Heart of Ice - Gina Eisentraut - E-Book

Heart of Ice E-Book

Gina Eisentraut

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Beschreibung

Ein anderes Leben, als in dem bescheidenen Dorf, an der Seite von Eduard, dem Mann, dem sie schon seit ihrer Kindheit versprochen ist? Für die junge Aurelia unvorstellbar. Ihr geordnetes Leben gerät aus den Fugen, als sie erfährt, dass der König, der über das Land herrscht, sterbenskrank ist. Aurelia möchte ihm helfen, da sie sich nach einem Traum auf seltsame Weise mit ihm verbunden fühlt. Doch wie viel Wahrheit steckt in den Geschichten, die man sich im Dorf erzählt? Er sei der Herrscher über Schnee und Eis und könne Menschen mit seinen bloßen Blicken zu Eis erstarren lassen. Wider aller Vernunft wagt sie die Reise zum Schloss und begegnet dort nicht nur Schnee, Eis und Furcht, sondern auch der wahren Liebe. Kann sie den eisigen König retten und gleichzeitig ihre Pflichten als zukünftige Ehefrau in ihrer Heimat erfüllen?

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Für Melanie

Inhaltsverzeichnis

1. Aufregende Neuigkeiten

2. Die Begegnung im Regen

3. Die ferne Stadt

4. Der Weg zum Schloss

5. Der Eiskönig

6. Zwei einsame Herzen

7. Verletzte Gefühle

8. Engel ohne Flügel

9. Die Schatten der Vergangenheit

10. Heimweh

11. Der Abschied

12. Blütenduft

13. Der Splitter im Herzen

14. Blut im Schnee

15. Das Feuer des Herzens

Epilog: Die Traumhochzeit

1. Aufregende Neuigkeiten

Es war ein wunderschöner Sommertag, die Vögel zwitscherten in den Bäumen, die Sonne schien mit voller Kraft und in der Luft hing ein Hauch von Blütenduft.

Gedankenverloren stand ich vor der kleinen Hütte, deren grauen Steine so schief und krumm aufeinandergestapelt waren, dass man denken könnte, die Kinder, die hier lebten, hätten die Hütte selbst zusammengebaut.

In dem kleinen Häuschen hatten ein paar von uns ihre Zimmer, so wie ich mir eines mit Hanna teilte.

Zwar war Hanna zwei Jahre und ein paar Monate jünger als ich, dennoch mochte ich sie sehr.

Sie war immer gut gelaunt und konnte mich schnell auf andere Gedanken bringen, wenn es mir nicht gut ging…

In diesem Moment fing die kleine Elli auf meinem Arm an zu quengeln.

Sanft strich ich ihr durch das wuschelige Haar. Sie war knapp ein Jahr alt und damit die Jüngste in unserem Heim.

Ja, ich lebte in einem Kinderheim, eigentlich schon immer, denn ich lernte meine Eltern nie kennen. Niemand aus dem Dorf wusste, wer sie waren.

Martha, die Leiterin des Heims hatte mir erzählt, dass ich als Neugeborenes vor den Stufen des Heims abgelegt worden war…

Viele Kinder, die hierherkamen, weinten wochenlang, weil sie ihre Eltern vermissten, aber wie sollte ich etwas vermissen, das ich nie kennen gelernt habe?

Jetzt dauerte es nur noch wenige Monate, bis ich 18 wurde, also war ich mittlerweile alt genug, um zu heiraten und ein eigenständiges Leben zu führen.

Ich dachte an den Mann, dem ich versprochen war. Sein Name war Eduard und sein Vater führte eine gut laufende Tischlerei in unserem Dorf, die sein einziger Sohn bald übernehmen sollte.

Eduard hatte bereits an mir Gefallen gefunden, als wir Kinder waren, bei Martha um meine Hand angehalten hatte er jedoch erst vor drei Jahren und natürlich hatte sie eingewilligt. Ihn zu heiraten war vielversprechend, nicht nur für Martha und das Heim, weil sie dafür Geld bekam, sondern auch für mich, weil er Geld hatte und wohl immer für mich sorgen konnte. Was wollte ich mehr?

Elli riss mich erneut aus meinen Gedanken, als sie begann sich in meinen Armen zu winden. Dabei fiel ihr Nuckel auf den Holzboden der Terrasse.

„Ach, was machst du denn?“, flüsterte ich ihr zu, allerdings guckte sie mich nur mit ihren großen dunkelblauen Augen ganz unschuldig an.

Nun musste ich wieder lächeln, da die Kleine so unglaublich niedlich war.

Seufzend bückte ich mich nach dem Nuckel und ging dann mit der Kleinen ins Haus, um ihren geliebten Nuckel abzuwaschen.

Auf dem Weg zu den Waschräumen kamen mir Hanna und Lukas entgegen. Die beiden schubsten sich mal wieder regelrecht durch den Gang.

Zu den beiden passte das Sprichwort „Was sich neckt, das liebt sich“ wohl ganz genau.

Die beiden waren zwar bisher nicht zusammen, aber das war nur eine Frage der Zeit, denn, wenn wir abends in unseren Betten lagen, redete Hanna fast pausenlos von ihm.

Ob die beiden eine gemeinsame Zukunft hatten? Möglicherweise würde sie auch mal einen wohlhabenden Mann heiraten müssen.

„Grüß dich, Aurelia“, rief sie da quietschvergnügt über den Gang zu mir herüber, „musst du heute wieder Kindermädchen spielen?“

„Wieso müssen?“, entgegnete ich. „Martha und Theodor sind in der Stadt, ein paar Besorgungen machen und ich kümmere mich gern um die Kleine.“

„Oh, ich denke, aus dir wird später mal eine gute Mutter“, grinste Hanna, bevor sie Lukas schon wieder hinterherrief: „Jetzt warte mal auf mich, du ungezogener Bengel!“

Kopfschüttelnd ging ich in den Waschraum und spülte den Nu-ckel ab.

Was hatte Hanna gerade gesagt? Ich wäre eine gute Mutter? Wohl eher nicht, schließlich hatte ich keine Ahnung, wie eine Mutter sein sollte…

Wie lange es wohl dauern würde, bis ich Eduard ein Kind gebären soll? Ob ihm das geben konnte, was er von mir erwartete? Wenn wir verheiratet waren, würde ich dann lernen ihn zu lieben?

Als ich wieder nach draußen kam, zerrte Hanna gerade so energisch an Lukas‘ Hemdärmel, dass sie fast rückwärts von der Terrasse gefallen wäre, als er sich aus ihrem Griff befreite.

Selbst Elli schien dieses Schauspiel zu amüsieren, denn sie gluckste belustigt vor sich hin und hätte fast erneut ihr Nuckel verloren, wenn ich es nicht in letzter Sekunde aufgefangen hätte.

Ich setzte mich mit Elli auf die alte, knarrende Holzbank, die vor unserem Häuschen stand und beobachte schmunzelnd Hanna und Lukas, die nach wie vor damit beschäftigt waren, sich lachend durch den Garten zu jagen.

Entspannt lehnte ich mich zurück und genoss die Sonne auf meiner Haut. Es war schön hier. Hier in diesem Dorf, auf diesem Grundstück war ich aufgewachsen und ich konnte mir nicht vorstellen, jemals woanders hinzugehen.

Nein, ich würde niemals an einem anderen Ort leben wollen, als in unserem kleinen bescheidenen Dorf, in dem immer alle glücklich waren, auch wenn sie kaum mehr hatten, als die Ernte auf ihren eigenen Feldern und den Waren, mit denen sie auf dem Markt handeln konnten.

