9,99 €
Sein Unternehmen ist seine Welt - bis ein Kuss alles verändert ...
Sawyer Carlyle regiert sein Unternehmen mit eiserner Hand. Ein Privatleben kennt er nicht, und für die Liebe hat er keine Zeit - für ihn zählt nur der nächste Deal. Umso mehr nervt es ihn, dass seine Familie alles daransetzt, ihn zu verkuppeln und ihm eine potenzielle Freundin nach der anderen präsentiert. Um dem einen Riegel vorzuschieben, engagiert der CEO Clover Lee. Die junge Frau soll seine Verlobte spielen und ihm die heiratswilligen Damen - und seine Familie - vom Hals halten. Doch dann stellt ein heißer Kuss zwischen Clover und Sawyer seine Welt auf den Kopf, und aus dem Spiel wird schnell etwas ganz anderes ...
"Von der ersten Seite an ein echter Hit. Frisch, witzig und sexy - ich will mehr davon!" BOOKS I LOVE A LATTE
Auftakt der charmanten und prickelnden HARBOR-CITY-Serie von Bestseller-Autorin Avery Flynn
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 427
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
Epilog
Danksagung
Leseprobe
Die Autorin
Die Romane von Avery Flynn bei LYX
Impressum
Avery Flynn
Heartbreaker
Roman
Ins Deutsche übertragen von Stephanie Pannen
Sawyer Carlyle regiert das Unternehmen seiner Familie mit eiserner Hand. Er hat alles im Griff: seine Angestellten, seine Geschäftspartner und seine Deals – nur seine Mutter nicht … Diese hat Angst, dass Sawyer das Wichtigste im Leben verpasst: eine Frau, Kinder, Familienleben. Daher hat sie es sich in den Kopf gesetzt, ihren Ältesten so schnell wie möglich unter die Haube zu bringen und führt ihm eine Heiratskandidatin nach der anderen vor. In seiner Verzweiflung engagiert der CEO Clover Lee. Die junge Frau soll ihn vor den Verkupplungsversuchen seiner Familie schützen, denn sie ist die Einzige, die es je geschafft hat, sich gegen seine Mutter zu behaupten. Doch den beiden wird schnell klar, dass das gar nicht so einfach ist. Und so greifen sie zu einer verzweifelten Maßnahme: Sie verloben sich! Schon bald merkt Sawyer, dass er sich mehr darüber freut, seine Freizeit mit Clover zu verbringen, als darüber, den nächsten Deal abzuschließen. Doch es ist ja alles nur Fake, um seine Familie auf die falsche Spur zu bringen, oder?
Für meine Mutter Carol, denn am Ende werden wir alle zu unseren Müttern. Außerdem weil ich sie zu oft in diesem Tonfall angesehen habe, um noch am Leben zu sein, und doch hier bin – der Beweis, dass die Liebe einer Mutter unendlich ist, selbst wenn es ihre Geduld nicht ist.
»Ich werde dich umbringen, Hudson. Langsam. Mit einem Löffel.«
Sawyer Carlyle marschierte zwischen seinem Schreibtisch und dem Sitzbereich seines Büros im obersten Stockwerk des Carlyle Tower hin und her. Normalerweise war sein Arbeitszimmer mit seiner kühlen, modernen Einrichtung und den Panoramafenstern mit Blick auf Harbor City sein Rückzugsort, aber heute war es eher sein Versteck.
Als ihm seine Assistentin Amara Grant den ersten geheimnisvollen Jobanwärter gemeldet hatte, war er noch verwirrt gewesen. Nachdem der zehnte aufgetaucht war, hatte er gewusst, dass ihm sein Bruder einen Streich gespielt hatte.
»Du kannst mich gar nicht umbringen. Und du solltest lieber aufhören, Filme zu zitieren, sonst erzähle ich jedem, dass du auf Schnulzen stehst.« Hudsons Lachen drang laut und klar aus dem Lautsprecher. »Außerdem brauchst du mich. Ich bin der Einzige, der Mom von ihrer Mission abbringen kann.«
Oh ja. Operation Bringt Sawyer unter die Haube. Helene Carlyle hatte die dreijährige Trauerphase um ihren verstorbenen Gatten mit einem einzigen Gedanken hinter sich gelassen: die perfekte Frau für ihren ältesten Sohn zu finden. Sawyer hatte keine Ahnung, wie es Hudson gelungen war, dem ganzen Spaß zu entgehen, aber Mom hatte die Anstrengungen bezüglich ihres Erstgeborenen verdoppelt. Bis jetzt waren alle Kandidatinnen sich kaum voneinander unterscheidende Versionen der gleichen Frau gewesen. Alter Geldadel. Keine Persönlichkeit. Sagte immer das Richtige und kannte die Gepflogenheiten der feinen Gesellschaft von Harbor City. Des Weiteren hatte jede von ihnen den gleichen leicht gequälten Gesichtsausdruck von jemandem gehabt, der einen Pups unterdrückte. Es war dieses ganze falsche Getue, für das Sawyer absolut keine Zeit hatte, wenn Carlyle Enterprises weiter wachsen sollte, während der internationale Bauboom implodierte.
Er blieb an seinem Schreibtisch stehen und starrte auf die lächerliche Anzeige auf seinem Computermonitor, die Hudson überall verbreitet hatte.
GESUCHT: PERSÖNLICHER PUFFER
Oft mürrische, arbeitssüchtige und anspruchsvolle Führungskraft sucht kurzfristig »Puffer« für lästige äußere Ablenkungen alias Menschen. Aufdringliche Freigeister mit übertriebenen Marotten oder genereller Überempfindlichkeit werden nicht eingestellt. Bewerber sollten rund um die Uhr verfügbar sein.
Gehalt verhandelbar. Diskretion obligatorisch.
Mürrisch. Arbeitssüchtig. Anspruchsvoll. Na und? Er war, wer er war, und er würde sich nicht dafür entschuldigen.
Sawyer trommelte mit den Fingern auf dem Schreibtisch herum, der bis auf seinen Computermonitor, eine Funkmaus und das Telefon frei war. »Diese verdammte Anzeige ist ein einziger Witz.«
»Und trotzdem ist der ganze Vorraum voll mit Kandidaten, bei denen ich vorab bereits überprüft habe, ob sie beim ersten lauten Wort von dir zu heulen anfangen, also hör mit dem Rumgetue auf.«
Sawyer war nicht »mürrisch«. Er war beschäftigt. Verstand denn keiner den Unterschied?
Er drehte sich um und starrte aus den Fenstern auf die exklusive Aussicht. Mühelos fiel sein Blick auf die Hochhäuser von Carlyle Enterprises. So war es in allen Großstädten der Welt. Ihr Vater Michael hatte seine Spuren hinterlassen, und jetzt war es an Sawyer, dafür zu sorgen, dass die Erinnerung an seinen alten Herrn nicht befleckt wurde. Auf dem heutigen Markt war das keine leichte Aufgabe, und es war auch keine, die er schon so früh zu übernehmen erwartet hätte.
Mit zweiunddreißig war er der jüngste Carlyle, der das vor vier Generationen gegründete Familienunternehmen leitete. Doch diese Ehre hätte er ohne zu zögern dafür eingetauscht, seinen Vater wiederzubekommen. »Ich habe nie darum gebeten.«
»Doch, das hast du«, erwiderte Hudson, der Sawyers Bemerkung missverstand. »Ich glaube, es war, nachdem Mom dich bei der Museumsspendengala mit drei potenziellen Ehefrauen umzingelt hatte. Und wie es jeder gute kleine Bruder in einer solchen Situation tun würde, habe ich dir zur Flucht verholfen und dich betrunken gemacht, damit du mir dein Herz ausschüttest. Du bist derjenige, der mir gesagt hat, dass du einen Puffer für Mom brauchst.«
Der Scherz über einen menschlichen Puffer war witziger gewesen, als Sawyer noch eine halb leere Flasche Scotch in der Hand gehalten hatte.
