Healthy Habits - Fionna Zöllner - E-Book

Healthy Habits E-Book

Fionna Zöllner

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Beschreibung

Die aktuelle Standardernährung ist einer der größten Risikofaktoren für unsere Gesundheit. Dabei wissen wir, dass schnelle Fertigprodukte, hochverarbeitete Lebensmittel, Süßigkeiten und Softdrinks uns nicht guttun. Gegen alle Vorsätze greifen wir dennoch viel zu oft zu diesen Produkten, da sie ständig und einfach verfügbar sind. Wie es uns gelingt, bessere Essgewohnheiten zu entwickeln und warum uns Diäten dabei nicht helfen, erklärt Dr. Fionna Zöllner in ihrem neuen Buch Healthy Habits. Dafür verbindet die Psychologin den aktuellen Forschungsstand zum Thema Gewohnheiten mit gesunder Ernährung. Leicht verständlich zeigt sie, wie man mit kleinen Veränderungen eine große Wirkung erzielt und die eigene Ernährung für immer verbessert.

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Seitenzahl: 286

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INHALT

EINFÜHRUNG

Warum tun wir nicht einfach das Richtige?

Der Supermarkt ist lebensgefährlich

Nie wieder Diäten!

DIE MACHT DER GEWOHNHEITEN

Mythos Willenskraft

Was sind Gewohnheiten? Die Grundlagen

Kleine Veränderungen mit großer Wirkung

Auf einen Blick

GEWOHNHEITEN GESTALTEN – Die vier Prinzipien des Habit Designs

#1 MICRO – Aller Anfang ist klein

#2 KONTEXT – Die Umgebung zum Verbündeten machen

#3 BELOHNUNG – Es muss sich gut anfühlen

#4 WIEDERHOLUNG – Übung macht den Meister

Das Healthy Habit Tagebuch

Auf einen Blick

GESUND ESSEN MIT HEALTHY HABITS

Der gesunde Speiseplan

Vom Einkauf bis zum Superkühlschrank

Die Mahlzeiten mit vier einfachen Flexi-Rezepten

Mäßigung – Warum wir die alte Tugend wiederentdecken sollten

Gemeinsam macht es mehr Spaß

Healthy Habit Challenge

Auf einen Blick

HINDERNISSE BEWÄLTIGEN – Wenn das Leben dazwischenkommt

Hindernisse auf dem Weg zu Healthy Habits

Kurs halten – Von Aussetzern, Neustarts und Flexibilität

Persönliche Weiterentwicklung – Psychologische Werkzeuge

Auf einen Blick

APPELL – Die große Ernährungswende

EMPFEHLUNGEN

Bücher, Podcasts, TED Talks und mehr

LITERATURVERZEICHNIS

DANKSAGUNG

EINFÜHRUNG

»Es ist nicht genug zu wissen, man muss auch anwenden; es ist nicht genug zu wollen, man muss auch tun.«

Johann Wolfgang von Goethe

Auf dem Cover sehen Sie einen Apfel, der in kleinen Schritten zum Ziel springt. Vielleicht haben Sie auch gleich an das Sprichwort gedacht: »An apple a day, keeps the doctor away«? Das Wichtigste an diesem Satz ist nicht etwa der Apfel selbst. Die wahre Bedeutung liegt in der täglichen Wiederholung, in dem »a day«! Der springende Apfel steht nicht nur für das tägliche Apfelessen. Er ist ein Symbol für kleine gute Gewohnheiten, die mit der Zeit eine enorme Kraft entwickeln und langfristig über Erfolg und Gesundheit entscheiden. In diesem Buch erforschen wir, wie Healthy Habits funktionieren und wie wir sie als Schlüssel für ein erfülltes und gesundes Leben nutzen können.

WARUM TUN WIR NICHT EINFACH DAS RICHTIGE?

In den letzten Jahren habe ich mich intensiv mit dem Thema Ernährung befasst. Warum? Ich war inzwischen unleugbar in meiner zweiten Lebenshälfte angekommen und hatte damit gute Gründe, meine Gesundheit mehr in den Fokus meines Lebens zu stellen. Außerdem habe ich zwei noch kleinere Kinder, denen ich einen gesunden Start ins Leben ermöglichen möchte. Ich war auf der Suche nach dem gesündesten wissenschaftlich belegbaren Speiseplan der Welt. Ich aß häufig Salat, aber auch oft die schnell belegten Brötchen zwischendurch und war mir allgemein nicht so ganz im Klaren, ob ich nun eigentlich gesund genug oder zu ungesund aß. Ich wusste vor allem eins: Dass ich zu wenig wusste. Gerade als Wissenschaftlerin wurmt mich das. Ich bin dafür ausgebildet, Studien zu lesen, hatte aber neben Beruf und Familie nie die Zeit gehabt, mich ausführlicher mit dem Thema Ernährung zu beschäftigen. Gut gemeinte Ratschläge aus meinem Umfeld fand ich oft unbefriedigend und die Qualität schwer einzuordnen.

Als ich noch mal Elternzeit nahm, das zweite Kind aber nicht mehr ganz so klein war, hatte ich endlich die Kapazitäten, mich ganz dem Thema Ernährung zu widmen. Ich hatte so viele Fragen: Gibt es überhaupt eine optimale Ernährung für den Menschen? Kann man mit Ernährung wirklich das Risiko für chronische Krankheiten wie Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen senken? Welche Lebensmittel sind besonders gesund? Soll ich auf Zucker ganz verzichten? Nach 18 Uhr besser gar nichts mehr essen? Muss ich Salz sparen? Ist Kaffee ok? Was ist mit Milch? Enthält Obst zu viel Zucker? Macht Brot dick? Ist Fisch mit Schwermetallen belastet? Sind Bio-Produkte wirklich besser? Was sind eigentlich Ballaststoffe ganz genau? … Kennen Sie das? Schwirrt Ihnen auch oft der Kopf?

