Heidegier - Angela L. Forster - E-Book
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Heidegier E-Book

Angela L. Forster

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Beschreibung

Wenn sich Vergangenheit und Gegenwart die Hand geben …

Als der Mittelaltermarkt in Soltau seine Türen öffnet, wird die malerische Lüneburger Heide zum Schauplatz eines düsteren Verbrechens. Ritter Percival liegt kurz vor dem Turnier tot in seinem Zelt, durchbohrt von einer Lanze. Im Schatten der kulinarischen Köstlichkeiten und Darbietungen geschah die Tat vollkommen unbemerkt. Für Hauptkommissarin Inka Brandt und ihr Team stellt sich die Frage nach Wahrheit und Täuschung, als die Wahrsagerin Cassandra dunkle Prophezeiungen für den Markt ausspricht. Doch noch bevor Inka weiter in die Welt der mystischen Offenbarungen eintauchen kann, wird auch Cassandra in ihrem Wohnwagen ermordet. Hinter hölzernen Marktständen und in festlich geschmückten Zelten scheint jeder Händler, Gaukler und Besucher ein Motiv zu haben.

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Seitenzahl: 381

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2025 Niemeyer Buchverlage GmbH, Osterstraße 19, 31785 [email protected] Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von Adobe StockEPub-Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8720-8

Angela L. ForsterHeidegier

Für Richard– Tempus fugit, amor manet –Die Zeit vergeht, die Liebe bleibt

Prolog

Die Sonne stand hoch am Himmel, als an diesem Septembertag der Mittelaltermarkt in Soltau seine Tore öffnete. Ein verlockender Geruch von gebratenem Fleisch und frisch gebackenem Brot lag in der Luft.

Die Menschen, die aus der Umgebung und aus fernen Städten angereist waren, um an dem bunten Treiben teilzunehmen, waren in Feierstimmung. Bierkrüge klirrten und stießen schäumend aneinander, während sich die Menschen fröhlich zuprosteten. Die Klänge mittelalterlicher Musik von Flöten, Leiern und Fideln mischten sich mit dem Lachen der Gaukler, die in bunten Kostümen fesselnde Darbietungen vollführten.

Niemand konnte erahnen, dass sich in diesem Moment in dem Zelt des Ritters Percival ein grausamer Mord ereignete.

Niemand außer einer Person, die durch einen schmalen Spalt am hinteren Ende des Zeltes blickte.

Kapitel 1

Hauptkommissarin Inka Brandt zog die Haustür der Einliegerwohnung ins Schloss, die sie auf dem Sundermöhrenhof ihrer Schwester Hanna und ihrem Schwager Tim in Undeloh bewohnte.

Sie schnappte sich den Schulranzen ihrer siebenjährigen Tochter Paula und legte ihn auf der Rückbank neben den Kindersitz. Sie schnallte die Kleine an und sah noch einmal auf ihr Handy. Warum antwortete Sebastian nicht? Sie hatten vereinbart, dass er sie sofort anrief, sobald er in seiner Praxis angekommen war, um ihr mitzuteilen, ob seine Sekretärin ihren Wagen nun verkaufen wollte. Schlecht gelaunt setzte sie sich in den Mietwagen. Wenn noch weitere Tage vergingen, wo sie die Kosten für den geliehenen Wagen tragen musste, dann musste sie vielleicht sogar zur Bank gehen und einen Kredit aufnehmen.

„Hallo Inka“, rief ihr Schwager Tim über den Hof, während er dabei war, Linus und Lennard in seinen Van zu scheuchen, um sie in die Schule nach Schneverdingen zu bringen. Er winkte ihr lächelnd zu.

Sie erwiderte den Gruß auf dieselbe Weise. Hoffentlich würde er jetzt nicht auch noch zu ihr herüberkommen. Das Letzte, was sie an diesem Morgen gebrauchen konnte, waren Tims überflüssige Kommentare über ihre Arbeit bei der Polizei, die er als unnötig betrachtete, da es für Inka auf dem Hof genügend Arbeit gäbe.

Inka schnallte sich an und startete den Motor. Praktisch war der Wagen ohne Schlüssel ja, der nur mit einem Key zu öffnen und einem Startknopf zu bedienen war. Doch diesen schmucken Geländewagen, der drei ihrer Jahresgehälter überstieg, konnte sie sich niemals leisten.

Über das Kopfsteinpflaster der Heimbucher Straße und vorbei an der kleinen Kapelle lenkte Inka ihren Wagen auf die Wilseder Straße, um Richtung Hanstedt zu kommen. In Hanstedt besuchte Paula seit der Einschulung im August die erste Klasse, in der die Lehrerin erlaubte, dass sie ihre Bob-der-Baumeister-Puppe mitbringen durfte. Diese musste allerdings neben den anderen von den Mitschülern mitgebrachten Gegenständen wie Schnuffeltüchern, Bildern, Spielzeugautos oder Plüschtieren während des Unterrichts auf der Fensterbank ausharren. Inka war erleichtert, dass die Lehrerin diese angemessene Lösung für viele der Kinder und der Eltern gefunden hatte. Inzwischen war Paula der Meinung, dass Bob nicht jeden Tag in die Schule mitzukommen brauchte, da es ihm zu langweilig wäre, immer auf der Fensterbank zu sitzen.