Ehrlich gesagt war es mir ein Rätsel, wie Martha es schaffte, dass immer genug Essen da war, um alle Kinder im Heim zu versorgen.

Nie hatten wir ernsthaft hungern müssen und dabei reichte es sicher nicht, dass Hanna, ich oder eines der anderen größeren Mädchen auf dem Marktplatz im Dorf getöpferte Vasen und Geschirr verkauften, die wir auch selbst herstellten.

Doch Martha hatte nie darüber gesprochen, wie sie das alles schaffte, vermutlich auch, um uns im Ernstfall nicht zu verunsichern.

Ob ich Martha und den Kindern ebenfalls genug helfen konnte, wenn ich bei Eduard lebte?

Auf einmal wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als mir ein unangenehmer Geruch in die Nase stieg.

Seufzend öffnete ich meine Augen und hob Elli hoch, die munter irgendwas vor sich hin brabbelte, um mich zu versichern, dass der Geruch von ihr kam, aber was sollte es auch anderes sein?

Ich stand auf und sah mich um.

Die meisten der anderen Kinder spielten bei dem schönen Wetter im Garten. Besonders beliebt waren die Schaukeln und die Wippe, die ein Zimmermann, der ein guter Bekannter von Eduard war, vor wenigen Monaten für uns erbaut hatte.

Gerade als ich nach drinnen gehen wollte, um die Kleine neu zu wickeln, sah ich die Kutsche von Martha und Theodor die Auffahrt heraufkommen.

„Na, ist alles in Ordnung bei euch?“, rief Martha uns bereits von weitem zu.

„Ja klar“, antworte ich lächelnd, „Elli braucht nur eine neue Windel.“

„Warte, ich kümmere mich darum“, sagte Martha da und kam mit schnellen Schritten und einigen Einkaufskörben in den Händen auf uns zu.

Offensichtlich war der Tag auf dem Markt erfolgreich gewesen.

„Nein, das ist nicht nötig“, widersprach ich schnell. „Du hast selbst genug mit den Einkäufen zu tun.“

„Ach, das hat Zeit“, wandte Martha lächelnd ein. „Du hast dich den ganzen Tag um sie gekümmert. Jetzt übernehme ich sie und du hast wieder Freizeit.“

Also gut, dann überließ ich die Kleine eben Martha.

Ich wollte mich gerade wieder auf der Bank niederlassen, als plötzlich draußen auf der Straße etwas meine Aufmerksamkeit erregte.

War das nicht der Bote des Königs, der da auf seinem weißen Pferd gerade den Weg entlang ritt?

Ja, ohne Zweifel, diese Uniformen trugen seit je her die Bediensteten des Königshauses.

Ohne groß darüber nachzudenken stand ich auf und lief ans Tor.

„Aurelia, wo willst du hin? Mit Vertrauten des Königs zu reden ist gefährlich, das weißt du“, rief mir Hanna hinterher, allerdings achtete ich nicht auf sie.

Um auf irgendwelche Gefahren Rücksicht zu nehmen, war meine Neugier viel zu groß, egal, was die anderen sagten.

Was trieb einen Diener des Königs ausgerechnet in unser armes Dorf?

Wenn ich ehrlich war, verstand ich das Problem, dass die Leute mit dem König hatten, eh nicht. Alle sagten er sei unheimlich, sogar gefährlich.

Na ja, merkwürdig fand ich nur, wenn er mal sein Volk besuchte, was allerdings äußerst selten vorkam, trug er immer eine schneeweiße Maske, keiner von uns hatte wohl jemals sein Gesicht gesehen. Allerdings wusste niemand, was er zu verbergen hatte. Sie konnten nicht mal sagen, wie alt er war.

Alles andere, was man über ihn erzählte, waren Geschichten, Mythen. Man sagte, selbst im Hochsommer wäre um sein Schloss herum alles tief verschneit. Menschen, die sein Reich aufgesucht haben, seien nie wieder aufgetaucht. Angeblich trug er die Maske, da die Menschen sonst zu Eis erstarren würden, wenn sie ihm in die Augen sahen.

Die Menschen hatten gehofft, dass mit dem neuen König alles besser werden würde, denn der alte war ein kaltherziger Mensch gewesen, der seine Untertanen ohne mit der Wimper zu zucken in den Kerker sperren ließ, wenn sie etwas taten, was ihm nicht gefiel.

Anderseits hatten scheinbar auch vor dem neuen König, der nun seit ungefähr vier Jahren an der Macht war, alle Angst.

Vor allem wegen den Geschichten mit dem Schnee und Eis, denn als der alte König regierte, gab es um das Schloss herum wenigstens keine Winterlandschaft. Allerdings wagte ich zu bezweifeln, dass an diesen Mythen auch nur ein Hauch Wahrheit dran war.

Diese Geschichten hatte ich jedoch nur im Dorf aufge-schnappt, denn Martha sprach nicht darüber. Sie war der Meinung, es sei gefährlich zu viel über den König zu wissen.

Wir würden eh nie ernsthaft etwas mit ihm zu tun bekommen. Deswegen hatte ich es schließlich dabei belassen und nicht weitergefragt.

Nun stand ich am Tor, wo sich bereits ein paar andere Kinder versammelt hatten, um zu hören, warum sich der Bote des Königs ausgerechnet in unsere Gegend verirrt hatte.

Er erzählte gerade, dass der König schwer erkrankt sei und dringend ärztliche Hilfe benötigte.

„Natürlich würde derjenige auch ordentlich bezahlt werden“, erklärte der Bote.

„Wir sind Kinder“, sagte Marie, die so alt war wie Hanna. „Was erwarten Sie von uns? Wir können ihm nicht helfen, selbst, wenn wir es wollen würden.“

„Außerdem, wo wäre das Problem, wenn er an dieser Krankheit stirbt?“, wollte Hanna wissen, die auf einmal hinter mir stand, ohne dass ich es mitbekommen hatte. „Die Menschen haben alle Angst vor ihm und wären heilfroh, wenn er nicht mehr da wäre.“

„Hanna!“, entfuhr es mir entsetzt. „So etwas kannst du doch nicht sagen.“

„Warum nicht?“, verteidigte sie sich. „Ich habe bloß das ausgesprochen, was alle anderen ebenfalls denken.“

Ich wartete darauf, dass der Bote irgendwie auf Hannas unmöglichem Kommentar reagierte, allerdings meinte er nur: „Bitte denkt darüber nach und sagt mir Bescheid, wenn ich in den nächsten Tagen abermals vorbeikomme.“

Interessiert wartete ich die Reaktion der anderen ab, jedoch schienen alle mehr oder weniger einer Meinung zu sein und zwar, dass sein Tod für uns alle das Beste sei.

Ehrlich gesagt schockierte mich diese Einstellung.

War ich wirklich die Einzige hier, die nicht an diese Horrorgeschichten glaubte?

Also nahm ich all meinen Mut zusammen und fragte den Boten: „Mal angenommen ich würde mich bereiterklären, dem König zu helfen, was müsste ich machen? Ich bin schließlich keine Medizinerin.“

Nachdem ich diese Frage ausgesprochen hatte, konnte ich die Gedanken der anderen förmlich verstehen. Ob ich verrückt sei, dachten sie sicherlich, aber es war mir egal.

„In der Stadt gibt es einen Apotheker“, meinte er. „Dieser hat hoffentlich die passende Medizin.“

„Warum holen Sie die Medizin aus der Apotheke dann nicht selbst?“, warf Hanna wieder ein.