Ich begab mich also auf eine spannende Reise und habe Hunderte Studien im Original gelesen. Die Recherchen haben viele Monate in Anspruch genommen. Jede freie Minute saß ich am Rechner, oft beschäftig mit verwirrenden Widersprüchen und überraschenden Erkenntnissen, die immer mehr zu alltagstauglichen Einsichten wurden. Jedes Unterthema ist so facettenreich – der Zuckerstoffwechsel, das Mikrobiom, aber auch einzelne Lebensmittel wie Brokkoli, Weizen oder Milch faszinierten mich. Trotz aller Komplexität stellte ich aber überrascht fest, dass die Grundzüge einer gesunden Ernährung viel einfacher sind, als ich gedacht hatte und als die oft verwirrenden und widersprüchlichen Beiträge und Diskussionen vermuten lassen. Zwar gibt es in Einzelheiten noch Unklarheiten, aber die Grundlagen einer gesunden Ernährung stehen fest und sind wissenschaftlich belegt.

Sie lassen sich in drei Kernaspekte zusammenfassen, die der amerikanische Autor und Journalist Michael Pollan besonders eingängig formuliert hat: »Eat food. Not too much. Mostly plants.«1 Also: »Essen Sie Lebensmittel. Nicht zu viel. Überwiegend pflanzlich.« Mit Lebensmitteln sind »echte« Lebensmitteln gemeint, also solche, die möglichst frisch und wenig verarbeitet sind und aus nachhaltiger Landwirtschaft stammen. Zu diesen Lebensmitteln gehören Gemüse, Obst, Hülsenfrüchte, Vollkornprodukte, gesunde Öle und Nüsse, außerdem Milchprodukte, Eier, Fisch und Fleisch für diejenigen, die tierische Produkte essen. Diese Ernährung wird auch als artgerechte Ernährung bezeichnet, weil der menschliche Organismus seit Jahrtausenden daran angepasst ist.2 Ich hatte also wichtige Antworten auf viele meiner Fragen gefunden.

Vielleicht hätte ich es wissen müssen, aber es überraschte mich dennoch: Die Umsetzung dieser Erkenntnisse fiel mir schwerer als gedacht. Dabei war ich wirklich motiviert. Und trotzdem merkte ich, nachdem die Anfangseuphorie verflogen war, dass sich alte Gewohnheiten wieder einstellten. Mehr Hülsenfrüchte zu essen und Croissants wegzulassen fiel mir leicht und ich konnte das von einem Tag auf den anderen ändern, aber regelmäßig Wasser zu trinken und abends auf meine Portion Eiscreme zu verzichten, war richtig schwer. Bis heute bin ich nicht immer konsequent.

Natürlich sprach ich mit Freunden und Bekannten darüber. Auch sie berichteten, dass sie sich immer wieder vornahmen, gesünder zu essen, es aber dann irgendwie doch nicht richtig schafften. Gerade in den letzten Jahren ist sehr viel zu Ernährung geschrieben worden, die Büchertische in den Buchhandlungen quellen förmlich über. Auch mein Bekanntenkreis hat sich über die letzten Jahre ein Grundlagenwissen zum Thema angeeignet. Viele nahmen sich vor, mehr Gemüse zu essen, weniger Alkohol zu trinken und mehr selbst zu kochen. Aber dann waren die Kinder krank, der Job stressig oder das Leben kam sonst irgendwie dazwischen – und die guten Vorsätze wurden verschoben und dann vergessen. Fast alle berichteten, dass sie weniger schafften, als sie sich vorgenommen hatten. Manche machten Witze über ihre Willensschwäche. Die meisten aber kämpften damit, dass sie ihre Ziele im Alltag einfach immer wieder aus den Augen verloren oder einfach nicht durchhalten konnten. Man spürte die Frustration deutlich.

Durch meine Psychologiebrille stellte ich aber etwas Erstaunliches fest: Kaum jemand machte sich Gedanken darüber, wie man seine Ziele denn überhaupt erfolgreich erreicht oder wie man konstruktiv damit umgeht, wenn man das nicht schafft. Alle beschäftigten sich nur mit dem Inhalt, also der Frage, was eine gesunde Ernährung ausmacht. Kaum jemand dachte über die Strategien nach, mit denen man das Wissen auch umsetzen kann. Ich spürte, dass ich einem wichtigen Thema auf der Spur war. Denn manche meiner Freunde übertrugen die Misserfolge beim Essen und Gewicht auf andere Bereiche ihres Lebens und berichteten von einem sich immer weiter verfestigenden Gefühl, nie das zu schaffen, was sie wollten. Das war beunruhigend.

Auf eine rührende Weise nahmen sie sich trotzdem immer wieder vor, es besser zu machen. Sie kennen das bestimmt auch. Das klassische Beispiel sind Neujahrsvorsätze: Für das Jahr 2023 nahmen sich 49 Prozent der Deutschen vor, gesünder zu essen, 48 Prozent wollte mehr Sport treiben, 46 Prozent mehr Geld sparen und 43 Prozent mehr Zeit mit Familie und Freunden verbringen.3 Nicht nur zum Jahreswechsel, auch sonst nehmen wir uns ständig etwas vor. Die meisten Vorsätze werden nie in die Tat umgesetzt. Wir starten voller Kraft und Energie. Aber auf Dauer schaffen wir es einfach nicht, dieses Engagement aufrechtzuerhalten. Vielleicht wünschen Sie sich eine glücklichere Beziehung und es gelingt Ihnen tatsächlich, an mehreren Tagen hintereinander kritische Kommentare zu unterdrücken. Vielleicht wünschen Sie sich eine ordentlichere Wohnung und Sie machen mit einer Hau-Ruck-Aktion richtig klar Schiff. Vielleicht wollen Sie weniger auf ihr Handy gucken und Sie können den Impuls mehrmals unterdrücken, wenn eine Nachricht bimmelt. Aber den Wenigsten gelingen diese Dinge dauerhaft. Selten war mir in meinem Leben am eigenen Leib so deutlich geworden, dass Wissen und Tun zwei so gänzlich verschiedene Dinge sind. Selbst wenn wir überzeugt sind, dass wir gesund essen sollten, heißt das noch lange nicht, dass wir dies auch tun. Und genau das erzeugt jede Menge Unbehagen und Frust, manchmal sogar Scham- und Schuldgefühle: zu wissen, was man tun sollte, es sich vorzunehmen – es aber dann nicht zu schaffen. Immer und immer wieder. Wir wissen, dass ungesunde Ernährung unsere Gesundheit gefährdet, und wir wissen auch, dass wir etwas gegen Übergewicht und Bluthochdruck tun müssen. Wir wissen sogar, was wir tun sollten. Aber wir tun es nicht.

