HASSO - Legende von Mallorca - Wolfgang Fabian - E-Book

HASSO - Legende von Mallorca E-Book

Wolfgang Fabian

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Beschreibung

Hasso Schützendorf (1924-2003) hätte als ausgebildeter Meistersänger (Bariton) berühmt werden können wie vier seiner Onkel. Er aber zog es vor, sich nach Kriegsende ‒ zuvor KZ, Strafbataillon, Ostfront, Fahnenflucht, in Wien zum Tod verurteilt, Minuten vor der Hinrichtung begnadigt zu lebenslänglich Zuchthaus ‒ als berüchtigter Schmugglerboss (1959 rund 100 Gangmitglieder in der DDR) und späterer Autokönig von Mallorca einen "Namen" zu machen. Er legte den Export der Zeiss-Werke fast lahm. Er agierte von Hamburg und Westberlin aus und belieferte das spanische Militär mit Optikgeräten. Er scheffelte Millionen und verlor sie wieder durch Gefängnisaufenthalte. In der DDR galt er als Wirtschaftsstaatsfeind Nummer eins. Als sein engster Vertrauter und die meisten Bandenmitglieder der DDR-Polizei in die Hände fielen, gelang ihm die Flucht nach Mallorca. Später, als größter Autovermieter und Multimillionär, kürten ihn die Medien zum König von Mallorca. Doch sein fragwürdiger Ruf (bei den Frauen speziell: Frauen über dreißig stinken!) sowie sein Wirken in seinem Imperium waren alles andere als königlich. Er war ein Imperator mit eigenen Gesetzen, betrog nicht nur das Finanzamt. Teile seiner Bediensteten fürchteten ihn, errangen mit heimlichen Denunziationen aber nicht immer sein Wohlwollen. Er war süchtig nach Publicity. Vor den Medien spielte er sich als Wohltäter auf, gründete eine Schule für Kinder deutscher Residenten. Schulleitung und Öffentlichkeit versprach er finanzielle Unterstützung auf zig Jahre (!) hinaus. In Wirklichkeit waren ihm Kinder zuwider. Nicht lange, und er überließ Schulräume und Lehrer den ratlosen Eltern. Er ließ sich adeln und wurde dabei selbst gewaltig betrogen, wie auch besonders von einem angeblichen TV-Reporter von VOX. Auf seinem riesigen Gelände mit der Residenz aus maurischen Zeiten hielt er Löwen, Tiger u.a. Kreaturen unter unwürdigsten Bedingungen. Nach dem Mauerfall lud er frühere Klassenkameraden von Rügen zu sich nach Mallorca ein, ließ sich feiern als Multimillionär. Doch nur drei Tage später spannte er die sprachlose Gruppe zu niedrigsten Arbeiten ein. Was er in den Medien von sich gab, wie er sich nach der Ermordung des Gastronomen Meiselt, dessen kleinen Sohn und der Hausgehilfin äußerte und widerlich aufspielte; wie er in die Welt setzte, von einer seiner ehemaligen Ehefrauen erpresst und später in seiner Residenz von Gangstern überfallen und beraubt worden zu sein; wie er sich als Greis von RTL im TV über ein Dutzend junger Frauen hat vorführen lassen, von denen er sich im Beisein seiner jungen Ehefrau (!) eine aussuchte, kann kaum überboten werden. Und letztlich setzte er seinem Leben und Wirken die Krone auf, indem er nach der Vorstellung der "Lobeshymne" seines Freundes Wolfgang Fabian (Pseudonym Randolf) Randolfs im Düsseldorfer Hotel Steigenberger Szenerien in Gang setzte, die teuflischer und unwürdiger nicht zu überbieten waren.

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Wolfgang Fabian

HASSO - Legende von Mallorca

Todeszelle und Luxusvillen

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Herkunft

2. Verrat und Folgen

3. Strafeinheiten für die Fronten

4. Fluchtwege

5. Festnahme

6. Erneute Flucht

7. Das Todesurteil

8. Marsch an die Westfront

9. Neues Zuhause

10. Erste Gaunereien

11. Wiedersehen mit der Mutter

12. Der große Schmuggel-Aufbruch

13. Das Geschäft boomt

14. Schweizer Kaffee und Gold

15. Neue Pläne im Gefängnis?

16. Geheime Vorbereitungen

17. Der Schmuggelbetrieb läuft an

18. Bubis Verbindung

19. Verbindungen nach Barcelona

20. Die Kripo der DDR riecht Lunte

21. Die Gang fliegt auf

22. Mallorcas neuer Unternehmer

23. Wildes Leben mit viel Geld

Zweiter Teil

24. Zwei alte Genießer

25. Beginn der Durchleuchtung

26. Des Mietwagenkönigs Biograf

27. Vertrauter und Mitarbeiter

28. Des Imperators Untertanen

29. Erzählpause nicht gewünscht.

30. Andere Verhaltensweisen

31. Intrigen und Verleumdungen alltäglich

32. Das Gedächtnis des Journalisten Steiner

33. Whisky und Unzuverlässigkeit

34. Der angebliche Literaturagent

35. Buchvorstellung und Buchvernichtung

36. Am Ende eines dunklen Weges

Impressum neobooks

1. Herkunft

Hasso Schützendorfs geschäftliche wie auch pri­vate, fast immer gewinnbringende Aktivitäten waren, beruhend auf einem un­beugsamen Willen, Merkmale, die allen Schützendorf-Generationen innewohnten. Offenheit und korrektes Verhalten in allen Bereichen sind bis auf eine lange zurückliegende Ausnahme die Tugenden aller Familienmitglieder gewe­sen. Hasso war mit seinen zwei Gesichtern, seiner seeli­schen Kälte und seinem Drang nach Pu­blizität, die zweite Ausnahme. Seine Vorfahren hatten sich auch nie gescheut, sich vermeintlich hoheitlichen Bevormundungen zu widersetzen, auch Hasso war keine Ausnahme. Und ein wei­teres bedeutendes Merkmal aller Schützendorfs ist nicht zu übergehen: sie alle waren, einschließlich Hasso, hochmusika­lisch.

Die Geschichte seiner Vorfahren – ihre Heimat war seit Anbeginn das Gebiet an Rhein und Ruhr – soll hier nicht chrono­logisch aufgezeichnet werden, es würde zu weit füh­ren. Einige frühe Beispiele schützendorfschen Ei­gensinnssollen jedoch einen gewissen Einblick gewäh­ren:

Hassos Urgroßvater, geboren im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts, Erbe einer kleinen, aber sehr bekannten Kräuterschnapsdestille, bezahlte seine Unbeugsamkeit mit dem Tod. Er hatte die Annahme einer behördlichen An­ordnung verweigert, indem er dem höfischen Gesandten, der ihn mit einer Verfügung vertraut machen wollte, nicht nur die kalte Schulter zeigte und ihn be­schimpfte, sondern ihn obendrein verprügelte. Um der zu erwartenden Kerkerstrafe zu entgehen, raffte er in großer Eile bewegliches privates und geschäftliches Hab und Gut zusammen und floh samt Familie bei Nacht und Nebel auf einem Rheinfrachter, dessen Kapitän ihm freund­lich gesonnen war, nach Holland, wo er unbedrängt von jeder Obrigkeit sei­nen Schnapsbetrieb neu aufbaute und das Produkt auch gut verkaufte. Nach über drei Jahren glaubte er an die Verjährung seiner Tat, zog ins heimatli­che Rheinland zurück, wurde prompt verhaftet, verurteilt und in den Kerker geworfen. Nun waren die damaligen Gefängnisse nicht mit den heutigen Knast-Ho­tels zu ver­gleichen, sodass sich der Mann in seiner feuchtkal­ten Zelle eine Lungenentzündung zuzog und daran starb. Bis der Sohn alt genug und in der Lage war, den für eine lange Zeit ruhenden Betrieb neu zu organisieren und gewinn­bringend zu führen, lebte die Witwe, keine Ah­nung von der Schnapsherstellung und vom Geschäftsle­ben, mit Sohn und ei­ner Tochter in Armut. Glücklicherweise entwickelte der Sohn den bekannten schützendorfschen Geschäftssinn, mit dem er einen Neubeginn konse­quent anzugehen wusste und die alte Kundschaft zurück­gewann.

Dieser Sohn war Hassos Großvater. Er sorgte für einen neuen Wohlstand in der Familie. Als der Mann alt gewor­den und gestorben war, musste seine Witwe das Unternehmen in fremde Hände legen, obwohl sie auf sieben er­wachsene Söh­ne hätte zurückgreifen können. Doch jeder von ihnen hatte seinen eige­nen Kopf, seine eigenen beruf­lichen Vorstellun­gen. Immerhin hatte der älteste der Brü­der, als der Verkauf bereits abgemachte Sache war, sich um die abschließenden Geschäfte gekümmert, aber vollkommen interesselos; er verkehrte lieber und häufig in verrufenen Schenken und auch Freudenhäusern im Lande. Unter vorgehaltener Hand hatte es obendrein geheißen, er habe sich mit zweifelhaften Geschäften abgegeben, wo­für er mit Ge­fängnis bestraft worden sei. Dieser Mann war die anfangs an­gesprochene Ausnahme unter den Schützendorfs, nun ja, bis vie­le Jahre später Hasso das Treiben seines aus der Art geschlagenen Onkels weit in den Schatten stellen sollte.

Ein weiteres Beispiel ist eine Komödie und nicht min­der be­zeichnend: Es war im Jahr 1886. Nach der Geburt des Jüngsten der sieben Brüder ließ der eigenwillige Vater auch die letzte kirchliche Aufforderung, den neuen Erdenbürger endlich taufen zu lassen, absichtlich außer Acht. Er hatte dem Säugling den Namen Leo gegeben, worin an sich kein Problem zu erkennen gewesen wäre. Dass er aber öffentlich verlangte, nur den Papst, nämlich den damaligen Papst Leo XIII., als Taufpaten anzuer­kennen, ging dem örtlichen Kle­rus zu weit. Also wurde der Heilige Vater von dem höchst ungebührlichen und verwerfli­chen Verhalten eines seiner Schäfchen unterrichtet, mit der Bit­te, anzuordnen, diesen anmaßenden Menschen aus der Gemein­schaft der Gläubigen auszuschließen, falls er sein unverschäm­tes Verhalten nicht widerrufe und be­reue. Nun, der Heilige Va­ter wohnte der bald anberaum­ten Taufe nicht persönlich bei, ließ aber eine Urkunde prä­sentieren, selbstverständlich mit Sie­gel und Unterschrift, aus der hervorging, dass man ihn, Papst Leo XIII., als Taufpaten des Knaben Leo anzuerkennen und dieses auch zu dokumentieren habe.

