesang weckte die Menschen, sein Schatten ließ die Herrschenden für einen Moment zucken, und wenn er seinen Mantel anzog, begannen die Geschichten. Harro Harring hat diese Geschichten seines Lebens selbst so oft erzählt, dass er sich zuletzt an die Wahrheit gar nicht mehr erinnern konnte.

1Memoiren eines Kindes

1810 Ibenshof – 1817 Husum

Eine Möwe kommt geflogen,Hat den Sänger erblickt,Auf der Fahrt durch die WogenAch! von Kummer gedrückt.Hat den friesischen KnabenZu dem Sänger erkannt,Dessen Lieben dort begrabenAm Nordfriesen-Strand.Ist vertraut mit den Worten.Mit des Sängers Gemüth;Kehrt zurück nun nach Norden,Bringt dem Volk dieses Lied.Bringt ein Büchlein voll Lieder,Ein gar winzig kleines Buch,Legt am Strand es dort niederUnd entfernt sich im Flug.

Harro Harring,Die Möwe, 18353

1810 Ibenshof

Harro und seine Brüder

Zwischen Wollgras und Lichtnelken liegend, einen Arm weit von sich gestreckt, flogen seine Gedanken mit dem Wind, der die Wolken am wassergrauen Himmel vor sich hertrieb, über den Deich hinaus aufs Meer zum Großvater, dem Seemann, der irgendwo gen Sonnenschein segelte, auch wenn in der dunklen Stube geraunt wurde, dass Kosaken ihn erdrosselt hätten. Ganz nah wollte der Junge der Ewigkeit sein, einen Herzschlag nah. Er spürte das Feuchte, das langsam aus der Erde hoch in seine Kleider kroch. Dunkel und dürr, nicht Felsen und nicht Erde schien ihm diese Schwere zu sein, nicht Wasser, nicht Luft. Der ganze Himmel drückte auf seine kleine Brust.

Den Blick ins Grau gerichtet, tastete er mit seinen Fingern nach der Butterblume, die sich nach der Sonne streckte. Er befühlte die Blätter der Pflanze so zärtlich, so behutsam, als wären es die Finger seines Bruders Sievert, die aus dem Grab ans Licht drängten. Der kleine Sievert lag knapp einen halben Meter neben ihm unter der Erde. Im letzten Frühjahr war er gestorben – am Brustübel.

Von rechts kamen jetzt Hühner stolziert. Der Junge suchte nach kleinen Steinchen und warf sie kraftlos nach den Störern. Aber die dummen Dinger hielten die Kiesel für Leckerbissen und pickten aufgeregt danach. Harros Bruder Hans Christian hätte diese gefiederten Truppen beim Namen nennen können, hätte gewusst, wer mit wem verwandt ist und ob Mutter Huhn weiß oder braun gewesen war, wer Eier legte und wen der Hahn besonders gerne trat. Er, Harro, hingegen konnte nicht einmal die Arten oder, wie Hans Christian es nannte, die »Banden« auseinanderhalten. Auch Hans Christian, der Hüter der Tiere, lag neben Sievert in der feuchten Erde, tot wie zwei weitere Brüder und neben ihnen der Jüngste, der nur drei Sommer bei ihnen gewesen war. Jedes Jahr im Frühjahr holte Gott einen Sohn des Harro Wilhelm Martens und seiner Frau Margarete Dorothea Sievers zu sich.4

Keiner von ihnen war so alt wie Harro geworden, der, entgegen allen düsteren Erwartungen, bereits den achten Winter überstanden hatte. Alle waren sie mit geweihtem Wasser aus der großen silbernen Terrine getauft worden. Ein Erbstück der Mutter, aus der der Vater bei jedem Fest und jeder Beerdigung den Punsch ausschenkte und meist nicht nur den ersten Schluck »Auf das Wohl meiner Söhne«, sondern auch die Neige trank, um dann irgendwann im Rausch ins Dunkel hinauszustürzen, zum Deich, wo er sich, Gott und die Welt verfluchte. Zum Entsetzen der Knechte hatte er einst in seinem heillosen Zorn eine Pechtonne angezündet, die hoch auf einem Mast am Deich vor den Engländern warnen sollte. Denn die hatten im Jahr 1806, als Napoleon die Quadriga aus Berlin entführte, Dänemark und die Insel Helgoland genommen. Die Welt stand in Flammen, und Harro Wilhelm Martens, der Deichgraf, wollte mit Feuer löschen.

Der Vater

Zerrissen von nagenden Leiden / Verzehrt von vergeblicher Gluth, / Musst’ er die Hallen meiden / Und eilt zur Meeresfluth. / Hier saß er auf feuchtem Sande, / Zur Nacht im Sturm allein, / am lebenleeren Strande / In Nebel und Mondenschein. / Er griff in die gold’nen Saiten, / Die Möwen umflogen sein Haupt, / Er sank in die öden Weiten / Erbittert – der Liebe beraubt. / Die Möwen nur hörten ihn klagen, / Zum rauschenden Saitenklang; / Wenn er von verlor’nen Tagen: / Von Leben ohn’ Liebe sang.5

Da niemand ihn hörte, in Husum nicht, in Schleswig nicht und in Kopenhagen auch nicht, wütete der Vater im Haus, ließ die Mutter und die ihm gebliebenen Söhne seinen Hass auf die Welt spüren. Harro wäre so gern mit dem Vater gegen die böse Welt gezogen, aber der sah nur die toten Brüder und in Harro den Lahmen, den Letzten seines Geschlechts.