Das hat verheerende Konsequenzen. Eine minderwertige Ernährung (wenig Gemüse, schlechte Fette, viel Zucker, viel Salz) ist der größte vermeidbare Risikofaktor für unsere Gesundheit, noch vor Rauchen und Bewegungsmangel,4 und erhöht die Wahrscheinlichkeit für viele chronische Krankheiten wie Übergewicht, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Krebs.5,6

Nach Einschätzungen der Weltgesundheitsorganisation hat Übergewicht mittlerweile »epidemische Ausmaße« angenommen.7 In Europa sind 60 Prozent der Erwachsenen und nahezu jedes dritte Kind (29 Prozent der Jungen und 27 Prozent der Mädchen) übergewichtig.7 Übergewicht zählt zu den führenden Ursachen für Einbuße an Lebensqualität und frühzeitigem Tod. Zwar ist krankhaftes Übergewicht eine komplexe Erkrankung, die meist durch mehrere Faktoren verursacht wird. Die schlechte Ernährung vieler Menschen gehört aber erwiesenermaßen zu den wichtigsten Einflussgrößen.8 Neue Schätzungen gehen davon aus, dass 2050 weltweit 1,3 Milliarden Menschen einen eigentlich vermeidbaren Diabetes haben werden.9

Als Psychologin fasziniert mich auch von Berufs wegen, warum Menschen sich so verhalten, wie sie es tun. Menschen tun offensichtlich häufig das »Falsche«, sogar dann, wenn ihnen schwere chronische Krankheiten drohen. Während meines Studiums habe ich mit den renommierten Motivationspsychologen Gabriele Oettingen und Peter Gollwitzer zusammengearbeitet und viel von diesen beiden beeindruckenden Forscherpersönlichkeiten gelernt. Wieder begann ich mich vor allem für die Frage zu interessieren, wie Menschen ihre Ziele erreichen und ihre Vorsätze umsetzen. Diese Frage wurde zu meiner neuen Obsession. Mir war schnell klar, dass man mit der Antwort alles erreichen kann. Nicht nur gesünder essen, sondern buchstäblich alles: besser kommunizieren, geduldiger sein, effektiver priorisieren usw. Daher merkte ich bald, dass die Antwort auf diese faszinierende und grundlegende Frage mein Leben verändern sollte – und hoffentlich auch Ihres verändern wird.

Was weiß die Motivations- und Gesundheitspsychologie darüber, wie Menschen dauerhaft im Sinne ihrer Gesundheit handeln? Ich las viele Artikel über menschliches Verhalten, über Willenskraft, über Emotionen und Entscheidungsprozesse. Ich versuchte zu filtern, was davon für Gesundheit und Ernährung wirklich wichtig ist. Dabei landete ich immer wieder bei einem Konzept: bei Gewohnheiten. Das sind Verhaltensweisen, die wir häufig im gleichen Kontext durchführen und die automatisch ablaufen, ohne dass wir groß darüber nachdenken müssen. Genau das gilt für viele Handlungen im Bereich Ernährung: vom Frühstück, über den Einkauf bis zum Snack zwischendurch. Ich beschaffte mir also Unmengen von Literatur zum Thema und stieg immer tiefer ein, fasziniert von der Welt der Gewohnheiten, die meist unterhalb unserer Bewusstseinsschwelle ablaufen und große Teile unseres Lebens ausmachen. Schnell wurde immer deutlicher, wie wichtig gute Gewohnheiten für die Gesundheit sind. Ich nenne sie in diesem Buch Healthy Habits. Manche Menschen haben sie bereits von Anfang an. Viele von uns aber nicht. Denn wir alle sind in der Ära der hochverarbeiteten Nahrungsprodukte aufgewachsen.

DER SUPERMARKT IST LEBENSGEFÄHRLICH

Es gibt einen Hauptgrund, warum es uns so schwerfällt, das Richtige zu tun: Wir leben in einer hochgradig ungesunden Ernährungsumwelt. Sie ist mit Absicht so gestaltet, dass basale Belohnungssysteme in unserem Gehirn gezielt ausgenutzt werden, um in uns ein Verlangen nach bestimmten Produkten zu erzeugen. Mit reiner Willenskraft können wir das kaum beherrschen.