»Nachdem du also jahrelang alles ignoriert hast, was dein großer Bruder dir dein ganzes Leben lang gesagt hat, entscheidest du dich dafür, dieser einen Sache Beachtung zu schenken?« Sawyer fuhr sich mit den Fingern durch sein dichtes Haar und drehte sich wieder zum Telefon um, als ob Hudson seinen finsteren Blick sehen könnte. »Alles, was ich wollte, war, dass du dich ein bisschen einmischst und einige der Kandidatinnen von mir weg und in dein Bett lockst.«
»Da neunundneunzig Prozent von allem, was aus deinem Mund kommt, mit der Firma zu tun hat, sollte dich die Tatsache, dass ich das meiste von dem, was du sagst, ignoriere, nicht weiter schockieren. Außerdem dachte ich, die Anzeige wäre ziemlich lustig.«
»Das glaube ich dir sofort.« Sein Bruder, der Komiker.
»Und was willst du jetzt tun?«
Sawyer sah zu der geschlossenen Doppeltür auf, hinter der Amara über das Vorzimmer herrschte. »Sie nach Hause schicken.«
»Ohne auch nur über die Idee nachzudenken, deinen eigenen Puffer zu haben?«, fragte Hudson. »Komm schon. Wir wissen doch beide, dass es dir am liebsten wäre, wenn du dich einzig und allein auf die Liebe deines Lebens konzentrieren könntest: Carlyle Enterprises.«
Einen persönlichen Puffer. Es war idiotisch. Er konnte die meisten Leute hervorragend allein vergraulen. Na ja, jeden außer ihrer Mutter. Sie ließ sich weder abschrecken noch vergraulen, egal wie mürrisch er sich gab. Helene Carlyle war genauso sehr daran gewöhnt, ihren Willen zu bekommen, wie er. Das führte zu interessanten Familienessen.
»Eigentlich solltest du es sein, der den Leuten da draußen sagt, dass es keinen Job gibt. Das würde dir recht geschehen.«
»Tja, so ein Pech, großer Bruder. Ich bin in der Hütte.«
Sawyer hätte es wissen sollen. Hudson liebte sein Wochenendhaus – in das er noch nie jemanden eingeladen hatte – über alles. Er hatte zwar ein Büro im Carlyle Tower, aber das bedeutete nicht, dass er es öfter benutzte, als nötig war. »Es ist Donnerstag.«
»Im Gegensatz zu dir«, sagte Hudson gedehnt, »weiß ich, wann ich eine Pause machen und die Schönheit bewundern muss, die die Welt mir zu bieten hat.«
»Wie heißt sie diesmal?«
»Wer sagt, dass es nur eine ist?«
Sawyer musste lachen. Sein Bruder steckte genauso in seinen Gewohnheiten fest wie Sawyer in seinen. »Bei dir ist wirklich Hopfen und Malz verloren.«
»Nein, ich weiß nur, dass es wichtig ist, auch mal die Seele baumeln zu lassen.«
»Du hörst dich an wie jemand, der vor lauter Wald die Bäume nicht mehr sieht.«
»Geht das Sprichwort nicht andersherum?«
»Nicht in deinem Fall.«
Dann hatte er eben immer das große Ganze im Blick. Na und? Das war vielleicht nicht die beste Aussicht, aber die einzige, die zählte. »Hudson, du bist eine furchtbare Nervensäge.«
»Gleichfalls. Viel Glück heute Abend.«
Das unangenehme Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben, ließ ihn sich zu seinem Monitor umdrehen und einen Blick in seinen Terminplaner werfen. Unter den Notizen zu dem Singapur-Deal, über den er gerade verhandelte, befand sich ein Vermerk, dass heute Abend um acht die Spendengala des Harbor City General stattfinden würde. Das Krankenhaus benannte sein neues Herzzentrum nach seinem Vater. Die Kardiologen und Chirurgen hatten alles in ihrer Macht Stehende getan, um Michael Carlyle zu retten, doch es war ihnen nicht gelungen. Die Belegschaft war unglaublich, und sie verdiente das neue Zentrum mit seiner topmodernen Einrichtung.
»Verdammt«, sagte er und ignorierte den Stich in seinem Herzen, den er immer verspürte, wenn er an seinen Dad dachte. »Das hatte ich total verdrängt.«
»Mach dir nicht die Mühe, eine Begleitung mitzubringen«, scherzte Hudson. »Ich bin sicher, dass Mom schon zwei bis drei für dich in petto hat.«
Mit dieser letzten Spitze verabschiedete sich sein Bruder, und das Geräusch des Auflegetons erfüllte Sawyers Büro und hallte von schlichten Metall- und Glasoberflächen wider. Er drückte auf einen Knopf, um das Telefonat zu beenden, und warf einen erneuten Blick auf die Stadt zu seinen Füßen, bevor er zur Tür ging, um zu tun, was getan werden musste – alle nach Hause zu schicken, weil es keinen Job gab.
Clover Lee war am falschen Ort. Das musste sie sein.
Das Büro im obersten Stockwerk des Carlyle Tower war voller kräftiger Männer in dunklen Anzügen, die einen entweder vor den Handlangern der bösen Jungs beschützten oder selbst die Handlanger der bösen Jungs waren. Sobald Clover aus dem Aufzug gestiegen war, hatte sie bemerkt, wie die Männer sie kurz gemustert hatten, um dann wieder ausdruckslos vor sich hin zu starren.
Denk dran, warum du hier bist, Clover.
Denn jeder Tag war ein Abenteuer und die meisten armen Trottel hockten mit einer Tüte Chips auf der Couch – aber nicht sie. Abenteuer. Romantik. Neue Orte. Interessante Leute. Spaß. Spannung. Schönheit. Leid. Ekstase. Lust. Liebe … Na gut, das Letzte nicht – wer wollte schon sesshaft werden? –, von den übrigen Sachen allerdings bitte eine doppelte Portion mit extra viel Pommes. Als sie also die seltsame Stellenanzeige für einen persönlichen Puffer entdeckt hatte, war sie ihr sofort ins Auge gesprungen. Genau das brauchte sie, um ihr nächstes Abenteuer zu finanzieren.
Ja. Genau deshalb war sie hier. Trotzig hob sie ihr Kinn und durchquerte das Meer aus Testosteron und Einschüchterung, um zu der afroamerikanischen Frau zu gelangen, die in einem klassischen Hosenanzug am einzigen Schreibtisch im Raum saß. Die Frau sah nicht mal auf, als Clover vor ihr stehen blieb. Auf dem Namensschild am Schreibtisch stand: Amara Grant, Assistentin der Geschäftsführung.
»Guten Morgen, Ms Grant. Ich bin hier wegen des Bewerbungsgesprächs.«
»Noch eines?« Die Frau seufzte, doch ihre langen Finger hörten nicht auf, über die Tastatur zu fliegen. »Okay, nehmen Sie Platz, wenn Sie einen finden.« Sie nickte mit ihrem Kinn auf den allgemeinen Bereich des vollen Vorzimmers.
Jemand musste ein paar zusätzliche Stühle herangeschafft haben, um all die Leute unterzubringen. Es war die naheliegendste Erklärung, die Clover zu dem Mischmasch an lederbezogenen Clubsesseln und gewöhnlichen Bürodrehstühlen, die die Wände säumten, einfiel. Die einzige verfügbare Option für sie war ein Stuhl mit lilafarbenem Sitz, der fast zwischen zwei Männern verschwand, die beide aussahen, als könnten sie einen Bus schieben.
Wer A sagt, muss auch B sagen. Auch wenn das heißt, eingequetscht zu sitzen.
Sie ging zu dem leeren Stuhl. »Entschuldigen Sie«, sagte sie zu den beiden Männern.
Die Männer stießen ein unverbindliches Brummen aus, rückten jedoch beiseite.
Sie setzte sich schnell, presste ihre Handtasche auf ihren Schoß und atmete tief ein. Dann musterte sie unauffällig die Konkurrenz. Die Anzüge und Haarfarben variierten von Mann zu Mann, aber dennoch strahlten sie alle die gleiche Härte aus. Wenn sie versuchen würde, sich an einem von ihnen vorbeizuschleichen, um Sawyer Carlyle zu nerven, würde man sie wie eine Fliege zurückscheuchen.
