Die Wahrheit hinter den Lügen - Gina Eisentraut - E-Book

Die Wahrheit hinter den Lügen E-Book

Gina Eisentraut

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Beschreibung

Michael hat bis jetzt sein gesamtes Leben im Heim verbracht und weiß nichts über seine Herkunft. Doch da ihm schon immer bewusst war, dass er dort nie wirklich zu Hause war, ergreift er mit 17 Jahren die Flucht und lebt einige Wochen lang auf der Straße. Dort begegnet er zufällig Bill, der ihm seltsamerweise nicht nur bis aufs Haar gleicht, sondern herauskommt, dass die beiden am selben Tag geboren wurden. Bill ist sofort davon überzeugt, dass sie Zwillinge sein müssen und schlägt vor, dass die beiden für eine Weile die Rollen tauschen und nach einer bestimmten Frist der Mutter die Wahrheit offenbaren. Das stellt sich jedoch als gar nicht so einfach heraus, da die beiden vom Charakter her ziemlich unterschiedlich sind. Trotz anfänglicher Zweifel läuft schließlich alles wie geplant, aber dann geschieht etwas Unvorhergesehenes: Er verliebt sich in die hübsche Melissa! Kann das mit ihr und dem Rollentausch wirklich gutgehen? Und wie wird die Mutter reagieren, wenn sie die Wahrheit erfährt?

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Inhaltsverzeichnis

1. Überraschende Begegnung

2. Eine absurde Idee

3. Zwei Welten

4. Letzter Besuch

5. Ein steiniger Weg

6. Neues Leben

7. Melissa

8. Erste Probleme

9. Regenschauer

10. Kann das gutgehen?

11. Mehr als eine Wette

12. Interessante Hinweise

13. Bittere Enttäuschung

14. Süßkram, Kitsch und Karussells

15. Die Wahrheit

16. Nie mehr ohne dich!

1. Überraschende Begegnung

Die Glocke der Kirchturmuhr schlug gerade um 3.

Es war siedend heiß, denn es war Anfang Juli.

Leute hasteten eilig an mir vorbei.

Kaum einer schenkte mir Beachtung und wenn doch, warfen sie mit mitleidigem Blick ein paar Cent in meinen Gitarrenkoffer.

Trotzdem war die Ausbeute wie immer nicht sehr groß, etwa 2,30 Euro waren bis jetzt zusammengekommen und das, obwohl ich bereits seit etwa 9 Uhr hier saß. Aber was erwartete ich auch? Die Leute hatten besseres zu tun, als sich um einen Straßenjungen zu kümmern.

„Geh in ein Heim, oder zur Obdachlosenhilfe“, hatte mir eine Frau vor kurzem ans Herz gelegt.

Ganz toll, was denkt die wo ich herkomme? Mein ganzes Leben hatte ich im Heim verbracht. Doch die vermittelten dir nur, dass du einer von vielen bist.

So etwas wie Mutterliebe kannte ich nur vom Erzählen. Ich hatte keine Ahnung, wer meine Mutter war. Ich wusste nur, dass sie mich offensichtlich nicht gewollt hat und das reichte mir schon.

Andere Kinder waren in Pflegefamilien untergebracht worden, aber ich hatte nie das Glück und blieb im Heim.

Das förderte nicht gerade das Selbstvertrauen...

Und da ich seitdem ich denken konnte, zu den absoluten Außenseitern gehörte, ergriff ich vor knapp vier Wochen die Flucht.

Der einzige Unterschied war, dass ich dort wenigstens regelmäßig etwas zu Essen bekam.

Jetzt bin ich froh, dass ich diese dämlichen Betreuer endlich los bin.

Ich seufzte. Die Mitarbeiter wollten mich kurz bevor ich abgehauen bin echt zu einem Psychologen schicken, damit ich besser mit den anderen klarkomme. Aber was soll das bringen, wenn es dort solche Idioten, wie Erkan und Matthias gibt, die alle fertigmachen, die nicht das machen, was sie wollen?

Gedankenverloren spielte ich ein anderes Lied auf der Gitarre.

Sie war das Einzige, was mir geblieben und auch wirklich wichtig war.

Eine nette Heimmitarbeiterin hatte sie mir zum 14. Geburtstag geschenkt, als sie merkte, dass ich mich sehr für Musik interessiere. Bei ihr habe ich auch das Gitarre spielen gelernt, aber sie hat nicht lange Zeit danach das Heim verlassen, wegen privaten Problemen...

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als sich plötzlich zwei Typen vor mir aufbauten und hämisch grinsten.

Vermutlich waren sie sogar jünger als ich, höchstens 14 oder 15.

„Na du Penner“, meinte der eine angriffslustig und sein Grinsen wurde noch breiter.

„Redet ihr zufällig mit mir?“, erwiderte ich unbeeindruckt.

Wenn ich etwas in den Jahren im Heim gelernt hatte, dann, dass man sich von solchen Typen nicht einschüchtern lassen durfte, sonst spornte sie das nur an, weiter zu machen.

„Mit wem denn sonst?“, antwortete der andere und spuckte obercool auf den Boden, nur wenige Zentimeter vom Gitarrenkoffer entfernt.

Ich konnte nicht anders, als angewidert das Gesicht zu verziehen. Das war voll widerlich, auch wenn ich diese Geste von Erkan und ein paar anderen Typen auch kannte.

„Und was wollt ihr?“, fragte ich schließlich und hoffte inständig diese Kids bald wieder loszuwerden.

Allerdings machten sie keine Anstalten, wieder zu verschwinden. Ganz im Gegenteil. Sie starrten nur amüsiert auf mich herab.

„Wir wollen ein bisschen Spaß haben“, antwortete der erste und zog eine Zigarette aus seiner Hosentasche.

Der andere gab ihm Feuer und fügte hinzu: „Wir sind nämlich der Meinung, es leben schon genug Penner in dieser Stadt.“

Sie kamen angriffslustig ein paar Schritte auf mich zu und der eine stieß dabei mit einem seiner hässlichen Stiefel gegen den Gitarrenkoffer.