Unsere Ernährung war nicht immer so. Stellen Sie sich eine Gruppe von Steinzeitmenschen vor, wie sie durch die afrikanische Savanne streifte. Wir vergegenwärtigen uns dieses Bild, weil der Mensch, also die Gattung Homo, 99,9 Prozent seiner Entwicklungsgeschichte als Jäger und Sammler lebte. Unser Verdauungssystem und gesamter Organismus sind deshalb an diese Lebensweise optimal angepasst. Menschen konnten damals nur essen, was gesund für sie war. In ihrer Umwelt gab es nur artgerechte Nahrung, an die sie seit Zehntausenden von Jahren angepasst waren. Sie mussten zwar als Kinder von den Älteren lernen, was genießbar und was giftig war, aber danach konnten sie essen, was die Umwelt hergab. Heute ist das völlig anders: Wir bewegen uns in einer Umgebung, die aus Produkten mit ungesunden Inhaltsstoffen besteht, die so designt sind, dass wir nie lange satt sind und immer mehr davon wollen. Während der Steinzeitmensch sich viel bewegen musste, um seine Nahrung zu finden, manchmal tagelang ohne Erfolg, ist heute jede Ecke unserer Umgebung voll mit hochkalorischen Produkten, die 24 Stunden am Tag zu haben sind. Machen wir uns noch einmal klar, dass sich der Mensch ca. 2,5 Millionen Jahre seiner Entwicklungsgeschichte nur von »Naturnahrung« ernährte. Erst mit der Sesshaftwerdung vor ca. 10.000 Jahren veränderte sich unsere Ernährung grundlegend: Wir nahmen Milchprodukte, Getreide und Hülsenfrüchte verstärkt in unseren Speiseplan auf. Unsere Ernährung wurde immer einseitiger und bestand immer häufiger hauptsächlich aus wenigen Grundnahrungsmitteln wie Weizen und Mais. Mit der industriellen Revolution vor rund 200 Jahren veränderte sich unsere Ernährung nochmals in nie da gewesenem Ausmaß: Dank neuer Technologien konnten völlig neuartige Nahrungsprodukte hergestellt werden. Frühstückscerealien, Softdrinks und Tiefkühlkost wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts immer populärer, eine ganze Industrie entstand daraus. Wir nahmen immer mehr von diesen hochgradig verarbeiteten Nahrungsmitteln mit viel Zucker, minderwertigen Fetten, ausgemahlenem Getreide und industriell hergestellten Zusatzstoffen in unseren Speiseplan auf. Entwicklungsgeschichtlich sind diese 200 Jahre ein Wimpernschlag. Unser Verdauungssystem und unser Mikrobiom, die sich über Tausende von Jahren nur sehr langsam an die Umwelt adaptieren, hatten nicht annährend genug Zeit, sich an die großen Mengen Fruktose, Öl und Salz, die wir heute essen, anzupassen.10 Zu den Folgen für unsere Gesundheit gehören die oben erwähnten chronischen Krankheiten wie Übergewicht, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs.11 Während die Menschheit die längste Zeit ihrer Entwicklung mit Nahrungsknappheit und Hungersnöten kämpfte, haben wir es heute in weiten Teilen der Welt mit einem Überangebot an Kalorien zu tun. Erstmals gibt es mehr übergewichtige (ca. 2 Milliarden) als untergewichtige Menschen.12 Die World Obesity Federation schätzt, dass es 2035 bereits 4 Milliarden sein werden.13

Aber warum essen wir die Industrienahrung, wenn sie uns krank macht? Leider sind diese Produkte so gemacht, dass sie uns sehr gut schmecken. Gerade weil die Menschheit in ihrer frühen Geschichte immer unter Nahrungsknappheit litt, ist unser Gehirn evolutionär darauf ausgerichtet, kalorienreiche Nahrungsmittel zu bevorzugen und ständig danach zu suchen. Auch Salz war stets knapp. Deswegen aktivieren Salz, Zucker und Fett die Belohnungszentren in unserem Gehirn und wir sind darauf programmiert, solche Lebensmittel zu suchen, schnell in uns hineinzustopfen und für schlechte Zeiten zu speichern.

Die Lebensmittelindustrie hat diese Mechanismen natürlich längst erkannt und designt ihre Produkte entsprechend. Eine milliardenschwere Branche aus Züchtern, Entwicklern, Testern, Händlern und Werbern ist darauf ausgelegt, hyperstimulierende Lebensmittel herzustellen, von denen wir nie genug bekommen können. Ein durchschnittlicher Supermarkt führt heute um die 12.000 Produkte, von denen die meisten in die Kategorie der ungesunden, hochgradig verarbeiteten Nahrungsprodukte fallen. Viele vegane, glutenfreie oder Fleischersatz-Produkte gehören übrigens ebenfalls in diese Gruppe.

Um Produkte zu designen, die in uns ein ständiges Verlangen erzeugen, werden alle Register gezogen. Die Raffinesse der Industrie ist grenzenlos. So entwickelt sie Produkte mit hohem dynamischem Kontrast, wie es sie in der Natur kaum gibt, auf die unser Gehirn aber sehr stark reagiert. Das sind Produkte, die zum Beispiel cremig und knusprig zugleich schmecken – etwa ein Keks mit Füllung oder Pizza mit geschmolzenem Käse. Wer kann da widerstehen?! Die Belohnungszentren in unserem Gehirn reagieren prompt: Dopamin wird ausgeschüttet und erzeugt ein Verlangen nach »mehr«. Im Handel werden die Produkte dann so platziert, dass wir sie nicht übersehen können. Sie stehen auf Augenhöhe an den prominenten Plätzen und triggern unser Dopamin-System, bevor wir gegensteuern können. Besonders wenn wir hungrig und gestresst einkaufen, sind wir machtlos.

Dabei hat die Lebensmittelindustrie nicht die Absicht, uns krank und dick zu machen. Aber unser Wirtschaftssystem funktioniert so, dass Konzerne ihren Investoren gegenüber zur Gewinnmaximierung verpflichtet sind. Die Quartalszahlen müssen stimmen, sonst wird der Laden dichtgemacht. Gesundes Essen ist schlecht fürs Geschäft. Mit unverarbeitetem Gemüse lässt sich kaum etwas verdienen. Es ist also keine große Verschwörung und es gibt in dem Sinne auch keine Schuldigen, auf die wir zeigen können. Es ist einfach das System, das so funktioniert. Diese Zusammenhänge sollten wir uns alle beim Einkauf klarmachen. Die Produkte in den Regalen werden so hergestellt, dass Aktionäre möglichst hohe Gewinne erzielen. Aus Sicht der Konzerne ist es sinnvoll, Produkte so zu kreieren, dass wir nie genug bekommen. Unsere Gesundheit spielt dabei im besten Fall eine untergeordnete Rolle. Dass viele der Produkte gesund aussehen, ist oft reines Marketing. Verbraucher benötigen also unbedingt Grundlagenwissen über eine gesunde Ernährung, wenn sie bewusste Kaufentscheidungen treffen wollen.

Was sollten Sie aus diesen Ausführungen mitnehmen? Vor allem eines: Es ist nicht Ihre Schuld, wenn es Ihnen schwerfällt, gesünder und in Maßen zu essen. Viele Menschen sind frustriert und machen sich Vorwürfe. Wenn Sie sich aber die beschriebenen Zusammenhänge klarmachen, fällt es Ihnen vielleicht leichter, mehr Mitgefühl für sich und andere zu entwickeln: Diesem machtvollen System zu widerstehen ist wirklich schwer. Ich finde diesen Zusammenhang unglaublich wichtig und werde in diesem Buch immer wieder darauf zu sprechen kommen, wie stark unser Verhalten von Reizen in der Umgebung bestimmt wird.