Der Bote wollte gerade noch etwas sagen, als Martha zu ihren Schützlingen trat und wütend rief: „Was fällt Ihnen ein, Kinder zu so einer gefährlichen Sache überreden zu wollen? Niemand von ihnen ist alt genug um diese Entscheidung selbst zu fällen. Sie nutzen aus, dass den Kindern gelehrt wurde, anderen in der Not zu helfen, aber das lasse ich nicht zu. Ich lasse sicher niemanden meiner Lieblinge allein in die Stadt gehen oder gar zum Schloss des Königs. Suchen Sie sich jemanden, der mehr für diese Aufgabe geeignet ist. Ich setze das Leben der Kinder nicht aufs Spiel, für einen König, der es nicht mal für nötig hält, sich seinem Volk ohne Maske zu zeigen.“

Damit war das Thema erledigt, der Bote schwang sich wieder auf sein Pferd und ritt weiter.

Als er weg war, sah uns Martha mit strengem Blick an. „Ich hoffe, euch ist klar, dass ich euch verbiete, in die Stadt zu diesem Apotheker, oder sogar zu des Königs Schloss zu gehen?!“

„Ja, natürlich“, riefen alle wie aus einem Mund, alle außer mir.

Irgendetwas an der Sache ließ mir keine Ruhe. Wenn ich nur wüsste, was es war…

Am Abend kam Eduard bei uns vorbei, der wissen wollte, ob es mir gut geht.

Ohne groß darüber nachzudenken, bejahte ich diese Frage. Er musste nicht wissen, worüber ich nachdachte, selbst wenn es der Tatsache entsprach, dass wir bald verheiratet sein würden.

Allerdings es schien, als habe er meine Gedanken gelesen, denn nun bemerkte er: „Ich habe gehört, dass ein Bote des Königs heute im Dorf unterwegs war. Vater war sehr aufgebracht deswegen. Weißt du etwas darüber? War er auch bei euch?“

„Ja“, antwortete ich wahrheitsgemäß, „der König ist krank und braucht medizinische Hilfe.“

Mein Verlobter sah mich überrascht an. „Dafür fragt er in einem Kinderheim nach?“

„Ich glaube, es hat sich sonst niemand gefunden, der ihm helfen würde“, erklärte ich nachdenklich.

„Kann ich gut verstehen“, erwiderte Eduard. „Wer hilft freiwillig so einem Ungeheuer? Ich meine, ich habe keine Angst vor ihm, aber sein Tod würde sicher nicht nur den Menschen, sondern ebenfalls der Natur guttun, wenn das Eis um das Schloss herum endlich schmilzt.“

Ich beschloss, darauf nichts zu antworten und nickte nur stumm. Es war sicherlich am besten, wenn sie alle glaubten, ich sei mit ihnen einer Meinung.

Allerdings lag ich später im Bett und konnte nicht einschlafen.

War es normal, dass man jemandem den Tod wünschte, obwohl man denjenigen gar nicht kannte? Nur wegen ein paar dummer Geschichten? Ich würde die Menschen wohl nie verstehen…

Woher wollten die Menschen wissen, wie er wirklich ist? Die meisten hatten ihn sicher niemals zu Gesicht bekommen, ohne Maske…

„Aurelia, bist du noch wach?“, hörte ich in dem Moment Han-nas leise Stimme.

„Ja“, antwortete ich, „warum?“

„Wieso hast du den Boten heute gefragt, was du tun müsstest, um dem König zu helfen?“, wollte sie wissen.

„Weil es mich interessiert hat“, erwiderte ich nur.

„Aber du hast jetzt nicht wirklich vor, diesem Ungeheuer zu helfen, oder?“, fragte sie weiter.

„Warum Ungeheuer?“, entgegnete ich und versuchte, mich nicht darüber aufzuregen.

Eduard hatte vorhin ebenfalls diese Bezeichnung gewählt.

Jetzt kicherte Hanna auf einmal. „Na, wer sein Gesicht immer hinter einer Maske versteckt, dann kann er nur total hässlich sein, meinst du nicht?“

Bei solchen Albernheiten seufzte ich nur energisch und sagte: „Es ist gut jetzt mit den Flausen in deinem Kopf. Schlaf endlich, ja?“

„Hm, wie du meinst. Gute Nacht“, brummte sie und klang dabei leicht beleidigt.

„Gute Nacht“, erwiderte ich mit Nachdruck, zog mir die Bettdecke über den Kopf und drehte mich auf die andere Seite.

Was war nur mit mir los? Also nicht, dass ich ernsthaft in Betracht gezogen hätte, in die Stadt zu dieser Apotheke zu fahren, aber der Gedanke, dass er ohne Hilfe vielleicht sterben könnte, fühlte sich genauso unbehaglich an.

Gab es wirklich niemanden anderes der ihm helfen könnte oder wollte? Warum hatten die Menschen so viel Angst vor dummen Geschichten? Beziehungsweise, wenn sie keine Angst hatten, war es ihnen zumindest egal.

Sein Tod sei am besten für uns alle. Selbst Eduard war dieser Meinung. Dabei war er der edelste und mutigste Mann, den ich kannte. Ich würde das wohl nie verstehen können.

2. Die Begegnung im Regen

Der Regen trommelte gegen das Fenster. Es war mitten in der Nacht und stockdunkel draußen.

Auf einmal konnte ich nicht mehr schlafen, sondern war hellwach.

Eine Weile blieb ich in meinem Bett sitzen und sah hinüber zu der kleinen Hanna, die tief und fest zu schlafen schien.

Gut, ich drehte mich auf die andere Seite und versuchte wei-terzuschlafen, nur aus irgendeinem Grund wollte es mir nicht gelingen.

Plötzlich hielt es hier drin nicht mehr aus.

Also zog ich mir eines meiner Kleider an, nahm mir den Schirm, den Martha vor kurzem erst auf dem Markt gekauft hatte und schlich auf Zehenspitzen nach draußen.

Ich wusste, dass ich leise und vorsichtig machen musste, damit ich Martha nicht weckte. Es würde höllischen Ärger geben, wenn sie mich hier erwischen würde. Schließlich hatten 12-jährige wie ich um diese Uhrzeit im Bett zu liegen und zu schlafen.

Da die Tür nachts sicherheitshalber abgeschlossen war, wählte ich den Weg durch das Fenster und versuchte es danach so anzulehnen, dass ich problemlos wieder hereinkam, es aber auch nicht hereinregnen konnte.

Möglichst leise schlich ich durch das Gelände und kletterte über den Zaun, was sich als gar nicht so einfach gestaltete, wie ich gedacht hatte, da das Eisen durch den Regen ganz rutschig war.

Fast hatte ich es geschafft, als ich plötzlich mit dem rechten Fuß wegrutschte, den Halt verlor und in das Gebüsch, das vor unserem Gelände wuchs, plumpste.

Autsch. Mühsam kletterte ich wieder heraus und rieb mir die Beine, die durch das blöde Gestrüpp nun völlig zerkratzt waren.

Mist, nun war ich trotz Schirm komplett nass und mein Kleid war an ein paar Stellen zerrissen. So merkte Martha sicher sofort, dass ich nachts unterwegs war.

Vorsichtig blickte ich zurück, ob mittlerweile jemand auf mich aufmerksam geworden war, aber auf dem gesamten Heimgelände blieb es nach wie vor dunkel und still.

Puh, da hatte ich richtig Glück gehabt.

Nun lief ich die menschenleeren Straßen entlang. Dabei hatte ich ehrlich gesagt keine Ahnung, wo ich überhaupt hinwollte.

Der Weg führte mich an einigen Grundstücken vorbei und irgendwann musste ich feststellen, dass ich nicht mehr wusste, wo ich war.

Oh nein, ich hatte mich nicht ernsthaft verlaufen, oder?

Plötzlich blieb ich stehen.