Eine Möwe schrie am Himmel, und wenn der Junge die Augen schloss, hörte er sie frei – frei – frei krächzen. Alles wurde lichtlos um ihn herum, die Zeit blieb stehen, und die Welt hörte auf zu sein. Er spürte, wie die Wärme der Herbstsonne, die eben noch seine Nase gekitzelt hatte, schwächer und das Dunkel schwärzer wurde. Er glaubte, über einem Abgrund des Nichts zu schweben, unsterblich und zugleich rettungslos verloren. Tot – tot – tot schrie der Vogel am Himmel. Der Junge blinzelte in Erwartung der ewigen Finsternis und hustete vor Schreck, als er erkannte, dass es der Vater war, der sich wie eine Gewitterfront vor das Himmelsbild geschoben hatte. Mit der Stiefelspitze stieß er an des Jungen Bein und brummte: »Sag Martin, er soll den Gaul anspannen.« Und ohne seinen Jüngsten noch weiter anzusehen, stapfte er davon.

»Kind, Harro, was machst du?« Die Mutter kam mit fliegender Schürze aus dem Haus gestürzt und riss ihren Sohn von den Gräbern hoch, stellte ihn auf den gesunden Fuß und klopfte mit kräftigen Schlägen die Erde von seinem Anzug. »Die kalte Erde, oh Gott! Und der schöne Anzug! Wir müssen los, es ist Hochzeit! Wenn du bloß nicht krank wirst, verrückter Kerl! Hörst wieder das Gras wachsen?« Halb schrie und schlug sie ihn, halb schlang sie die Arme um seinen dünnen Körper, als wollte sie ihn zu Tode drücken. Der Tod, dachte der Kleine, ist ein Freund. Er nickte den Brüdern zu und ließ sich von der Mutter ins Haus tragen, eine heiße Milch einflößen und in eine Decke hüllen, während sie immer wieder klagte: »Nicht du! Nicht auch noch du! Versprich mir, dass du bleibst«, schluchzte sie und schlug den dummen Jungen, bis er langsam aufhörte zu husten und ihr weinend versicherte, sie nie zu verlassen.

Der Vater war schon vorgeritten, er hasste es, auf die Familie warten zu müssen. Außerdem hatte er unterwegs noch »Sachen« zu erledigen, von denen niemand im Haus wusste und wonach auch niemand zu fragen wagte.

Martin, Harros älterer Bruder, hatte die Kutsche vorgefahren. Martin lernte Latein, Griechisch, Hebräisch beim Pastor Clausen in Hattstedt und konnte reiten – die beste Voraussetzung, um später ebenfalls Pastor zu werden, in einem Land, wo die Gläubigen so störrisch waren, dass ein Seelsorger seine Schäfchen von weit auseinanderliegenden Höfen einzeln in die Kirche treiben musste, wollte er nicht vor leeren Bänken predigen. Der Vater verabscheute die Pfaffen und verbot es, in seinem Haus vom Teufel und dem Ende aller Zeiten zu reden. Die Mutter packte ihren Jüngsten und setzte ihn mit dem Korb, der den Reiseproviant enthielt, zwischen sich und den Ältesten. Der Wagen rollte in den ausgefahrenen Spuren des Wegs schaukelnd dahin, und kaum hatte das Gefährt die schützenden Mauern des Hofes verlassen, blies ein stetiger Wind der kleinen Gesellschaft so heftig entgegen, als wolle er sie zurück auf den Ibenshof treiben. So weit man blicken konnte, sah man grüne Wiesen, durchzogen von Gräben, die schnurgerade auf die Linie des Horizonts zuliefen. Hinter ihnen das in der grünen Öde liegende Nest, der Ibenshof, mit den Linden vor dem Wohnhaus, den Pappeln auf der Pferdekoppel und den mächtigen Strohgiebeln, deren größter sich mit einem breiten Rücken gegen den von der See kommenden Wind stellte. Harro vermisste sein Heim bereits, kaum dass sie den Hof verlassen hatten. Ein Bild würde er malen, dachte er, als er jetzt zurückschaute, genau von diesem Punkt aus. Malen konnte er auch mit der linken Hand, wenn die rechte nicht wollte.

Die Hochzeit war ein Ereignis für die ganze Gegend. Kutschen und Pferde wurden auf der Koppel neben der Scheune der Brauteltern abgestellt, auf der Diele war eine große Tafel aufgebaut, und auf langen Tischen dampfte bald die Hochzeitssuppe. Harro Wilhelm Martens saß, zusammen mit dem Pastor, ganz vorn in der Nähe des Brautpaares und bekam als einer der Ersten aufgefüllt.

Während die Kinder der Nachbarn durch den Garten tobten, saß der kleine Harro, den der Husten und eine Lähmung plagten, auf einer Truhe in der Diele, durch die die Mägde mit Platten, Töpfen und überschäumenden Krügen voller Bier hasteten. Als wenig später die Tische beiseitegeräumt wurden und die Musiker aufspielten, die von weit her, wohl aus Husum, kamen, spürte Harro, wie die Töne in seinen Ohren schmerzten. Je mehr Röcke flogen, desto heftiger wünschte er sich, nein, nicht zum Tanz und auch nicht in den Garten zu den Kindern, sondern zu seinen Brüdern unter die Erde.

»Hüte dich vor Nekkepenn«

Zu Hause vor der Tür der Stube mit seinem Malbrett sitzend, hörte der Junge die Geschichten der Besucher, die von englischen Kreuzern und der Blockade von Tönning flüsterten, über Kanonen staunten und vom drohenden Krieg gegen England erzählten; Namen wie Bonaparte und Bernadotte, Nelson und Robespierre schwirrten durch die Stube. Und dass man in Husum die riesige Kirche von Alt St. Katrin abgerissen und die ganzen Bänke und geschnitzten Tafeln verkauft hätte. Meistbietend. Der Krieg machte in diesen Zeiten den Geschäften den Garaus.

Der Vater saß schweigend daneben, er hatte mit den Pfaffen und ihren Kathedralen ohnehin nichts am Hut, sollten sie den Tand doch verschachern. Er hatte als Deichgraf den Deich zu schützen, und der musste erhöht werden, denn Husum versandete langsam. Da konnte man nicht auch noch eine viel zu große Kirche retten, auch wenn das einigen in Husum nicht gefallen mochte.