Aktuell garantieren die gesetzlichen Vorgaben nur ein Mindestmaß an Gesundheitsschutz und konkurrieren häufig mit wirtschaftspolitischen Interessen. Regelmäßig wird zu Recht der Ruf nach mehr politischer Steuerung laut. Viele Experten drängen darauf, die Qualität und den Zugang zu gesunder Ernährung durch politische Rahmenbedingungen zu verbessern. Vor allem auch, weil so alle Bürger Zugang zu gesunden Lebensmitteln bekommen, nicht nur die höher gebildeten und die mit mehr Ressourcen. Wie immer spielen Lobbys und Interessenverbände eine Rolle, dass so wenig passiert.

NIE WIEDER DIÄTEN!

Solange die Politik nicht die ausreichenden Rahmenbedingungen für eine gesündere Ernährung schafft und Konzerne und Händler starke Anreize haben, uns ungesunde Produkte zu verkaufen, müssen wir selbst aktiv werden, wenn wir gesund leben wollen.

Aber was sollen wir tun? Die gängigen Ratschläge lauten: Uns besser kontrollieren, und falls wir das nicht schaffen eine Diät machen, um die überschüssigen Pfunde wieder loszuwerden. Nach Angaben von Statista wollen 30 Millionen Deutsche abnehmen.14 Die Diätindustrie boomt seit Jahrzenten. Wir werden ständig über alle Kanäle »informiert«, mit welchen Produkten, Diätbüchern und Erfolgsstrategien wir das endlich schaffen. Doch die restriktiven Maßnahmen, auf denen die meisten Diäten basieren, sind schwer durchzuhalten und führen häufig zu einem frustrierenden Jo-Jo-Effekt. Zwar suggerieren uns die beeindruckenden Vorher-Nachher-Bilder von Prominenten, dass auch wir in wenigen Wochen ähnliche Ergebnisse erzielen können. Doch die Realität sieht völlig anders aus. Die meisten Menschen sind nicht in der Lage, Diäten langfristig durchzuhalten. Und selbst wenn wir es schaffen, kurzfristig Gewicht zu verlieren, sind die Chancen hoch, dass wir es nach nur wenigen Monaten wieder zurückgewinnen,15 und oft auch deutlich mehr. Aber das schreiben wir nicht den Diäten zu, sondern uns selbst. Schließlich gab es Tage, an denen wir nicht ganz konsequent waren.

Menschen glauben, dass die Hauptgründe, warum es ihnen nicht gelingt, gesünder zu essen, in fehlendem Durchhaltevermögen (46 Prozent) und fehlendem Willen (43 Prozent) liegen, wie eine Studie der Techniker Krankenkasse belegt.16 Drei Viertel der US-Amerikaner glauben, dass Übergewicht aus mangelnder Selbstkontrolle resultiert. Auch Übergewichtige selbst glauben zu über 80 Prozent, dass fehlende Disziplin der Grund für ihr hohes Gewicht sei.17

Die Geschichte der Diäten ist aber nicht eine Geschichte der menschlichen Schwäche und des Scheiterns. Nein, im Gegenteil, sie ist ein Zeugnis großer menschlicher Motivation! Unzählige Menschen haben über Wochen und Monate Kalorien gezählt, verzichtet und strenge Gebote eingehalten. Immer und immer wieder. Dass sie mit Diäten nicht dauerhaft abnehmen konnten, liegt nicht an fehlender Willenskraft – sondern daran, dass Diäten die falsche Strategie sind, um nachhaltig erfolgreich zu sein. Diäten setzen permanente Willenskraft voraus. Willenskraft ist aber eine erschöpfliche kognitive Ressource.18 Sie reicht einfach nicht aus, um fortwährend zu kämpfen und zu verzichten. Willenskraft und Motivation helfen uns zu Beginn, wenn wir motiviert mit einer neuen Diät loslegen. Und die ersten Tage und Wochen klappt es ja auch ganz gut. Doch dann müssen wir eine herausfordernde Aufgabe zu Hause oder im Büro meistern und – schwupps! – stehen wir plötzlich wieder an der Currywurst-Theke oder machen uns die Pizza heiß. Sobald wir unsere Aufmerksamkeit auf etwas anderes richten, müde oder gestresst sind, fallen wir in alte Muster zurück.

Es gibt eine andere Verhaltensstrategie, die nicht auf permanente Willenskraft setzt: Und das sind gute Gewohnheiten. Gute Gewohnheiten funktionieren nach einer Übungsphase ganz automatisch auch ohne Willenskraft und Motivation. Das ist ihre große Stärke. Ich komme darauf ausführlich im nächsten Kapitel zu sprechen.

Vergegenwärtigen wir uns an dieser Stelle noch einmal das Konzept von Diäten, um es dann endgültig für gescheitert zu erklären und für immer zu vergessen. Viele Diäten konzentrieren sich nur auf die kurzfristige Gewichtsabnahme anstatt auf langfristige Verhaltensänderungen. Kurzfristige Änderungen bringen aber langfristig nichts. Die Rückkehr zu alten Essgewohnheiten nach einer Diät führt dazu, dass auch das Gewicht schnell wieder steigt. So kommt es zu dem frustrierenden Jo-Jo-Effekt, der auch psychisch seine Spuren hinterlässt. Ein weiterer konzeptioneller Fehler von Diäten liegt darin, dass sie häufig sehr restriktiv sind. Sie erfordern große Veränderungen gegenüber der gewohnten Ernährung in kurzer Zeit. Große Veränderungen bei Lebensmittelwahl und Kalorienzufuhr durchzuhalten, erfordert aber enorm viel Willenskraft. Und wie eben beschrieben, ist eine Strategie, die auf reine Willenskraft setzt, langfristig nicht erfolgreich. Dazu kommt noch, dass Diäten oft unrealistische Erwartungen wecken und schnelle Erfolge versprechen. Eine gesunde Gewichtsabnahme erfordert aber immer Zeit, Geduld und eine nachhaltige Änderungen des Lebensstils. Und nicht zuletzt sind Diäten auch deswegen nicht erfolgreich, weil sie meist als Einheitslösungen für alle funktionieren sollen. Jeder Körper und Stoffwechsel hat aber unterschiedliche Anforderungen und Bedürfnisse und ein solcher Ansatz wird daher für viele nicht funktionieren. »Die Zeiten der Crash-Diäten sind vorbei«, ist daher auch das Fazit des erfahrenen Ernährungsmediziners und TV-Ernährungs-Docs Jörn Klasen. Ein Wissen, das sich immer mehr durchsetzt. Es ist an der Zeit zu erkennen, dass kurzfristige Änderungen langfristig niemals erfolgreich sein können.