Nun endlich konnte der kleine Leo die Taufe über sich erge­hen lassen, und zwar in einem nachempfundenen Papstgewand, was den Pfarrer erneut bedenklich stimm­te. Doch mit einer Bekleidungsvorschrift für Täuflinge konnte er nicht aufwarten.

Sagen wir noch etwas zu den sieben Brüdern Schüt­zendorf. Der ungewisse Verbleib des Ältesten ist ange­sprochen worden. Und auch keiner der anderen Brüder ist, wie gesagt, bereit ge­wesen, den guten Magenbitter weiterhin zu produzieren und zu vertreiben. Dennoch sollte zukünftig der Name Schützen­dorf in vieler Munde und vor allem Ohren sein und blei­ben und für Qualität bürgen. Denn für fünf der Brüder führte ihr ererbtes musikalisches Talent zur Berufung. Al­fons, Gustav, Guido und Leo stiegen als Baritons und Bass-Baritons zu gefragten Opern- und Konzertsängern auf und wirkten in vielen bedeu­tenden Opernhäusern der Welt. Leo erlangte von ihnen den höchsten Ruhm; aber er starb früh, 1931, nicht einmal sechsund­vierzig Jahre alt. Hassos Vater Eugen, gleichfalls gesegnet mit einer entwicklungsfähigen Stimme, gesundheitlich aber oft an­geschlagen, brachte nicht die physische Kraft auf, sich sin­gend sein Brot zu verdienen. Doch die Musik sollte auch für ihn an­sehnlicher Broterwerb werden. Als Klaviervir­tuose und -lehrer begleitete er, wenngleich sehr selten, den einen oder anderen seiner singenden Brüder, wenn Konzertabende angesagt waren. Ein einmaliges Ereignis war es, als die vier Brüder 1915 im Stadttheater Bremen gemeinsam auf der Opernbühne wirkten; einmalig, denn einzuhaltende Verträge gestatteten sehr selten Besonderheiten; familiäre Zusammenkünfte zählten dazu.

Hassos Vater tat sich neben seinen musikalischen Aufgaben auch als Buchautor hervor, womit er den Namen Schüt­zendorf noch bekannter machte. Etwa Mitte des Zweiten Weltkrieges war sogar die Umgebung des Füh­rers auf ihn aufmerksam geworden: Er wurde in die Reichskanzlei berufen, um als Mitverantwortlicher den Führungsstab der Truppenbetreuung zu bereichern. Und was war aus dem Letzten (nicht nach der Ge­burtsfolge) der sieben Brüder geworden? Auch er war bei guter Stim­me, zog es aber vor, als Spirituosenvertreter durch die Lande zu ziehen. Es hieß, auch er hät­te die Magenbittertradition seiner Familie auferstehen und erneut ge­winnbringend sich entwickeln lassen können (alko­holische Getränke wurden und werden schließlich zu allen Zeiten verkauft). Aber auch er war nicht bereit, das Kräuterschnaps-Unternehmen mit frischer Ver­antwortung in die Zukunft zu führen.

Eugen Schützendorf heiratete um die Jahreswende 1923/24 in Düsseldorf die Tochter eines ehemaligen preußischen Generals, mit der er bereits ein Kind gezeugt hatte (Roswitha). Die junge Ehefrau entwickelte eine bemerkens­werte Energie, wenn es ihr darum ging, sich auf Bällen und Empfängen vor den anwesenden Herren in Szene zu setzen, Lebenslust zu ver­sprühen. Doch als sie dann zum zweiten Mal schwanger ging, sah sie ihre Jugend schwinden und unterließ nichts, sich ihrer Lei­besfrucht zu entledigen. Sie mutete sich überhitzte Sei­fenbäder zu, sprang, natürlich immer nur dann, wenn ihr Mann außer Haus war, vom Küchentisch auf den Steinfußboden oder unternahm sonst was, wobei sich das Dienstmädchen als eine heimliche Beobachterin bewies. Das Kind im Bauch Frau Schützendorfs wuchs trotzdem, strotzte jeder Gefahr und wurde im November des Jahres 1924 geboren und auf den Namen Hasso getauft. Der kleine Kerl aber hatte wei­terhin unter dem Hass seiner Mutter zu leiden. So legte sie ihn, zwei Monate nach seiner Geburt, auf den vereisten Balkon ihrer Wohnung, in der Hoffnung, dass seine Lun­ge die Kälte nicht überstehen werde. Doch Vater Eugen war frühzeitiger nach Hause gekom­men und hatte seines kleinen Sohnes Lebensgeister wieder auf Touren ge­bracht. Hassos aber unvermindert lebenshungrige Mutter war weiterhin unterwegs, nahm Einladungen wahr und versäumte keine Lustbarkeit in den Villen der vornehmen Gesellschaft. Bei diesen Gelegenheiten blieb es ihr natür­lich nicht verborgen, dass mancher vorwurfsvolle Blick ihr zu- und nach­geworfen wurde. Sie ließ keine Gelegen­heit aus, mit dem einen oder anderen freien Galan anzu­bandeln. Doch ausgerechnet der Fahrer ihres Mannes stieg auf zu ihrem Favoriten, und der war es dann auch, mit dem sie, ohne lange zu zögern, durchbrannte. Und Eugen – soll man sagen, der Gehörnte? – ist die Zeit hin­durch über das, was sich seine Frau leistete, nicht ahnungslos gewesen. Warum er trotzdem lange an seiner Ehe festhielt? Auch er war – wie alle Schützendorfs zu al­len Zeiten – den heimlichen, intimen Freuden des Lebens nicht abgeneigt und übersah nicht das andere Geschlecht. Erst dann, als ihn die Sa­che seiner Frau mit seinem Chauffeur zutiefst be­leidigte, übergab er seine Ehe dem Scheidungsrichter. Danach blieb er unverheiratet.

Zu jener Zeit befand sich Hasso im vierten Le­bensjahr. Für den bei seinem Vater heranwachsen­den Jungen war Bodenstän­digkeit nicht die Normalität, denn sein Vater musste berufsbe­dingt einige Male Ortswechsel vornehmen. So verbrachte Hasso Kindheit und frühe Jugend in Weißensee bei Berlin, in Hamburg, auf Rügen und wieder in Hamburg. Er besuchte Schulen, die dem Nachwuchs der gehobenen Gesellschaftsschicht vorbehalten waren. Dennoch landete er einmal für etliche Wochen in einer Schule für Schwererziehbare – ja, er war schwer erziehbar –, in einer Institution, die einer sich entwickelnden Persönlichkeit durchaus auf Dauer negative Impulse für be­denkliche Verhaltensweisen vermitteln und erhalten kann. Besonders diese Zeit verstärkte eine sich in Hasso entwickelnde Introvertiertheit; und er wurde im Älterwerden ein Meister darin, sie mit gegen­teiligem Verhalten zu überspielen – falls er es für notwendig hielt.

Hassos ältere Schwester Roswitha wuchs bei ihrer Mutter auf. Im Gegensatz zu ihr, die in Düsseldorf lebte und in hohem Al­ter dort auch starb, verschrieb sich die erwachsen gewordene Roswitha der noch jungen DDR in Ostberlin, wo sie Pädagogik studierte und danach als Lehrerin tätig war. Sie zeichnete sich als ein besonders wertvolles Mitglied der SED aus. Persönliche Entfaltungsbestrebungen wie in Westdeutschland waren in ih­ren Augen faschistische Verhaltensweisen, abträglich den Ideo­logien ihrer sozialistischen Volksgemeinschaft, eine diktierte und beaufsichtigte Gemeinschaft, die bekanntermaßen aber nie eine Gemeinschaft, wie wir sie verstehen, war. Ihre Einstellung, westlichen Fortschritt und Wohlstand einmal zu überse­hen, änderte sich auch nicht, nachdem ihr von ihrem Bruder (noch in der DDR-Zeit) ein Auto aus westlicher Produktion zur Verfügung gestellt worden war. Geschwisterliebe? Davon konnte nie die Rede sein. Bruder und Schwester hassten sich geradezu, was nicht nur den zwei verschiedenen Systemen, in denen sie lebten und sich somit auch völlig verschieden entwi­ckelten, zuzuschreiben war. Roswitha wurde von einem starken Herzschmerz heimgesucht, als ab November 1989 nacheinan­der Mauer, Tötungsanlagen und lukrative Regimeposten fielen. Und es verging eine lan­ge Zeit, ehe sie der ersten Einladung ihres Bruders nach Mal­lorca nachkam. Zu der Zeit befand sie sich längst im Ruhe­stand, war ungewöhnlich mager, verhärmt und obendrein stark gehbehindert. Zum Verhältnis der Geschwister untereinander, und was sich dadurch ereignete, gehört in den zweiten Teil die­ses Werkes.

Zurück in die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts. Die interessanteste Zeit für den jungen Hasso war zweifellos die auf der Insel Rügen, wo sein Vater beruflich engagiert war. Fast täglich hielt sich der Junge im Schloss des Fürsten von Putbus auf. Franz, des Fürsten Malte jüngster Sohn, zählte zu seinen engsten Freunden. Ein Leben in aristokratischer Umgebung, die freundschaftlichen Bindungen in diesen Kreisen und die von ihr oft ausgehenden, weitreichenden Beziehungen waren seit eh und je eine Garantie für Ansehen und Erfolg.

Verantwortlich für Hassos Weiterbildung war das altehrwür­dige Pädagogium in Putbus. Natürlich ging es in solch einer In­stitution nicht immer zu wie vermutlich in einer Klosterschule. In Hasso, inzwischen im dreizehnten Lebensjahr und seit etwa anderthalb Jahren auf Rügen wohnhaft, rührte sich erstes Geschäftsinteresse. Eines Tages entdeckte er in der Bibliothek sei­nes Vaters explizierte Bücher wie beispielsweise den Band Die perfekte Liebe zwischen Mann und Frau. Überzeugt, mit dieser Art Literatur, noch dazu reichlich bebildert, auch seine Mit­schüler begeistern zu können, zog er die Bücher, es waren deren drei, nach und nach heimlich aus dem Regal und verlieh sie gegen eine Gebühr von zehn bis fünfzehn Pfennig, je nach be­bildertem Inhalt und Umfang. Doch bald bekamen die Lehrer Wind von der Sache, und da Hassos eklatantes Verhalten nicht mit ihren Moralvorstellungen in Einklang zu bringen war, musste er die Schule verlassen.

Vater Eugen wertete die Maßnahme als eine weit überzogene Reaktion, aber keiner der maßgeblichen Herren ließ sich zu einer Urteilsänderung erweichen. Hasso hatte für eine Situation gesorgt, über die sich heute niemand aufregen würde. Aber da­mals veranlasste sie Vater Eugen, Rügen zu verlassen. Er dach­te auch nicht daran, die Bildung seines Sohnes in der Volks­schule in Putbus fortführen zu lassen. Also reisten Vater und Sohn zurück nach Hamburg.