Harro malte die großen Drucke aus England nach, die sein Bruder ihm in einem Buch vom Straßenleben in London zeigte, Bilder von Soldaten und Gewehrfeuer, von Explosionen und Schlachtengetümmel. Der Vater hatte keinen Blick dafür, er fand es schade um das schöne Papier, das der Junge da mit seinen eigenen Vorstellungen vom Krieg schwärzte. Er musste die Miliz organisieren, und als im Sommer 1808 das von Franzosen und Holländern gefangen genommene spanische Regiment Asturia am Hof vorbei nach Hamburg eskortiert wurde, standen die Bauern hinter ihrem Anführer Harro Wilhelm Martens mit ihren Sensen und Vorderladern an den Wegen und beobachteten, wie der Tross auf Heuwagen und Lastkarren sich langsam durch den tiefen Sand der schleswigschen Geest quälte.

Manchmal schlich Harro sich auch unter die Bank am Ofen, der so mollig warm war und die Feuchtigkeit aus dem Pullover trieb, um den Männern und Frauen am Tisch zu lauschen. Nicht immer kreisten ihre Gespräche um den Krieg. Wenn das Gebell der Seehunde von der anderen Seite des Deichs zu hören war, dann fing irgendeiner an, vom Meermann zu erzählen, der die Gestalt eines Wichts im Seehundmantel hatte.

»Hüte dich vor Nekkepenn«, hörte er die warnende Stimme des Vaters, und die anderen murmelten beifällig oder nickten stumm. »Der hat mal bei Sturm die Frau eines Kapitäns geholt, damit sie bei der Geburt seines Kindes hilft. Alles ging gut, und er beschenkte sie mit Gold und Silber.«

»Sind deshalb die Kapitäne auf Föhr und Sylt so reich?«, wollte ein vorwitziger Knecht wissen.

Der Vater nickte. »Aber Reichtum ist Fluch«, erzählte er weiter, um den Neid des Knechts nicht zu schüren, »denn Nekkepenn erinnerte sich Jahre später, als seine Alte faltig geworden war, an die schöne Seemannsfrau und wollte sie nehmen. Er sah das Schiff des Sylter Schiffers und befahl seiner Frau, Salz anzurühren, damit ein Sturm das Schiff untergehen lasse. Nekkepenn machte sich währenddessen auf den Weg zur Witwe, schlüpfte in die Gestalt eines stattlichen Fahrensmannes und ging an den Strand, wo die Frau nach ihrem Mann Ausschau hielt.«

»So ein Hund!«, hörte man den Knecht schimpfen, und die Hände der Mägde flogen vor Aufregung nur so dahin, während sie die kaputten Sachen stopften. Als der Vater dann auch noch erklärte, dass Nekkepenn die Tochter der Witwe mit Ringen und Ketten behängte und verkündete: »Inge ist meine Braut«, da schluchzten die Frauen auf der Bank, und der Knecht schüttelte den Kopf und murmelte: »Wat fürn Düwel!«

»Wer bist du?«, habe die Tochter den Fremden gefragt. »Und was willst du?« »Ich bin dein Freier und morgen dein Mann.« »Lass mich, ich lieb dich nicht«, rief ihm die junge Frau zu, und Nekkepenn bellte wie ein Seehund. »Wenn du mir morgen meinen Namen sagst, bist du frei, sonst hole ich dich bei der nächsten Flut«, so habe er sich dann von der Tochter der Witwe verabschiedet.

Der Vater nahm einen langen Schluck aus dem Krug und wischte sich bedächtig den Schaum vom Mund, um die Spannung im Raum zu steigern. Er genoss es, dass sich in der Stube wohliger Schrecken verbreitete und alle wissen wollten, wie die Geschichte ausgegangen sein mochte. »Nekkepenn, der sich seiner Sache sicher war, tanzte in der Nacht am Strand und sang:

Delling skel ik Bruu; / Miaren skel i baak / Aurmiaren wel ik Bröllep maak. / Ik jit Ekke Nekkepenn, / Min Bri’d es Inge fan Raantem, / En dit weet nemmen üs ik aliining. (Heute soll ich brauen, / Morgen soll ich backen; / Übermorgen will ich Hochzeit machen, / Ich heiß Ekke Nekkepenn, / Meine Braut ist Inge von Rantum, / Und das weiß niemand als ich allein.)6

Inge aber war ihm heimlich in die Dünen gefolgt und hatte alles gehört. Und als Nekkepenn sie am nächsten Tag holen wollte, schleuderte sie ihm schon von Weitem entgegen: »Du heißt Ekke Nekkepenn und ich bleib Inge von Rantum.« Der Meermann erschrak, raste wie wild ins Meer zurück, ein tosender Sturm brach los. »Und immer wenn es stürmt, wissen wir jetzt, dass Ekke Nekkepenn wieder einmal grollt, weil Inge ihn abgewiesen hat«, beendete der Vater seine Erzählung.

Hannes, der Knecht, hatte längst sein Bier ausgetrunken und meinte: »Das stimmt, immer wenn Janne nicht will, kommt Sturm auf«, sagte er und bekam im nächstens Moment von seiner heimlichen Geliebten eins hinter die Ohren.

»Was macht der Junge noch da?« Erst jetzt hatte der Vater, der sich ärgerte, dass der Knecht die anderen zum Lachen brachte, Harro entdeckt. »Ab mit ihm in die Koje!« Die Mutter zog Harro unter der Bank hervor und trug ihn ins Bett.