Als Inka ihre Tochter an der Schule abgesetzt hatte, klingelte ihr Handy. Sie sah auf dem Display Sebastians Lächeln. Die Freisprechanlage sprang an.

„Inka. Guten Morgen. Mein Anruf kommt etwas später, da meine neue Sekretärin das Handtuch geschmissen hat. Sie meinte, dass sie in einer Psychopraxis doch nicht arbeiten könne. Sie würde bei den Problemen der Patienten ja auf kurz oder lang selber plemplem werden.“

„Und nun? Was machst du jetzt?“

„Weitersuchen, was sonst. Es kann ja nicht sein, dass ich keine Sekretärin finde, die bei mir arbeiten möchte“, sagte Sebastian.

„Habt ihr noch einmal über den Wagen gesprochen?“

„Ja. Sie will ihn weiter fahren. Schließlich hat sie keine Arbeit mehr.“

„Ihre Schuld. Scheiße. Entschuldige. Es ist nur so, dass ich mir den Mietwagen nicht mehr lange leisten kann“, antwortete Inka.

„Dein alter Wagen ist nicht mehr zu retten?“

„Nein. Der Mechaniker meint, es lohnt sich nicht. Für die Kosten, die auf mich zukommen würden, bekäme ich bereits einen guten Gebrauchten.“

„Verstehe. Ich höre mich um. Aber wie sieht es aus, in Soltau hat seit gestern der Mittelaltermarkt geöffnet. Hättest du Lust, mit Paula und mir einen Bummel in die Vergangenheit zu unternehmen?“

„Ja, ich liebe den Markt. Hanna hat mir schon erzählt, dass er aufgebaut wurde.“ Hanna war mit vierunddreißig Jahren Inkas acht Jahre jüngere Schwester und seit zwölf Jahren mit Tim Sundermöhren verheiratet. Als ihre Eltern vor sechs Jahren beschlossen, mit einem Wohnmobil durch die Welt zu reisen, übernahmen Hanna und Tim den Bauernhof. In den Jahren hatten sie ihn zu einem Biohof mit Hofladen, Rindern, Schweinen und Hühnern, den Hausgänsen Gloria und Gustav sowie einer kleinen Gemüseanlage umgebaut. Weiter waren acht Ferienzimmer und drei Familienwohnungen entstanden, die alle über das Jahr hinweg ausgebucht waren. Die Gäste kamen zu jeder Jahreszeit auf den Heidehof, was sicherlich auch an dem Rundum-sorglos-Paket lag, das Tim und Hanna für ihre Feriengäste täglich schnürten.

Ob Tim die Touristen an seiner Arbeit in der biologischen Landwirtschaft teilhaben ließ, indem er ihnen die Vorteile seiner leidenschaftlichen Arbeit erklärte, oder vorführte, wie er den Schweinen Märchengeschichten vorlas und sie mit Klaviermusik von Bach, Mozart und Beethoven verwöhnte. Selbst die Herstellung der Fleischwaren, die im hofeigenen Lädchen erworben werden konnten, von der Tieraufzucht bis zur Schlachtung, fand bei den Gästen großes Interesse. Hanna verwöhnte die Feriengäste in der Mittagszeit mit Eintöpfen und selbst gebackenem Brot. Selten blieb in der gemütlichen Bauernküche ein Platz am Mittagstisch unbesetzt.

Vor drei Jahren hatte Gisbert Sommer, ein Hobby-Ornithologe und Kochbuchverleger aus Würzburg, der den in der Heide seltenen Wachtelpelzstelzer beobachten wollte, ein Ferienzimmer auf dem Hof gebucht. Nachdem er Hannas Suppen und Eintöpfe probiert hatte, die sie nach den Rezepten ihrer Großmütter kochte, war er nicht mehr zu halten gewesen. Bis zu seiner Abreise bemühte er sich, Hanna davon zu überzeugen, mit ihm einen Vertrag über ein Heidekochbuch abzuschließen. Hanna sträubte sich vehement. Sie hätte genug Arbeit mit dem Hof, den Ferienzimmern, dem Hofladen und den Kindern. Erst nach langem Zögern erklärte sich Hanna bereit, einige überlieferte Rezepte preiszugeben.

Seitdem waren Hannas Geheime Verführungen aus dem Sommer-Verlag nicht mehr wegzudenken. Kaum einer der Feriengäste trat ohne ein Kochbuch die Heimreise an.

Hannas Geheime Verführungen – der Titel passt zu einem Liebesschmöker, war Inka herausgerutscht. Eine Woche hatte sie das Schmollen ihrer Schwester ertragen müssen.