Shit, offensichtlich hatten sie tatsächlich vor, mich fertig zu machen.

„Na, hat es dir jetzt die Sprache verschlagen?“, fragte der eine belustigt.

Im nächsten Moment zerrte mich der größere der beiden auf die Beine, während mir der kleinere die Gitarre aus der Hand riss.

Ich schluckte leer. Es war nicht mal so, dass ich wirklich Angst vor diesen Deppen hatte, sie sollten nur meine Gitarre in Ruhe lassen.

Offensichtlich verstanden die Gangster etwas von ihrem Handwerk, denn der Typ drückte mich mit solcher Kraft gegen die Hauswand, dass ich keine Chance hatte, mich aus seinem Griff zu befreien.

Mein Blick wanderte zu dem anderen hinüber, der sich gerade daranmachte, das Geld aus dem Gitarrenkoffer zu sammeln. Die Gitarre hielt er grinsend in der anderen Hand.

„Nur knapp 3 Euro, du scheinst nicht gerade Umsatz gemacht zu haben“, kommentierte er, was er tat.

„Lass deine dreckigen Pfoten von meiner Gitarre“, hörte ich mich plötzlich schreien.

Verdammt, das war wohl nicht so klug, denn jetzt betrachtete der Kleine amüsiert die Gitarre. „Das alte Teil? Das ist eh reif für die Müllhalte. Da kann ich gern noch etwas nachhelfen.“

Verzweifelt sah ich, wie er Anlauf nahm, um sie auf dem Boden zu zerschmettern.

Doch in diesem Moment löste sich ein Schatten von der Hauswand und ein Typ mit Sonnenbrille und Kapuze trat ein paar Schritte auf uns zu.

„Hört sofort auf mit dem Scheiß“, rief er. „Ihr seid doch nicht mehr im Kindergarten!“

Überrascht fuhren die beiden Jungs herum.

„Was mischst du dich denn ein?“, wollte der größere wissen und ließ mich endlich los.

„Verpisst euch einfach“, forderte der Typ mit der Sonnenbrille die Kids ein weiteres Mal auf, „und zwar ein bisschen plötzlich!“

Offensichtlich schienen sie Respekt vor ihm zu haben, denn der zweite legte die Gitarre in den Koffer und die beiden schienen wirklich Anstalten machen zu verschwinden.

Der Kapuzentyp räusperte sich auffordernd. „Habt ihr nicht etwas vergessen?“

Mir wurde erst klar, was er meinte, als die Kids das Geld aus ihren Hosentaschen fischten und ebenfalls in den Koffer legten.

„Na bitte, geht doch“, meinte er zufrieden und scheuchte sie mit einer energischen Handbewegung endgültig davon.

Ich stand immer noch schwer atmend an die Hauswand gelehnt da und sah ihn ungläubig an.

Der Typ sah in seinen Klamotten eher aus wie ein Gangster, als ein Retter in der Not.

„Danke“, brachte ich schließlich nur knapp hervor.

„Schon gut“, entgegnete er, „normalerweise hätte ich mich nicht eingemischt. Die Penner die hier draußen herumlaufen sind mir scheißegal.“

„Und warum hast du mir dann geholfen?“, fragte ich verwirrt.

„Darum“, meinte der Typ und nahm die Kapuze und die Sonnenbrille ab.

Ich war so überrascht, dass ich ihn einen Moment lang nur stumm anstarren konnte.

Dieses Gesicht und auch die Haare kamen mir sehr bekannt vor und das, obwohl ich den Typen noch nie zuvor gesehen hatte.

„Siehst du?“, meinte er auffordernd. „Kannst du mir sagen, warum du genau so aussiehst, wie ich?“

Er hatte Recht, es war, als würde ich in einen Spiegel sehen. Abgesehen davon, dass seine Haare wesentlich kürzer waren als meine und er natürlich auch gepflegter aussah, war die verblüffende Ähnlichkeit nicht zu übersehen.

Ich konnte nur mit dem Kopf schütteln.

„Ich weiß es auch nicht“, antwortete er und kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Sorry mir fällt gerade ein, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, ich bin Bill. Bill Schauter.“

Er reichte mir die Hand, aber ich zögerte.

„Was ist?“, fragte er vorsichtig.

Langsam verstand ich gar nichts mehr.

„Nichts... Es ist nur, ich heiße auch Schauter, Michael Schauter.“

Jetzt war es Bill, der mich ungläubig anstarrte. „Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Sag mir, dass du mich gerade verarschst.“

Wieder schüttelte ich nur den Kopf.

„Krass“, meinte er, „und dein Geburtstag? Wann hast du Geburtstag?“

„22. März“, antwortete ich zögernd.

„Ich fasse es einfach nicht, genau wie ich“, rief Bill aus, „und du bist auch 17, oder?“

„Ja“, antwortete ich knapp und konnte immer noch nicht so ganz begreifen, was hier gerade lief.

Plötzlich packte er mich an den Schultern und schüttelte mich.

„Sorry“, meinte er, als er mich losließ, „aber das kann kein Zufall sein.“

Ich spürte, wie meine Beine nachgaben und ich gegen die Hauswand sank. Irgendwie war das gerade etwas viel für mich.

Wenn wir uns nicht nur zum Verwechseln ähnlich sahen, sondern auch Nachname und Geburtsdatum übereinstimmte, dann konnte das nur eines bedeuten, oder?

„Wenn das alles kein Zufall ist, was ich stark vermute, dann sind wir wohl Zwillinge, oder so“, führte er meinen Gedanken zu Ende.

Ich schwieg. Was würde passieren, wenn das wirklich stimmte?

„Dabei hat meine Mutter immer wieder betont, dass ich Einzelkind bin“, meinte er mehr zu sich selbst, als zu mir.

„Deine Mutter“, wiederholte ich langsam. „Du hast wenigstens eine.“

„Wie jetzt, heißt das, du bist ohne Mutter aufgewachsen? Etwa bei deinem Vater?“, wollte er wissen.