Saß da hinten nicht jemand am Wegrand?

Langsam näherte ich mich der Gestalt und hatte dabei ein merkwürdiges Gefühl.

Welcher normale Mensch saß mitten in der Nacht an einem Wegrand herum?

Als ich vor ihm stand, erkannte ich, dass die Gestalt ein Junge war, vermutlich nur wenige Jahre älter als ich. Er trug komplett dunkle Kleidung, wahrscheinlich schwarz und seine Haare, die ihm bis über die Schulter reichten wegen des Regens mittlerweile im Gesicht hingen, waren wohl genau so dunkel.

Es schien, als würde meine Anwesenheit spüren, denn nun hob er den Kopf und sah mich an.

Ein Teil seines Gesichts war durch eine weiße Maske verdeckt und ich fand, er sah irgendwie traurig aus, wie er mich ansah, mit diesen leuchtend blauen Augen.

Nun schien er zu bemerken, dass ich seinen Blick erwiderte, denn er wich meinem aus.

„Guten Abend“, sagte ich vorsichtig. „Wer bist du? Warum sitzt du nachts, im Regen hier draußen?“

Allerdings zuckte er zur Antwort nur mit den Schultern. „Ich weiß nicht, du bist schließlich ebenso unterwegs.“

„Na gut“, meinte ich und war irgendwie enttäuscht darüber, dass er es mir nicht sagen wollte, „du musst es mir nicht sagen, wenn du nicht möchtest.“

Er nickte und meinte: „Geh lieber nach Hause, hier draußen ist es dunkel, nass und kalt.“

„Und was ist mit dir?“, wollte ich wissen.

„Mach dir um mich keine Sorgen“, antwortete er und da war er wieder, dieser traurige Blick.

Was hatte er nur? Was war mit ihm? Die schwarze Kleidung, die Maske, dieser Blick… Was versuchte er vor mir zu verbergen?

„Na gut“, sagte ich schließlich und reichte ihm meinen Schirm, „bitte nimm wenigstens den Schirm, damit der Regen dir nichts mehr anhaben kann.“

Jedoch schüttelte er den Kopf. „Nein, ich kann ihn nicht nehmen…“

„Warum nicht?“, fragte ich verwundert.

„Weil…“ Es schien, als müsste er überlegen, was er darauf antworten sollte, „weil du dann nass wirst.“

„Das ist mir egal“, widersprach ich und hielt ihm wieder meinen Schirm hin.

Wieder sah er mich mit diesem traurigen Blick an. „Eigentlich wollte ich dir diesen Anblick ersparen.“

„Was?“

Während ich ihn verwundert ansah, berührte er den Griff des Schirms mit der rechten Hand.

Zu meinem Entsetzen zog sich sofort eine dünne Eisschicht über den Griff.

Mit einem erschrockenen Schrei ließ ich den Schirm fallen.

„Siehst du“, sagte der Junge da und stand auf, „genau das meinte ich.“

Nach wie vor starrte ich den Schirm an. Was war das eben gewesen?

„Ich muss gehen“, sagte er nun und zog sich seine Maske wieder über das Gesicht. „Lebe wohl.“

Bevor ich irgendetwas sagen konnte, hatte ihn die Dunkelheit bereits verschlungen.

Genau in diesem Moment schreckte ich hoch.

Ich brauchte ein paar Sekunden, bevor mir klar wurde, wo ich mich befand und dass ich eben noch geträumt hatte.

Verwundert sah ich mich um. Die Sonne schien inzwischen aufgegangen zu sein, denn ein paar Strahlen stahlen sich durch das Fenster in unser Zimmer.

Nach wie vor leicht benommen sah ich hinüber zu Hannas Bett, aber sie schien tief und fest zu schlafen.

Wie spät mochte es wohl sein?

Nachdenklich ließ ich mich zurück auf in mein Kissen sinken.

Was hatte ich geträumt? Warum hatte es sich so wirklich an-gefühlt? So echt, als hätte ich diesen Augenblick tatsächlich schon einmal erlebt.

Wer war dieser seltsame Junge gewesen, der nur mit einer Berührung den Griff des Schirms in Eis verwandelt hatte?

In der nächsten Sekunde fiel es mir wie Schuppen von den Augen: War er etwa unser jetziger König? Die Maske passte dazu und auch die Geschichte, dass er alles, was er berührte in Eis verwandelte.

Energisch schüttelte ich den Kopf.

Das war Blödsinn. Ich glaubte nicht mal an diese Geschichten. Oder hatte ich mich durch diese beeinflussen lassen?

Aber wenn mir mein Gehirn nur einen dummen Streich gespielt hatte, warum fühlte es sich dann so wirklich an? Warum hatte ich das Gefühl, dass ich diesem Jungen im wahren Leben schon mal begegnet war?

Was geschah, wenn das Ganze mehr als ein Traum war? Wenn ich mich an etwas erinnerte, das mir in Wirklichkeit passiert war? Wenn es diesen unheimlichen Jungen wahrhaftig gab?

Moment, wie alt war ich in diesem Traum? Ungefähr 12, glaube ich.

Entschlossen stand ich auf und zog mich an.

Eventuell gab es eine Möglichkeit mehr darüber herauszufinden.

Was war beispielsweise mit dem Schirm geschehen? Der vereiste Griff muss irgendjemandem aufgefallen sein, oder?

Und was war aus dem Kleid geworden? Hatte Martha es zerrissen gefunden? Hatte ich deswegen Ärger bekommen?

Mist, ich konnte mich nicht daran erinnern. Ich wusste nicht mal mehr, ob ich so ein Kleid, wie ich in diesem Traum trug, in Wirklichkeit jemals besessen hatte.

Mit einem letzten Blick auf Hanna, die gerade begann sich hin und her zu wälzen und sicher bald wach werden würde, verließ ich das Zimmer, um Martha zu suchen.

Ich fand sie hinter dem Haus an dem kleinen Bach, wo sie gerade dabei war, zwei große Eimer mit Wasser zu füllen.

„Guten Morgen“, rief ich ihr von weitem zu.

„Oh, guten Morgen, Aurelia“, begrüßte sie mich freundlich. „Hast du gut geschlafen?“

„Ja“, antwortete ich und beschloss, gleich mit ihr über meinen Traum zu sprechen. Na ja, zumindest über einen Teil. Davon, dass ich nachts unterwegs war und von der Begegnung mit diesem Jungen, musste sie nichts wissen.

Sie schien zu spüren, dass mich eine Sache beschäftigte, denn nun fragte sie: „Was ist los mein Kind? Du bist sicher nicht hier herunter zum Bach zu kommen, um mir einen guten Morgen zu wünschen, oder?“

„Du hast Recht“, gab ich zu und suchte nach den richtigen Worten, um mich vorsichtig an das Thema heranzutasten. „Ich habe etwas geträumt und nun bin ich mir nicht sicher, ob sich das alles genau so in echt zugetragen hat.“

„Das kann gut möglich sein“, antwortete sie. „Möglicherweise erinnert sich dein Unterbewusstsein im Traum an Geschehnissen aus deiner Vergangenheit.“

Interessiert nickte ich. Ich mochte es, mich mit Martha über solche Dinge zu unterhalten. In meinen Augen war sie unglaublich weise und hatte bisher auf jede meiner Fragen eine Antwort gewusst.

„Als ich 12 Jahre alt war, hast du uns Kindern zum allerersten Mal einen Schirm gekauft, kann das sein?“, fragte ich, um mich vorsichtig weiter an die Sache heranzutasten, ohne zu viel zu erzählen.