Harro wusste, dass die Flut alles holen kann. Wenn der Sturm und die dunklen Wolken kamen und nachts an den Fenstern und dem Dach rüttelten, schien der Meermann seinen Tribut einzufordern. Er hatte selbst gesehen, wie Nekkepenn im letzten Frühjahr gewütet hatte. Ja, was der Vater da erzählte, das war die böse Wahrheit. Tapfere Inge! Ob das Meer wohl Ruhe geben würde, wenn sie damals mit Nekkepenn gegangen wäre? Und dann träumte der kleine Harro von Rantum, der untergegangenen Insel. Nekkepenn würde sich irgendwann das Land holen, auch wenn er es niemandem verriet. Und der Junge hatte Angst um seine Mutter.

Der Deichgraf stirbt

Harro fand sich mit seiner Lähmung ab. Alle Ärzte, die auf den Hof kamen oder in Husum um Rat gefragt wurden, erklärten die Krankheit für »incurabel«, unheilbar. In die Schule konnte er nicht gehen, für den weiten Weg wäre er zu schwach gewesen. So blieb Harro, malend und lesend, auf dem Hof; ein Lehrer kam zu ihm und brachte ihm Lesen, Schreiben, Rechnen und die wichtigsten Texte der Bibel bei.

Der Vater litt an der Welt, an seinen toten Söhnen, an den Schulden, die er wegen der unruhigen Zeiten machte. Staatsanleihen wurden ihm nicht zurückgezahlt, die Ernte verregnete, und um die republikanische Sache stand es schlecht. Der lahme Sohn sah ihn meist nur morgens zu Pferde, mit gewaltigen silbernen Sporen an den schwarzen Stiefeln wie einst Wallenstein, in einen engen, bis an den Hals zugeknöpften Rock gekleidet, von oben herabblickend, um seinem Sohn, der ihn so bewunderte, doch nur verächtlich den Pferdearsch zu zeigen und vom Hof zu reiten. Wenn er abends heimkam, in die Stube stürzte und die Mutter herumkommandierte, verkroch sich Harro unter der Bank und sah, wie der Vater von Tag zu Tag verfiel. Das Brustübel seiner Söhne hatte ihn eingeholt, er lag mit Fieber im Alkoven, redete wirr, hustete Blut, und Koliken quälten ihn. Der Tyrann stürzte langsam zu Boden wie ein Denkmal, das man auf zu weichem Grund errichtet hatte. An einem Tag kurz vor Pfingsten 1810 rief er nach Martin, er solle sein Pferd satteln. Dann stand er auf, setzte sich auf einen Stuhl, zog seine Weste an und sah hinaus.

Kennst du mein Land – an Tal und Hügel leer / Am Inselstrand siehst du die Dünen glänzen / Die bieten Trotz der Brandung, stolz und hehr / Ob auch mit Schaum sich Wasserberge kränzen / Stürzt, kaum geboren, doch die Well’ herab, / sich selbst vernichtend, in ihr eigen Grab.

Harro sah ihm zu, zupfte ihn am Ärmel seines Hemdes, aber der Vater, den Tod vor Augen, gönnte seinem Sohn keinen Blick mehr und starb auf dem Stuhl. Die Mutter hielt den Kleinen umschlungen, so als wolle sie ihn nie mehr loslassen. Selbst im Tod erschien ihm der Vater unberührbar. In Harro stieg eine zitternde Wut auf, dass der Vater sich von ihm nicht verabschiedet oder ihn auf seine letzte Reise mitgenommen hatte. Die Mutter glaubte, der Sohn würde frieren, und wickelte den Jungen in ihren weiten Rock.

Die Kindheit wird begraben

Für Trauer blieb keine Zeit – der Ruf, dass der Herr vom Ibenshof sich den Wolkenmantel übergeworfen habe und der Ebbe gefolgt sei, verbreitete sich so schnell, wie die Möwen landeinwärts flogen. Und noch bevor die Flut einsetzte, kamen sie aus Hattstedt und Husum, um den Deichgrafen zu beerdigen und dem jungen Harro stumm über den Kopf zu streichen.

Es hätte kein schönerer Tag sein können, um sich begraben zu lassen. Die Linden vor der Tür standen im üppigsten Grün, die wilden Heckenrosen blühten, hier und da reckte eine hohe Sonnenblume ihren Kopf nach dem Licht. Unter großem Gefolge wurde der Sarg zum Friedhof getragen, und als er dort hinabgelassen wurde, standen die Männer an, um Harro Wilhelm Martens Erde hinterherzuwerfen. Die klitschnasse Krume klatschte auf den Sarg, als würde jemand eine dumpfe Trommel schlagen.

Danach begab sich die Trauergemeinde in die Diele des Ibenshofs, wo für den Leichenschmaus gedeckt war und nach alter Sitte »Erb-Bier« ausgeschenkt wurde – für die ganze Bagage aus den umliegenden Orten. Weder Harro noch seine Mutter konnten wissen, dass an diesem Tag mehr als ein Toter zu Grabe getragen wurde. Das Leben auf dem Hof, mit seinen Hühnern, Pferden und den abenteuerlichen Geschichten am Tisch – alles das lag seit Langem schon ebenfalls im Sterben. Harros Kindheit wurde an diesem Tag begraben.

Da man zwei männliche Vormünder brauchte, um die Erbschaft zu regeln, denn das dänische Gesetz in den Provinzen erlaubte es Frauen nicht, zu erben, bestimmte die Mutter einen Bruder und einen Freund ihres Mannes dazu, das Erbe zu verwalten – keine gute Wahl, wie sich herausstellte. Der einst so stolze Besitz ging zu Nutz und Frommen der Vormünder Stück für Stück in das Eigentum anderer über, angeblich der Schulden wegen. Das Land wurde aufgeteilt, Möbel und Tiere wurden versteigert. Selbst die fünf Hunde, Harros einzige Freunde, verschwanden mit den Besuchern, die einst als Gäste kamen und nun zu Gläubigern wurden. Der frommen Mutter blieb nur der lahme Sohn und außer ihm einige wenige Sachen, die in einen Weidenkorb passten.

»Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen. Der Name des Herrn sei gelobt«, tröstete sie sich. So wurde aus der Gutsbesitzerin binnen Jahresfrist eine Untermieterin in einer kleinen Kate neben der Schmiede in Hattstedt.

Das Pendel

Der kleine Harro klammerte sich an seine Mutter und sie sich an ihn. Er war lahm und blieb lahm, bis ein neuer Arzt in Husum davon hörte und zu ihnen kam. Er redete beruhigend auf den Jungen ein und behandelte ihn mit einem Pendel, das er vor Harros Augen hin und her schwingen ließ – eine neumodische Methode, die die Bauern auf ihren Warften für Teufelswerk und Hexerei hielten. Der Arzt sagte: »Schau auf das Pendel und hör mir zu.« Dabei murmelte er geheimnisvolle Sprüche, bis der Kleine einschlief. Die Mutter flüchtete in den Garten und flüsterte Gebete, fürchtete sie doch, ihren Gott mit diesem Frevel zu erzürnen, aber mehr noch, ihren Sohn zu verlieren. In der Hypnose träumte Harro, dass Gott tot sei und Materie, die große Mutter, ihn erdrücke. Aber nachdem er wieder aufgewacht war, wurde der Druck auf seiner Brust in den folgenden Wochen immer schwächer, auch Arm und Bein spürte er wieder, sodass er bald mit den anderen Jungen im Dorf spielen konnte. Heilung durch die Kraft der Gedanken, daran sollte Harro von nun an für immer glauben.

Blockadespiel

»Fang den Spion« hieß das Lieblingsspiel der Dorfjungen. Sie machten es wie die Alten. Sie hofften, Engländer zu erhaschen, die sich heimlich über den Deich schlichen, um die Blockade vor Tönning zu durchbrechen. Klaas, der Sohn des Müllers, übernahm die Rolle des Engländers. Er sollte versuchen, den Stolz der Friesen, die Insel Helgoland, zu erobern. Helgoland, das war in diesem Spiel die Mühle von Hattstedt; Harro und der Nachbarjunge Broder waren gute friesische Kämpfer und der Wind auf ihrer Seite. Harro lag mit seinem Holzschwert im wogenden Gras, das in seiner Fantasie zum »blanken Hans«, zur Nordsee, wurde, lugte über die grünen Wellen, lauschte dem Rauschen der Mühlenruten, die »Wusch, Wusch, Wusch« mit den Flügelspitzen über die Galerie sausten, und wartete auf seine Kaper. Klaas musste über das Grasmeer kommen, wenn er siegen wollte. Aber der Müllerssohn kannte sich aus auf seinem Erbe: Er umging die Blockade und kroch wie ein Freibeuter von hinten auf die Galerie zu, bis er plötzlich, triumphierend »Victory!« rufend, hinter den beiden auf der »Insel«, der Galerie der Mühle, stand. Harro drehte sich um und sah Klaas vor Freude auf und ab hüpfen, als ihn – wusch – ein rasender Mühlenflügel am Kopf traf und er lautlos von der Bildfläche verschwand. Harro rannte zur Galerie und stürzte die Treppen hoch: Da lag der Freund zerschmettert am Geländer. Der Tod hatte den Kampf um Helgoland gewonnen.

Broder, der Pechvogel, purzelte Monate später auf das Grab vom alten Ketel, als Harro und er nach dem Konfirmandenunterricht auf der Friedhofsmauer balancierten, und brach sich ein Bein. Man schiente die Knochen zwar, aber zurück blieb ein Krüppel, ein Bauer in Not.

Mit zwölf war Harro ein Halbwaise, der nicht mehr lahm war, aber bis auf die Grundrechenarten, etwas Latein und das Vaterunser nicht wirklich etwas gelernt hatte. Doch er hatte Glück, als es sich nach der Konfirmation ergab, dass der Zollamtmann Todsen den Sohn des ehemaligen Deichgrafen von Wobbenbüll in sein Haus und in die Lehre nach Husum nahm. Harro hatte mutig um die Anstellung nachgesucht. Die Mutter hatte zwar inzwischen eine Wohnung bei Verwandten gefunden, aber Harro wollte ihr nicht mehr auf der Tasche liegen. Er wusste, dass er kein Bauer oder Fischer werden würde. Er wollte in die Welt, Abenteuer erleben.

1813 Husum

In der Lehre

Husum gehörte zu Dänemark wie ganz Schleswig-Holstein bis Altona. Aber Dänemark war pleite, und der Zollinspektor musste zusehen, dass die Bürger ihre Steuern und Abgaben zahlten. Die Bauern vor der Stadt waren seit 1805 keine Leibeigenen mehr, aber sie hatten auch kein eigenes Land, und so knebelten die Pachtverträge sie genauso wie vorher die Abhängigkeit. Die Kontinentalsperre, mit der die Engländer den Handel unterbanden, ließ den Umschlag im Hafen stagnieren, und mancher Fischer, mancher ehrbare Kaufmann konnte nur durch Schmuggel noch Geschäfte machen. Harro wohnte in einer kleinen Kammer im Zollamt, das ehemals das Kavaliershaus des Husumer Schlosses gewesen war. Das Zollamt war zugleich die königlich-dänische Polizeiaufsicht und Verwaltung in der Stadt und für die umliegenden Gemeinden. Man kassierte Zölle und Abgaben, führte Buch über den Handel, erteilte Genehmigungen, entschied, was im Interesse des Staates war.