Für interessierte Leserinnen und Leser ein paar Worte zum Pädagogium in Putbus: Erbauen ließ es in den Jahren 1833/36 Fürst Wilhelm Malte I. zu Putbus, der es nach Fertigstellung dem preußischen Staat übergab. Das somit Königliche Päd­agogium (Name ab 1919: Staatliches Pädagogium) war nach der Universität Greifswald das bedeutendste Bildungsinstitut Vorpommerns, bis die Nazis in den dreißiger Jahren kurzerhand die traditionsreiche Lehran­stalt auflösten und dafür die Parteispezifische ErziehungsanstaltRü­gen installierten und unterhielten. Die Anstalt war bis Kriegsende in Betrieb. Geraume Zeit später waren die Gebäude ein Ausbildungszentrum für Lehrer und von 1975 an wurden in den Räumen gehörlose Kinder betreut und unterrichtet. Von 2000 bis 2002 stand der Gebäudekomplex teilweise leer und drohte zu verkommen. Doch dann wurde er zu neuem Leben erweckt: Das sogenannte IT-College Putbus begann, dort Fachkräfte für Infor­matik auszubilden, was die ersten Jahre auch ordentlich lief, bis Insolvenz die Sache stoppte.

Ein Wort noch zu Hassos Schulfreund Fürst Franz zu Putbus. Dessen Vater, Fürst Malte, trat 1932 der NSDAP bei. Doch in den Folgejahren machte er, der nicht aus Überzeugung Par­teimitglied geworden war, sondern aus Gründen, die u.a. der Sicherung seiner Familie und seinen Besitztümern dienlich sein soll­ten, gelegentlich mit parteischädigenden Bemerkun­gen auf sich aufmerksam. Genauer besehen passte der Adel nicht in das Konzept der Nationalsozialis­ten. Fürst Malte erfuhr sehr schnell seinen Parteiaus­schluss; doch nicht genug: Im Zuge der Verhaftungswelle nach dem Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 nahm ihn die Gestapo fest und schickte ihn zu­nächst in die Gefängnisse von Stralsund und Greifs­wald und schließlich in das Konzentrationslager Sachsenhausen, wo er 1945 als Nazi-Gegner ermor­det wurde.

1990 strengte sein Sohn und Erbe Franz (der ältere Bruder Friedrich ist im Zweiten Weltkrieg gefallen) einen der größ­ten Rückgabeprozesse in den neuen Bundesländern an. Dabei ging es um riesige Anlagen auf insgesamt etwa 16.000 Hektar. Die sowjetische Besatzungsmacht hatte noch vor Gründung der DDR die Enteignung der fürstlichen Besitztümer vorgenommen. Es war aber offensichtlich, dass bereits die Nazis die Fürstenfamilie um ihren Besitz gebracht hatten, was angeblich nicht nachzuweisen war. Andernfalls wäre für den Fürsten die Sache sicherlich positiv beschieden wor­den. Das Schicksal sei­nes Vaters werteten die Richter mit der sonderbaren Feststel­lung: Der im KZ Sachsenhausen ermordete Fürst hätte die Möglichkeit wahrnehmen können, sich rechtzeitig vor den Na­zi-Schergen in Sicherheit zu bringen. Nach diesen Rückgabe­ablehnungen der Gerichte rief Fürst Franz 1998 die letztmögli­che Instanz an, die aber die Ablehnung seiner Ansprüche end­gültig festschrieb.

Hasso realisierte nach der Wende 1989 umgehend die persönlichen Kontakte zu seinen ehemaligen Rügener Klassenkameraden. Für ihn, der der DDR-Grenze bis zur Öffnung fern­bleiben musste, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, verhaftet zu werden, wurden seine neu geschaffenen Verbin­dungen mehr eine Demonstra­tion seines Reichtums als ein wahres kameradschaftlich verbunden­es Bedürfnis. So folgte nicht nur hin und wieder Fürst Franz seinen Einladungen, son­dern einmal auch seine sämt­lich reise­fähigen Klassenkamera­den, die er geschlossen im Son Vida, dem Hotel allererster Güte auf Mallorca, wohnen ließ. Er de­monstrierte Reichtum und Macht vor seinen Gästen aus der ehemaligen DDR, intensiv, wie nur er es fertig­brachte. Und er war stolz darauf, nach wie vor den Fürsten zu Putbus, der da­mals auf die Rückgabe seines Erbes hoffte, immer noch zum Freund zu haben. Es bedurfte je­doch nur weniger Folgejahre, und die wiedervereinigte Klas­senkameradschaft war samt Fürs­tenstolz Geschichte. Schützen­dorfs ständig unverkennbare Selbstherr­lichkeit und vage Versprechungen sind von seinen ehemaligen Mitschülern samt Ehefrauen nicht allzu lange zu ertragen gewesen.

Doch erwehren wir uns nun schnell wieder einer sich erneut heimlich ein­stellenden Vorwegnahme und kehren nochmals zurück in das Jahr 1936.

Hasso empfand bereits als Kind jede Bevormundung als eine Unterdrückung. Eine Rüge reichte aus, ihn in stille, manchmal auch ausbrechende Wut zu versetzen. Das konnte dann dazu führen, dass er sich Dinge ausdachte, die seine Umgebung durchaus in Schrecken versetzen konnten. Aber auch ohne einen Anlass ließ er sich die eine oder andre Dummheit einfallen. Während eines der seltenen Familientreffen im Hause eines seiner Onkel in Weißensee zündete er einen der schweren Fenstervorhänge an. Doch glücklicherweise konnte die bereits aufsteigende Flamme schnell erstickt werden. Er habe prüfen wollen, erklärte Hasso seiner fassungslosen Verwandtschaft, ob der Vorhangstoff feuerfest sei. Vater Eugen war, was die Ent­wicklung seines Sprösslings betraf, in ständiger Sorge. Um sei­nen Sohn nicht allzu oft allein gelassen zu wissen, vereinbarte er mit seiner jungen Hausgehilfin, sich auch um Hasso zu küm­mern, ihm das Gefühl zu vermitteln, nicht auf sich allein ge­stellt zu sein und ihn anzuhalten, seine Freizeit nicht mit dum­men Streichen zu vergeuden. Vater Eugen hatte nicht überse­hen, dass das Mädchen, für ihn zufriedenstellend, mit seinem Sohn umzugehen wusste; und Hasso wiederum, gewisserma­ßen ein Feind erzieherisch tätiger Personen, versuchte sich zu bemühen, Vater und Mutterersatz nicht zu enttäuschen, was ihm nicht gerade oft gelang.

Nach der Rückkehr nach Hamburg wurde Hasso wiederum auf eine Oberschule geschickt, wo er bald auch den dortigen Lehrern negativ auffiel. Er benahm sich sehr oft respektlos und aufmüpfig und war selten zur Vernunft zu bringen, sodass seine Lehrer ihm eine düstere Zukunft prophezeiten, ja, irgendwann werde er in einem Gefängnis landen. Schon der Abschlussbericht aus dem Pädagogium in Putbus an die Hamburger Schul­behörde hatte Hasso negativ dargestellt. Seinen neuen Lehrern wurde empfohlen, sich darauf einzustellen, dass die Erziehung ihres neuen Schülers mit Schwierigkeiten verbunden sei. Die­ser vorausgehenden Warnung wurde Hasso dann auch gerecht! So kam es bereits nach verhältnismäßig kurzer Zeit dazu, dass er auch dieses Gymnasium verlassen und mit einer schulischen Einrichtung für schwererziehbare Heranwachsende vorliebnehmen musste. Hassos Wesen, sein ganzes Verhalten, ging über das aller Schützendorf-Generationen beträchtlich hinaus. Deren Unbeugsamkeit trat grundsätzlich nur dann zutage, wenn sie entsprechend ihrer Vorstellung behördliche Ungerechtigkei­ten oder Gängelungen hinnehmen sollten. Nein, hauptsächlich hatte ihn, sein Wesen, ein fragwürdiges, zerrüttetes familiäres Umfeld geprägt. Und nach der Rückkehr nach Hamburg war für ihn der plötzliche Verlust seiner Rügener Freunde in einem gehobenen Umfeld mit ausschlaggebend und von ihm nicht so­fort zu verkraften gewesen. Dazu traf ihn die offensichtliche Überforderung seines Vaters in fast allen Belangen. Sehen wir einmal in unsere heutige Zeit hinein, so ist das, was sich Hasso im Verlauf seiner Schulzeiten, vereinfacht gesagt, an Dumm­heiten geleistet hatte, geradezu lächerlich. Damals waren die Zeiten eben anders. Für eine für Heranwachsende empfindliche Bestrafung reichte es oftmals, einer Unterrichtsstunde unent­schuldigt ferngeblieben zu sein. Ging es um materielle Gewin­ne, dann war in dieser Hinsicht Hassos Erbgut unverkennbar. Denken wir nur an seinen Buchverleih in Putbus. Geschäfts­tüchtiges Handeln, in Verbindung mit einem Versäumnis, brachte ihn dann auch sogar in der Schule für Schwererziehba­re in Schwierigkeiten. Die Angelegenheit wäre im Sande ver­laufen, hätte ihn nicht ein Mitschüler, vor dem er sich mit einer Wochenend-Schwarzfahrt großspurig aufgespielt hatte, an die Lehrerschaft verraten. Hassos Vergehen: Nach einem Verwand­tenbesuch in Berlin hatte er in der Berliner Bahnhofsvorhalle einem jungen Mann, dessen Reiseziel ebenfalls Hamburg war, seine Rückfahrkarte verbilligt angeboten. Der Mann griff zu, und Hasso war im Besitz von Bargeld. Davon löste er sich eine Bahnsteigkarte (noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg für Nichtreisende erforderlich), wartete auf den Zug nach Ham­burg und passte nach dem Einstieg auf, ohne Fahrerlaubnis vom Schaffner erwischt zu werden. Wegen dieser schwerwie­genden Verfehlungen, allein seine Reise nach Berlin war in sei­ner Schule melde- und genehmigungspflichtig, steckte ihn die Schulleitung für sieben Tage in den schuleigenen Karzer, der ihm nur zu den Unterrichtstunden aufgeschlossen wurde. Diese Einrichtung eines Schulgefängnisses für Heranwachsende för­derte in Hasso zusätzlich und nachhaltig die völlige Ablehnung der autoritären, oftmals auch persönlichkeitsverachtenden Ge­sellschaftsform. Die Beziehungen des Vaters und der Name Schützendorf gestatteten es Hasso jedoch bald, weiterhin ein normal bürgerliches Gymnasium in Hamburg besuchen zu dür­fen. Dieses Institut blieb dann bis in sein achtzehntes Lebens­jahr hinein und ohne ernste Zwischenfälle seine schulische Heimat. Doch dann wurde ihm der Weg zum regulären Schulabschluss endgültig versperrt.