„Ja, ich glaube, dem war so“, meinte sie. „Nur leider war er nach wenigen Tagen spurlos verschwunden. Vermutlich hat ihn irgendjemand in der Nacht geklaut…“

„Bist du sicher, dass er gestohlen wurde?“, versicherte ich mich.

Sie zuckte nur mit den Schultern. „Er war eines Morgens plötzlich weg und keiner wusste wohin. Ist dir dazu etwa was eingefallen?“

Erschrocken schüttelte ich den Kopf. „Nein, der Schirm kam nur flüchtig in meinem Traum vor.“

Das war zwar gelogen, aber ich konnte Martha unmöglich die Wahrheit sagen.

Wenn mein Traum tatsächlich Bezug zur Wahrheit haben sollte, konnte es sein, dass ich dachte, mit dem vereisten Griff konnte ich den Schirm unmöglich wieder mit ins Heim nehmen und hatte ihn deswegen irgendwo entsorgt?

Dies wäre zumindest eine Erklärung, die Sinn ergeben würde und die mich in meiner Vermutung bestärkte, dass das alles wahrhaftig geschehen war.

„Darf ich dir eine weitere Frage stellen?“, wollte ich wissen.

„Natürlich“, lächelte sie.

„Hast du in der Zeit, als der Schirm verschwand, eines meiner Kleider zerrissen im Schrank gefunden?“

Sie nickte. „Ja, deshalb war ich ziemlich sauer auf dich, weil ich dieses Kleid für dich selbst genäht hatte.“

„Es tut mir leid“, meinte ich verlegen und spürte, wie mein Herz schneller schlug.

Beides stimmte mit dem Traum überein. Also war die Wahrscheinlichkeit ziemlich hoch, dass das alles damals wirklich so geschehen war.

Ich bemerkte, dass sie mich fragend ansah. „Was hat das nun alles mit deinem Traum zu tun?“

Einen Moment lang überlegte ich, ob ich ihr jetzt ernsthaft die Wahrheit sagen sollte, aber mir fiel auf die Schnelle keine andere Geschichte ein.

„Wenn die Geschichten über den jetzigen König stimmen, dass er mit einer bloßen Berührung Dinge in Eis verwandeln kann, dann bin ich ihm mit 12 Jahren schon mal begegnet“, gab ich schließlich zu.

„Was?“ Martha sah mich überrascht an. „Aber damals hat noch der alte König regiert.“

Genau in diesem Augenblick wurde unser Gespräch unterbrochen, als ein paar Kinder freudig aus ihren Häusern gestürmt kamen.

Im Dorf hörte ich die Kirchturmuhr schlagen. Neunmal. Also war es Zeit, um Frühstück zu machen.

So verging der Tag. Martha hatte die ganze Zeit alle Hände voll mit den Kindern, der Wäsche und dem Haushalt zu tun, sodass sie mich nicht ein weiteres Mal auf die Sache mit dem Traum ansprechen konnte.

Ich kümmerte mich gemeinsam mit Marie um Elli. Eduard würde erst am Abend wieder nach mir sehen, wenn er seine Arbeit für heute beendet hatte.

Aber es war egal, wie sehr ich versuchte, mich abzulenken, ich musste die ganze Zeit an diese Begegnung denken, von der ich geträumt hatte.

Warum grub mein Gedächtnis ausgerechnet jetzt diese Erinnerung wieder aus?

Und vor allem, warum ging mir jetzt dieser traurige Blick des Jungen nicht mehr aus dem Kopf?

Irgendwie hatte ich auf einmal das Gefühl, ich war ihm etwas schuldig. Ich hatte das Gefühl, es war gemein von mir gewesen so geschockt zu reagieren, als er den Schirm berührt hatte.

War dieser Junge von damals tatsächlich der König?

Vielleicht war das alles nur ein dummer Zufall. Möglicherweise hatte sich in Wahrheit alles ganz anders zugetragen, als in meinem Traum.

Mist, ich musste es irgendwie herausfinden.

Da erinnerte ich mich an die Worte des Boten, der meinte, dass er schwer krank sei und dringend medizinische Hilfe braucht. Eventuell war das meine Gelegenheit.

Auch wenn ich mittlerweile glaubte, dass in den Geschichten mit dem Eis eine gewisse Wahres steckte, so glaubte ich daran, dass er trotzdem kein schlechter Mensch war. Viel mehr vermutete ich mittlerweile, dass er selbst darunter litt.

Keine Ahnung, woher ich das auf einmal wusste. Irgendwie hatte ich das im Gefühl.

Sein trauriger Blick… Ich musste Recht haben. Alles andere ergab keinen Sinn.

Entschlossen stand ich auf.

„Hey, wo willst du hin?“, fragte Marie verwundert.

„Ich muss was Wichtiges mit Martha besprechen“, antwortete ich und begab mich zum zweiten Mal heute auf die Suche nach ihr.

Diesmal fand ich sie im Waschhaus, beim Wäsche waschen.

„Guten Tag, Martha“, meinte ich, „kann ich dir irgendwie helfen?“

„Aurelia, mein Kind“, lächelte sie. „Danke, aber eigentlich ist das nicht nötig. Geh lieber wieder zu den anderen und genieße die Sonne.“

Energisch schüttelte ich den Kopf. „Ich möchte dir helfen.“

„Gut, wie du meinst“, sagte sie weiterhin lächelnd und machte mir Platz an der Holzwanne.

Ich nahm mir ein Hemd und begann es auszuwaschen, als ich wieder ihren durchdringenden Blick spürte, der auf mir ruhte.

Sie schien genau zu spüren, dass mich nach wie vor etwas beschäftigte.

„Willst du mir nicht sagen, was du auf dem Herzen hast?“, fragte sie freundlich. „Ist es nach wie vor wegen deinem Traum?“

„Ja, irgendwie lässt es mich nicht los“, murmelte ich.

Dann sah ich sie direkt an und sagte mit fester Stimme: „Martha, ich habe eine Bitte an dich.“

„Welche denn, meine Liebe?“, fragte sie sanft.

„Na ja…“ Ich suchte nach den richtigen Worten, um es ihr so schonend wie möglich zu erklären. „…erinnerst du dich daran, dass ich heute Morgen gemeint habe, ich glaube, ich bin dem König schon mal begegnet?“

„Aber Mädchen, das war nur ein Traum“, meinte Martha.

Energisch schüttelte ich den Kopf. „Das war mehr als ein Traum. Das Kleid war zerrissen, weil ich abrutschte, als ich über den Zaun gekletterte und der Schirm wurde nicht gestohlen, ich habe ihn irgendwo weggeworfen, weil ich keine Erklärung für den vereisten Griff hatte… Die Dinge passen mit der Wirklichkeit zusammen. Ich bin mir sicher, dass dieser Traum viel mehr eine verlorengegangene Erinnerung war.“

Nun ließ sie das Kleid sinken, dass sie gerade in der Hand hielt und sah mich durchdringend an. „Du willst mir also sagen, dass du mit 12 Jahren mit dem Regenschirm über den Zaun geklettert bist, dir dabei das Kleid zerrissen hast und du dann dem jetzigen König begegnet bist, der den Schirm berührt und vereist hat?“

„Ja“, sagte ich und nickte heftig, „es tut mir leid.“

Zu meiner Überraschung schien sie überhaupt nicht sauer zu sein, stattdessen lächelte sie und sagte: „Jetzt geht aber wirklich die Fantasie mit dir durch.“

„Nein“, entgegnete ich energischer, „das ist keine Einbildung, ich bin ihm wirklich begegnet!“

„Ach Aurelia“, schmunzelte Martha und wollte mir die Hand auf die Schulter legen, aber ich wich vor ihr zurück.