Wenn Diäten also nicht funktionieren, was können wir dann tun? Vielleicht müssen wir einfach wieder lernen, mehr auf uns zu hören? Intuitives Essen und Wohlfühlgewicht sind im Moment in aller Munde. Das Konzept verspricht Essen ohne Regeln und Abnehmen ohne Verzicht. Intuitives Essen wurde bereits im Jahr 1995 von den beiden amerikanischen Ernährungswissenschaftlerinnen Evelyn Tribole und Elyse Resch entwickelt19 und in den letzten Jahren medienwirksam in Deutschland aufgegriffen. Vielfach wird behauptet, wir müssten nur besser auf uns hören, wieder ein Gefühl für echten Hunger entwickeln und einfach achtsamer sein – dann würden wir auch abnehmen und unserer wahres Wohlfühlgewicht finden. Gutes Kauen und maßvolles Essen sind selbstverständlich wichtige Elemente einer gesunden Ernährungsweise. Aber hier ist Vorsicht geboten: Menschen, deren Hormonregulation bei Blutzucker und Hunger seit Jahren, oft Jahrzenten, aus der Balance geraten ist, deren ungesunde Gewohnheiten fest etabliert sind und die – und das ist das Schlimmste – in einer hochgradig ungesunden Ernährungsumwelt leben, zu raten, sie müssten nur besser auf sich hören, ist im besten Fall naiv.

Nichts ist fataler, als in der heutigen Ernährungsumgebung auf Bauchgefühl und Intuition zu hören. Die Ernährungsindustrie nutzt ja gerade unser Bauchgefühl, das Zuckriges, Fettiges und Salziges bevorzugt, um uns die ungesunden Produkte anzudrehen. Slogans von Selbstliebe, Leichtigkeit, Lebensfreude und Wohlfühlgewicht hören sich verständlicherweise für viele gut an, gerade nachdem sie sich jahrelang mit restriktiven Diäten erfolglos gegeißelt haben. Mich macht zu viel Gerede über Selbstliebe und Achtsamkeit immer misstrauisch.

Intuition ist keine Strategie für den Anfang. Ein Feuerwehrmann oder eine Notfallsanitäterin kann nach viel Training und Erfahrung intuitiv entscheiden, was im Notfall zu tun ist. Das klappt aber nur, weil vorher alle Szenarien hundertmal trainiert wurden. Gute Intuition basiert immer auf vielen Datenpunkten, also auf Training und Erfahrung.20 Intuition ist sozusagen nichts für Anfänger.

Deshalb ist es gerade zu Beginn einer Ernährungsumstellung keine gute Strategie, intuitiv vorzugehen. Menschen brauchen gute Gewohnheiten, damit sie gerade nicht intuitiv zugreifen. Zu Hause geht es vielleicht noch, aber sobald wir vor die Tür treten – sei es beim Supermarkt, bei der Tankstelle, beim Kiosk, beim Bahnhof oder bei der Kantine – sollten wir keinesfalls intuitiv essen. Das gilt ganz besonders, wenn wir unter Stress und Zeitmangel stehen. Das ganze Brimborium über intuitives Essen ist nur bedingt hilfreich. Wenig Menschen haben die Möglichkeit, einen Alltag voller Achtsamkeit und in sich Hineinhören zu leben. Stellen Sie daher mit guten Gewohnheiten langsam auf eine gesunde Ernährung um. Wer es geschafft hat, durch jahrelanges Üben einen gesunden Lebensstil zu entwickeln und zu verinnerlichen, kann dann auch wieder intuitiver vorgehen.

DIE MACHT DER GEWOHNHEITEN

Was wünschen Sie sich vom Leben? Einen erfüllenden Beruf? Eine glückliche Partnerschaft? Kinder? Ein schönes Haus? Viel Geld? Erfolg? Diese Frage kann nicht jeder aus dem Stand beantworten. Fest steht aber, wir alle wollen uns gut fühlen: satt, warm, sicher, geliebt und selbstverwirklicht. Und diese Bedürfnisse bestimmen unser Handeln. Der Psychologe Abraham Maslow ordnete sie in einer Pyramide an (siehe Grafik auf der nächsten Seite).21 Nach seinen Überlegungen müssen erst grundlegende Bedürfnisse (wie nach Nahrung, Wasser und Sicherheit) befriedigt sein, bevor wir die Kapazität für höhere Bedürfnisse, wie soziale Bindungen, Anerkennung und Selbstverwirklichung, haben.21 Sind unsere angeborenen psychologischen Bedürfnisse nach Kompetenz, Autonomie und Verbundenheit erfüllt,22 erhöht das unsere Vitalität und Energie.23

Unsere langfristigen Ziele stehen im Alltag häufiger im Konflikt mit momentanen Bedürfnissen.24 Wir möchten gerne den Donut essen, aber auch schlank und gesund bleiben. Wir würden gerne schwimmen gehen, müssen aber noch für das Examen lernen. Nicht selten wird ein solcher Konflikt von unserer tief verankerten Tendenz entschieden, dass wir den angenehmen Moment höher bewerten als die langfristigen Konsequenzen, die in der fernen Zukunft liegen. Das hat wahrscheinlich viel damit zu tun, dass wir so programmiert sind: In der Steinzeit, in der sich unsere Gehirne entwickelten, standen Bedürfnisse im Mittelpunkt, die kurzfristig belohnt werden, etwa sich vor Gefahren in Sicherheit zu bringen oder energiereiche Nahrung zu essen Bedürfnisse, die langfristige Strategien über mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte erfordern, wie das Erreichen eines akademischen Abschlusses oder die Förderung der eigenen Gesundheit bis ins hohe Alter, gab es in der damaligen Lebenswelt nicht. Das moderne Leben aber enthält viele Konflikte zwischen kurzfristigen Bedürfnissen und langfristigen Zielen.