Hassos Abneigung gegen das Nazi-Regime, für ihn erstran­gig in Gestalt linientreuer Lehrer, setzte sich mit fortschreiten­den Lebensjahren unaufhaltsam in ihm fest. Aber auch nicht wenige Klassenkameraden empfanden wie er, erst recht nach Kriegsbeginn. Hinausposaunte Erfolge der Wehrmacht ins Großdeutsche Reich waren für sie kein Anlass, in Jubelstürme auszubrechen. Es waren Gleichgesinnte neben Hasso, die es nach Erlangung der Reife nicht freiwillig zum Soldatenberuf ziehen würde. Sie rechneten damit, ohnehin eines Tages zum Kriegsdienst geholt zu werden, erst recht nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion im Juni 1941. Die jungen Menschen, von parteilichen Reglements ganz und gar nicht angetan, durften sich außerhalb ihres Kreises keine Äußerungen gegen die Nazis erlauben. Natürlich gab es auch Schulen oder Klassen mit nazifreundlichen Schülern.

2. Verrat und Folgen

Frühherbst 1941.

Hasso, einige Klassenkameraden und Freundinnen übertrieben wieder einmal ihre Leidenschaft für den Jazz und ihre Ablehnung der Herrscherkultur der Nationalsozialisten. Wie immer kam ihnen nicht in den Sinn, sich zurück­halten zu müssen, sie waren ja unter sich. Doch was nützt die Überzeugung einer Gruppe scheinbar Gleichgesinnter, wenn sich in ihrem Kreis ein Verräter, ein Spitzel eingenistet hat. Na­türlich war ihnen, den Anhängern des Jazz, bekannt, dass ihre Musik als abartig eingestuft war und das Hören strafrechtlich verfolgt wurde. Über vermeintliche Arten der Bestrafungen dis­kutierten sie gelegentlich. Das verbotene Hören von Jazzmusik nahmen sie unter sich nicht ernst, wohl aber in der Öffentlich­keit, wo ihre Gespräche rund um den Jazz absolut tabu waren. Ernster hingegen nahm diese angeblich volksschädlichen und zersetzenden Dinge ein Junge, der sich im Jazzkreis äußerlich loyal verhielt. Zu Hassos Klassenkameraden zählte er nicht. Er wohnte in einem anderen Stadtteil, wie auch einige der Mäd­chen im Kreise der Jazzliebhaber. Dieser junge Mensch nun, Anführer einer Hitler-Jugendgruppe, was dem Freundeskreis aber verborgen geblieben war, erwies sich als Spitzel, der das laute Treiben und hörbare Denken seiner Freunde seinem HJ-Vorge­setzten meldete. Dass auch er aktiv in dem Jazzkreis mitwirk­te, war ein Mittel zum Zweck, gleichzusetzen mit den Spitzelaktivitäten des späteren SED-Regimes, überhaupt aller totalitärer Politsysteme.

Nun, der HJ-Führer reich­te des jungen Verräters Erfahrungen weiter an die Gestapo (Ge­heime Staatspolizei), die die Angelegenheit auf ihre Weise erledigte. Welchem Treiben Hassos, eines Teils seiner Klassenka­meraden, aber auch gleichaltriger Mädchen musste die Gestapo Einhalt gebieten? Die Jugendlichen − bis zu fünfzehn kamen oft zusammen – verdienten sich in ihrer Freizeit bei einer Hamburger Filmproduktion in der Blumenstraße, die überwiegend Werbefilme produzierte, ein gutes Taschengeld. Sie wurden als Komparsen eingesetzt und verrichteten zudem alle möglichen Hilfsdienste. Hassos Zuhause in Hamburg war dann manchmal verwaist. Sein Vater hatte inzwischen in Sachen Truppenbe­treuung öfter im Dunstkreis der Wehrmachtsführung in Berlin zu tun, so kam es Hasso sehr gelegen, manchmal auch die Nächte in den Gebäuden und auf dem Werksgelände der Film­gesellschaft zu verbringen. Er schloss sich dann einem haupt­amtlichen Wachmann an und half, vorgeschriebene Kontrollen vorzunehmen, wofür er zusätzlich zehn Mark pro Schicht kas­sierte. Einbrecher waren kaum zu befürchten, Hasso ängstigten vielmehr die zunehmenden nächtlichen Flugzeugalarme. Häu­fig heulten die Sirenen schon los, wenn die Dämmerung in die Nacht überging, und die jungen Leute sich noch in den Räumen der Filmstudios aufhielten. War das Sirenengeheul und die bedrohlichen Motorengeräusche über der Stadt verstummt – Bomben waren noch nicht gefallen –, dann legten die Jungs und Mädchen ihre Jazzplatten auf, deren Musik sie dann in wil­den Tänzen auskosteten. Manchmal durften sie auch in den Filmvorführraum, wo ihnen die neuen Werbefilme, in denen sie mitwirkten, vorgeführt wurden. Da sahen sie sich dann hin und wieder im Verein mit Filmgrößen, wie Leni Riefenstahl oder Günter Lüders. Hasso, Wortführer der jungen Horde erfuhr in jener Zeit nicht nur die Bedrohung durch feindliche Flugzeuge, sondern auch seine erste große Liebe in Gestalt der reizenden Ursula Thies. Zu seinem Leidwesen erwiderte sie seine Liebe nicht sehr lange, denn gegen den Aufnahmeleiter, der sie geraume Zeit später sogar heiratete, kam er nicht an. Al­lerdings hatte die Ehe nicht lange Bestand. Denn nachdem ir­gendwann und irgendwie der amerikanische Filmschauspieler Robert Taylor sich nach dem Krieg in die Verbindung einge­bracht hatte, war die Sache schnell erledigt. Dank dieses Man­nes wurde Ursula Thies später in den USA eine gefragte Schauspielerin, galt von da an für viele Menschen sogar als die schönste Frau der Welt. Als Hasso davon erfuhr, war Deutschland längst da­bei, aus Schutt und Asche wieder aufzusteigen.

Das Bespitzeln von Schul- und der Komparsenkameradschaft durch einen speziell beauftrag­ten Hitlerjungen – heute, wie gesagt, erinnernd an die Machen­schaften der Stasi in der DDR – war der Beginn von Hassos Abstieg, der schnell in einen freien Fall übergehen sollte. Die Gestapo war selbstverständlich nicht nur von dem permanenten Hören der Jazz-Musik informiert worden, sondern auch von dem Plan der Gymnasiasten, irgendwann heimlich nach Schwe­den entwischen zu wollen, um von dort aus gegen die Nazikul­tur zu agieren. Die Organisation der Reise in das skandinavi­sche Land sollte einem Gruppenmitglied übertragen werden, dessen Vater Mitarbeiter im schwedischen Konsulat in Hamburg war. Dies alles hatte nun die Gestapo erfahren und schlug sofort zu. Bei der nächsten Zusammenkunft wurden Hasso und seine Freunde – die anwesenden Mädchen blieben verschont – ver­haftet und in die Polizeileitstelle im Stadtteil Fuhlsbüttel ge­bracht, wo man sie eindringlichen Verhören unterzog ... den angeblichen Rädelsführer Hasso etwas schärfer. Seine Mitver­hafteten setzte man nach sechs Tagen Eingesperrtsein wieder auf freien Fuß, ihn hingegen verurteilte die Gestapo in einem Schnellverfahren zu einer sechsmonatigen Haftstrafe, die er als Nazi- und Volksschädling im Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg zu verbüßen hatte. Warum bestrafte die Gestapo Hasso am schärfsten? Sie hielt ihn für einen kommen­den gefährlichen Aufrührer und Systemgegner. Zwar verbot das Gesetz, Per­sonen unter dem 21. Lebensjahr auf diese Weise zu bestrafen, bei dem erst siebzehnjährigen Hasso machte die Gestapo aber eine Ausnahme. Sie folgte ihren eigenen Gesetzen, sie hielt die Macht im Staat in ihren Händen. Was kümmerte sie die regulä­re Justiz. Dennoch schwächte sie diesen Fall ab, indem sie Va­ter Eugen von der Verurteilung seines Sohnes unterrichtete und Hasso offiziell als Polizeihäftling bezeichnete. Polizeihäft­linge wurden einer sogenannten polizeimedizinischen Untersu­chung unterzogen, was die Gestapo als das Sonderrecht eines Polizei- und niemals eines KZ-Häftlings deklarierte. So kurios es auch anzusehen ist: Hasso war theoretisch ein Polizei-, aber praktisch ein

KZ-Häftling. Der erboste Vater Eugen wandte sich an den Reichsjustizminister, der auch prompt bei der Gestapo intervenierte, was aber regelrecht im Sande verlief.

Wie es in einem Konzentrationslager zuging, muss hier nicht besonders hervorgehoben werden; aller Welt ist es bekannt. Im KZ Neuengamme gehörte Hasso der sogenannten Schwarzpunkt-Kompanie an, deren Angehörige in einer außer­halb des Lagers betriebenen Ziegelei eingesetzt wurden. Ein schwarzer runder Flicken auf den Sträflingsjacken war das Ho­heitsabzeichen der Sträflinge. Der Marsch vom Lager zur Fa­brik und zurück musste grundsätzlich im Laufschritt bewältigt werden. Arbeit, Misshandlungen, die Gewaltläufe und dazu die miserable Verpflegung überstanden hauptsächlich nur die psy­chisch Stabilsten. Manch anderer fiel in sich zusammen wie ein morsches Holzgestell und wurde dann, von aller Pein erlöst, aufgehoben und an einer bestimmten Stelle abgelegt. Nach Ar­beitsende wurden die Toten dann abtransportiert. Ein Mangel an Arbeitskräften trat nie ein. An manchen Tagen war das KZ Endstation von Häftlingstransporten, entsandt von anderen, überlasteten Lagern. Es waren jeweils mehr als zweihundert Männer, oft dabei bereits von der schnell vorstoßenden Wehr­macht gefangene Sowjetsoldaten, deren Mission gleich nach Kriegsbeginn beendet war; im KZ traten sie eine neue an, in der Regel nun mit Sicherheit tödliche. Nach ihrer Ankunft sortierten sie SS-Aufseher die arbeitsfähigen Männer sofort aus, alle übrigen brachten sie so schnell wie möglich um.

(Im Konzentrationslager Neuengamme ermordeten die Nazis rund 55.000 Menschen.)