Aber das würde sie nie tun. Während des ersten Bewerbungsgesprächs mit Hudson Carlyle hatte er ihr versichert, dass die Anstellung keine Muskelkraft erforderte. Tatsächlich hatte er sogar erwähnt, dass ein scharfer Verstand für den Job am besten war. Das im Hinterkopf überlegte sie, wie sie sich von den anderen Bewerbern noch stärker absetzen konnte, abgesehen davon, dass sie eine 1,65 Meter kleine Frau mit einem Hello-Kitty-Tattoo auf ihrem Hintern war. Denn mit ihrem Lebenslauf würde sie garantiert keinen Eindruck schinden.
Sie hatte sich bereits als Schlangenmelkerin verdingt – fragen Sie besser nicht –, als bezahlte Brautjungfer für Fotos gelächelt, Hundefutter gekostet – stellen Sie sich altbackene Kekse mit komischem Nachgeschmack vor –, als professionelle Schlangesteherin den wahren Wert orthopädischer Schuheinlagen kennengelernt – immer im Regen, der Kälte oder glühender Hitze – und die Geheimnisse des Universums als Glückskeksautorin zusammengefasst. Clover hatte sich als alles Mögliche versucht, um ihre Rechnungen zu bezahlen, ein paar unvergessliche Abenteuer zu erleben und sich so weit von dem kleinen Städtchen Sparksville fernzuhalten, wie es ihr möglich war. Doch bis vor ein paar Tagen hatte sie noch nicht mal vom Berufsbild eines persönlichen Puffers gehört.
Ihr kamen tausend Ideen. Sie könnte ihre abenteuerlichen Geschichten als internationale Erfahrungen in unbekannter Umgebung verkaufen. Sie arbeitete gut mit anderen zusammen. Sie war loyal, entschlossen und – sie warf einen Blick auf die Männer in dunklen Anzügen, die Assistentin, die so aussah, als würde sie jetzt schon jeden bemitleiden, der ihr heute querkam, und die große Doppeltür gegenüber dem Aufzug, die fest verschlossen war – vollkommen überfordert.
Unsicherheit ergriff Clover und schnürte ihr die Kehle zu. Mist. Wenn sie nervös war, kam nie etwas Gutes dabei heraus. Sie redete dann ohne Punkt und Komma. Sie schloss die Augen und atmete tief durch.
Wenn jemand da draußen zuhört: Bitte lass mich dieses Bewerbungsgespräch überstehen. Ich brauche diesen Job. Mir läuft wegen Australien die Zeit davon.
Das Klicken einer Tür riss Clover aus ihrer leichten Panikattacke, und sie öffnete die Augen.
In der offenen Tür seines Büros stand Sawyer Carlyle. Ihre Google-Bildsuche wurde dem Mann eindeutig nicht gerecht.
Das Gesamtpaket war … wow. Er war über 1,80 Meter groß und muskulös genug, dass die anderen Männer im Vorzimmer nicht mehr ganz so einschüchternd aussahen. Oder vielleicht lag es auch an der Art, wie er sich benahm – so selbstsicher, fast arrogant –, dass gegen ihn jeder andere ein wenig in den Hintergrund rückte. Das sexy Gesamtpaket wurde komplettiert von einer dunklen Designerbrille, braunem Haar, das ein klein wenig zu lang war und das er zur Seite gekämmt hatte, und einem Grübchen im Kinn. Er musterte die Personen im Vorzimmer, und als er bei Clover angekommen war, hielt er inne und ließ seinen Blick um die erforderlichen zwanzig Zentimeter sinken, um sie zwischen den beiden Schränken neben ihr ansehen zu können. Eine seiner dunklen Augenbrauen hob sich über den schwarzen Rahmen seiner Brille. Für den Bruchteil einer Sekunde verzogen sich seine Mundwinkel, bevor seine Lippen wieder zu einer ausdruckslosen geraden Linie wurden. Sein Blick richtete sich auf den Mann links neben ihr und wanderte weiter.
Ihr wurde ganz flau im Magen, und der schien zu rufen: Pass bloß auf, Clover! Doch dieses Gefühl ließ nach, nachdem er nun in die Runde schaute.
»Meine Herren.« Sawyer machte eine Pause und sah wieder zu ihr. »Und meine Dame. Ich befürchte, es handelt sich um ein bedauerliches Missverständnis …«
In diesem Moment öffnete sich der Aufzug, und eine hochgewachsene Frau um die sechzig marschierte wie eine Königin heraus, begleitet von zwei Frauen, die aussahen, als seien sie dem Cover einer Modezeitschrift entsprungen. Plötzlich wirkte das Haargummi, mit dem Clover den Knopf ihrer geborgten schicken Hose um ein paar zusätzliche Zentimeter zum Luftholen erweitert hatte, noch erbärmlicher. Eines der Models blieb in der Aufzugtür stehen, um sie offen zu halten. Das andere stolzierte mit der älteren Frau ins Vorzimmer.
»Sawyer, du wirst mich nicht wieder vertrösten«, sagte die offensichtliche Anführerin. Ihre kultivierte Aussprache ließ an Country Clubs und Urlaube in den Hamptons denken. »Wir haben zum Mittagessen bei Filipe’s reserviert. Du kannst die Welt schließlich nicht mit leerem Magen erobern.«
Er seufzte. »Mittagessen ist in meinem Tagesplan nicht vorgesehen.«
Die Frau ließ nicht locker. »Ein Nein lasse ich nicht gelten.«
Sawyer tippte mit seinem Mittelfinger gegen seinen Daumen, ließ den Kopf sinken und rollte seinen Kopf von einer Schulter zur anderen. Es war offensichtlich, dass er keine Lust hatte, das allerdings aus irgendeinem Grund nicht geradeheraus sagen konnte.
Niemand bewegte sich. Die anderen Pufferkandidaten taten gar nichts.
Das ist meine Chance.
Wenn sich Clover positiv von den anderen unterscheiden wollte, musste sie es jetzt tun. Sie stand auf, ging ein paar Schritte auf die drei Frauen zu und setzte ihr bestes Mach-mich-nicht-an-dann-mach-ich-dich-auch-nicht-an-Lächeln auf.
»Entschuldigen Sie, Ma’am, aber es ist ziemlich offensichtlich, dass Mr Carlyle kein Interesse an einem flotten Vierer mit Ihnen hat, und« – sie senkte die Stimme zu einem Bühnenflüstern – »ganz ehrlich, Sie scheinen ein bisschen zu alt für ihn zu sein.«
Der Mann, um den es ging, stieß ein Geräusch aus, das wie das Niesen einer gebärenden Elefantenkuh klang. Nicht dass sie eine Ahnung hatte, wie sich so etwas anhörte, aber so übersetzte ihr Hirn das halb gequälte, halb überraschte Geräusch, in das sich außerdem noch ein kleines Auflachen geschlichen hatte. Clover schob den Gedanken beiseite, als die ältere Frau ihren eiskalten Blick auf sie richtete.
»Um es ganz klar zu sagen«, fuhr Clover fort. »Sie bauen kein prestigeträchtiges Unternehmen wie Carlyle Enterprises auf, indem man seine Tage mit Frauen vertrödelt, die einen abgebrochenen Fingernagel schlimmer finden als eine Überflutung am Jangtse, also verschwinden Sie jetzt besser, bevor ich den Sicherheitsdienst rufen lasse. Mr Carlyles Zeitplan ist heute gerammelt voll, aber rufen Sie doch einfach das nächste Mal vorher an, wenn Sie mit ihm essen gehen wollen.«
»Und für wen genau halten Sie sich?«, fragte die andere Frau und betonte jedes Wort voller Missbilligung.
»Für genau die, die ich bin.« Sie lächelte mit genauso viel Wärme, wie in der Stimme der anderen Frau lag. »Clover Lee.«
Die Frau blinzelte, sah zu Sawyer und drehte sich wieder zu Clover um. »Wollen Sie damit etwa sagen«, begann die Frau, und jedes Wort kam so langsam und deutlich heraus, als ob sie unglaublich wütend, aber gleichzeitig zu wohlerzogen war, um zu schreien, »dass mein Sohn lieber arbeitet, als mit seiner Mutter essen zu gehen?«
Sohn? Sohn? SOHN?!?
Oh scheiße.
Und genau darum sollte Clover nichts tun, wenn sie aufgeregt war. Denn wenn sie sich von ihrer Nervosität überwältigen ließ, kam einfach nie etwas Gutes dabei heraus. Sie musste etwas sagen. Sich entschuldigen. Ein Loch finden, das groß genug war, um sie komplett zu verschlucken.