„Doch, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Recht habe“, erwiderte ich nun trotzig, „und ich werde es herausfinden.“

Nun sah sie mich verwundert an und wollte wissen: „Was hast du denn vor?“

„Ich möchte dem König helfen“, erklärte ich, den Grund, warum ich sie überhaupt aufgesucht hatte.

„Was?!“, entfuhr ihr entsetzt und sah mich an, als hätte ich ihr gerade eröffnet, dass ich mich von der nächsten Brücke stürzen will. „Bist du wahnsinnig? Das könnte deinen Tod bedeuten.“

„Das ist Schwachsinn“, widersprach ich heftig. „Er ist krank und braucht dringend Hilfe. Ich verstehe dein Problem nicht, anderen Menschen würdest du auch ohne zu zögern helfen, oder nicht?“

„Natürlich würde ich das tun“, antwortete sie, „aber es ist gefährlich zum Schloss zu gehen, das weißt du. Was ist, wenn er dich auch zu Eis erstarren lässt?“

„Das wird nicht passieren“, meinte ich, „schließlich will ich ihm helfen und ihm nichts Böses.“

„Meinst du das macht einen Unterschied?“, fragte Martha. „All die Menschen, die sein Schloss aufgesucht haben und nie wie-derkamen, meinst du, die wollten ihm etwas Böses?“

„Keine Ahnung“, erwiderte ich hitzig. „Genau deshalb werde ich es herausfinden. Außerdem bin ich 17 Jahre alt und mittlerweile alt genug, meine Entscheidungen selbst zu treffen, meinst du nicht? Wenn ich bald verheiratet bin, kannst du auch nicht mehr für mich entscheiden.“

Aber Martha schüttelte entschieden den Kopf. „Vergiss es, ich werde dich niemals an diesen unheimlichen Ort gehen lassen. Das ist viel zu gefährlich und was soll ich Eduard sagen, wenn du nicht mehr zurückkommst? Du weißt genau, dass er dich liebt. Willst du ihm das wirklich antun?“

Ich liebe ihn aber nicht, also kann mir egal sein, was er denkt, ging es mir durch den Kopf, aber ich hütete mich, dies auszusprechen.

„Da kam mir plötzlich eine Idee: „Und wenn mich Eduard einfach begleitet? Er hat mir selbst gesagt, dass er keine Angst vor dem König hat, also würde er mir sicher diesen Wunsch erfüllen.“

„Ich denke, er wäre vernünftig genug, um dir diesen Unsinn auszureden“, meinte Martha dazu nur.

„Du willst mich nicht verstehen, oder?“, erwiderte ich nun enttäuscht.

„Hör zu“, sagte sie sanft. „Ich verstehe dich sehr gut und ich finde es sehr vorbildlich, dass du helfen möchtest, aber verstehst du nicht, dass ich Angst um dich habe? Du bist für mich wie eine eigene Tochter und ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn dir etwas zustößt…“

Diese Ansage hatte gesessen. Betreten sah ich zu Boden und nickte nur.

Ja, ich konnte irgendwie ein wenig verstehen, dass sie sich um mich Sorgen machte und nicht nur sie. Auch Hanna und Eduard würden wohl vor Sorge umkommen.

„Ich verstehe“, murmelte ich deswegen leise. „Vergiss es einfach.“

„Aurelia, glaube mir, so ist es das Beste für dich“, sagte sie mit eindringlicher Stimme.

Wieder nickte ich nur und spürte, dass dieses Gespräch damit für sie beendet war.

In den nächsten Tagen versuchte ich mich mit Marthas Entscheidung abzufinden. Deswegen verschwieg ich diese Sache auch vor Eduard und den anderen.

Vielleicht war mein Vorhaben tatsächlich unüberlegt gewesen. Vermutlich war es wahrhaftig gefährlich, aufs Schloss gehen zu wollen. Immerhin schien an der Sache mit dem Eis etwas dran zu sein.

Jedoch hatte ich meine Gedanken nicht unter Kontrolle.

Nachts träumte ich von ihm. Der Junge aus dem Traum mit dem Regenschirm sah mich mit seinen intensiven, blauen Augen an und fragte mich: „Warum hilfst du mir nicht?“

Was sollte ich nur tun? Warum ließ er mir keine Ruhe? Wieso hatte ich das Gefühl, dass ich es war, der vorherbestimmt war, ihm zu helfen?

Also fragte ich die nächsten Tage wiederholt bei Martha an. Ich meine, eventuell gab es irgendeine Möglichkeit.

Allerdings blieb sie hart.

„Aurelia, du weißt genau, dass ich dir dies niemals erlauben werde“, sagte sie nur.

Einmal fragte mich sogar Hanna, was mit mir nicht stimmt.

„Wieso soll mit mir etwas nicht stimmen?“, entgegnete ich scheinbar völlig ahnungslos.

„Du bist in letzter Zeit so still und nachdenklich geworden“, antwortete sie.

„Ach was“, wehrte ich schnell ab, „ich denke nur immer öfter über meine Hochzeit nach. Schließlich dauert es nicht mehr lange bis zu diesem Tag.“

Das war wohl die beste Antwort, die ich ihr darauf geben konnte, auch wenn es gelogen war. Es wäre falsch, sie in meine verquere Gedankenwelt mit hineinzuziehen, sie war schließlich noch ein Kind und verstehen würde sie mich sicher genau so wenig, wie die anderen.

Dann kam der Tag, an dem der Bote des Königs zum zweiten Mal durch unsere Straße ritt, um sich zu erkundigen, ob inzwischen jemand dazu bereit wäre, ihm zu helfen.

Eigentlich hatte ich gar keine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, denn Martha hatte ihn fast gleichzeitig mit mir am Tor entdeckt und beeilte sich, ihn weiterzuschicken.

„Machen Sie, dass Sie hier wegkommen!“, rief sie bereits von weitem. „Von uns wird sich niemand in Gefahr begeben.“

Mehr brauchte sie dazu wohl nicht zu sagen, der Bote warf nur einen Blick auf uns und die wütende Martha und ritt weiter.

Ich wusste später nicht mehr, wann genau ich den endgültigen Entschluss gefasst hatte, doch nun nutzte ich die Minute, in der sich Martha weiter aufregte und Theodor sie versuchte, zu beruhigen.

Ohne wirklich darüber nachgedacht zu haben, was ich tat, war ich hinaus auf die Straße gelaufen und folgte dem Boten.

Als ich mir sicher war, dass wir weit genug von den anderen weg waren, rief ich ihm zu: „Bitte warten Sie einen Moment!“

Er sah sich verwundert um und brachte sein Pferd zum Stehen.

„Entschuldigung“, meinte ich ein wenig außer Atem, als ich ihn eingeholt hatte.

„Ja, junges Fräulein?“, fragte er freundlich. „Was kann ich für dich tun?“

„Ich mache es“, sagte ich entschlossen. „Ich möchte dem König helfen.“

„Du?“ Er sah überrascht aus. „Bist du dir ganz sicher? Das könnte sehr gefährlich für dich werden.“

Irritiert zog ich die Augenbrauen nach oben und meinte dann entschlossen: „Ich habe keine Angst. Ich möchte nur helfen. Ich dachte, das ist der Grund, warum Sie durch das Land ziehen, weil Sie jemanden suchen, der bereit ist, ihm zu helfen?“

„Selbstverständlich“, antwortete er zögernd.

„Dann sagen Sie mir bitte, was ich tun kann, wo ich den Mediziner finde, wie ich zum Schloss komme und mit was für einer Krankheit der König kämpft“, bat ich unbeirrt.

„Na gut“, gab er endlich nach und erzählte mir so gut wie möglich, alles was ich wissen muss.