Hasso befreundete sich während seiner Lagerzeit mit zwei Leidensgenossen an. Wollten sie sich nahe sein, dann versuch­ten sie, beim Latrinengang beieinanderzusitzen, um sich dies und jenes zuflüstern zu können. In der Nähe sich aufhaltende Aufseher unterbanden das Geflüster der Gefangenen oft, denn das Reden war nicht nur während der Arbeit verboten, sondern auch im Latrinenbereich oder sonstwo. Hassos neue Bekannte waren unwe­sentlich älter als er. Ferdinand Georg hatte sich nach nazifeindlichen Äußerungen ins KZ gebracht; der zweite hieß Georg Mohr. Er fiel erst auf, als er nach Empfang seines Einbe­rufungsbefehls in die Wehrmacht die staatliche Einladung missachtete und sich auf die Flucht begab. Vor der Grenze zur Schweiz fing ihn die deutsche Polizei ab. Georg Mohr war überzeugter Anhänger der islamischen Religion, was er immer zu verbergen wusste. Seine Gebete, in angenommener Richtung Mekka, verrichtete er, wenn er sich vollkommen sicher war, nicht beobachtet zu werden.

Beide Leidensbrüder Hassos, von etwas kleinerer Statur, aber dunkelhaarig wie er, sind hier vorerst erwähnt wor­den. Sie beiden, deren Schicksal bald ununterbrochen mit dem Hassos verbunden, werden als weitere Protagonisten Hasso auf seinem Weg begleiten und eine von ihrem Schicksal zugeordnete Rolle spie­len.

Hasso hatte seine Strafe abgesessen, Georg Mohr und Ferdi­nand Georg mussten anscheinend bleiben. In seinen ihm ausge­händigten Zivilsachen fuhr Hasso in die väterliche Wohnung (den Schlüssel fand er bei Bekannten nebenan), die Vater Eugen, der in Berlin nach wie vor die Truppenbetreu­ung mitorganisierte, nicht aufgegeben hatte. Nun standen Vater und Sohn endlich wieder, wenn auch nur telefonisch, in Kontakt. Gleich zu Beginn seiner neuen Freiheit ließ Hasso zwei Fotos von sich anfertigen, eins sollte er für seinen Vater sein, eins behielt er für sich. Dass dieses Foto ihm später einmal das Leben retten, aber auch den Tod bringen könnte, war von ihm natürlich nicht zu ahnen.

3. Strafeinheiten für die Fronten

Es vergingen nur wenige Tage in Freiheit, als Hasso von zwei Männern in Zivil abgeholt und in die Kaserne nach Hamburg-Fischbek gebracht wurde. Seinen Vater in Kenntnis

zu setzen, war ihm verwehrt worden. Nun kurz gesagt: In Hasso, gerade aus dem KZ entlassen und endlich wieder freie Luft atmend, überschlugen sich düstere Ahnungen, die ihm die Brust eng werden ließen; und sie sollten sich bewahrheiten: denn von der Gestapo wurde er nach wie vor als ein sich entwickelnder Feind des Systems einge­stuft.

In der Kaserne wurde Hasso mit vielen anderen frei und nicht frei gelassenen Häftlingen kurzerhand in schlichtes Feldgrau gesteckt, aber nicht bewaffnet. Hier traf Hasso auch wieder auf Georg Mohr. Ferdinand Georg hingegen war nicht unter den Ausgesonderten des KZ's (die genaue Zahl ist uns nicht bekannt), die hier zu einer uniformierten, aber wohl kaum zu nennenden militärischen Ein­heit zusammengefasst und gleich darauf der Strafdivision 500 unterstellt wurden. Strafeinheiten, Strafbataillone! ... Das waren Einheiten für besondere Einsätze. Sie bekämpften – dann selbstverständlich bewaffnet – beispiels­weise Partisanen, gingen vor als Stoßtrupps, mussten – dann wieder ohne Waffen – Stellungen und Bunker bauen, Minen verlegen und verminte Gebiete räumen, Leichen von den Schlachtfeldern bergen und vieles mehr. Es waren Einsätze sehr oft unter Feindbeschuss, den sie, einen Gefallenen auf der Trage, selbst nicht überlebten.

Es mag niemanden verwundern, dass mancher Gruppen- oder Zugführer einer Strafkompanie von Untergebenen erschossen oder erschlagen worden ist, wenn beispielsweise Schikanen überhand nahmen.

Die Strafeinheiten wurden nach einem Führererlass aufgestellt, der besagte, dass verurteilte Zivilisten – viele von ihnen glaubten, mit Straftaten dem Kriegsdienst zu entgehen –, von Wehrmachtsgerichten verurteilte Soldaten sowie KZ-Insassen in Sondereinheiten zusammengefasst werden sollten. Der erste Verband wurde Mitte 1941 aufgestellt: die Strafdivision 500, der nun auch Hasso angehörte. Später beschickte die deutsche Militärjustiz zusätzlich sogenannte Feldstrafgefangenen-Abteilungen. Als berüch­tigste Einheit im Verband tat sich das Bewährungsbataillon 999 hervor.

Die Personalstärke der Bewäh­rungstruppen lässt sich auf 29.700 Männer nachweisen, wovon 5.400 zum Stammpersonal gehörten. Es ist aber davon auszugehen, dass insgesamt über 33.000 Männer diesen Einheiten angehörten und starben, auch unter ihnen zuvor zum Tode Verurteilte. Manch ein Vorgesetzter in derlei Einheiten hatten sich ebenfalls zu bewähren. Homosexuelle kamen als Wehrunwürdige jedenfalls vorerst nicht an die Fronten, sie litten und starben, wie auch Zigeuner, weiterhin in Konzentrationslagern.

Bei den nicht vorbestraften Angehörigen der Stammgruppen handelte es sich um ausgesuchte, oft schlichtdenken­de, auf nichts Rücksicht nehmende niedere Dienstgrade, ent­schlossen, für ihren Führer Adolf Hitler durch die Hölle zu ge­hen. Sie drillten ihre Untergebenen oft unmenschlich, schonten sich selbst aber auch nicht. Mancher Offiziers- oder Unteroffiziersdienstgrad, wegen Feigheit vor dem Feind verurteilt und degra­diert, bewies, um wieder freizukommen, als Vorgesetzter in ei­ner Strafeinheit das Gegenteil. Es ist nicht verwunderlich, dass der eine oder andere Peiniger von seinen Untergebenen umge­bracht worden, dass andrerseits eine große Zahl von Sträflingen zu den Sowjets übergelaufen ist. Auch in Bewährungs- oder Strafeinheiten waren, wie in den regulären Truppen­teilen, Standgerichte integriert. Verhängten sie Todesurteile, dann wurden sie sofort vollstreckt. Diese Gerichte fällten in den Einheiten der Bewährungsdivision 500 nach­weisbar 136 vollstreckte Todesurteile. Nach allen Erkenntnissen waren es insgesamt weit über 300. Die Soldaten wurden nicht nur durch gefahrvolle Einsätze belastet, sondern gleichermaßen durch verschärfte Bedingungen in nor­malen Tagesdiensten. Reguläre Einheiten, die nach verlustreichen Kampfhandlungen frischer Soldaten bedurf­ten, wurden zwecks Erholung und Neuaufstellung oft in kampffreie Rückräu­me verlegt, nicht so Überlebende von Strafeinheiten.

Zurück zu den ehemaligen KZ-Insassen in der Pionierkaser­ne in Fischbek. Hasso und seine Kameraden hofften, dass sie jetzt, vor ihrer Verlegung nach sonstwo, ihre Familien von ih­rer Situation in Kenntnis setzen durften. Doch die SS-Schinder lachten nur. Für irgendwelche Benachrichtigungen wäre ihre neue Einheit zuständig, nämlich dann, wenn sie es für notwen­dig erachte ... das sei dann immer noch früh genug. Was sie da­mit sagen wollten, war nicht schwer zu verstehen. Hassos Trostspender war Georg Mohr, Anhänger islamischen Glaubens und ohne Angehörige. Beide wollten unter allen Umständen darauf achten, nicht getrennt zu werden.

Es war ein ziemlich langer Transport mit rund achthundert verurteilten Soldaten, wenn man Kz'ler und Kriminelle aller Art als Soldaten bezeichnen kann. Die Güterwaggons waren überbelegt, sodass auch Hasso und Georg Mohr sich mühten, ausreichend Platz zum Liegen zu gewinnen. Die Vorgesetzten dieses Sträflings- und KZ-Bataillons belegten für sich einen Personenwagen, ange­koppelt etwa in der Mitte des Zuges. In den beiden letzten Waggons lagerten Karabiner, Munition, Handgranaten und Seitengewehre, im drittletzten Waggon waren vier Reitpferde untergebracht. Hielt der Zug, wurde die Zeit genutzt, um die Pferde zu ver­sorgen und ihren Waggon auszumisten. Verpflegung, für die ein Waggon an die Personenwagen gehängt worden war, wurde seltener ausgeteilt, die Trinkwasserversorgung hingegen war vordringlicher.

In jedem Mannschaftswaggon stand in jeder Ecke ein Fäkalienkübel. Das war die ganze Einrichtung. Offene, hoch ange­brachte Klappfenster sorgten für nur geringe Helligkeit. Hasso, Georg Mohr und alle anderen Männer aus dem KZ Neuengam­me waren komplett in zwei Waggons eingesperrt. Wahrscheinlich hielten es die Zug- und Gruppenführer für unbedenklicher, wenn Verbrecher jeglicher Art von Kzlern getrennt untergebracht waren.

Tage später geriet der Zug nach Überfahren der Grenze zur Ukraine unter Partisanenbeschuss, dem einige Waggoninsassen zum Opfer fielen, etliche andere wurden verwundet. Viele Opfer hatte nach Abfahrt des Transports in Hamburg im Übrigen auch die Verpflegung gefordert. Neben Brot bestand sie hauptsäch­lich aus fetter Wurst und viel Speck. Diese anfangs sehr be­grüßte, aber ungewohnte Nahrung war den an erbärmliche Schmalkost gewöhnten Mägen der Häftlinge ganz und gar nicht bekom­men. So war es nicht verwunderlich, dass sich vie­le Männer in Krämpfen wanden und alles, was sie geges­sen hatten, wieder von sich gaben. Andere wiederum erreichten den Fäkalienkübel nicht rechtzeitig. Es muss nicht genauer be­schrieben werden, welche Maßnahmen getroffen wurden, wenn der Zug Zwischenstopps einlegte. Jedenfalls mussten dann nicht nur Kübel entleert, Wasser und seltener Kohle nachge­bunkert und Pferde versorgt, sondern auch Menschen entsorgt werden. In den ersten Haltezeiten war dann durchgesickert, dass nicht nur ehemalige KZ-Insassen der gehaltvollen Nah­rung zum Opfer gefallen waren. Vorteil danach für die Männer, die das erste große fette Fressen halbwegs über­standen. Sie verfügten über mehr Platz, wenn sie nach dem nächsten Halt ihre toten Kameraden aus den Waggons entfernt hatten. Der Ge­stank hingegen war das Unerträglichste, dem sie ausgesetzt wa­ren. In dem Waggon, in dem Hasso und Georg untergebracht waren, hatte es nur einen Verpflegungstoten gegeben, achtzehn Erkrankte erholten sich wieder.