Doch sie brachte kein einziges Wort heraus.
Der Mund der Frau – der Mund von Sawyer Carlyles Mutter – verzog sich zu einem falschen Lächeln und ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen, aber ihr eiskalter Blick wanderte von Clover zu ihrem Sohn. »Sawyer, das ist noch nicht vorbei.«
Ohne ein weiteres Wort wirbelte eine der mächtigsten Frauen der feinen Gesellschaft von Harbor City herum und marschierte zu der Frau, die immer noch die Aufzugtüren aufhielt.
»Analisa, überlassen wir Sawyer und seine … Person ihrem ›gerammelt vollen‹ Zeitplan«, sagte sie.
Die Frau, die mit Mrs Carlyle ins Vorzimmer gekommen war, zwinkerte Sawyer zweideutig zu und gesellte sich dann zu den anderen beiden. Vielleicht waren es ihre himmelhohen High Heels, vielleicht nur ihr Gang. Aber was immer es war, das langsame Hin- und Herwiegen ihres Beckens, als sie sich zum Aufzug bewegte, erregte die Aufmerksamkeit jeder Person im Raum. Selbst Amara hörte lange genug mit dem Tippen auf, um den Kopf zu schütteln.
Aufsteigende Panik rauschte in Clovers Ohren, als sich die Aufzugtüren schlossen und der Lift die drei Frauen die dreiundsechzig Stockwerke nach unten in die Lobby beförderte. Ihre Wangen brannten. Die Scham über das, was sie getan hatte, ließ ihr das Herz in die Hose rutschen.
Sie drehte sich zu Sawyer um, der nach wie vor in seiner offenen Tür stand und sie anstarrte, als wäre sie eine Außerirdische und als würde er nicht wissen, was er mit ihr anstellen sollte. Sie hoffte, dass er E. T. nur nach Hause schicken würde, anstatt ihn zu sezieren oder Schlimmeres. »Das war Ihre Mutter?«
Wow. Du bist echt ein Kommunikationstalent, Clover.
Sawyer nickte und begann, auf sie zuzugehen. Dank seiner langen Beine war er in wenigen Schritten bei ihr. »Ganz genau.« Sein Blick war immer noch starr auf sie gerichtet, und sein Gesichtsausdruck sagte alles. Er würde sie sezieren. Oder Schlimmeres.
Sie musste schlucken, und das Geräusch hallte im Vorzimmer wider, das, wie Clover jetzt auffiel, unheimlich still war. Selbst Amara hatte zu tippen aufgehört und starrte Clover an, als ob sie ein Kaninchen in der Falle wäre, das gleich sterben würde.
»Ich bin also gefeuert, noch bevor ich überhaupt angefangen habe, was?« Sie zwang sich zu einem wackligen Lächeln, aber er schien den Scherz nicht zu verstehen. Wer brauchte schon Australien? Die vom Aussterben bedrohten Kängurus, denen sie dort geholfen hätte, konnten sich bestimmt auch allein retten. »Okay, dann haben Sie mal ein schönes Leben und viel Glück mit Ihrer wütenden Mutter.«
Er blieb bloß eine Armlänge von ihr entfernt stehen. Sie meinte in seinem Blick so etwas wie Neugier zu sehen, als ob sie ein Rätsel wäre, das er zu lösen entschlossen war. »Tja, das war mal was anderes.«
»Was denn? Gefeuert zu werden, bevor man überhaupt angefangen hat?« Sie lachte gequält auf. »Wissen Sie, das passiert mir dauernd. Einmal habe ich mich bei einem dieser Gewichtsverlustzentren beworben und der Frau am Telefon gesagt, dass sie perfekt sei, wie sie ist, und der Abteilungsleiter ist vollkommen ausgerastet …«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Niemand hat meine Mutter je zum Rückzug bewegt.«
»Ich bin sicher, dass Sie übertreiben.« Sie musste erneut schlucken und umklammerte den Tragegurt ihrer Handtasche, während sie vor ihm zurückwich und hinter ihrem Rücken nach dem Knopf für den Aufzug herumtastete. »Dann werde ich mal gehen. Viel Spaß noch dabei, einen etwas weniger vorlauten persönlichen Puffer zu finden.«
Endlich fand sie den Knopf und drückte ihn hektisch. Jetzt hätte sie sich umdrehen und auf die geschlossenen Türen starren sollen, bis der Aufzug kam, während sie gleichzeitig so tat, als ob niemand hinter ihr wäre. Doch sie konnte es nicht. Es lag nicht daran, dass es unhöflich wäre – sie hatte schließlich gerade eben noch bewiesen, dass sie es mit der Höflichkeit nicht immer allzu genau nahm. Sondern an ihm.
Sawyer Carlyle mochte einen Anzug tragen, der so teuer war, dass sie davon ihr Abenteuer in Australien und Dutzende weitere finanzieren konnte, aber das bedeutete nicht, dass er zivilisiert war. Oh nein.
Etwas in seinem intensiven Blick versprach andere Dinge, gefährliche Dinge, zu gut, um wahr zu sein.
Mit nur wenigen entschlossenen Schritten war er neben ihr, dieses Mal blieb er allerdings nicht auf Armlänge. Stattdessen legte er ihr die Hand auf den unteren Rücken, was in ihrem Inneren ein Feuerwerk explodieren ließ und Schauer über ihre Haut sandte.
»Amara, bitte sagen Sie alle Termine für die nächste halbe Stunde ab.« Er begann, sie in Richtung seines Büros zu schieben. »Meine Herren, vielen Dank für Ihre Zeit, aber die Stelle ist leider bereits vergeben.«
Vergeben? Oh Gott, was hatte sie getan?
Sawyer wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte. Das war ein ungewöhnliches Gefühl. Normalerweise hatte er immer einen Plan – das war der Vorteil, wenn man stets das große Ganze im Blick hatte. Wenn eine Vorgehensweise nicht funktionierte, spielte das keine Rolle, solange er sein Ziel erreichte. Wie er das schaffte, war nicht weiter von Belang.
Während er um seinen Schreibtisch herumging und sich hinsetzte, ballte er wiederholt seine Hand zu einer Faust, um etwas mit ihr zu tun, anstatt sie ihr erneut auf den Rücken zu legen. Schöne Frauen waren ihm nicht fremd, aber die Frau, die ihm jetzt gegenübersaß und sein Büro betrachtete, würde er nicht gerade in diese Kategorie einteilen – zumindest nicht in diesem Hosenanzug.
Der Blazer war kastenförmig und saß schlecht. Die Hose war zu lang und schien für Schuhe mit viel höheren Absätzen gedacht zu sein als das stumpfe schwarze Paar, das sie trug. Ihre goldblonden Haare waren glatt und in der Mitte gescheitelt. Sie trug kaum Make-up, abgesehen von einem rosafarbenen Lippenstift und ein wenig Lidschatten. Aber diese großen braunen Augen. Sie schien belustigt. Lachte sie etwa über ihn? Vielleicht. Auf jeden Fall über die Situation. Denn die war tatsächlich ziemlich ungewöhnlich.
Er hatte gerade eine Frau für einen Job eingestellt, der bis vor ein paar Minuten gar nicht existiert hatte. Er kannte noch nicht mal ihren Namen.
An diesen Fakt klammerte er sich wie an ein kaltes Bier an einem heißen Augustabend – die Lösung für alle Ungewissheiten des Lebens. »Lassen Sie uns mit Ihrem Namen beginnen.«
Sie erhob sich und streckte ihm über den Schreibtisch ihre Hand entgegen. »Clover Lee.«
Wie im Autopilot ergriff er ihre Hand und schüttelte sie. Da war es wieder, wie ein kleiner elektrischer Schlag, und er ließ sofort los. »Clover?«
»Eigentlich Jane.« Sie verzog das Gesicht und streckte ihre Finger, als hätte sie den Schlag ebenfalls gespürt. »Aber so nennt mich niemand. Meine Mutter liebt ihr Leben in ihrer langweiligen kleinen Stadt namens Sparksville. Ich meine, unser Hund heißt Spot – was allerdings nicht ironisch gemeint ist. Ich bin also froh, schlicht Jane zu heißen und nicht …«
»Haben Sie irgendwelche Erfahrungen als persönlicher Puffer … Miss Lee?«, unterbrach er sie. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie stundenlang über das langweilige Sparksville reden konnte.