Harro musste Botengänge erledigen, runter zum Hafen zu den Schiffen und in die Kontors, an den Reetdachkaten und Steinhäusern vorbei, über den großen leeren Markt und immer achtgeben, dass die aufgeweichten Straßen seinen Rock nicht beschmutzten, dass ihm die Hühner nicht zwischen die Beine liefen oder ein streunender Hund ihn biss, sodass die Papiere, die er zu transportieren hatte, womöglich in den Dreck fielen. Sein Weg führte ihn auch öfter zu dem kleinen Kontor, in dem Georg Friedrich Weltz arbeitete. Er handelte mit Wein aus seiner Heimat Speyer, von wo aus er nach Husum geflohen war, als man ihn dort zum Militär einziehen wollte. Weltz war zwölf Jahre älter als Harro und zeichnete ebenfalls gern. Wenn Harro etwas Neues gezeichnet hatte, steckte er das Blatt zwischen seine Amtspapiere, und sie setzten sich auf den Hof und plauderten über Malerei, ihre Vorgesetzten oder die Völkerschlacht.

Mehr noch als auf Pfützen und Hundekot musste Harro darauf achten, wem er auf seinen Dienstgängen begegnete. Wehe, er ging an einem Senator oder der Frau Senator in der Eile einfach vorbei! Vor solchen Würdenträgern hatte er einen »Bückling« zu machen, steif stehen zu bleiben, seine Mütze zu ziehen, sich zu verbeugen und zu warten, bis die Herrschaft vorübergegangen war. Wenn er sie auf seinem Weg überholen wollte, musste er warten, bis sie nickten und ihn vorbeiließen. Er hatte später genau zu berichten, wem er begegnet war und was derjenige gesagt hatte. Dabei kam es auf jedes Wort an. Ob beispielsweise die Frau Gemahlin Zollinspektor in einen Gruß mit eingeschlossen war oder von der Frau des Pastors mit diesem spitzen Unterton bemerkt wurde: »Sagen Sie dem Herrn Zollinspektor einen schönen Gruß. Es war schade, dass ich ihn am Sonntag nicht in der Messe gesehen habe.« Wenn eine solche Information nicht sofort und mit genauer Schilderung der Umstände rapportiert wurde, konnte das zu außerordentlichen gesellschaftlichen Verwicklungen führen. Die gute Gesellschaft war empfindlich.

Die Geschäfte gingen nicht gut, die kleinen Räuchereien und Zuckerkochereien waren antiquiert, der große Handel war zum Erliegen gekommen, und so achtete man darauf, was der andere hatte oder sich leistete, und fragte sich, warum man selbst so knapsen musste. Das Armenhaus St. Jürgen war immer voll, und der Magistrat ächzte unter den Kosten. Man überlegte, ob man das Konfirmationsalter heraufsetzen sollte, damit die Mägde und Knechte nicht so früh heirateten und nicht so viele Kinder bekamen.

Harro hustete wieder, denn bis auf den kurzen Sommer war die Stadt grau und feucht, und die offenen Feuerstellen, in denen alles verbrannt wurde, was irgendwie Wärme gab, qualmten und machten ihm im Verbund mit dem Nebel, der ständig zwischen den Häusern hing, das Atmen schwer. Seine angegriffene Brust rebellierte, und er hustete sich die Lunge aus dem Leib, hatte Fieber und fürchtete, dass er seine Lehre nicht fortsetzen könnte. Sooft er konnte, blieb er in der Amtsstube, zeichnete und las, bis ihm die Augen schmerzten.

Er kopierte Steuerlisten und schrieb Briefe, die Todsen ihm aufgab, las heimlich den »Altonaer Courier« und illustrierte Blätter, nachdem der Bürovorsteher sie studiert hatte. Die Zeitungen kamen einmal in der Woche mit der Post. Er war neugierig auf die Welt, Husum schien ihm eng, und doch war er geborgen. Der Justizrat von Wardenberg und der Steuerinspektor Heinrich Todsen hatten ein Auge auf ihn, den Halbwaisen. Sie kümmerten sich um ihn, fast so, als habe er zwei Väter.

Ersatzvater Todsen

Harro saß bei den Todsens jeden Mittag mit an der langen Tafel und aß Suppe und Hafergrütze, manchmal kamen ein Hering oder eine gebratene Taube auf den Tisch. Todsen liebte die Künstler und die Bücher. Das war ungewöhnlich für einen Beamten, erlaubten diese sich doch gemeinhin außer Kartenspiel, ihrer Pfeife und gelegentlichen Ausflügen aufs Land keinerlei Ausschweifungen. In Husum gab es keine Buchhandlung, sondern man musste sich Bücher aus Altona schicken lassen oder sie bei fliegenden Händlern kaufen, die zu den Markttagen in die Stadt kamen. Todsen hatte sich trotz seiner jungen Jahre eine Bibliothek zugelegt, in der sich alles befand, was in Mode war und aus der sich Harro ausleihen konnte, was er mochte.

»Junger Mann«, sagte Todsen eines Tages am Mittagstisch, »das Papier im Kontor gehört dem König. Ihre Arbeitszeit übrigens auch.« Harro errötete, er ahnte, was jetzt kommen würde. »Es ist nicht dafür da, dass Lehrlinge während der Bürozeiten darauf herumkritzeln.« Todsen hatte plötzlich einen Bogen in der Hand, auf dem Harro ein Bild des englischen Zeichners Hogarth zu kopieren versucht hatte.

Harro war entgangen, dass Todsen alles mitbekommen hatte. Oder hatte Delff ihn verpetzt? Der Schreiber Delff saß über seiner Schüssel gebeugt und löffelte unbeteiligt seine Suppe weiter. Er tat, als würde er nichts verstehen. Todsen redete weiter, und Harro befürchtete, dass er ihm gleich seine monatliche Sonntagsfreizeit zur Mutter streichen oder ihn dazu verdonnern würde, die Stube zu fegen.

»Heute ist mit der Post aus Altona Lektüre gekommen. Eine wohlfeile Ausgabe des ›Don Karlos‹ von Schiller und etwas über das Leben eines Künstlers aus Schleswig.«

»›Don Karlos‹ ist sicher interessant«, sagte Harro leise.