„Nein, ich war mein Leben lang in einem Heim“, antwortete ich seufzend. „Ich kenne weder meine Mutter, noch meinen Vater.“

„Das sieht ihr wieder mal ähnlich“, erwiderte Bill sauer. „Sie meint immer, dass sie mit mir total überfordert sei. Sie war erst 17, als sie schwanger wurde und der Typ hat sie auch noch schwanger sitzen lassen. Die Story musste ich mir zumindest ziemlich oft anhören.“

„Also hatte sie wohl ihre Gründe mich wegzugeben“, meinte ich nur und ließ meinen Blick in die Ferne schweifen.

Das war alles so seltsam absurd. Vielleicht träumte ich einfach nur und wenn ich aufwachte, war ich wieder allein...

„Jetzt mach aber mal einen Punkt. Ich finde das nicht in Ordnung, dass ich meinen Zwillingsbruder erst mit 17 kennenlerne und dann auch nur aus purem Zufall...“ Er machte eine Pause, setzte sich neben mich und sah mich auffordernd an. „Du musst mir unbedingt mehr über dich erzählen.“

Bill schien sich echt für mich zu interessieren, aber sollte ich ihm deshalb wirklich von meinem kompletten Leben erzählen?

Wahrscheinlich bemerkte er mein Zögern, denn er fügte hinzu: „Okay, du musst mir natürlich nicht alles erzählen, aber warum bist du beispielsweise aus dem Heim abgehauen?“

„Weil ich schon immer das Gefühl hatte, dass ich dort nicht zu Hause bin“, antwortete ich zögernd.

Ob es richtig war, ihm das zu erzählen?

„Und die anderen? Wie waren die so?“, fragte er weiter.

„Die meisten waren wie Marionetten, die nie eine eigene Meinung hatten“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Letztendlich gab es zwei Typen, die alle rumkommandiert haben und weil ich mich nicht drauf eingelassen habe, war ich der Außenseiter...“

„Verstehe“, meinte Bill nachdenklich. „Na den Typen würde ich gern mal meine Meinung geigen.“

„Und du?“, fragte ich schließlich, um das Thema in eine andere Richtung zu lenken. „Was geht bei dir so ab?“

Ich habe noch nie gern über mich gesprochen. Vielleicht auch, weil ich der Meinung war, dass mein Leben völlig uninteressant war.

Bill grinste und begann auch schon los zu quatschen. Offensichtlich hatte er im Gegensatz zu mir keine Hemmungen, offen über sein Leben zu reden.

Er erzählte, wie nervig seine Mutter sei, dass ihn die Schule nur ankotzte, dass er mit seinen Kumpels regelmäßig Partys und Trinkspiele veranstaltete. Außerdem würden ihn die anderen immer beneiden, wie gut er bei den Mädels ankäme. Er würde es angeblich hinbekommen, fast aller zwei Wochen eine neue Freundin zu haben.

„Wie sieht es bei dir eigentlich mit den Mädels aus?“, wollte er natürlich prompt wissen.

Ich zögerte. Das war ein heikles Thema, da ich ehrlich gesagt noch nie wirklich eine Freundin hatte. Na gut, außer der Geschichte mit Franzi vielleicht, aber das war ein Thema, an das ich mich besser nicht erinnerte. Für die Mädchen im Heim war ich immer nur der Freak gewesen...

Bill grinste, als ob er die richtige Antwort in meinem Blick ablesen würde. „Sag bitte nicht, du warst noch nie mit einem Mädchen zusammen?“

Schweigend wich ich seinem Blick aus. Irgendwie war mir das gerade total unangenehm.

„Schon gut“, meinte er immer noch grinsend. „ist auch nicht immer von Vorteil ein Weiberheld zu sein, damit kann man sich auch leicht Feinde machen.“

Wieder mal hatte ich darauf keine passende Antwort parat. Eigentlich hatte ich nie viel von diesen Typen gehalten, die ihre Freundinnen wechselten, wie die Kleidung, aber anderseits waren sie auch zu beneiden.

Umso länger ich darüber nachdachte, umso bewusster wurde mir, wie unterschiedlich Bill und ich trotz, dass wir offensichtlich Zwillinge waren, tickten.

Er war ziemlich direkt und aufgeschlossen, was ich von mir nun wirklich nicht behaupten konnte, aber wahrscheinlich lag das am Umfeld.

„Wie lange lebst du schon hier draußen?“, riss mich Bill aus meinen Gedanken.

„Etwa vier Wochen.“

„Krass“, antwortete er, „ich meine, ich bin auch schon von zu Hause abgehauen, aber ich bin dann immer bei einem Kumpel untergekommen. Wahrscheinlich würde ich das gar nicht so lange auf der Straße aushalten. Da bewundere ich dich echt.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Man gewöhnt sich an vieles, wenn man keine andere Wahl hat. Natürlich war es anfangs hart, aber es ist besser, als immer das Gefühl zu haben, dass man der absolute Loser ist.“

Im nächsten Moment fragte ich mich wieder, warum ich ihm das überhaupt erzählte.

Eigentlich hatte ich noch nie mit jemanden so offen über mich gesprochen. Im Heim hatte es nie jemanden interessiert, wie es einem wirklich ging, egal, was sie behaupteten.

Doch nach dem, was er mir alles erzählte, schien ich für Bill schon fast zur Familie zu gehören.

„Ich fasse es immer noch nicht“, meinte er wieder, „dass die dich dort so behandelt haben. Du musst unbedingt mit nach Hause kommen. Ich will das Gesicht meiner, nein, unserer Alten sehen, wenn sie dich sieht. Auf die Erklärung bin ich dann mal gespannt.“

Ich erschrak. Das würde jetzt echt etwas zu schnell gehen.

„Nein!“, sagte ich schnell.

Bill sah mich überrascht an. Wahrscheinlich hatte er nicht damit gerechnet, dass ich ihm widerspreche. „Warum nicht?“

„Weil ich das nicht kann“, antwortete ich seufzend. „Sie wird damals ihre Gründe gehabt haben. Sicher wird sie nicht begeistert sein, mich zu sehen.“

„Nicht begeistert?“, lachte er auf. „Sie hat mir meinen Zwillingsbruder verschwiegen, du musstest ohne Familie aufwachsen, ich finde, dafür ist sie uns einige Erklärungen schuldig.“

„Aber dafür haben wir gar keine Beweise“, wandte ich ein.