Georg Mohr schlug alle paar Stunden als Teppichersatz seine Wehrmachtdecke auf, ließ sich auf die Knie fallen und betete gen Mekka. Ob jeweils die Richtung stimmte, darüber dis­kutierte man gelegentlich. Jedenfalls legte Georg Mohr keinen Wert mehr darauf, unbemerkt zu seinem Gott zu sprechen. Manch einer bewunderte ihn sogar und fühlte Ruhe in sich auf­kommen; und niemandem kamen lästernde Bedürfnisse in den Sinn.

Ziel des Sträflingszuges war die Stadt Charkow in der Ukraine.

Es war um die Mittagszeit, als der Transport sein Ziel erreichte. Niemand hatte sich gemerkt, wie viele Wochen oder Tage sie unterwegs gewesen waren, niemand kümmerte es. Auf dem weiten Gelände neben einem Vorortbahnhof Charkows begrüßte der Krieg das unweit des Zuges lagernde Bataillon, deren Kompanieführer darauf warteten, was weiterhin mit ihnen geschehen solle. Die Musik des Krieges! Hier war sie nicht das gelegentliche Ge­wehrfeuer versteckter Partisanen, hier erschreckte sie mit in der Lautstärke sich ständig überschlagenden tiefen, platzenden Tö­nen die gerade unfreiwillig angekommenen Zuhörer. Die ungewohnten Geräusche und der Anblick der Zerstö­rungen und des östlichen Horizonts wühlten in den Sträflingssoldaten fast panische Ängste vor dem noch für sie Unbekannten auf, hinterlie­ßen zudem das Ge­fühl, als zittere der Boden unter ihren Stie­feln. Kein lautes Reden war zu hören, die Männer lauschten und hingen ihren Gedanken nach, wobei sie dorthin starr­ten, wo sich für sie der Krieg zwar noch fern, aber in brutaler Deut­lichkeit offenbarte. Flackernde, blitzen­de Lichtkaskaden untermalten die Melodie des Krie­ges und grüßten in teuflischer Verzückung herüber: eine Aufführung des Grauens auf brennender Bühne. Den Männern wurde offenbart, was sie erwartete, hier verfolgten sie eine Ouvertüre des Dramas. Sie lagerten ohne Waffen und Munition. Sollten sie mit Steinwürfen den Feind bekämpfen? Sie wollten beides nicht: weder Waffen und Muni­tion empfangen noch mit Steinen werfen. Unweit von ihnen lagen die Bahnhofsgebäude fast sämtlich in Schutt und Asche und soweit erkennbar, auch Teile der diesseitigen Vorstadt. Und als die Dämmerung langsam herauf­stieg, verstärkte sich der ge­spenstische Anblick, wenn stehen gebliebene Schornsteine ver­brannter Häuser, überwiegend ehemalige Holzbauten, sich zu­ckend vor dem Glut wabernden Horizont erhoben, so als lebten sie und jemand versuche mit starker Hand, auch sie zu stürzen.

Bis in die Innenstadt Charkows hätte der Zug nicht fahren können, denn nur bis hier hatten deut­sche Pioniere demolierte Gleise gegen noch brauch­bare ausgetauscht. Zu Pionierarbeiten wurden im Übrigen bald auch Angehörige von Bewährungsein­heiten eingesetzt.

Das Strafbataillon wartete auf Befehle. Sollte es in dieser Ge­gend Stellung beziehen, um die Rote Armee aufzuhalten? Ei­nerlei, welche Befehle die Sträflingstruppe erreichen sollte, je­dem der hier Lagernden, der halbwegs imstande war, Situati­on und Verhältnisse zu überblicken, wurde schnell klar, am Ende seines Lebensweges angekommen zu sein. Sollten sie nicht nur mit ihren Körpern den Sowjets Paroli bieten, mussten Waffen und Munition ausgegeben werden. Aber auch dann konnte nicht möglich sein, die angreifenden Sowjets auch nur für eine Stunde aufzuhalten, denn kaum jemand wusste mit Ka­rabiner und Handgranaten umzugehen. Nun, Waffen und Muni­tion wurden nicht verteilt, lagerten nach wie vor in einem Wag­gon. Die Lokomotive indes stand weiterhin unter Dampf. Bald fuhr ein geschlossener Kübelwagen vor, vom Bataillonsstab angefordert, der Waffen und Munition übernahm. Danach setz­te der Zug zurück, um an einem Weichenbereich die Lokomotive abzukoppeln und als Zugmittel wieder anzukoppeln.

Fast gleichzeitig erreichte ein Befehl das Bataillon, nicht in die vorgesehenen, bereits in die von den Vorgängern gebauten Stellungen zu marschieren, sondern sich sofort auf den Weg in die nicht weit entfernte Kleinstadt Charlowka zu machen, wo es weitere Befehle abzuwarten galt. Also formierte sich die Einheit und marschierte kilometerweit durch die dunkler wer­dende Nacht. Hassos Füßen bereitete der Marsch ziemliche Probleme. Georg Mohr klagte er, mit seinen Plattfüßen nicht mehr lange durchhalten zu können, doch er nahm sich zusam­men. Als der Morgen dämmerte, hatte das Bataillon sein Ziel erreicht. Es war fast ausschließlich durch lichte Birkenwälder marschiert, in denen der Kübelwagen problemlos vorankam. Er war der Einheit mit vielen Stopps gefolgt und dadurch dem Ri­siko ausgesetzt, im richtigen Augenblick von dem Marschkör­per von Partisanen abgetrennt zu werden.

Auf dem ersten Blick waren keine Zerstörungen in Charlow­ka wahrzunehmen. Doch von den Einwohnern waren anschei­nend nur wenige in ihren Holzhäusern geblieben. Ferner Kriegslärm, wie am Rande der Großstadt Charkow, war nur schwach zu hören, auch nur dann, wenn keine Motorengeräu­sche in den Ort drangen. Unweit des Stadtrandes ver­lief eine der sogenannten Rollbahnen, eine äußerst breite das Gelände zerfurchende Streckenführung, verursacht von Vormärschen und Nachschubeinhei­ten deutscher Verbände. Trotz rasanter Er­folge der Wehrmacht traten natürlich auch Situationen ein, in der gebietsweise die Rote Armee zurückschlug, wie seit Kurz­em am Rande Charkows und anderswo. Einige Hundert zerfetzt­e deutsche Soldaten zusätzlich waren für die Nazi-Führung keine erhabene Sache.

Erst im Februar 1943 raubte der Unter­gang der VI. Armee, der sich ab Herbst 1942 angebahnt hatte, dem Führer und seinen Generälen den Schlaf. Und es waren nicht wenige Verbandsführer, die das als einen Anfang vom Ende deuteten ... aber nur für sich oder in einem bestimmten Kreis.

In der Zeit der Ankunft des Strafbataillons herrschte auf der Roll­bahn nur wenig Verkehr. Bis vor zwei Tagen hatte in dieser Stadt und vor allem vor dem östlichen Stadtrand bereits reguläre deutsche Infanterie in Stellung gelegen, bis die Soldaten dann plötzlich abgezogen wurden. An diesem Tag sollte das Strafbataillon die Infanteris­ten vorerst ersetzen. Da die Stadt ziemlich menschenleer war, durften sich die Soldaten vorerst in den Häusern ein­quartieren. Hasso und Georg Mohr fanden Unter­kunft in einem einstöcki­gen Holzhaus, das noch von einer Familie bewohnt wurde, der zwei alte Männer, vier junge und zwei alte Frauen sowie zwei Kinder angehörten. Die beiden Besetzer fühlten sich alles andere als wohl in ihrer Haut, den ukrainischen Hausbewohnern erging es nicht anders. Nach Einmarsch der Wehrmacht in ihr Land hatten sie, wie fast alle ihre Landsleute, gehofft, von den Deutschen vom Stalinregime befreit und eigenständig zu werden, was ihnen anfangs auch vermittelt worden war. Doch nach nur kurzer Zeit verdrängten Enttäu­schung und Zorn ihre Hoffnungen: Die Ukraine war für die Deutschen ebenfalls Feindge­biet. Dennoch sahen Tausende von Ukrainern ihren Kampf ge­gen das Sowjetregime erst am Anfang, was der Wehr­macht sehr gelegen kam. 1943 stellte die SS aus willigen Ukrainern die 14. Waffen-Grenadier-Division auf (SS-Division-Galizien), die aber, aus gutem Grund, nicht in der Ukraine ein­gesetzt wurde.

Kaum Quartier genommen, sollte die Einheit den Ort wieder verlassen. Der Grund war, dass die Sowjets mit plötzlichen Ar­tillerieschlägen die vorge­lagerten deutschen Stellungen am Westufer des Do­nez' gesprengt und dann den Strom überquert hatten. Bei ihrem folgenden Vormarsch mussten sie von den Deutschen bis Charlowka keine Gegenwehr befürch­ten. (Das Blatt sollte sich aber bald wieder wenden). Und diesen Sowjet-Vormarsch sollte ein Strafbataillon mit Soldaten, die nicht ein­mal einen Karabiner nach Vorschrift abfeuern konnten, aufhalten und da­durch die Maßnahmen für einen deutschen Gegenstoß ermögli­chen? Aufhalten gewiss für eine kurze Zeit, ohne wirkungsvollen Waffenein­satz wahrscheinlich nur wenige Minuten.

Gleich in der ersten Nacht wurde es in der kleinen Stadt äußerst unruhig. Es wurde zum Sammeln gebrüllt. Der Befehl erreichte rasch auch die letzte Unterkunft. Aus allen Quartieren quoll es heraus und hetzte zum Sam­melplatz. Gewehre und Munition sollten jetzt verteilt, die Empfänger dann so schnell wie möglich die bereits vor­handenen Stellungen wenige Kilometer vom östlichen Stadtrand entfernt, beziehen. Es waren ursprünglich von den Sowjets gegrabene Verteidi­gungsanlagen. Unverkenn­bar war jetzt: Das Strafba­taillon war dazu ausersehen, sich tat­sächlich den an­stürmenden Sowjets mit Karabinern und Hand­granaten entgegenzustemmen, um regulären Einheiten im Hinterland die Zeit für ein erneutes For­matieren zu verlängern. Der Einsatz des Strafbataillons in die­sem Frontbereich war nach Anbeginn seiner Aufstellung nicht geplant gewesen. Einsätze wurden je nach Bedarf kurz­fristig befohlen. Das Schicksal des Strafbataillons schien jetzt besie­gelt zu sein.