Zum Schluss drückte er mir ein paar Geldscheine in die Hand.

Interessiert begutachte ich das Papiergeld. Bisher hatte ich immer nur mit Münzen gehandelt.

„Wie viel ist das?“, wollte ich wissen.

„Genug“, antwortete er grinsend. „Aber gib nur das aus, was du auf deiner Reise wirklich benötigst, also für Nahrung, den Weg und um den Apotheker zu bezahlen, verstanden?“

Ich nickte.

„Gut“, sagte er, „aber, wenn du ihm wirklich helfen willst, musst du dich beeilen. Keiner weiß genau, wie viel Zeit ihm bleibt.“

Wieder nickte ich.

Nun nickte er mir zu, wünschte mir viel Glück und stieg wieder auf sein Pferd, um davonzureiten.

Eine Weile stand ich da und sah ihm nach.

Ob das die richtige Entscheidung war? Martha und Eduard würden sicher alles andere als begeistert darüber sein und wenn ich ehrlich war, hatte ich ihnen gegenüber ein schlechtes Gewissen, aber ich musste es durchziehen. Schließlich kam ich wieder zurück, da war ich mir sicher.

Ich musste unbedingt herausfinden, ob der Junge aus meinen Träumen tatsächlich der König war und was uns miteinander verband.

Sicher war es verrückt, zu glauben, dass überhaupt irgendeine Verbindung zwischen uns bestand, aber warum ging er mir dann nicht mehr aus dem Kopf?

Seufzend ging ich zurück zum Heim.

Wenn ich ehrlich war, hatte ich ein wenig Angst, aber eher davor, ihm nicht helfen zu können, als dass ich Angst vor ihm, oder dieser Gabe mit dem Eis hatte.

Ja, eigentlich wünschte ich mir nur, dass alles gut wird…

3. Die ferne Stadt

Es dämmerte draußen inzwischen. Die Kirchturmuhr im Dorf hatte gerade 6 Uhr geschlagen, als ich wieder unter meiner Bettdecke hervorkroch.

Ich hatte meinen Plan perfekt durchdacht. Der Bauer vom Hof nebenan fuhr jeden Morgen gegen halb 7 in die Stadt um dort seine Lebensmittel zu verkaufen. Seine Waren mussten sehr gute Qualität haben, wenn sogar die Leute aus der fernen Stadt bereit waren, bei ihm zu kaufen.

Na ja, jedenfalls fuhr er immer zur gleichen Zeit mit seinem Planwagen los, in dem ich mich super verstecken konnte.

Schnell schlüpfte ich in ein einfaches weinrotes Kleid und meine ausgetretenen schwarzen Schuhe.

Einen Moment lang überlegte ich, was ich alles mitnehmen sollte, aber ich hoffte, dass meine Reise nicht gar so lang dauern würde, schließlich hatte der Bote mir gesagt, dass ich mich auf jeden Fall beeilen soll. Etwas zu essen konnte ich mir in der Stadt kaufen, denn er hatte mir genug Geld mitgegeben. Vermutlich war das mehr Geld, als ich je zuvor in meinen Händen gehalten hatte.

Mit einem Beutel, in dem ich das Nötigste verstaut hatte, schlich ich leise nach draußen.

Zur Sicherheit kontrollierte ich vorher abermals ob Hanna wirklich schlief, aber sie rührte sich nicht, was mich sehr beruhigte.

Auch auf dem Gelände war alles komplett still.

Vorsichtig schlich ich zu dem benachbarten Hof hinüber.

Wie ich mir gedacht hatte, stand der Wagen bereit und die Pferde waren davor gespannt.

Gerade wollte ich geduckt zu dem Gespann schleichen, als ich es plötzlich hinter mir rascheln hörte.

Erschrocken fuhr ich herum und blickte genau in Hannas Gesicht, die mich nun ertappt ansah.

Ich musste fast grinsen, weil sie so aussah, als wäre sie gerade erst aufgestanden: ihre blonden Haare waren zerzaust und ihr Kleid zerknittert, als hätte sie darin geschlafen.

„Hanna“, entfuhr es mir überrascht, „was machst du denn hier?“

„Genau das Gleiche könnte ich dich auch fragen“, entgegnete sie und unterdrückte ein Gähnen. „Wo willst du so früh am Morgen allein hin? Weiß Martha überhaupt von deinem Ausflug?“

„Nein“, antwortete ich im Flüsterton, „sie weiß nichts davon, weil ich genau weiß, dass sie es mir nie im Leben erlauben wird, allein in die Stadt zu fahren.“

„Was willst du in der Stadt?“, wollte Hanna wissen.

„Nichts, was du wissen müsstest“, erwiderte ich, „gehe wieder in dein Bett, ja?“

„Vergiss es“, widersprach sie heftig und stemmte beleidigt die Hände in die Seiten. „Du willst zum König, habe ich Recht?“

„Nein“, sagte ich daraufhin, aber ich konnte in ihrem Blick ablesen, dass sie mir das nicht glaubte.

„Lüg mich nicht an“, maulte sie und ich presste ihr erschrocken die Hand auf den Mund, da genau in diesem Moment der Bauer mit frischem Obst und Gemüse aus seinem Haus kam.

„Geh zurück ins Haus“, wies ich Hanna im Flüsterton an, „bevor Martha wach wird und sich Sorgen macht.“

Allerdings blieb diese stur.

„Ich will, dass du mich mitnimmst“, murrte sie, „sonst gehe ich zu Martha und petze ihr, dass du trotz ihres strengsten Verbotes zum König willst.“

Entnervt stöhnte ich auf. Wieso hatte ich nur vergessen, dass Hanna so anstrengend sein konnte?

„Selbst, wenn ich wollen würde, könnte ich dich nicht mitnehmen“, unternahm ich einen neuen Versuch. „Das ist viel zu gefährlich für dich.“

„Warum denn?“, blieb sie hartnäckig. „Du bist da, um auf mich aufzupassen.“

„Martha wird umkommen vor Sorge“, argumentierte ich weiter.

„Sie wird sich sowieso Sorgen machen, egal ob eine von uns geht, oder wir beide“, konterte Hanna. „Dein Liebster wird sich sicher auch um dich sorgen.“

An Eduard wollte ich nun ganz und gar nicht denken, also stieß ich einen energischen Seufzer aus.

Allmählich gingen mir die Argumente aus, außerdem drängte die Zeit, denn der Bauer hatte alles unter der Plane verstaut und verschwand nur erneut hinterm Haus, um nachzusehen, ob die Ställe alle ordentlich abgeschlossen waren.

„Na gut, dann komm eben mit“, gab ich schließlich nach, „aber beeile dich und sei unterwegs still, damit wir nicht erwischt werden.“

„Alles klar“, antwortete sie mit einem triumphierenden Grinsen im Gesicht.

„Aber unter einer Bedingung“, meinte ich, während ich die Plane hochhob, damit sie in den Wagen klettern konnte und mich umsah, dass der Bauer nicht wiederkam, bevor wir uns versteckt hatten. „Wir fahren gemeinsam in die Stadt, aber danach zum Schloss gehe ich allein, klar? Nicht dass dir was passiert.“

Hanna nickte eifrig und ich stieß erneut einen energischen Seufzer aus.

Ich konnte nur hoffen, dass alles gut ging, wenn ich jetzt eine 15jährige im Schlepptau hatte…

Keine Minute zu früh schlüpfte ich ebenfalls unter die Plane, denn im nächsten Moment hörte ich den Bauern wiederkommen, der nun nichtsahnend auf seinen Kutschbock stieg und sich auf den Weg machte.