„Das Aussehen, der Nachname, das Geburtsdatum, so viele Zufälle kann es nicht auf einmal geben“, blieb Bill hartnäckig.

Ja, ich wusste, dass er Recht hatte, aber es ging trotzdem nicht.

Ich suchte nach den richtigen Worten, um ihm zu erklären, warum ich unsere Mutter nicht treffen konnte, aber er schien es auch so zu verstehen.

„Du hast Angst, oder?“, fragte er vorsichtig.

Schon wieder schaffte ich es nur zu einem Nicken. Langsam nervte es mich, dass ich so wortkarg war, aber das lag wohl daran, dass ich im Heim bei Zeiten gelernt hatte, den Mund zu halten.

„Sie wird mich wohl trotz allem nicht mit offenen Armen empfangen und ich weiß nicht, ob ich mit so einer Enttäuschung klarkommen würde“, gab ich schließlich zu.

Zu meiner Überraschung nickte Bill. „Ich verstehe dich, aber wir können das Ganze auch langsam angehen.“

Was meinte er denn damit jetzt schon wieder?

„Na ja, ich hoffe, wir sehen uns mal wieder, wenn wir jetzt schon Zwillinge sind“, beantwortete er mir glatt meine Frage, bevor ich sie überhaupt ausgesprochen hatte.

Langsam machte mir diese Fähigkeit wirklich Angst, oder lag das tatsächlich daran, dass wir offensichtlich echt Zwillinge waren?

Entschlossen stand Bill auf. „Tut mir leid, ich muss erst mal wieder los, aber ich würde morgen wiederkommen, wenn du möchtest. Immerhin gibt es noch so viele Dinge, die ich über dich wissen muss. Wenn ich Glück habe, finde ich vielleicht auch noch heraus, ob nicht doch irgendwo etwas über einen Bruder zu finden ist.“

Ich erhob mich ebenfalls und gab ihm die Hand.

„Ciao, bis morgen“, verabschiedete er sich gut gelaunt.

„Ich warte hier auf dich“, versprach ich.

Er nickte nochmal und verharrte plötzlich in der Bewegung. „Hätte ich fast etwas vergessen.“

Als ich ihn fragend ansah, zog er grinsend sein Portmonee aus der Hosentasche und drückte mir 20 Euro in die Hand.

„Damit du dir was Ordentliches zu Essen kaufen kannst“, kommentierte er. „Aber gib es nicht für Drogen aus.“

Ungläubig sah ich ihn an. „Drogen? Nee, ich rauche nicht mal.“

„Gut so“, meinte Bill nur.

„Aber so viel Geld kann ich nicht annehmen“, wandte ich ein.

„Natürlich kannst du, schließlich bist du mein Bruder.“

Bevor ich widersprechen konnte, winkte er nochmal und war im nächsten Moment auch schon verschwunden.

Immer noch irritiert sah ich ihm eine Weile nach, das Geld immer noch in der Hand haltend und versuchte meine Gedanken zu ordnen.

Ich wusste nicht, wie lange ich schon nach einer Spur suchte, die mir verriet, wo ich herkam. Nicht selten hatte ich Heimmitarbeiter nach meiner Mutter gefragt, aber sie konnten, oder wollten mir alle nichts sagen.

Wir hatten andere Kids in der Gruppe, die ihre Eltern bei einem Unfall verloren hatten. Insgeheim hatte ich immer gehofft, dass es bei mir auch so war. So habe ich mir zumindest eingeredet, dass ich nicht komplett ungewollt war.

Nun hatte ich eigentlich die Hoffnung aufgegeben, jemals etwas über meine Familie herauszufinden und ausgerechnet jetzt begegnete ich Bill...

Gedankenverloren packte ich meine Sachen zusammen und lief ziellos durch die Straßen.

Mittlerweile war es kurz nach um 5. Offensichtlich war Bill ganze zwei Stunden hier gewesen.

Es war so krass, wenn er tatsächlich mein Zwillingsbruder war... Er schien ganz begeistert von mir zu sein, aber wie sollte das in Zukunft funktionieren?

Eigentlich stand es offiziell nicht fest, dass wir überhaupt miteinander verwandt waren, aber er hatte gemeint, dass er nach Hinweisen suchen will.

Was passierte, wenn ich dann tatsächlich eine Familie bekommen würde? Oder was passierte, wenn herauskam, dass Bill doch nicht mein Bruder war? Dann würde ich wahrscheinlich bald wieder allein sein.

Keine Ahnung, ob ich das schaffen würde.

Er meinte, dass er mich unbedingt seiner, oder vielleicht sogar unserer, Mutter vorstellen wollte, aber wie würde das ausgehen? Wie würde sie auf mich reagieren? Es war wohl ziemlich unwahrscheinlich, dass sie sich über mein Erscheinen freute.

Na ja, wenigstens hatte ich jetzt einen Bruder und wie ich Bill nach diesem Gespräch einschätzte, ließ er sich sicher irgendwas einfallen.

Verdammt, wenn ich nur nicht so feige wäre... Aber was sollte ich meiner Mutter schon sagen, wenn sie plötzlich vor mir steht? „Hey, ich bin dein verlorener Sohn“? Wohl kaum...

Ich blieb stehen, als ich von Weitem eine Familie mit zwei Kindern sah. Die Kinder waren sicher nicht älter als 6 Jahre, aber die Kleinen lachten ausgelassen und aßen beide ein Eis.

Ja, glückliche Familien hatte ich oft genug gesehen. Jedoch würde ich wohl niemals wirklich zu einer gehören.

Trotzdem überkam mich wieder mal dieses wehmütige Gefühl.

Die Begegnung mit Bill hatte offenbar eine ganze Menge verdrängter Hoffnungen wieder aufgewühlt.

Ob ich vielleicht doch die Chance bekommen sollte, endlich nach Hause zu kommen?

Eventuell war noch nicht alles verloren und auf einmal spürte ich, dass ich möglicherweise doch eine Zukunft hatte...