»Nein, aber ich lerne schnell und habe einen umfassenden internationalen Hintergrund.« Sie griff in ihre Handtasche, zog ein Blatt Papier heraus und reichte es ihm.
Während er den Lebenslauf überflog, wurde ihm einiges klar. Diese gar nicht so schlichte Jane Clover Lee hatte eine offensichtliche Abneigung gegen dauerhafte Beschäftigungen.
Sie wechselte von einem befristeten Job zum anderen, fast als wäre jeder davon nur ein Vorwand, um zum nächsten zu kommen. Nach diversen seltsamen Jobs in den Staaten hatte sie Englischunterricht in Thailand gegeben und kleine genossenschaftliche Unternehmen in Ghana unterstützt, bevor sie für eine neue Runde Jobs in die USA zurückgekehrt war, von deren Existenz er nicht mal gewusst hatte. Ihr Lebenslauf war ein krasser Gegensatz zu dem, was von der gut betuchten Elite von Harbor City erwartet wurde. Das war es gewesen, was seine Mutter aus dem Konzept gebracht hatte – sie verkörperte das Unerwartete. Vielleicht war es genau das, was er für so etwas Lächerliches wie einen »Persönlichen Puffer« brauchte.
Er legte den Lebenslauf beiseite, und das einzelne Blatt durchbrach die klaren Linien seines ansonsten makellosen Schreibtisches. »Wie sehen Ihre Gehaltsvorstellungen aus?«
Ihre Wangen röteten sich leicht, aber sie hielt den Blickkontakt. »Der andere Mr Carlyle hat mir schon gesagt, was Sie mir in etwa zahlen würden. Zehntausend Dollar für sechs Wochen Arbeit, danach bin ich weg.«
Er lachte – ein rostiges Bellen, das sie die Augen aufreißen ließ. Dass er persönlich fast eine Milliarde Dollar wert war und die Firma etwa hundertmal so viel, spielte in dieser Sache keine Rolle. Er hatte am Anfang seiner Karriere bei CarlyleEnterprises mit Gewerkschaftsbossen verhandelt, die kaum mehr als Mafiaschläger waren, bis ihm schließlich Deals anvertraut wurden, deren Wert das Bruttoinlandsprodukt kleinerer Länder überschritt. Zehntausend Dollar? Das war nicht viel, aber bei einer Verhandlung ging es nie um das Geld an sich, sondern um das Gewinnen. Wenn er das nicht erreichte, geriet seine Vision vom großen Ganzen ins Wanken, und das konnte er nicht zulassen.
Er lehnte sich zurück und verzog die Lippen zu einem herablassenden Lächeln. »Das ist eine Menge Geld.«
»Das hier ist Harbor City.« Ihr energisches Kinn hob sich. »Es ist ein teurer Ort, und wir reden hier von einem 24-Stunden-Job, sieben Tage die Woche – so stand es zumindest in Ihrer Anzeige.«
Sawyer sah das als weiteren Grund, Hudson später eins zu verpassen. »Warum gerade anderthalb Monate?«
»Wegen einer zuvor vereinbarten Verpflichtung«, antwortete sie.
»Wenn ich mir Ihren Lebenslauf so anschaue, könnte es von Golfballtaucherin zur Matratzentesterin alles sein.« Die Vorstellung, wie sie sich in diesem furchtbaren Hosenanzug auf seinem Doppelbett rekelte, ließ seinen Schwanz fröhlich zucken. Wie war sein Gehirn denn jetzt nur darauf gekommen? Weil es nicht dein Gehirn war, du Idiot.
Ihr Lächeln wurde immer breiter, bis sie praktisch Sonnenstrahlen aussandte. »Ich gehe nach Australien.«
»Was ist denn in Australien?« Und warum zum Teufel wollte er das wissen? Wenn er sich weiter ablenken ließ und ihm nichts einfiel, um den Heiratsplänen seiner Mutter zu entgehen, würde er sein Verhandlungsgeschick neu bewerten müssen.
»Vom Aussterben bedrohte Kängurus«, sagte sie, als ob das irgendetwas beantwortete.
Tausend weitere Fragen kamen ihm in den Sinn, aber sich von seinem persönlichen Puffer faszinieren zu lassen, stand nicht auf seiner Agenda. »Fünftausend.«
Ihr Lächeln veränderte sich. Es verdüsterte sich nicht vor Enttäuschung, sondern nahm einen unerwartet gewinnsüchtigen Ausdruck an. »Neuneinhalbtausend.«
Während einer Verhandlung war das Schweigen die beste Waffe, und nun hielt er sie mit der Leichtigkeit jahrelanger Übung in der Hand. Die meisten Leute knickten nach ein, zwei Minuten ein. Die Stille machte sie nervös und ließ die Zweifel in ihrem Kopf lauter werden. Aber erneut bewies Clover, dass sie nicht wie die meisten Leute war. Sie saß aufrecht in dem grauen Sessel vor seinem Schreibtisch, die Hände im Schoß gefaltet und die Beine an den Knöcheln verschränkt. In anderer Kleidung hätte sie wie eine Debütantin gewirkt, die für ein Porträt posierte und dabei die Zuversicht ausstrahlte, schon bald die Weltmacht zu übernehmen.
Clover lehnte sich vor, als ob sie etwas sagen wollte, und Sawyer wusste, dass er sie hatte. Sie würde wahrscheinlich siebentausend anbieten und am Ende würden sie bei fünfeinhalbtausend landen. Kein schlechter Preis für jemanden, der in der Lage war, seine Mutter in Schach zu halten.
»Ich sehe jetzt, dass es sehr aufwendig sein wird, mit Ihnen zu arbeiten. Und nachdem ich Ihre Mutter kennengelernt habe, stellt es eine ernsthafte Herausforderung dar. Zwölftausend.« Einer ihrer Mundwinkel hob sich, und er hatte das ungute Gefühl, in eine Falle getappt zu sein. »Letztes Angebot.«
Was zum …?
Sawyer konnte sich nicht erinnern, wann ihn bei einer Verhandlung jemand das letzte Mal überrascht hatte. Oder ihn besiegt hatte. Er erhöhte den Einsatz, lehnte sich vor und stützte seine Ellbogen auf den Schreibtisch auf. Er würde auf keinen Fall verlieren. Sie musste bluffen. »Sechstausend Dollar. Letztes Angebot.«
Sie stieß ein langes Seufzen aus und erhob sich. »Und jetzt beweisen Sie, dass der Umgang mit Ihnen genauso schwierig ist wie mit Ihrer Mutter. Fünfzehntausend oder Sie gewöhnen sich lieber an langweilige Mittagessen und Gespräche über die neuesten Modetrends.«
Sawyer blinzelte. Und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er keine Idee, wie er in einer Verhandlung reagieren sollte. Vielleicht war sie das Geld ja wirklich wert, wenn sie mit seiner Mutter genauso umsprang, wie sie verhandelte. Sie griff gerade nach ihrer Handtasche, als wollte sie gehen, und er wusste, dass er verloren hatte. »Setzen Sie sich wieder, Ms Lee. Ich denke, wir haben einen Deal.«
»Einverstanden.« Ein selbstgefälliges Lächeln zog ihr die Mundwinkel nach oben, während sie wieder Platz nahm. »Eine Sache noch, ich bin in dieser Sache als selbstständige Unternehmerin tätig und nicht als Angestellte.«
»Warum?«, fragte er, bevor er sich stoppen konnte. Er hatte nach wie vor nicht begriffen, warum er gerade von einer Frau überrumpelt worden war, die von einem albernen Job zum nächsten wanderte.