Häuser und Bewohner waren wieder schnell frei von ihren deutschen Gästen ... nein, nicht von allen. Hasso und Georg waren auf ihren Schlafplätzen einfach liegen geblieben. Angesichts ihrer an­scheinend aussichtslosen Lage waren sie bereits gleich nach ihrer Ankunft in diesem Haus mit sich übereingekommen, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit sich abzusetzen. Die Folgen waren ihnen gar nicht in den Sinn gekommen. Sie hatten nur im Kopf, in den nächsten Tagen vernichtet zu wer­den, wenn sie ihrer Einheit nicht den Rücken kehrten. Seitens ihrer sich freund­lich, aber untereinander sich schweigend verhaltenen Quartiergebern schien ihnen keine Gefahr zu drohen. Die Leute er­weckten den Eindruck, als gehe sie das alles nichts an. In Wahrheit litten sie unter der Furcht, in absehbarer Zeit ebenfalls vom Frontgeschehen in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Die Absicht der beiden Deutschen hatten sie natürlich erkannt, rea­gierten aber nicht. Wie hätten sie sich auch verhalten sollen?

Als der Tag heraufzog, war von dem Strafbataillon nichts mehr zu hören und zu sehen. In dem überstürzten Aufbruch war Hassos und Georgs Nichter­scheinen auf dem Sammelplatz anscheinend nicht wahrgenommen worden, weil jeder mit sich selbst zu tun hatte. Und auch den Zug- und Gruppenfüh­rern in­teressierten Gesichter und Namen ihrer Män­ner nicht im Ge­ringsten.

Als Hasso und Georg sich anschickten, das Haus zu verlassen, schreckte sie das plötzliche Auftauchen ei­nes blondbär­tigen, fast kahl geschorenen, mit gro­bem Bauernzeug bekleide­ten Mannes mittleren Al­ters zurück. Um seinen Hals hatte er einen gefüllten Patronengurt hängen, an seiner rechten Gürtel­seite eine Pistole und an der linken ein in einer Fellscheide ste­ckendes Messer. Ein zweiter Mann in ähnlicher Aufmachung war vermutlich als Wache draußen vor der Tür in Deckung ge­blieben. Hasso und Georg stockte der Atem. Der ihnen Furcht einflößende Mann erschrak nicht minder beim Anblick der deutschen Uniformen, erkannte dann aber schnell, was es mit der Anwesenheit der beiden Deutschen auf sich hatte. Er wusste sehr genau, wenn an deutschen Uniformröcken weder Schulterstücke, Kragenspiegel oder andere Zugehörigkeits- oder Tätigkeitszeichen angebracht waren, dass deren Träger nicht zu den regulären Truppen gehörten. Und seine Angehörigen indes schienen seit Stunden mehr als ratlos, wie sie mit den Deutschen umgehen sollten.

Sie atmeten auf, als sie den wild aussehenden Krieger eintreten sahen. Dieser Mann, sich in gebrochenem Deutsch als Offizier der Roten Armee ausgebend, war bestens informiert davon, diesen Ort wieder frei von deutschen Truppen vorzu­finden. Er verschwieg auch nicht, der Ehemann der jüngeren Frau in diesem Haus zu sein. Dass sich die beiden ukrainischen Krieger in dieser Gegend auf­hielten und nicht in der Uniform der Sowjets, war für Hasso und Georg nicht schwer zu erraten. Es waren Partisanen, für die es Pflicht war, jeden Deutschen umzubringen, der ihnen in die Hände fiel.

Vermutlich war der Offizier, der sich in diesem weiten Ge­biet natürlich sehr gut auskannte, auftragsgemäß und vorüberge­hend mit einer Partisanengruppe in Verbindung zu bringen. Der Mann, wohl wissend um das wahrscheinlich baldige Eintreffen seiner Waffenbrüder, war sich nicht sogleich schlüssig, Hasso und Georg entweder seiner Truppe als Kriegsgefangene festzu­halten oder sie kurzerhand zu erschießen oder sie sich selbst ih­rem Schicksal zu überlassen. Er entschied sich für das Letzte­re, nachdem er sich hat überzeugen lassen, es tatsächlich mit Fah­nenflüchtigen zu tun zu haben. Hassos und Georgs Äußeres bestätigten des Kriegers Vermutung, noch bevor er eine eindeutige Erklärung entgegennehmen konnte, welchem Truppenteil die beiden Gäste angehörten. Und zuletzt war das Foto, dass Hasso vorzeigte, mit ausschlaggebend, dass der Ukrainer nicht lange überlegen musste. Er ließ sich von seiner Frau einen Füllfederhalter in die Hand geben und beschrieb die Rückseite des Fotos. Danach gab er es Hasso zu­rück und erklärte seine Dokumentation, bis sie von den bei­den Deutschen begriffen wurde. Es stehe auf der Fotorück­seite der Hinweis, dass es sich bei den beiden Deutschen um Widerstandskämpfer handele. Dieser Hinweis sollte lebensret­tend sein, falls die beiden in die Hände sowjetischer Soldaten oder Partisanen gerieten. Insgeheim war er aber überzeugt, dass Hasso und Georg auf ihrer Flucht eher umkommen werden, als in Gefangen­schaft zu geraten. Sich der beiden Deutschen mit einigen Schüssen zu entledigen, wäre nicht nur gegen seine Ehre als Offizier. Ihm stand auch vor Augen, sie als Überläufer einer sowjetischen Einheit zu übergeben, jedoch sah er als Partisanenführer darin keine gute Lösung.

Bevor der Sowjet-Offizier sie entließ, wurden sie von den Frauen, beauftragt von dem Offizier, mit jeweils einer Hose und einer Joppe ausgerüstet. Die graubraunen Teile waren fest gewebt, vermutlich schon einige Jahre alt, aber sauber und nicht verschlissen. Ob sie passten, war den beiden Flüchtigen einerlei. Sie beschlossen, ihre Kleider noch nicht zu wechseln, erst dann, wenn es für ihre Flucht notwendig und vor allem, wenn es ohne Zeugen möglich sei. Zum andern war ihnen schnell in den Sinn gekommen, was sich ergeben könnte, wenn sie in Bauernkleidung plötzlich Partisanen gegenüberständen, nicht schnell genug des Offiziers Empfehlung hervorziehen, sich stattdessen auch sprachlich nicht erklären könnten? ... In ihrem Wehrmachtsgrau müssten sie fraglos sofort ihr Leben zur Verfügung stellen. Weder die Bekleidungsfrage noch die Frage, was könnte, wenn … war augenblicklich und unmöglich zufriedenstellend zu beantworten. Also verstauten sie die ihnen großzügig überlassenen Sachen in ihren Rucksäcken, dazu einige in einem Tuch eingeschlagene Kanten Brot, gekochte, jetzt kalte Hühnerteile und eine ziemlich harte Wurst. Sich nun auch noch die Hilfsbereitschaft der ukrainischen Familie zu erklären, dazu fehlte ihnen nicht nur die Zeit, sondern auch das Verständnis der politischen Verhältnisse. Stahlhelm und Gasmaske samt Behälter ließen sie auf Anraten des Offiziers zurück, behielten nur ihre Feldmütze auf dem Kopf. Am Ende erhielt jeder noch eine derbe braune Schlägermütze, etwas zu groß für ihre schmalen Köpfe, aber immer noch besser, sagten sie sich, als zu klein.

4. Fluchtwege

Solchermaßen bepackt erreichten sie den nahen und lichten Birkenwald, zwischen deren Stämmen das Gras üppig wuchs und ihre Schritte dämpfte. Diesen kilometerlangen Wald hatten sie teilweise auf dem Marsch nach Charlowka durchquert. Dichtes Buschwerk wuchs hauptsächlich nur an manchen Stellen des Waldrandes, zwischen den Birken nur spärlich. Deutsche oder sowjetische Truppenteile befürchteten die beiden Ausreißer hier nicht, allenfalls Partisanen, mit denen aber ständig zu rechnen war. Mit wachen Augen und Ohren und großer Ängstlichkeit strebten sie den Motorgeräuschen entgegen, zu erkunden, was es damit auf sich hatte, und erreichten denn auch bald den nördlichen Waldrand, wo sie aus der Deckung einer Buschreihe heraus die bereits an anderer Stelle angesprochene Rollbahn überschauen konnten. Nun also lag sie vor ihnen, die zig Meter breite Rollbahn, nur einen Steinwurf weit entfernt. Der Übergang vom Sommer in den Herbst bescherte dem Land bereits kurze anhaltende, aber heftige Regenfälle, von denen Hasso und Georg nicht mehr berührt worden waren. Seit ihrer Ankunft mit ihrem Bataillon am Westrand Charkows hatte es nicht mehr geregnet. Die sommertrockene, steinharte, zerfurchte Rollbahn indes hatte die Regenmassen nicht einsickern lassen können, sodass regelrechte kleine Seen entstanden. Erst allmählich war die hellbraune Erde aufgeweicht, und die kleinen Seen versiegten, hinterließen aber stellenweise morastige Stellen. Der Verkehr auf der Rollbahn hielt sich in Grenzen. Die Wehrmachtsfahrzeuge kamen ohne sonderlich große Probleme voran. Dennoch drehten hin und wieder bei dem einen und anderen Lastkraftwagen, vermutlich nach einem Fahrfehler, die Antriebsräder durch. Das alles war bereits ein Vorgeschmack auf die Verhältnisse, die der kommende russische Winter und das ihm folgende Frühjahr der Wehrmacht bieten sollten. Es fiel den beiden Beobachtenden aber auch deutlich auf, dass am diesseitigen Rand der Rollbahn Mannschafts- und Materialtransportfahrzeuge, wie beispielsweise sogenannte Kübelwagen, gelegentlich auch ein einsamer Kradmelder, weitaus besser und schneller vorankamen. Dieser schmale Streifen befand sich in einem verhältnismäßig guten Zustand.