2. Eine absurde Idee

Als ich am nächsten Morgen erwachte, hatte ich das Gefühl, ich war gerade aus einem schönen Traum gerissen worden.

Die grauen Wände meiner Unterkunft wirkten trostlos und einsam, so wie ich...

Halt, Moment, eigentlich war das Ereignis von gestern kein Traum. Die Begegnung mit Bill war echt, oder?

Bill, mein Zwillingsbruder. Irgendwie war dieser Gedanke immer noch total verrückt.

Es war erstaunlich, dass ich überhaupt Schlaf gefunden hatte. Die halbe Nacht war ich draußen herumgestreunt und hatte die Zeit mit nachdenken verbracht.

Nachdenken darüber, was die nahe Zukunft jetzt wohl mit sich bringen würde...

Seufzend sah ich zum Fenster. Draußen schien bereits die Sonne. Wie spät mochte es wohl sein?

Wann wollte Bill eigentlich vorbeikommen? Das hatten wir gar nicht geklärt.

Ich wusste nicht mal mehr, ob bereits Ferien waren, oder Schule.

Oh mein Gott, wenn ich mich an meine Schulzeit erinnere...

Normalerweise wäre ich nach den Sommerferien in die 12. Klasse gekommen. Ich war nie schlecht in der Schule gewesen, aber was nützte mir Abitur, wenn ich für mein Leben keine Zukunft sah?

Zumindest hatte ich während der Zeit im Heim keine gesehen. Was machte ein Leben in ständiger Einsamkeit für einen Sinn?

Das Heim war ein Kapitel, dass ich eigentlich für immer hinter mir lassen wollte, genau so, wie all die Leute, die ich mit dieser Zeit in Verbindung brachte.

Unwillkürlich musste ich an Flo denken. Mit ihm hatte ich dort die meiste Zeit verbracht, nachdem sie ihn in mein Zimmer gesteckt hatten.

Er war ziemlich aufgeweckt und vermutlich dachten sie mal, mich mit seiner Hilfe mehr ins Gruppengeschehen integrieren zu können, allerdings mochte ich ihn nie besonders.

Flo war ein richtiges Kind. Aber was erwartete ich auch? Der Typ war ganze drei Jahre jünger als ich und ließ sich noch sehr von solchen Idioten wie Erkan und Matthias beeinflussen...

Nein, diese Zeiten waren nun endgültig vorbei. Jetzt gab es vielleicht sogar eine Chance, etwas ganz Neues anzufangen.

Während ich mich anzog, fiel mir das Geld von Bill in die Hände. Ich hatte mir gestern nur eine Currywurst und eine Flasche Wasser geholt und deswegen noch knapp 12 Euro übrig.

Davon kaufte ich mir später ein Brötchen. In den letzten Wochen hatte ich gelernt, mit wenig auszukommen.

Dummerweise bekam ich noch immer mit, wenn mir die Leute missbilligende Blicke wegen meiner Klamotten zuwarfen. Na ja, sie hatten Recht, meine Jeans, die mittlerweile ziemlich zerrissen waren und das „Metallica“-Shirt, das ich trug, hatten schon mal bessere Tage erlebt.

Was soll’s, es spielte keine Rolle, was die anderen über mich dachten.

Den Rest des Wartens verbrachte ich erneut damit, in der Einkaufspassage Gitarre zu spielen. Es gab einige Songs von Metallica, Korn, Slipknot, oder Green Day, die ich auswendig konnte.

Gerade „Boulevard Of Broken Dreams“ von Green Day hatte es mir angetan, da der Song irgendwie zu mir passte.

Gedankenverloren stimmte ich genau dieses Lied an, als ich plötzlich jemanden meinen Namen rufen hörte.

Ich sah auf und erblickte Bill, der grinsend auf mich zukam.

Heute erinnerte mich sein Style wesentlich mehr an einen Hip-Hopper, mit diesen weiten Jeans und den vielen Goldketten, die er trug.

Lässig schob er sich die Sonnenbrille in die Haare und grüßte mich mit: „Moin Micha, was geht?“

„Hi“, entgegnete ich nur knapp und war erstaunt, dass er gekommen war, vor allem so zeitig. Die Kirchturmuhr zeigte gerade mal kurz nach halb eins an.

„Du spielst richtig gut“, bemerkte er, „dabei habe ich eigentlich keinen blassen Schimmer, von Rockmusik.“

„Danke“, antwortete ich etwas verlegen. Keine Ahnung, wann jemand das letzte Mal so etwas zu mir gesagt hatte.

„Ich muss dir etwas zeigen“, meinte er gut gelaunt.

„Was willst du mir denn zeigen?“, fragte ich überrascht.

„Nicht hier“, entgegnete Bill, „hier sind zu viele Leute. Ich will das in Ruhe besprechen. Kennst du einen Platz, wo wir hingehen könnten?“

Ich nickte und packte meine Gitarre ein.

Er folgte mir, ohne sich zu wundern, wo ich hinwill.

Ich sah, wie er eine Zigarette und ein Feuerzeug aus seiner Tasche holte.

Da schien er meinen Blick zu bemerken, denn er fragte: „Stört dich das, wenn ich eine rauche?“

Automatisch schüttelte ich den Kopf.

„Gut“, antwortete er, zündete sie ohne ein weiteres Wort an und fragte mich stattdessen: „Hast du meine Kohle schon ausgegeben?“

„Nur etwa die Hälfte“, antwortete ich.

„Nicht schlecht“, meinte Bill. „Ich frage mich echt, wie du das machst. Ich hatte 20 Euro im Nu ausgegeben.“

„Das klingt so, als hättet ihr ziemlich viel Geld“, fiel mir auf.

„Eigentlich nicht“, erwiderte Bill grinsend. „Meine Mutter arbeitet zwar als Versicherungsangestellte, aber reich sind wir deswegen trotzdem nicht. Es reicht eben. Das ist das Problem daran, dass ich gern Geld ausgebe.“

Dann standen wir vor dem alten Haus mit dem grauen, bröckelnden Putz und den Steinfiguren neben der Eingangstür, die bereits so verwittert waren, dass man nicht mehr erkennen konnte, wen oder was sie früher mal darstellen sollten.