Ihr unverwandter Blick wanderte nach links, ehe er wieder zu ihm zurücksprang. »Ich fühle mich nicht gern gebunden.«
War das eine Lüge oder einfach nur ehrlich? Es sollte keine Rolle spielen, doch aus irgendeinem Grund tat es das. »Das erklärt Ihren Lebenslauf.«
Trotzig hob sie das Kinn. »Sind meine Pflichten irgendwo schriftlich festgehalten?«
»Noch nicht.« Mit ein paar Klicks hatte er ein neues Dokument geöffnet und zog dann die unter dem Schreibtisch versenkte Tastatur heraus. »Sie müssten natürlich rund um die Uhr verfügbar sein.« Er begann eine Liste zu tippen. Schnell. Effizient. Prägnant. »Wenn Sie nicht als mein Puffer tätig sind, können Sie Amara bei der Arbeit unterstützen.«
»Warum brauchen Sie einen persönlichen Puffer?«, fragte sie, griff nach den Armlehnen des schweren Sessels und zog ihn näher heran, ohne aufzustehen. »Ist Ihre Mutter wirklich so schlimm?«
Seine Finger hielten einen Moment inne und seine Gedanken setzten kurz aus, bevor seine tief verinnerlichte Ausbildung übernahm. Die erste Lektion, die man als Mitglied der Elite von Harbor City lernte, war die, dass man niemals über etwas offen sprach, das auch nur ansatzweise als unangenehm betrachtet werden konnte.
»Nein.« Er tippte weiter Büroaufgaben ein, wie Daten-Back-ups und Terminplanung. »Sie ist wundervoll. Sie ist einfach bloß ein bisschen davon besessen, mich zu verheiraten.«
Warum hatte er das gesagt? Was würde als Nächstes kommen? Dass sein erster Schwarm die Mathenachhilfelehrerin seines Bruders gewesen war?
Clover lehnte sich näher heran, als ob diese Art von persönlichen Informationen das Gleiche wäre, wie sich über das Wetter zu unterhalten. »Und Sie sind nicht so der Typ fürs Heiraten?«
Er zerrte an seinem Krawattenknoten, da er ihm plötzlich enger vorkam als noch vor ein paar Minuten. »Nein. Ich bin eher der Typ zum Arbeiten.« Bei einem erneuten Blick auf ihren Lebenslauf fiel ihm ihre internationale Erfahrung ins Auge. »Sprechen Sie Fremdsprachen?«
Sie nickte und ließ ihre Finger über den Schreibtisch gleiten, als würde sie unbewusst nach etwas suchen, um damit zu spielen. »Ich spreche Spanisch, Französisch, passables Mandarin, passables Thai und Malaiisch.«
Er wurde hellhörig. »Wie das Malaiisch, das in Singapur gesprochen wird?«
»Ja, ich bin erst vor einer Woche zurückgekommen, nachdem ich dort sechs Monate lang Englischunterricht gegeben habe.«
Die Verhandlungen mit Mr Lim über den Deal auf Pulau Ujong, Singapurs größter Insel und Heimat eines Großteils seiner Bevölkerung, waren zum Erliegen gekommen. Jemanden mit ins Boot zu holen, der mit Kultur und Sprache etwas vertrauter war, könnte helfen, doch noch zu einer Vereinbarung zu kommen.
»Ich arbeite gerade am Abschluss eines Deals für drei Hochhäuser in Singapur«, sagte er. »Ihre Kenntnisse könnten sich als wertvoll erweisen, aber vor allem brauche ich Sie für soziale Events und im Büro als Unterstützung für Amara.«
»Kann sie nicht Ihre Mutter wegschicken?«, fragte Clover.
Er schnaubte. »Amara kann so ziemlich alles, aber meine Mutter mäht sie einfach nieder. Mom hat meinen Dad vor Jahren überzeugt, Amara einzustellen, obwohl sie weder eine entsprechende Ausbildung noch Erfahrung hatte, also hat sie bei Amara einen Stein im Brett.«
»Warum können Sie Ihrer Mutter nicht sagen, dass sie Sie in Ruhe lassen soll?«, drängte sie.
Gott. Wie oft hatte er sich das selbst schon gefragt, seit sie mit ihrer Verheiratungskampagne begonnen hatte? Er konnte es schon nicht mehr zählen. Aber um sich gegenüber Helene Carlyle zu behaupten, genügte es nicht, lauter oder sturer zu sein oder sie abblitzen zu lassen. Da sich Mutter und Sohn so ähnlich waren, führte das nur dazu, dass sich beide noch mehr in die Sache verbissen. Um die Willensstärke seiner Mutter zu umgehen, bedurfte es Charme und Finesse, etwas, das Sawyer lediglich in beschränktem Ausmaß besaß, wenn überhaupt. Außerdem war sie seine Mutter, und man musste nicht katholisch sein, um es mit aller Macht vermeiden zu wollen, die eigene Mutter zu enttäuschen.
»Sie haben sie bloß zwei Minuten erlebt.« Er druckte das Dokument aus. Die Liste der Aufgaben würde im Vorzimmer auf Clover warten, sobald sie sein Büro verließ. »Ich kenne sie schon mein ganzes Leben. Wenn sich diese Frau in etwas verbissen hat, braucht es eine Menge, um sie wieder davon abzubringen. Sechs Wochen hört sich vernünftig an.« Er stand auf, weil er Bewegung brauchte, um die unangenehmen Fragen abzuschütteln, die Clover gestellt hatte. »Amara wird Sie in die Personalabteilung begleiten, damit Sie dort alle nötigen Formulare ausfüllen und die Vertraulichkeitsvereinbarung unterzeichnen können.« Ein diskretes Piepsen erklang an seinem Computerbildschirm, und eine Erinnerung an die Gala an diesem Abend poppte auf. »Verdammt.«
»Gibt es ein Problem?«, fragte Clover und spähte um die Seite des Monitors, als wäre das überhaupt nicht aufdringlich.
»Sie müssen mich heute Abend zur Spendengala des HarborCityCentral begleiten.« Nach dem, was heute passiert war, würde er sich seiner Mutter auf keinen Fall allein stellen.
Clover riss die Augen auf. »Heute Abend?«
»Ich hole Sie um sieben ab.« Mit einem unguten Gefühl ging er zur Bürotür und öffnete sie. »Bitte denken Sie daran, Amara Ihre Adresse zu geben.«
Clover ging an ihm vorbei und murmelte etwas, das er nicht verstehen konnte. Er hätte gleich danach die Tür wieder schließen sollen, aber das tat er nicht. Stattdessen beobachtete er, wie sie Amara anstrahlte, und fragte sich, in was ihn Hudson da hineingeritten hatte.
Die Hände in die Hüften gestemmt, den Kopf zur Seite geneigt und auf ihrer Unterlippe herumkauend, bis es schmerzte, starrte Clover in ihren kleinen Kleiderschrank und versuchte darin etwas zu finden, was zu einem Event wie einer Spendengala passen würde. Eine Hütte in einem Katastrophengebiet errichten? Dafür hatte sie etwas anzuziehen. Eine Woche in der Wüste, um an einer Befragung eines einheimischen Stamms zu arbeiten? Ja, dafür hatte sie auch etwas. Eine Party mit den oberen Zehntausend von Harbor City? Das würde ein wenig Kreativität erfordern.
Dafür brauchte sie Daphne. Clover stellte eine schnelle Berechnung an. Ihre beste Freundin war Flugbegleiterin und gerade in Portland. Also war es dort noch recht früh. Sie würde es einfach versuchen. Clover schnappte sich ihr Handy.
Clover: Beste-Freundinnen-SOS!
Daphne: Was ist los?
Clover: Muss zu so einem Spendengalading. Brauche dringend ein passendes Outfit. Was soll ich bloß tragen?
Daphne: 1. Großartig! 2. Hmmmmmmm … Diamanten?
Clover: Sehr witzig.
Daphne: Das liebst du doch an mir. Mein Schrank gehört dir.
Clover: Du bist die Beste.
Daphne: LOL. Sag mir das morgen persönlich, wenn ich wieder in HC bin.
Clover: Xoxo
Daphne: :)
Nach einem kurzen Blick auf die Uhr eilte Clover in Daphnes Zimmer. Seit dem Collegeabschluss teilten sie sich eine Wohnung. Sie schob die hellen und gemusterten Sachen nach hinten und zog eine bordeauxfarbene Zigarettenhose heraus. Okay, sie wog mindestens fünf Kilo mehr als Daphne, aber solange sie den Knopf noch zubekam, hatte sie etwas, auf dem sie aufbauen konnte. Sie drehte sich um und hielt sie vor sich. Ein Blick auf ihr Spiegelbild reichte aus, um sie von diesem Plan abzubringen.