Nach Maslow dominieren die Bedürfnisse der niederen Hierarchieebenen die Motivation einer Person, solange sie unbefriedigt bleiben. Wenn diesen Bedürfnissen adäquat entsprochen wurde, dann ziehen die Bedürfnisse der höheren Ebenen die Aufmerksamkeit auf sich.

Aus: Gerrig, RJ. (2018). Psychologie (21. Aufl.). Hallbergmoos: Pearson Deutschland (S. 454).

Kommen wir zurück zu der Frage nach dem guten Leben. Vielleicht beinhaltet die Antwort auch, nicht ständig in einem inneren Kampf mit sich selbst zu leben. Aber wie erreicht man langfristige Ziele wie Gesundheit, Ausgeglichenheit und Erfolg? Durch Motivation, Willenskraft, konkrete Teilziele und eine Portion Optimismus, so lautet die gängige Meinung.

MYTHOS WILLENSKRAFT

»Wir müssen nur wollen!« Willenskraft gilt als der ultimative Erfolgsfaktor. Daran, dass sie der Schlüssel zum Erfolg ist, glauben ähnlich viele Menschen wie an die Evolutionstheorie oder daran, dass sich die Erde um die Sonne dreht.17 Mit anderen Worten: Es handelt sich um eine weit verbreitete und akzeptierte Realität. Wir glauben, dass wir die absolute Kontrolle über unser Verhalten haben und dass wir nur genug Motivation aufbringen müssten, um unsere Ziele zu erreichen. Deswegen nehmen wir uns notorisch viel zu viel vor: Wir kaufen überteuerte Mitgliedschaften in Fitnesscentern und gehen nicht hin,25 buchen Online-Kurse, die wir nie besuchen,26 und kaufen die günstige Großpackung an Süßigkeiten, die eigentlich einen Monat halten soll und die wir dann in einem Rutsch aufessen.27 Sogar kleine Kinder werden schon mit dem Willens-Dogma bedrängt: Wir sagen ihnen, dass sie alles erreichen können, wenn sie sich nur genug anstrengen. Wir glauben sogar, dass wir gegen lebensbedrohliche Krankheiten mit reiner Willenskraft ankämpfen können. Kurz: Der Glaube an unsere Willenskraft ist tief in uns verankert.

Selbstkontrolle – Von der Fähigkeit, sich selbst zu regulieren

Manche Menschen schaffen es tatsächlich viel besser als andere, einem Donut zu widerstehen, ihr Leben zu managen, ihre Launen zu kontrollieren, nicht zu viel Alkohol zu trinken und ihre Versprechen einzuhalten.Von außen blicken wir neidisch auf solche Leute. Vermutlich haben sie einfach mehr Selbstkontrolle und Willenskraft als wir.

Was genau aber ist diese Selbstkontrolle? Es ist die Fähigkeit eines Menschen, Impulse und Emotionen bewusst kontrollieren zu können.18,29 Wer sich regulieren kann, dem fällt es leichter, sich im Sinne seiner langfristigen Ziele zu verhalten.24,17 Und Menschen unterscheiden sich in dieser Fähigkeit.29 Wer über eine hohe Selbstkontrolle verfügt, zeigt in Studien gesündere Ess- und Sportgewohnheiten30 und ist erfolgreicher in Schule und Beruf.31

Nichts veranschaulicht die Fähigkeit zur Selbstkontrolle besser als eine Studie mit niedlichen Vier- bis Fünfjährigen. Sie hat inzwischen Kultstaus erreicht und kam sogar in der Sesamstraße vor. Auch Sie haben bestimmt schon vom Marshmallow-Test gehört. Der amerikanische Persönlichkeitspsychologe, Walter Mischel, untersuchte an der Stanford Universität von 1967 bis 1973 in einer Serie von Studien die Selbstkontrolle (Fähigkeit zum Belohnungsaufschub) von Kindern im Vorschulalter. Der Aufbau der Untersuchungen war denkbar einfach. Die Kinder saßen vor einem Teller mit einem einzigen Marshmallow. Wenn sie es schafften, diesen nicht zu essen, bis der Versuchsleiter nach 15 Minuten zurückkehrte, würden sie zusätzlich ein zweites Marshmallow als Belohnung bekommen. Etwa 70 Prozent der Kinder konnten nicht widerstehen und schafften es nicht, auf die Belohnung zu warten.32 Folgestudien viele Jahre später wiesen nach, dass die Kinder, die länger warten konnten, erfolgreicher im Leben waren, wie etwa in ihren schulischen Leistungen und sozialen Kompetenzen. Außerdem stellte sich heraus, dass die Kinder, die dem Marshmallow länger widerstehen konnten, 30 Jahre später weniger Körpergewicht auf die Waage brachten.33

Seit Kindertagen hören wir Geschichten über heroische Willenskraft. Wer etwas erreichen will, braucht Willen und Selbstkontrolle. Was dabei selten erzählt wird: Willenskraft ist erschöpflich.18 Irgendwann ebbt sie ab oder wir richten sie auf etwas anderes. Dann fallen wir auf alte Muster zurück. Jeder, der schon einmal eine Diät gemacht hat, kennt es nur zu gut. Zunächst sind wir stark entschlossen und unserem Ziel verpflichtet. Mit viel Motivation und Willenskraft ziehen wir ein mehrmonatiges Ernährungsprogramm durch und nehmen tatsächlich einige Kilo ab. Aber dann passiert etwas. Eine berufliche Herausforderung, ein Urlaub oder einfach eine schlechte Phase – und wir fallen auf alte Muster zurück. Spätestens nach ein oder zwei Jahren kehren die meisten Diättreibenden zu ihren alten Ess- und Bewegungsgewohnheiten zurück. Und dann zeigt auch die Waage wieder das gleiche Gewicht an wie zuvor und oft sogar mehr.15 Diäten funktionieren bei den meisten Menschen nicht, weil Willenskraft die falsche Strategie für dauerhafte Veränderungen ist: Der Schlüssel zu langfristigen Veränderungen sind gute Gewohnheiten.34