Hier war ich untergekommen.

Er zog noch einmal kräftig an seiner Zigarette, bevor er sie am Boden austrat und mir ins Innere des Hauses folgte.

Von innen sah es nach wie vor aus, wie ein normales Wohnhaus, aber es stand seit Ewigkeiten leer und die Haustür war seitdem ich es für mich entdeckt hatte, immer nur angelehnt gewesen.

Ich hatte mich auf dem Dachboden eingerichtet, da es da oben wesentlich gemütlicher war und die Tür ebenfalls von Anfang an offenstand.

Bill folgte mir einfach und sah sich um.

„Wohnst du hier etwa?“, wollte er wissen.

Ich nickte. „Seit etwa zwei Wochen...“

„Und vorher?“, wollte er wissen.

„In einem anderen heruntergekommenen Haus an der Weberstraße, dessen Eingänge eines Tages jedoch verriegelt waren.“

Allerdings wusste ich nicht, ob er eventuell etwas anderes erwartet hatte.

„Wow, nicht übel, so ein ganzes Haus für sich allein zu haben“, meinte er und in seiner Stimme klang fast so etwas wie Bewunderung mit.

Auf dem Dachboden angelangt, grinste er. „Sieht fast gemütlich aus.“

Na ja, ich weiß nicht. In der Ecke lag eine alte Matratze, die ich vor dem Sperrmüll gerettet hatte und daneben standen meine Reisetasche und ein paar leere Flaschen. Mehr besaß ich nicht.

Bill machte es sich wie selbstverständlich auf der Matratze gemütlich und meinte: „Keine Ahnung, ob ich so leben könnte. Du hast hier noch nicht mal fließendes Wasser, oder?“

„Nein“, antwortete ich, setzte mich neben ihn und um das Thema zu wechseln fragte ich: „Was wolltest du mir denn jetzt zeigen?“

„Als ich gestern zu Hause war, habe ich recherchiert. Aus meiner Mutter habe ich nichts rausbekommen, da ich nicht zu offensichtlich fragen konnte, aber ich habe im Internet etwas Interessantes zum Thema Verhaltensweisen von Zwillingen herausgefunden“, erzählte er und machte eine Pause.

Ich merkte, wie mein Puls unweigerlich schneller wurde.

Er holte ein paar Zettel aus seinem Rucksack und reichte sie mir.

„Schau selbst“, meinte er. „Hier steht, dass ein Zwilling sich nur sehr schlecht allein beschäftigen kann und immer die Aufmerksamkeit eines anderen (also im besten Fall seines Zwillings) braucht... Fakt ist, bei mir war das als Kind wohl ähnlich. Na ja, zumindest hat meine Mutter immer gemeint, dass ich als Kind immer jemanden brauchte, der mich beschäftigt hat und auch heute stehe ich immer noch gern im Mittelpunkt...“

Krass, aus der Sicht hatte ich das noch gar nicht betrachtet. Allerdings wusste ich nicht mehr wirklich, wie das bei mir war. Ja, ich hatte öfters das Gefühl, das mir etwas fehlt, aber ich hatte das wohl auf die Familie allgemein bezogen.

Das mit dem Beschäftigen kann ich schlecht einschätzen. Als wir alle noch Kinder waren, hat jeder mit jedem gespielt.

Mit etwa 12/13 Jahren wurde ich dann zum Außenseiter, weil ich andere Interessen hatte, als die anderen. Wenn die anderen Computerspiele gespielt, oder ferngesehen haben und auf Mainstream und Hip-Hop standen, hörte ich lieber Metal und spielte später Gitarre.

Erst jetzt bemerkte ich, dass mich Bill erwartungsvoll ansah. „Na, was sagst du? Oder hat es dir etwa die Sprache verschlagen?“

Ich zuckte nur mit den Schultern.

Konnte man das ernsthaft als bemerkenswertes Beispiel nehmen? Reichte das als Indiz dafür, dass wir wirklich Zwillinge waren?

„Du siehst nicht sehr überzeugt aus“, bemerkte Bill.

„Ich weiß nicht“, antwortete ich gedankenverloren. „Vielleicht liegt es nur daran, dass ich die ganze Geschichte so unglaublich finde.“

„Ja, das ist es wohl auch. Hätte mir einer vor drei Tagen gesagt, dass ich einen Zwillingsbruder habe, hätte ich ihn vermutlich für verrückt erklärt.“

Plötzlich klingelte sein Handy.

„Wer ist das denn?“, murmelte er, als er es aus seiner Hosentasche fischte. „Shit, das ist Vivien, warte mal kurz.“

Dann verschwand er in die andere Ecke des Zimmers.

Ich hörte dem Gespräch nicht weiter zu, sondern ließ meinen Gedanken freien Lauf.

Bill schien die Geschichte mit den Zwillingen ziemlich ernst zu nehmen. Mir war immer noch nicht klar, wie das Ganze ausgehen sollte. Keine Ahnung, ob das gut gehen würde. Was passierte, wenn ich irgendwann meiner Mutter gegenüberstehen würde? Würde es tatsächlich etwas ändern, wenn sie wüsste, dass es mich gibt? Vermutlich hatte sie mich längst vergessen.

In dem Moment kam Bill zurück und ließ sich mit einem entnervten Seufzen wieder neben mich auf die Matratze fallen.

„Was ist los?“, fragte ich. „Gibt es ein Problem?“

„Weiber, ey“, erwiderte er und verdrehte die Augen, „schnauzt die mich an, weil ich mich gestern nicht bei ihr gemeldet habe. Ich habe vielleicht auch noch andere Sachen zu tun...“

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Es kann nicht zufällig sein, dass ihr gestern eigentlich verabredet wart, oder?“

Überrascht hielt Bill einen Moment inne. „Warte mal, doch, sie hat, glaube ich, so etwas gesagt.“

„Und dann wunderst du dich, warum sie sauer ist?“, fragte ich immer noch grinsend.