Es sollte keine Rolle spielen. Ihr war egal, was andere Leute über sie dachten, doch es war schwer, sich daran zu erinnern, dass sie nicht mehr das schüchterne Kleinstadtmädchen war, das vor vielen Jahren zum ersten Mal nervös, verängstigt und überfordert die Harbor City University betreten hatte. Glücklicherweise war Daphne ihre Mitbewohnerin gewesen. Ohne sie hätte Clover wahrscheinlich den Schwanz eingezogen und wäre wieder nach Hause zurück, wo sie sich sicher fühlte. Das wäre das Allerschlimmste gewesen. Daphne hatte ihr nicht nur mit dem Spitznamen allein geholfen, zu Clover zu werden.
Sie stellte sich wieder vor Daphnes Schrank und begann erneut die Bügel durchzugehen. Wenn sie bloß ihre Mom für ein kurzes Mutter-Tochter-Beratungsgespräch anrufen könnte. Sie ging sogar so weit, die Hand nach ihrem Handy auszustrecken, zog sie aber zurück, bevor sie es berührte. Nein. Ihre Mutter würde viel zu viele Fragen stellen.
Hast du jemanden kennengelernt, den du magst?
Wann wirst du endlich sesshaft werden?
Was ist mit diesem einen Jungen von dieser einen Reise? Der war doch ganz nett?
Es würde von Anfang bis Ende nur darum gehen, warum Clover so schlechte Lebensentscheidungen traf und warum sie noch keine Kinder hatte, so wie jedes Mal, wenn sie miteinander sprachen. Dafür war sie jetzt absolut nicht in der Stimmung. Ihre Mutter würde ihr mit Sicherheit raten, ein kleines Schwarzes anzuziehen und eine langweilige Perlenkette dazu zu tragen – nichts Fantasievolles, nichts Auffallendes. Wenn Clover eines war, dann das absolute Gegenteil davon. Darum hatte sie Sparksville ja überhaupt verlassen. Und es war genau der Grund, warum sie mit ihrer Mutter überhaupt nicht mehr zurechtkam. Alles, was ihre Mutter wollte, war eine exakte Kopie von sich selbst. Clover hingegen wollte, dass ihr Leben ein Abenteuer war.
Nachdem Clover am anderen Ende der Kleiderstange angekommen war, ging sie die Sachen in der Hoffnung, etwas Umwerfendes übersehen zu haben, erneut durch.
Eine Stunde später war Clovers Bett mit schwarzen, goldenen, pinkfarbenen, weißen und roten Kleidern und Röcken übersät, die sie aus ihrem und Daphnes Schrank gezogen hatte. Sie hatte alle anprobiert. Einige waren zu eng. Andere sahen einfach nicht gut an ihr aus. Sawyer würde jede Minute hier sein, und Clover stand barfuß in der Mitte ihres Zimmers, hatte ihre Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug einen Sport-BH und Daphnes bodenlangen schwarzen Chiffonrock.
Clover drehte sich vor dem Spiegel, um den Rock hochwirbeln zu sehen. Nachdem sie die letzte Stunde damit verbracht hatte, mit der Miene einer zum Tode Verurteilten Kleidung anzuprobieren, musste sie jetzt etwas machen, um sich aufzuheitern. Sie hatte sich halb gedreht, als ihr eine Idee kam.
Sie sprang zu ihrer Kommode, riss die oberste Schublade auf und zog ein mit Pailletten besetztes schwarzes Crop-Top mit Ringerrücken heraus. Nachdem sie sich beim Ausziehen des höllisch engen Sport-BHs fast die Schulter ausgekugelt hatte, zog sie einen ebenso unbequemen bügellosen Büstenhalter an und zog das Top über. Es reichte bis zum unteren Ende ihres Brustkorbs und entblößte eine Handbreit ihrer blassen Haut, bevor der Rock begann. Ein Paar schwarze Riemchen-Stilettos, natürlich Designerimitate, und Chandelier-Ohrringe vervollständigten den Look.
Ein Blick in den Spiegel, und Clovers Anspannung schmolz dahin. Das Outfit passte keineswegs zur feinen Gesellschaft von Harbor City, aber sie tat das genauso wenig – zum Glück. Sie schnappte sich ihr Handy, machte ein Selfie und schickte es an Daphne.
Daphne: OMG JA!!!
Clover: Findest du wirklich?
Daphne: Verdammt, ja! Du siehst umwerfend aus! Schade, dass ich den ganzen Spaß verpasse.
Clover: Ich vermisse dich auch. Morgen quatschen?
Daphne: Und ob. Kaffee und Croissants gehen auf mich.
Clovers Handy vibrierte in ihrer Hand.
Die Nummer, die auf dem Display erschien, war die, die Amara ihr für Sawyer gegeben hatte. Die Nachricht lautete: Jetzt.
Clover:Muss los.
Daphne: Zeig’s ihnen, du siehst heiß aus!
Clover: Xoxo
Clover ließ ihr Handy und ihren Lippenstift in eine kleine Handtasche fallen, während sie, so schnell sie mit den hohen Absätzen konnte, zur Tür eilte. Dort blieb sie kurz stehen, atmete tief durch, richtete sich gerade auf und redete sich zehn Sekunden lang gut zu.
Du musst dort nur deinen Job machen. Lass dich nicht von den ganzen reichen Schnöseln einschüchtern.
Dann öffnete sie die Tür und eilte hinaus in den Abend, wo eine elfenbeinfarbene Limousine vor ihrem Gebäude parkte.
Sawyer ging auf seinem Handy Mails durch, während er auf dem Rücksitz der Limousine wartete. Immer noch keine Antwort von Mr Lim über das optimierte Angebot, das er ihm letzte Woche geschickt hatte. Etwas war nicht in Ordnung – und dass Sawyer das Problem nicht benennen konnte, machte ihn nervös. Deals wie dieser kamen nicht jeden Tag, und Sawyer würde sich diesen hier nicht entgehen lassen. Und er würde tun, was immer dafür nötig war.
»Sir«, sagte sein Chauffeur, »ich glaube, Ihre Verabredung ist da.«
»Sie ist nicht meine Verabredung, Linus. Sie ist …« Er sah aus dem Fenster, und die nächsten Worte blieben ihm im Hals stecken.
Clover stand vor ihrer Haustür und zog mit ihrem Outfit alle Blicke auf sich. Die Pailletten an ihrem schwarzen Oberteil schmiegten sich an ihre Kurven und funkelten im Licht der untergehenden Sonne. Darunter blitzte ein Streifen nackter Haut auf. Der Anblick lenkte seine Aufmerksamkeit dorthin wie ein Traktorstrahl. Der dünne Rock, der von ihrer Taille bis zum Boden reichte, deutete an, was darunter war, als sie die Stufen herunterging. Sie war der Inbegriff von lässigem Sexappeal und verlockendem Versprechen. Selbst ihre Frisur war aufreizend: ein langer goldblonder Pferdeschwanz. Und es juckte ihm in den Fingern, ihn entweder zu lösen oder ihn um seine Hand zu wickeln, während er …
Verdammt, Carlyle. Reiß dich zusammen. Das kannst du vergessen. Sie ist technisch betrachtet zwar nicht deine Angestellte, aber trotzdem tabu. Absolut tabu.
»Ja, sag das mal meinem Schwanz«, murmelte er, während er die Wagentür aufdrückte und ausstieg, gerade als Linus um die Limousine herumging, um die Tür aufzuhalten. Dem Chauffeur war nicht entgangen, dass Sawyer vom eingespielten Vorgehen abgewichen war. Er zog die Augenbrauen hoch, ließ sich jedoch ansonsten nichts anmerken.
Aber es war genug, um Sawyer mit den Zähnen knirschen zu lassen. Er war entschlossen, von dem Abgrund zurückzutreten, an dem er gerade tänzelte.