Harro hatte schon von dem Meister aus Weimar gehört und »Die Räuber« gelesen. Er brannte darauf, das Buch in die Finger zu bekommen.

So wie Asmus Jacob Carstens sein

»Den les ich erst mal. Ich denke mir, das Leben des Asmus Jacob Carstens7 könnte gefallen. Ein Maler aus Schleswig, der bis Rom gelobt wurde.« Todsen deutete auf das Buch, das oben auf dem Stapel lag. »Aber nur nach Feierabend und nur mit sauberen Fingern!« Todsen lachte, und Harro nickte. In der schummrigen Stube konnte nur Delff, der ihm direkt gegenübersaß, sehen, dass der Herr Lehrling vor Aufregung ganz rote Ohren bekommen hatte. Bücher, dachte der Schreiber, pah, mir wäre ein Hering lieber.

Was Harro in dem Buch von Karl-Ludwig Fernow über den Maler Asmus Jacob Carstens las, war eine Offenbarung. Ihm war, als habe jemand sein Leben im Voraus gelebt. Carstens kam aus Schleswig, wurde dort 1754 als Sohn eines Müllers und der Tochter eines Advokaten geboren. Der Vater starb, als der Junge neun war, seine Mutter verlor ihr Erbe. Carstens konnte schlecht rechnen, aber gut malen – wie Harro. Weil er kein Geld hatte, konnte Carstens nicht bei Tischbein Malerei studieren, sondern musste für fünf Jahre bei einem Weinhändler in die Lehre. Ein Seelenbruder! Harro verschlang die Schilderung des Künstlerlebens, als sei es ein Bericht über die eigene Zukunft. Welch ein Geist! In Kopenhagen studierte Asmus die Antike. Er verbrachte ganze Tage beim Betrachten der Skulpturen im Kopenhagener Antikensaal, schlief bei den Gipsabgüssen von griechischen und römischen Statuen und schilderte dies seinem Biografen als Augenblicke größten Glückes.

Das war es, was Harro wollte, nicht das Kopieren von Frachtlisten, das ihm die schönsten Jahre raubte. Er wollte ein Künstler werden. »Das wahre Leben eines Künstlers besteht in der Ausbildung seiner Anlagen und in der Ausübung seines Talents«, schrieb Fernow, und Harro nahm dies als seinen Katechismus.

Asmus Carstens hatte sich geweigert, eine silberne Medaille und ein Stipendium vom dänischen König anzunehmen, weil er meinte, Günstlingswirtschaft und nicht wahre Liebe zur Kunst sei für das Urteil ausschlaggebend gewesen. Stattdessen ging er auf eigene Rechnung nach Italien und scheiterte. Jahre später aber trieb es ihn wieder nach Rom, er studierte die Werke Raffaels und Michelangelos, zeichnete die Mythen der Antike und ließ das klassische Erbe so perfekt wiederaufleben, wie kein Römer es vermocht hatte. Im Alter von 44 Jahren starb er in der Ewigen Stadt. Am Husten. Auf seinem Grab entstand ein Relief nach einer seiner berühmtesten Zeichnungen: »Die Nacht und ihre Kinder Schlaf und Tod« hieß das Bild. Es zeigte in einer fantastischen Allegorie die schönste aller Mütter mit einem toten und einem schlafenden Kind in ihrem Schoß. Dahinter das Schicksal mit verhülltem Haupt und einem Buch, aus dem die drei Parzen die Geschicke der Menschen vortragen.

In dem Buch stand: »Kann man dem Sänger des Waldes verargen, dass er im kehrenden Frühlinge dem Käfig entflieht, wo er einen traurigen Winter hindurch seines Gesanges wegen gefüttert wurde?« Hier schilderte jemand sein, des Sängers Harro Leben, der Käfig war Husum, die Suppe an Todsens Tisch das Futter im Käfig. Harro las das Buch wieder und wieder und träumte sich fort aus der grauen Stadt am Meer: Er würde nach Rom gehen, die Sixtinische Kapelle besuchen und vor Carstens’ Grab auf dem Cimetro accatolico auf die Knie fallen. Vorher würde er in Kopenhagen Kunst studieren und die Goldmedaille gewinnen. Carstens war 1798 gestorben, in dem Jahr, als Harro geboren wurde. War dies nicht ein Wink des Schicksals? Hatte er nicht den Auftrag, Asmus zu beerben?

»Freiheit ist das Element des Genies«, in solchen pathetischen Formulierungen Fernows sprach er fortan, wenn er sich mit Todsen am Mittagstisch unterhielt. Er wollte so schnell wie möglich der Fron seiner Lehre entfliehen, die ihn allerdings vor dem Hunger bewahrte. Aber künftig würde ihn die Sehnsucht ernähren! Harro schwebte zum Spott und Vergnügen seines Förderers von nun an in höheren Sphären. Sein Dienstherr las Schiller, und Harro zitierte Fernow: »Musste nicht auch Schiller sein Dichterleben, das ihm unsterblichen Ruhm und unserer Literatur einen höheren Glanz gab, erst durch die eine gewaltsame Zerreißung der Bande, die ihn an sein Vaterland und an einen Fürsten knüpften, erringen?«

Der Lebensplan

»Ja, Herr Harro, das mag ja sein, aber wo ist der Fürst und wo der Dichter?«, fragte Todsen, der seinem Schützling auf den Dielen der Amtsstube halten wollte, wenigstens bis zum Ende der Lehrzeit. Harro aber hatte längst einen Entschluss gefasst. Er schrieb Todsen einen Brief, in dem er ihm seinen Lebensplan darlegte. Nach Abschluss der Lehre würde er nach Kopenhagen gehen und Malerei studieren; er bat darum, sich noch in Husum auf sein Studium vorbereiten zu dürfen. Todsen und von Wardenberg wussten, dass sie diesen Luftikus nicht halten konnten, sie wussten auch, dass er für die Juristerei oder das Pfaffentum nicht geeignet war. Er war eine Möwe, die kein Nest hatte, sondern um die Welt ziehen musste – vielleicht war es der Zeitgeist, der den Jungen hinaustrieb. Sie sympathisierten mit ihm, und möglicherweise, so hofften sie, würden sie, in ihrer gemütlichen Amtsstube sitzend, aus den Briefen, zu denen sie ihren Lehrling verpflichteten, ein wenig von der großen weiten Welt erfahren. So wie die Seeleute von ihren großen Fahrten erzählten, würden sie dann die Stuben der Husumer Bürger mit Geschichten erwärmen können. Sie zögerten, wie es ihrem Amte angemessen war, und willigten dann ein.