Er sah mich noch einen Augenblick lang irritiert an, bevor er sein Handy wieder einsteckte und meinte: „Das Mädel ist echt anstrengend und klebt wie eine Klette an mir. Ich werde wahrscheinlich bald wieder mit ihr Schluss machen. Dabei ist sie schon ziemlich heiß...“

„Tja, das musst du wissen, was du machst. Die Entscheidung kann dir keiner abnehmen“, sagte ich nur, auch wenn ich dieses Verhalten einem Mädchen gegenüber nicht nachvollziehen konnte.

„Hm“, meinte er nachdenklich, dann sprang er plötzlich auf und rief: „Micha, ich habe eine Idee! Wie wäre es, wenn wir für ein paar Wochen die Rollen tauschen?“

„Was?“ Er schaffte es immer wieder, mich zu überraschen.

„Na ja, du bist für ein paar Wochen ich und hast die Chance, deine Mutter kennen zu lernen, ohne ihr zu offenbaren, wer du wirklich bist. In der Zeit bin ich du und zeige den Affen im Heim mal wo der Hammer hängt. Zu Hause geht mir im Moment alles so tierisch auf die Nerven, dass ich gut und gerne mal eine Auszeit brauchen könnte“, erklärte er, als sei dies das selbstverständlichste der Welt.

Ich sah ihn ungläubig an. „Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“

„Doch natürlich“, antwortete er und sah mich auffordernd an. „Das ist die perfekte Lösung, oder nicht?“

„Ich weiß nicht“, entgegnete ich zögernd. „Wir sind viel zu verschieden. Deiner Mutter oder deinen Kumpels würde das sicher auffallen.“

„Ach Quatsch, ich gebe dir vorher natürlich einen Crashkurs darin, was es heißt, ich zu sein.“

So wie Bill es beschrieb, klang das Ganze total einfach.

„Es ist unmöglich, meiner Mutter gegenüber zu treten“, versuchte ich mich aus der Sache zu winden.

„Du musst nicht unbedingt viel mit ihr reden, das mache ich auch nicht. Meistens sage ich nur ‚Hallo‘ und ‚Tschüss‘, mehr nicht. Außerdem sollst du nicht sofort zu ihr gehen, sondern erst, wenn du dich dazu in der Lage fühlst. Was hast du schon zu verlieren?“

Er schien so sehr von seiner Idee überzeugt zu sein, dass er sich das Ganze nicht wieder ausreden ließ.

Allerdings hatte er mit einer Tatsache Recht: Was hatte ich zu verlieren? Wenn es irgendwann herauskam, hatte ich vielleicht doch noch die Chance auf eine Familie.

Aber natürlich tauchte auch der andere Gedanke in meinem Kopf auf. Sie hat mich weggegeben, weil sie mich nicht wollte. Warum sollte sie mich jetzt plötzlich wollen?

Bill schien zu verstehen. „Du musst dich natürlich nicht sofort entscheiden. Denke in Ruhe darüber nach, aber vergiss eines nicht: Ich würde mich sehr freuen, wenn ich bald allen sagen kann ‚Schaut mal, das ist Michael, mein Zwillingsbruder.‘“

Ich nickte zögernd und meinte: „Okay, ich überlege es mir.“

Er grinste zufrieden. „Na bitte, geht doch. Aber vorher müssen wir unbedingt etwas anderes machen.“

„Das wäre?“, fragte ich, obwohl ich eigentlich schon von vornherein wusste, dass das wieder eine von Bills total verrückten Ideen sein konnte.

„Du kommst jetzt erst mal mit zu mir nach Hause. Meine Alte ist eh vor heute Abend um 8 nicht zurück, also musst du dir darum keine Sorgen machen.“

„Nein, vergiss es“, widersprach ich sofort.

„Alter, du brauchst dringend eine Dusche. Eine Herde Pumas ist momentan nichts gegen dich. Außerdem“, er machte sich an den Klamotten aus meiner Reisetasche zu schaffen, „hast du auch keine vernünftige Kleidung mehr hier.“

Ergeben seufzte ich. Da hatte er wohl wieder mal Recht. „Okay, ich komme mit, aber nur, wenn du mir versprichst, dass unsere Mutter in der Zeit wirklich nicht auftaucht.“

„Sie kommt ganz sicher nicht vor 8 nach Hause“, versicherte Bill und seine Augen leuchteten, wie die eines Kindes, das ein langersehntes Geschenk bekommen hatte.

Er zog mich auf die Beine und meinte: „Na los und vergiss deine Klamotten nicht.“

Seufzend warf ich alle Sachen, die noch irgendwo herumlagen in die Tasche, schwang sie mir auf die eine und den Gitarrenkoffer auf die andere Schulter.

Ohne meine Gitarre ging ich nirgendwo hin. Dafür hatte ich viel zu große Angst, dass sie kaputtgehen, oder geklaut werden könnte.

Auf dem Weg ging es dann folglich um Musik.

Das war klar, Bill hörte eher Eminem und so (die anderen, von denen er sprach kannte ich eh nicht, oder zumindest nicht wirklich).

Wieder mal stellte ich mir die Frage, ob wir auch so grundsätzlich unterschiedlich wären, wenn wir zusammen aufgewachsen wären.

Allerdings würde mir dies eh nie jemand realistisch beantworten können.

Wir fuhren mit der U-Bahn in ein Viertel, in dem viele schöne Mehrfamilienhäuser standen. Anders, als das Viertel wo sich das Heim befunden hatte. Dort reihte sich nämlich ein Neubau an den anderen.

Bill lieh mir sogar seine Sonnenbrille, damit mich keiner der Nachbarn erkannte, aber uns begegnete niemand, den er kannte.

Er wohnte in einem Haus mit gelber Fassade, im dritten Stock.

Oh mein Gott, ich war erneut total nervös und das, obwohl er mir mindestens zehnmal versichert hatte, dass „unsere“ Mutter nicht auftauchen würde.

In der Wohnung blieb mein Blick zuerst an den Bildern hängen, die auf einer Kommode im Flur standen.