Zwei Arten zu handeln – Autopilot und Willenskraft

Vorsätze und Willenskraft funktionieren gut für einmalige oder seltene Handlungen: Einen Marathon laufen, einen Heiratsantrag machen, den Job wechseln oder eine Reise planen. Hier sind konkrete Vorsätze und spezifische Pläne äußerst effektiv und führen zum Ziel. Wer bei solchen einmaligen Anlässen eine Entscheidung getroffen und einen festen Vorsatz gefasst hat, tut in der Regel auch das, was er oder sie sich vorgenommen hat.35 Aber bei Dingen, die wir regelmäßig im gleichen Kontext tun, wie frühstücken, Zähne putzen, zur Arbeit fahren, funktioniert unser Verhalten völlig anders. Hier tun wir nicht das, was wir uns vorgenommen haben, sondern das, was wir immer tun.35

Das lässt sich auch in Studien nachweisen.35 Forscherin Wendy Wood von der University of Southern California war sehr erstaunt, als sie dies feststellte. Denn es widerspricht den gängigen Verhaltenstheorien und unserm Alltagserleben. Die Forscherin hatte 64 Studien zu dem Thema ausgewertet. Es zeigte sich, dass Willenskraft für einmalige oder seltene Vorhaben, wie eine Grippeimpfung oder eine Kursanmeldung, sehr gut funktionierte. Die Studienteilnehmenden taten das, was sie sich vorgenommen hatten. Völlig anders verhielten sie sich bei Dingen, die sie regelmäßig und häufig taten. Obwohl sie den Vorsatz hatten, ihren Abfall zu recyceln oder mit dem Bus zur Arbeit zu fahren, taten sie es nicht. Wenn sie es gewohnt waren, ihren Müll unsortiert wegzuschmeißen, taten sie dies weiterhin. Wenn sie normalerweise mit dem Auto zur Arbeit fuhren, taten sie dies auch weiterhin, obwohl sie sich vorgenommen hatten, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen.17 Die Erkenntnis: Bei häufigen Verhaltensweisen spielen Vorsätze kaum eine Rolle für das, was wir tun.

Handlungen, die wir oft wiederholen, funktionieren also offensichtlich anders. Was zeichnet sie aus? Sie werden von Reizen in der Umgebung getriggert und laufen dann automatisch ohne unser Bewusstsein und ohne Willenskraft ab. Sie sind oft so geschmeidig in den Alltag integriert, dass wir sie häufig gar nicht bemerken. Sie fallen uns erst auf, wenn sie uns stören.

Halten wir fest: Menschen haben zwei grundlegende Arten zu handeln – aus Gewohnheit und mit Willenskraft.36,37 Es kann hilfreich sein, sich die zwei Arten wie zwei Systeme vorzustellen: das Gewohnheitssystem (»Autopilot«) und das Willenskraftsystem (»rationales Ich«). Die Handlungen aus dem Willenskraftsystem planen wir ganz bewusst und willentlich, wie die Fahrt zu einem unbekannten Ort, eine wichtige Kaufentscheidung oder die Angemessenheit des eigenen Verhaltens in einer schwierigen sozialen Situation. Solche Handlungen erfordern Konzentration und Aufmerksamkeit. Andere Handlungen, wie Autofahren, Zähneputzen oder Kaffee kochen, sind Gewohnheiten. Wir führen sie automatisch aus, ohne dass wir groß darüber nachdenken müssen. Sie sind Routinen, die wir regelmäßig im gleichen Kontext durchführen.

Zwei Arten zu handeln – Aus Gewohnheit oder mit Willenskraft

Ein Teil unserer Handlungen läuft schnell, automatisch und unbewusst ab, sie gehören zum Gewohnheitssystem (»Autopilot«), andere Handlungen sind überlegt, bewusst und geplant und sind dem Willenssystem zugeordnet (»rationales Ich«).

Da wir vor allem die willentlichen Handlungen bewusst wahrnehmen, haben wir die Illusion, dass wir fast alles in unserem Leben durch Entscheidungen und Willenskraft tun.17 Wir überschätzen damit chronisch unsere Willenskraft und unterschätzen umgekehrt die Bedeutung und Häufigkeit von Gewohnheiten. Sie dringen einfach zu selten in unser Bewusstsein. Es fühlt sich fast so an, als führten sie ein verborgenes Dasein jenseits und unabhängig von uns.

Beide Arten zu handeln sind für unser Leben ungemein wichtig. Da Willenskraft aber begrenzt ist,38 versucht unser Gehirn ständig Handlungen, die in der Vergangenheit gut funktioniert haben, an das Gewohnheits-system zu übergeben, damit es ausreichend Kapazitäten für wichtige und unvorhergesehen Handlungen hat.

Auch wenn wir Gewohnheiten ändern wollen, brauchen wir beide Handlungssysteme: Durch bewusste, willentliche Entscheidungen wählen wir eine bestimmte Verhaltensweise aus und üben diese mithilfe von Vorsätzen regelmäßig. Mit der Zeit übernimmt immer mehr der Autopilot: Die Verhaltensweise wird zur Gewohnheit, für die wir dann, nach der Übungsphase, keine Willenskraft mehr benötigen.39

Die zwei Arten zu handeln weisen unterschiedliche Aktivitätsmuster in unserem Gehirn auf. Bildgebungsverfahren haben gezeigt: Wenn wir etwas Neues tun, sind der präfrontale Kortex und der Hippocampus