Hasso und Georg lagen in ihrer Deckung wie Jäger, die ein Stück Wild ausgemacht haben. Sie strapazierten ihr Gehirn mit Gedanken, die nicht realisiert werden konnten. Was sollten die beiden Flüchtigen tun? Wie sollte es mit ihnen weitergehen? Ratlosigkeit und Angstgefühle drohten sie in eine folgenschwere Verzweiflung zu stoßen. Doch sie strafften am Ende Geist und Körper und beschlossen, ihre gerade begonnene Flucht abzubrechen. Sie fassten zusammen: Auch mit Zivilzeug und der Verpflegung sei ihre Flucht zu einem schnellen Scheitern verurteilt. Und wie sahen sie ihre nahe Zukunft? Entweder sie liefen halb verhungert zum Feind über, falls das überhaupt gelingen könnte, oder sie landeten in den Fäusten von deutschen Feldgendarmen. Beides sei für sie wahrscheinlich das Todesurteil. Am besten sei es vermutlich, so ihre letzte Vorstellung, wenn sie sich den Russen ergeben würden, der sie als Deserteure gewiss nicht in Gefangenschaft schickte, sie stattdessen gegen ihre eigenen Landsleute kämpfen ließen. Doch das sei auch wieder nicht das Beste für sie, da die Sowjetsoldaten sie vor Eintreffen in ihren Reihen erschießen könnten oder sie gingen im Kampf gegen die Deutschen zugrunde. Also blieben sie dabei, ihre Flucht abzubrechen und Anschluss bei den sich vermutlich absetzenden deutschen Infanteristen zu suchen. Es konnte vielleicht auch sein, sagten sie sich, dass die Sowjets inzwischen den Spieß umgedreht haben und dabei waren, die Deutschen aus ihrem Land zu jagen. Sie stellten diese Vermutung an, weil sie kein Fahrzeug Richtung Osten fahren sahen, ausgenommen gelegentliche Kradmelder mit und ohne Seiten-wagen. Sie richteten sich auf und marschierten ohne Hast auf die Rollbahn zu. Und als die Insassen eines heranrollenden verdecklosen Kübelwagens sie nicht übersehen konnten, winkten sie ihm entgegen. Das Fahrzeug zog nach links und hielt. Der Beifahrer beugte sich leicht über die Einstiegstür und rief Hasso und Georg zu:

»Was wollt ihr? Warum haltet ihr uns an?«

Das Warum erklärte Hasso mit stockenden Worten, wie ... versprengt ... Einheit nicht mehr gefunden ... Ausrüstungsteile auf der Flucht abhandengekommen ...

Mit diesen Erklärungen schien sich der Beifahrer zufriedenzugeben und befahl den Anhaltern, einzusteigen. Ein Kübelwagen, auf dem hinter der Fahrerkabine drei oder vier sich gegenüberliegende gepolsterte Sitzplatzreihen installiert waren, wurde vorrangig als Transporter eingesetzt, beispielsweise für das Personal eines Stabes. Auf diesem jetzt offenen Fahrzeug gesellten sich Hasso und Georg zu drei Soldaten, die sich ihre Wehrmachtsdecken um die Schultern gehängt hatten. Ihre Sturmgewehre und Ausrüstungsgegenstände lagen auf einer abdeckenden Plane, unter der sich irgendwelche Gegenstände abzeichneten. Die jungen Männer waren SS-Soldaten und höchstens Anfang Zwanzig. Was ihre Kragenspiegel und Schulterklappen offenbarten, war von Hasso und Georg nicht nachzuvollziehen, sie hatten noch nicht einmal die Dienstgradabzeichen ihrer direkten Vorgesetzten einzuordnen gewusst.

Nun wollten die drei SS-Männer natürlich wissen, mit wem sie es zu tun hatten, und warum sie unbewaffnet, ohne Stahlhelm und Gasmaske durch die Gegend gelaufen seien. Hasso gab die gleiche Erklärung ab wie wenige Minuten zuvor dem im Führerhaus sitzenden Beifahrer, sicherlich der Vorgesetzte dieser Männer.

»Bei einem überstürzten Aufbruch aufgrund von Feindeinwirkungen geht eben manches verloren«, versetzte Hasso, »da kann man froh sein, wenn man nicht krepiert ist oder gefangengenommen wurde. Aber da sagen wir euch ja nichts Neues. Ihr kommt doch auch aus dem Schlamassel da vorne ...«

»Wir konnten nichts mehr ändern«, behauptete der neben Hasso Sitzende. »Wir sind ganz einfach zu spät gekommen. Teile unserer Einheit sind bereits weit voraus. Wir gehören zum Nachkommando. Aber keine Angst, Kameraden, wir werden die Sache mit den Roten neu angehen und sie zurücktreiben. Im Donez lassen wir sie dann absaufen, falls wir sie nicht vorher in Grund und Boden gesprengt haben. Aber sagt mal: Ihr beiden seht aus, als hättet ihr gerade die Schule verlassen. Wie alt seid ihr eigentlich?« Hasso sagte es ihm und gleich dazu: »Noch vor dem Schulabschluss meldeten wir uns freiwillig.« Dann sprach Hasso eine andere Sache an, um von ihrer Situation abzulenken. »Auf dieser Seite kommt man gut voran«, sagte er, und Kamerad Mohr nickte heftig dazu und ergänzte: »Hier ist der Weg ziemlich glatt, die Fahrzeuge da drüben haben manchmal sichtlich Schwierigkeiten.«

Auf dieser Seite gelte die Regelung, erwiderte der SS-Soldat, dass sich hier nur Sondereinheiten bewegen dürften. Die SS gehöre selbstverständlich dazu. Fahrzeuge der Wehrmachtsführung benützten diese Seite sowieso. »Für alle anderen ist sie gesperrt«, fügte der SS-Soldat hinzu. »Das alles überwachen die Kettenhunde, die haben immer alles vor dem Visier. Seht dort! Da vorn links auf der Anhöhe stehen welche.«

Hoffentlich halten die uns nicht an und wollen kontrollieren, dachten Hasso und Georg zugleich.

Die Männer von der Feldgendarmerie kontrollierten nicht. Das von ihnen früh erkannte taktische Zeichen an dem Kübelwagen vermittelte ihnen, dass sich der Wagen samt Besatzung auf der richtigen Spur bewegte. Für die Kettenhunde wäre es auch kaum denkbar, unter Spezial- oder Elitetruppen Fahnenflüchtige zu finden. Hier hatten sie nur darauf zu achten, unbefugte Fahrzeuge von dieser Fahrbahnseite fernzuhalten. Weitere Schrecksekunden überstanden Hasso und Georg, als sie – sie trauten zuerst ihren Augen nicht – ihre mehr stolpernde als marschierende Kompanie überholten. Ein strammes Marschieren waren die Häftlinge nicht gewöhnt, und auf den Bodenverhältnissen der Rollbahn war es für sie noch bedeutend schwieriger, ordentlich voranzukommen. Sie hatten also nur wenige Kilometer zurückgelegt, obwohl sie seit letzter Nacht unterwegs waren. Der SS-Kübelwagen überholte das sich dahin quälende Strafbataillon in nahem Abstand. Hasso und Georg mussten aber nicht befürchten, erkannt zu werden, jedermann dort drüben hatte mit sich selbst zu tun. Die beiden Fahnenflüchtigen erkannten nur wenige Kameraden aus ihrem Waggon. Die Gewissheit, dass es sich um ihre Strafeinheit handelte, vermittelte unverkennbar auch der Kompanie-Chef, der seine Stute am Zügel nach sich führte. Auch die Pferde der beiden anderen Kompanieführer wurden am Zügel geführt. Nach etwa drei Minuten hinter den letzten Männern des Strafbataillons folgte der Kübelwagen mit der Munition. In ihrer höchst angespannten psychischen Verfassung bedurften Hasso und Georg nur wenige Sekunden, um Situation und Einzelheiten einschätzen zu können. Seitens ihrer Kompanie – sollte schon gesagt werden, ihrer ehemaligen? – ging für sie keine Gefahr aus. Und die verhassten, von allen Dienstgraden gefürchteten Feldgendarmen, verächtlich Kettenhunde genannt, weithin erkennbar an der um ihre Hälse hängenden Ketten mit dem vor der Brust baumelnden fast sichelförmigen, silberfarbenen Erkennungsschild? Diese Ordnungspolizei war eine gefürchtete Gattung.

Am späten Nachmittag fuhren sie in die Stadt Poltawa ein. Auf dem Marktplatz mussten Hasso und Georg das Fahrzeug verlassen. Reger, ja hektischer Betrieb herrschte hier. Was sollten die beiden immer unsicherer werdenden Ausreißer nun unternehmen? Einfach aufs Geratewohl weiter marschieren und zwischendurch Essbares erbetteln oder stehlen? Waren sie sich überhaupt bewusst, dass bei allen Umständen des Krieges sie kaum eine Chance hatten, halbwegs unversehrt in die Freiheit zu gelangen? Und wo wäre diese Freiheit zu finden? Sie wurden sich bewusst, dass sich eine weitere Fluchtmöglichkeit nicht bot. So blieb ihnen nichts Anderes übrig, sich entweder dem sicheren Verderben auszusetzen oder sich bei irgendeiner Einheit erneut als Verlorengegangene auszugeben. Und da sie sich als einzige Hoffnung einredeten, dass ihnen eine beabsichtigte Fahnenflucht nur schwer nachzuweisen sei, versuchten sie, sich in der Kommandantur, die in einem Gebäude am Marktplatz untergebracht war, zu melden. Ausweisen konnten sie sich allerdings nur als Angehörige eines Strafbataillons. Dass diese Tatsache ihre Situation verschlechtern könnte, nämlich, dass man sie den Kettenhunden übergeben werde, daran dachten sie nicht. Quälender Hunger und Hilflosigkeit überdeckten ihre Ängste. Somit versuchten sie, in die Kommandantur zu gelangen, was ihnen dann endlich gelang. Nicht nur auf dem Platz herrschte eine kaum zuzuordnende hektische Betriebsamkeit, auch im Eingangsbereich dieser Dienststelle ging es zu wie vor der Ein- und Ausflugsöffnung eines Bienenkorbes. Zum eigentlichen Treppenhaus hinauf führten sechs breite steinerne Stufen. Oben im Treppenhaus angekommen, sprach Hasso einen aus einem Raum heraustretenden Feldwebel an. Der Mann reagierte ziemlich ungehalten und schnarrte, als OvD (Offizier vom Dienst) andere Sorgen zu haben, als sich um Versprengte zu kümmern. »Der Platz hier ist voll von Versprengten«, rief er. »Haltet euch draußen auf und wartet, bis irgendwann Transportfahrzeu­ge bereitstehen. Die kutschieren euch dann nach Dnjepropetrowsk, wo ihr Bestandteil einer neu aufzustellenden Einheit oder sonst was werdet. Oder geht zum Bahnhof, dort steht ein Zug, der fährt auch nach Dnjepropetrowsk. Fraglich aber, ob ihr da mitfahren könnt.«

Der Hunger quälte Hasso und Georg. Ob sie hier irgendwo was zu essen kriegen könnten, sie hätten seit Langem nichts gegessen; und wie weit es denn bis zu dieser Stadt sei.

»Ihr nervt mich, haltet mich nur auf«, gab sich der Feldwebel wei­ter ungehalten. »Im Bahnhof gibt es zu essen – falls noch was da ist. Und wie weit es ist bis Dnjepropetrowsk? So um die zweihundert Ki­lometer, meine ich. Und zudem: Was haben euch Entfernungen zu interessieren? Russland ist nicht Liechtenstein. Und nun haut ab!«

Bahnhof, Eisenbahn. Ein Zug in Richtung Westen vielleicht ...? ‒ Richtung Westen wäre wünschenswert.