Die Bilder zeigten einen kleinen Jungen, der genau so gut ich hätte sein können. Es war echt krass, Bill sah mir früher noch ähnlicher als jetzt. Ansonsten war auf den Bildern teilweise ebenfalls eine junge Frau zu sehen. Sie hatte wilde schwarze Locken und ein strahlendes Lächeln.

Auf den Bildern sah alles nach einer normalen, kleinen, glücklichen Familie aus.

Augenblicklich spürte ich, wie sich in meinem Magen etwas zusammenkrampfte. Ob es wirklich die richtige Entscheidung war, hierher zu kommen?

In diesem Moment trat Bill neben mich.

„Alles okay?“, fragte er. „Ich habe ihr schon 1000-mal gesagt, dass sie diese peinlichen Bilder wegnehmen soll...“

„Also ist sie das?“, unterbrach ich ihn. Mitleid war jetzt das letzte, was ich gebrauchen konnte.

„Ja“, antwortete er. „zum Glück haben wir nur die schwarzen Haare und nicht diese krausen Locken von ihr geerbt, was?“

Ohne es zu wollen musste ich grinsen. Sofort stellte ich mir vor, wie ich mit so einer Lockenmähne aussehen würde.

„So“, meinte er schließlich grinsend, „ich würde sagen, du gehst erst mal duschen und danach zeige ich dir gern mein Zimmer.“

Ich nickte nur.

„Ach so und ich lege dir mal ein paar Klamotten von mir heraus, damit deine ordentlich saubergemacht werden können.“

Gesagt, getan und nach dem Duschen fühlte ich mich fast wie neugeboren.

Amüsiert betrachtete ich die Sachen, die er für mich herausgesucht hatte. Wow, er besaß tatsächlich auch normale dunkelblaue Jeans und das T-Shirt war schwarz und in der Mitte ranken sich Flammen um einen Schriftzug.

Zum Glück hatte er mich richtig eingeschätzt und mir keine Hopper-Klamotten gebracht.

„Steht dir gut“, meinte Bill, als ich sein Zimmer betrat. „Ach so, die Sachen darfst du natürlich behalten.“

Sofort hob ich abwehrend die Hände. „Das ist wirklich nicht nötig.“

„Klar, ich habe so viele Klamotten im Schrank, dass es nun darauf nicht ankommt“, versicherte er.

„Aber die waren bestimmt teuer“, wandte ich ein.

„Mann, widersprich mir nicht andauernd“, beschwerte er sich. „Ich weiß genau was ich tue. Was wollen wir jetzt eigentlich machen? Einen Film gucken?“

Ich nickte. Warum auch nicht.

Dabei stellte sich heraus das wir doch etwas gemeinsam hatten: Wir standen beide auf Action-Filme.

Später bestellte Bill für uns beide eine Pizza und ich spürte, dass ich mich allmählich hier echt zu Hause fühlte. Vielleicht sollte ich tatsächlich auf seinen Plan eingehen...

Es war etwa fünf vor 8, als ich das Haus wieder verließ.

Keine Minute zu früh, wie sich herausstellte, denn gerade, als ich um die Ecke bog, sah ich eine Frau mit streng nach hinten gebundenem Pferdeschwanz aus einem Auto steigen. Ihre krausen Locken waren trotzdem nicht zu übersehen.

Scheiße, das war sie vermutlich, meine Mutter!

Automatisch lief ich einen Schritt schneller. Sie sollte mich bloß nicht bemerken.

Ich stieg in die nächste U-Bahn, da ich mittlerweile zumindest Geld für einen Fahrschein hatte. Na ja, auch egal, früher bin ich öfters schwarzgefahren und es hat niemanden interessiert...

Seufzend ließ ich mich auf einem der Sitze nieder und stellte mein Gepäck daneben ab.

Dann lehnte ich mich zurück und schloss die Augen.

Irgendwie überschlugen sich seit gestern die Ereignisse. Noch vor kurzem hätte ich gedacht, dass ich nie eine Spur zu meiner Herkunft finde und jetzt hatte ich plötzlich nicht nur einen Zwillingsbruder, sondern wusste sogar, wie meine Mutter aussah.

Allerdings wusste ich nicht so recht, wie ich damit umgehen sollte. Einerseits wollte ich sie auf jeden Fall kennenlernen, anderseits war da immer noch die Angst, wie sie auf mich reagieren würde...

Vielleicht war es tatsächlich die beste Option, Bills Plan in die Tat umzusetzen. Es gab allerdings so viel, was dabei schiefgehen könnte. Was geschah, wenn herauskam, dass ich nicht Bill war? Schließlich waren wir ziemlich unterschiedlich vom Charakter und ich bezweifelte stark, dass ich durch ein bisschen „Training“ genau so cool und selbstbewusst rüberkommen würde, wie er...

An der nächsten Haltestelle stieg ich aus. Eigentlich hatte ich gar kein konkretes Ziel.

In meinem Kopf wirbelten so viele Gedanken durcheinander, dass ich vermutlich die gesamte Nacht nicht zur Ruhe kommen würde.

Wenn mir nur einer hätte sagen können, was ich machen soll.

Gab es überhaupt ein Richtig und Falsch?

Bill hatte Recht, was hatte ich schon zu verlieren? Vielleicht konnte ich meiner Mutter irgendwann offenbaren, wer ich wirklich bin. Eventuell war dies das Beste, was ich machen konnte. Wenn ich nur wüsste, ob es am Ende wenigstens andeutungsweise so werden würde, wie ich es mir immer gewünscht hatte?

Aber was geschah, wenn Bill sein Leben zurückhaben wollte? Dann würde ich genau wieder dort landen, wo ich herkam und das wollte ich nicht. Auch wenn er den Vollidioten im Heim dann etwas Respekt eingeflößt hatte. Ich würde mich dort nie zu Hause fühlen, vor allem jetzt, wo ich wusste, wo ich eigentlich zu Hause sein sollte...

Warum war das alles so kompliziert?

Gedankenverloren und ziellos streifte ich durch die Straßen der Stadt.

Welche Wendungen würde es in meinem Leben noch geben?

Als es dunkel wurde fand ich mich auf einmal im Stadtpark am Springbrunnen wieder.