»Jane …«
Ihr Lächeln verlor etwas an Strahlkraft, als sie die Arme verschränkte und eine Hüfte herausstreckte. Die Bewegung betonte die Fülle ihrer Brüste und die sanfte Kurve ihrer Taille. Er hatte das Gefühl, sein Hirn hätte einen Kurzschluss –und er befürchtete, dass sich dieser Zustand nicht von allein bessern würde, solange er sich fragte, wie sich der Streifen nackter Haut an ihrem Bauch unter seinen Fingern anfühlen würde.
»Clover«, sagte sie.
»Ja, Clover«, wiederholte er im Versuch, die Synapsen seines Gehirns neu zu starten, was in ihrer Nähe viel einfacher gesagt als getan war. »Hätten Sie noch mehr Zeit gebraucht, um sich fertig zu machen?«
Die Worte – offensichtlich ein verzweifeltes Aufbäumen seines Unterbewusstseins – waren ausgesprochen, bevor er sie aufhalten konnte, und hingen nun wie ein halb entleerter Luftballon in der Luft.
»Ich bin fertig«, erwiderte sie in einem Tonfall, der nur wenige Grad wärmer als Eis war. »Warum? Stimmt etwas mit meinem Outfit nicht?«
»Ja. Nein. Es ist …« Verdammt sexy. »Anders.«
Sie hob ihr Kinn. »Genau wie ich.«
»Das ist nicht gerade das richtige Event, um anders zu sein.« Halt die Klappe, Carlyle. Halt einfach die Klappe.
Ihre braunen Augen wurden zu Schlitzen, sie wirbelte herum, was ihm eine perfekte Aussicht auf den Rock bot, der sich an ihren Hintern schmiegte – was er gar nicht bemerken sollte –, und marschierte geradewegs zurück zu ihrer Haustür. Er hatte diese Sache bereits genug vergeigt. Jeder wusste, dass er nicht der Charmeur der Familie war, dieser Titel gehörte Hudson. Sawyer war der Mistkerl der Familie, und er hatte es gerade bewiesen, indem er sich wie ein Idiot aufgeführt hatte.
Er eilte ihr nach und berührte ihren Ellbogen, ehe sie noch weiter gehen konnte. Dabei gab er sein Bestes, den elektrischen Schlag zu ignorieren, der direkt in seinen Schwanz fuhr. »Bitte nicht.«
Sie riss ihren Arm los und sah ihn an. In ihrem Blick lag lodernde Wut und darunter etwas, das so wirkte, als fühle sie sich aufrichtig gekränkt. »Unter einer Bedingung.«
»Und welche?« Solange sie nicht wollte, dass er sich öffentlich zum Affen machte, war er mit an Bord.
»Beschweren Sie sich nicht über das, was ich anhabe«, sagte sie angespannt und mit ein wenig höherer Stimme als normal. »Leute wie ich, die hauptsächlich Aushilfsjobs machen, haben normalerweise keinen Schrank voller Ballkleider.«
Du bist so ein privilegiertes Arschloch, Carlyle. All die Details, die er zuvor übersehen hatte, kamen ihm jetzt in den Sinn. Der nervöse Pulsschlag an ihrem Hals. Ihre leicht geschwollene Unterlippe, als hätte sie darauf herumgekaut. Die Art, wie sie an dem Rock herumgezupft hatte, als sei sie nicht daran gewöhnt, ihn zu tragen, oder sich nicht ganz wohl darin fühlte. Der ganze atemberaubende Look hatte ihn so geblendet, dass er wie gewöhnlich die Einzelheiten und kleinen Ticks übersehen hatte, die ihm die Emotionen, die darunter brodelten, hätten verraten können.
Nach dem unerwarteten Tod seines Vaters hatte er dieses gewaltige Defizit ausgeglichen, indem er im Umgang mit seiner Mutter besonders vorsichtig gewesen und jeder Konfrontation mit ihr aus dem Weg gegangen war. Das war es, was ihn überhaupt erst in die Lage gebracht hatte, einen persönlichen Puffer zu benötigen. Es musste ein Mittelmaß geben, aber er hatte einfach keine Ahnung, wie es aussah.
»Sie haben recht«, sagte er und meinte jedes einzelne Wort auch so. »Es tut mir leid.«
Sie nahm seine Entschuldigung mit einem steifen Nicken an und marschierte an ihm vorbei zu Linus, der ihr die Wagentür aufhielt. »Sollen wir dann los?«
Ohne auf seine Antwort zu warten, setzte sie sich auf die Rückbank der Limousine. Er folgte ihr und ignorierte den eindeutig enttäuschten Blick von Linus, der selbst ihm nicht entging. Der Chauffeur kannte ihn von klein auf und hatte ihn quasi auf dem Rücksitz des Wagens seines Vaters aufwachsen sehen, wenn Sawyer ihn wieder dazu überredet hatte, ihn mit ins Büro zu nehmen. Sein Vater hatte des Öfteren gesagt, dass es Linus war, der ihn immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt hatte. Linus hingegen erklärte es so, dass er einfach wusste, wann man lächeln und nicken musste.
Die Tür schloss sich hinter Sawyer, und er fand sich Knie an Knie mit Clover wieder. Er hatte das dringende Bedürfnis, etwas zu sagen – egal was –, aber wieder mal entsagte sich ihm der Carlyle-Charme, also hielt er den Mund und beließ es den ganzen Weg zum Grand Hotel dabei.
Hudson war jetzt irgendwo da draußen und lachte sich kaputt. Und seine Mutter? Gott, er konnte ihre Reaktion kaum erwarten, wenn sie Clover an seinem Arm sah.
Tatsächlich war Clovers erste Spendengala ziemlich enttäuschend. Die Frauen waren nicht von Kopf bis Fuß in Diamanten und Pelze gehüllt – das würde man hier wahrscheinlich als Fauxpas ansehen –, und die Männer in Smokings wirkten nicht wie Spione, die ihren Martini geschüttelt, nicht gerührt mochten, sondern eher wie kahl werdende Banker. Alle waren total höflich und absolut nicht daran interessiert, mit ihr zu reden, nachdem es die Runde gemacht hatte, dass sie nicht zu den East-Upton-Lees gehörte, die die größten Erdölraffinerien des Landes ihr Eigen nannten, sondern nur zu den gewöhnlichen Lees aus dem kleinen Nest Sparksville.
Selbst Helene blieb auf Abstand und hielt Hof am anderen Ende des riesigen Ballsaals, umgeben von einem Trio offensichtlicher Brautkandidatinnen, die ihren Blick nicht von Sawyer abwenden konnten. Nicht dass er das zu bemerken schien. Nein. Er hatte die letzte Stunde entweder damit verbracht, unglaublich attraktiv in seinem Smoking auszusehen, während er sie sexy-finster anstarrte (das war offenbar sein Ding), oder am Handy, wo er mit jemandem übers Geschäft sprach. Es war nicht fair. Niemand sollte so verführerisch und gleichzeitig so nervig sein. Nicht dass es eine Rolle spielte. Sie war als Sawyers Puffer hier, nicht als sein Date. Es war wohl am besten – wenn auch nicht gerade leicht –, sich daran zu erinnern, obwohl er wie 007 aussah.
Noch schlimmer war die Tatsache, dass sie gerade vollkommen überflüssig war, also langweilte sie sich schrecklich. Außerdem schmerzten ihre Füße in den geliehenen High Heels. Sie verlagerte ihr Gewicht, befreite einen Fuß aus seinem engen Gefängnis und streckte im Schutz ihres langen Rocks die Zehen aus. Ihr Fuß war darüber so froh, dass er fast ein Halleluja angestimmt hätte.
Natürlich tauchte genau in diesem Augenblick ein Mann an ihrer Seite auf. Sie erschrak und begann auf dem einen Fuß, der noch in einem Schuh steckte, zu wackeln.
Seine Hand schoss hervor, um sie zu stützen, ließ sie allerdings sofort danach wieder los. »Sie müssen es nicht bestätigen, aber lassen Sie mich raten«, sagte er, während er sich verschwörerisch an sie heranlehnte. »Ihr Date läuft nicht so toll.«
»Es ist kein Date.« Die Wahrheit kam heraus, bevor sie es sich besser überlegt hatte. Seufz. Wann würde sie endlich lernen, den Mund zu halten? Sawyer war im Auto so schweigsam gewesen, dass sie gar nicht wusste, welche Geschichte, wenn überhaupt, sie erzählen sollte.