Schiller bei den Schafen

Harro bekam – wenn im Amt etwas Ruhe war – eine Freistunde und durfte zeichnen. Die Augen machten ihm zu schaffen, und manchmal musste er in die Dämmerung der Stube flüchten, weil das Licht ihn blendete und Kopfschmerz verursachte. Aber lesen konnte er auch mit einem Auge, und so las er denn den »Don Karlos« und lernte ihn auswendig. Und in seiner Sonntagsfreizeit, wenn er sich frühmorgens von Husum zur Mutter nach Hattstedt auf den Weg machte, hörten die Möwen, wenn sie denn nicht solche Ignoranten wären, Schiller. Hörten sie, was der Zollamtslehrling Harro Paul Harring der Welt an einem Sonntagmorgen im Sommer auf seinem Weg zwischen Husum und Hattstedt, zwischen den Knicks auf der Chaussee über die Gräben zurief?

Lass mich weinen, /An deinem Herzen heiße Thränen weinen, / Du einz’ger Freund. Ich habe Niemand – Niemand / Auf dieser großen weiten Erde Niemand. / So weit das Scepter meines Vaters reicht, / So weit die Schifffahrt unsre Flaggen sendet, / Ist keine Stelle – keine – keine, wo / Ich meiner Thränen mich entlasten darf, / Als diese. O, bei Allem, Roderich, / Was du und ich dereinst im Himmel hoffen, / Verjage mich von dieser Stelle nicht.8

Harro kämpfte mit Schillers Worten um die Anerkennung seines Vaters, der da hinter dem Deich begraben war: »Ich steh’ nicht auf – hier will ich ewig knien, Auf diesem Platz will ich verzaubert liegen, In dieser Stellung angewurzelt.« Er wechselte den Tonfall, drehte sich zum Baum, der nun Karlos war, und ließ die Königin sprechen: »Rasender! Zu welcher Kühnheit führt sie meine Gnade? Wie? Wissen sie, dass es die Königin, dass es die Mutter ist, an die sich diese Verwegne Sprache richtet?« Wieder Karlos: »Und dass ich sterben muss! Man reiße mich von hier aufs Blutgerüste! Ein Augenblick, gelebt im Paradiese, Wird nicht zu theuer mit dem Tod gebüßt.«

Harro ging nach vorn auf die Schafe zu, eins sprang zur Seite, und es kam ein wenig Bewegung in dieses Wollmeer. »Gott, Gott! Ich gehe – Ich will sie ja verlassen – Muss ich nicht, Wenn sie es also fordern? Mutter, Mutter, Wie schrecklich spielen sie mit mir! Ein Wink, ein halber Blick, ein Laut aus ihrem Munde, Gebietet mir, zu sein und zu vergehen. Was wollen sie, dass noch geschehen soll? Was unter dieser Sonne kann es geben, Das ich nicht hinzuopfern eilen will, Wenn sie es wünschen?«

Harro stand da mit ausgebreiteten Armen, als Königin sagte er: »Fliehen sie.« Karlos schrie: »O Gott!« Die Königin flehte den Baum an: »Das Einz’ge, Carl, warum ich sie mit Thränen Beschwöre – fliehen sie! – eh meine Damen«, Harro deutete auf die unruhig gewordenen Schafe, »eh meine Kerkermeister sie und mich beisammen finden und die große Zeitung vor ihres Vaters Ohren bringen.« Er drehte sich um, trat vor die blökenden Herde und rief: »Mein Schicksal – es sei Leben oder Tod.« Nie war der Himmel über Nordfriesland mehr Schiller als an diesem Morgen. Nie mehr Sturm und Drang, wo doch die Sonne schien. Der Wind kam auf und schob ihn sacht zur Mutter.

Das Frühstück bei Mutter, der Spaziergang mit der kleinen Freundin vom Hof, wo die Mutter Unterkunft und Gesellschaft gefunden hatte, der Weg zum Friedhof, der junge Mann veränderte seinen Gang, er war im Geiste auf der Bühne, er war Carstens, der Maler, dem klassischen Ideal verpflichtet, er war Karlos, der Kronprinz, der in der Mutter die Geliebte sah, und hatte in Jette seine Prinzessin Eboli, die ihn nie verraten würde. Er begehrte Jette in seinen Träumen, behandelte sie aber wie eine Schwester. Sie sah in ihm eine schöne Sonntagsabwechslung vom eintönigen Leben im Dithmarscher Einerlei.

Einige Jahre später, als er die Mutter besuchte und er Jette auf dem nächsten Hof verheiratet fand, bedauerte er sich selbst und beklagte sein Schicksal als Werther. Goethes Leidensbuch war da bereits eine alte Kamelle, aber immer noch à la mode, denn im Norden gehen die Zeiten langsamer, und die Gefühle brauchen länger. Harro, der anfing, an Enttäuschungen schicksalhaften Gefallen zu finden, hatte einen weiteren Grund – die anderen erfahren wir bald –, sich der Freiheit zu opfern.

Harros Abschied und Ankunft Theodor Storms