Damit begann meine Reise in die große, ferne Stadt, auch wenn ich nicht geplant hatte, Hanna mit auf diese Reise zu nehmen.

Da fiel mir plötzlich etwas ein.

„Was ist überhaupt mit Lukas?“, fragte ich sie im Flüsterton und versuchte in dem Wagen eine relativ bequeme Position zu finden. Es war eine Herausforderung, wenn zwei Menschen zusammen mit säckeweise Obst und Gemüse in diesem kleinen Wagen längere Zeit unterwegs waren, aber es war nun mal das beste Transportmittel, dass mir in den Sinn kam.

Hanna sah mich fragend an. „Was soll mit dem sein?“

„Na ja, ich habe keine Ahnung, wie lange wir unterwegs sein werden. Bist du dir ganz sicher, dass du so lange ohne ihn auskommst?“, meinte ich amüsiert, denn ich meinte die Frage eher im Spaß.

Ich merkte, wie sich ihr Bick veränderte, als sie antwortete: „Ach hör mir auf mit dem Blödmann. Der kann mir echt gestohlen bleiben.“

Jetzt war ich irritiert. „Wieso das? Was ist passiert? Habt ihr euch gestritten?“

Genaugenommen hätte ich die Frage anders stellen müssen, denn die beiden hatten sich ständig in der Wolle, aber meistens war das nur Spaß. Jetzt etwa nicht mehr?

Mit einem theatralischen Seufzen entgegnete sie: „Der Kerl kann mich mal. Der hat mir gestern ins Gesicht gesagt, dass ich ihn nerve und endlich in Ruhe lassen soll!“

„Pssst, sei leise“, meinte ich erschrocken, weil Hanna gerade dabei war, sich in Rage zu reden, „sonst werden wir hier drin nur erwischt.“

„Hm“, machte sie nur und sah auf einmal ziemlich fertig aus.

„Er hat das sicherlich nicht so gemeint“, versuchte ich sie zu beruhigen.

„Doch ich glaube, das war sein voller Ernst“, antwortete sie traurig.

„Ist das der Grund, warum du unbedingt mitkommen wolltest?“, fragte ich nun frei heraus.

Sie nickte und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich wieder.

„Soll der Dummkopf mal sehen, wie er ohne mich klarkommt“, sagte sie grinsend.

Nach diesem Kommentar konnte auch ich mir ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Hanna tat so, als wenn ihr dieser kleine Konflikt überhaupt nichts ausmachen würde, aber in ihren Augen konnte ich erkennen, dass es sie wirklich beschäftigte.

„Und was ist mit Eduard?“, wollte Hanna da prompt wissen. „Du wirst wesentlich länger unterwegs sein, als ich.“

Jedoch zuckte ich nur mit den Schultern. „Wir führen keine Beziehung, also kann ich machen was ich will und bis zur Hochzeit bin ich ganz sicher wieder zurück.“

„Na gut“, meinte Hanna „ich hoffe nur, er gibt mir am Ende nicht die Schuld, falls du wider Erwartung nicht wieder nach Hause kommen solltest.“

„Dann kannst du ihn heiraten“, grinste ich.

Sie verzog angewidert das Gesicht. „Nein, ganz sicher nicht, dann nehme ich lieber Lukas.“

Wenn das alles so einfach wäre, dachte ich nur.

Wenig später fuhren wir über eine ziemlich holprige Straße, bei der die Körbe und Säcke verrutschten und ein paar Äpfel auf den Holzboden des Wagens kullerten.

Mist, dachte ich mir, hoffentlich hatte der Bauer das nicht mitbekommen, nicht, dass er jetzt nach seinen Waren gucken ging, ob alles in Ordnung war und uns dabei entdeckte.

Ich hörte ihn zwar vorn leise fluchen, aber er machte keine Anstalten, anzuhalten und nach dem Rechten zu sehen.

Gut, da haben wir Glück gehabt, dachte ich mir beruhigt.

Hanna hob einen der heruntergefallenen Äpfel auf, sah mich an und fragte: „Wenn die mir vor die Füße kullern, darf ich die dann auch essen?“

„Sicher nicht“, antwortete ich nur, „die sollen schließlich verkauft werden.“

„Aber ich habe so großen Hunger“, jammerte sie.

„Tja“, meinte ich daraufhin provokativ, „du wolltest unbedingt mitkommen. Wärst du im Heim geblieben, hättest du von Martha ein ordentliches Frühstück bekommen.“

Daraufhin zog Hanna nur einen Schmollmund und schwieg.

Seufzend lehnte ich mich an die Wand der Kutsche und stellte fest, wie müde ich war. Na ja, kein Wunder, ich hatte diese Nacht nicht viel geschlafen.

Da das Fahren über die unebenen Straßen irgendwie beruhigend auf mich wirkte, dauerte es nicht lange, bis ich weggenickt war.

Ich kam erst wieder zu mir, als Hanna an mir rüttelte.

„Was ist denn?“, murmelte ich benommen und schaffte es nur langsam, meine Augen wieder zu öffnen.

„Wir haben angehalten und er ist abgestiegen“, flüsterte sie. „Ich glaube, wir müssen hier raus, bevor er uns entdeckt.“

Immer noch verwirrt sah ich sie an und nickte dann.

Gerade in dem Moment, als ich vorsichtig die Plane zur Seite schlagen wollte, damit wir herausklettern konnten, wurde sie von außen angehoben.

Erschrocken wich ich ein Stück zurück, als ich das Gesicht des Bauern erkannte.

An seinem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass er mindestens genauso erschrocken war, uns hier drin zu sehen, wie wir über ihn.

„Was macht ihr denn da?“, wollte er mit barschem Unterton in der Stimme wissen.

Während mir vor Schreck gar keine plausible Antwort eingefallen war, kletterte Hanna flink an mir vorbei, sah ihn mit einem zuckersüßen Lächeln an und sagte: „Es tut uns ganz sehr leid, dass wir Ihren Wagen als Transportmittel nutzen mussten, aber wir haben einfach keine Möglichkeit gesehen, anders in die Stadt zu gelangen.“

Er sah sie nach wie vor skeptisch an, als ich aus dem Wagen stieg.

Nun wanderte sein Blick zu mir und auf einmal schien ihm ein Licht aufzugehen.

„Ihr seid Kinder aus Marthas Heim, habe ich Recht?“, fragte er nun.

„Ja“, sagte ich vorsichtig.

„Ich vermute, Martha weiß nichts von euerm Ausflug?“, meinte er da.

„Nein“, antwortete ich wieder knapp.

„Wir müssen nur schnell eine Kleinigkeit erledigen, dann kehren wir wieder zurück“, fügte Hanna hinzu.

„Ich hoffe, ihr habt nichts von meinen Lebensmitteln angerührt“, meinte er wieder mit ernster Miene.

Hanna senkte den Kopf und erwiderte kleinlaut: „Doch, ich habe einen Apfel gegessen. Es tut mir leid, ich hatte so großen Hunger, aber es war nur einer, wirklich.“

Die Gesichtszüge des Bauern entspannten sich wieder. „Alles gut. Übrigens stehe ich bis heute Abend um 6 auf dem Markt und verkaufe meine Sachen. Wenn ihr bis dahin wieder da seid, nehme ich euch wieder mit zurück. Vielleicht ist Martha dann nicht gar so wütend auf euch.“

Über so viel Freundlichkeit war ich ehrlich überrascht. „Das würden Sie tun?“

Er nickte lächelnd.

„Oh, das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, vielen Dank“, sagte ich und konnte es nach wie vor kaum glauben.

„Danke“, meinte Hanna flüchtig, dann zog sie an meinem Ärmel.

„Was ist denn?“, fragte ich energisch.