„Ein Bummel über den Markt macht Paula bestimmt Spaß“, sagte sie, doch war mit den Gedanken bei ihren Finanzen für ein neues Auto. „Bis später, Sebastian.“

Nach zehn Minuten rollte Inka den Wagen auf den Parkplatz vor das Hanstedter Rathausgebäude, in dem auch die Büros der Mordkommission untergebracht waren.

„Mark, du bist schon da. Guten Morgen.“ Inka kippte das Fenster. „Das riecht verdächtig nach Zimt.“ Mark war seit Schulzeiten Inkas bester Freund und Kollege, den ein Zimthauch umgab, den er wie eine Schleppe hinter sich herzog. Sie wusste immer, in welchem Raum er sich aufgehalten hatte, obwohl er den längst verlassen hatte. Keksfabrik Freese & Söhne – eine traditionsreiche Familie, in der er bei seinen Eltern sporadisch aushalf und mit kreativem Gespür neue Gebäcksorten entwickelte.

„Wir gehen auf Weihnachten zu, und da dürfen unsere beliebten Zimtwaffeln nicht fehlen. Mein Vater hat sie dieses Jahr mit Orangengelee gefüllt. Ich denke ja, dass das zwei zu starke Aromen sind, die nicht harmonieren, aber ihm schmecken sie. Die Mürbekringel freuen sich auf die Meinung der Tester, bevor sie endgültig in die Produktion gehen.“ Mark wies auf zwei geöffnete Kartons, die neben dem Kühlschrank standen und aus denen Berge von transparenten Tüten herauslugten.

„Dann sieh zu, dass du sie loskriegst, ich halte diesen Geruch nicht lange aus.“ Inka hatte gerade ausgesprochen, als die ersten Kollegen an die Bürotür klopften. Doch bevor Mark die Kekstüten verteilen konnte, schob sich Frauke zwischen den Kollegen vorbei ins Büro.

„Ich muss unterbrechen, Mark“, sagte die in grellgelbe Leggins und neongrünen Pullover gekleidete Kollegin aus der Zentrale. „In Soltau gibt es einen Toten.“

„Soltau? Das ist nicht unser Zuständigkeitsgebiet“, antwortete Mark, während er zwei Kollegen der Streife Kekstüten in die Hand drückte.

„Jetzt aber schon, der Tote heißt Oliver Stiegler, ist ein Versicherungsdetektiv und wohnhaft in Hanstedt, der für die Versicherung Schutz & Sicherheit gearbeitet hat. Die Firma ist ebenfalls in Hanstedt ansässig.“

„Wo finden wir ihn in Soltau?“, fragte Inka, während sie ihre Jacke wieder anzog.

„Auf dem Mittelaltermarkt. Er liegt in seinem Zelt. Er ist der Ritter Percival. Kurz bevor er heute Morgen zu seinem Turnier antreten sollte, ist er ermordet worden“, erklärte Frauke.

„Na, klasse“, stöhnte Inka auf. „Wer hat ihn gefunden?“

„Ritter Odin.“

„Odin, der Göttervater. Er ist die wichtigste Gestalt des germanischen Götterhimmels und zugleich die komplexeste Figur in der nordischen Mythologie“, brillierte Mark geschichtlich.

„Oder so, Mark, aber hier ist Ritter Odin der Turnierleiter, der mit bürgerlichem Namen Ingels heißt. Moment.“ Frauke sah auf ihren Zettel. „Knut Ingels. Ich teste auch gerne“, sagte die Achtundzwanzigjährige. Sie nickte in die Kartons, in denen die Tüten verschwindend schnell weniger wurden.

„Sicher, nur zu. Bedient euch alle selbst, aber ich brauche eure Meinung bis spätestens Montag“, rief Hauptkommissar Mark Freese den Kollegen zu, als er mit Inka das Büro verließ.

Kapitel 2

„Was für ein Spektakel“, sagte Mark, als er mit Inka den Mittelaltermarkt in Soltau betrat.

Inka lachte. „Mir unverständlich, warum du so jammerst. Du bist doch der Geschichtsfreak unter uns.“

„Ja, solange es um reale Fakten geht, aber nicht dieser Humbug von Schwertschluckern und die Schwarzmalerei von Wahrsagern.“ Mark wich einem Gaukler aus, der mit brennenden Stöcken jonglierte. „Das Mittelalter war dunkel, rückständig und grausam. Am untersten Rand standen die Bauern, die meist nicht mehr zu essen hatten als ihre Schweine und immer in geflickten Lumpen herumliefen. Aber dieser Markt ist aufgebaut wie ein Jahrmarkt. Was noch fehlt, sind das Kinderkarussell, die Gokart-Bahn und die Zuckerwatte“, sagte er, während er zwischen den vielen Ständen, die Handwerkskunst feilboten, hindurchging. Er warf einen schnellen Blick auf das Spanferkel, das auf einem Spieß, der mit einer eisernen Kurbel verbunden war, über dem offenen Feuer von einem Mann gedreht wurde.

„Ich mag Zuckerwatte“, bemerkte Inka. „Wo ist denn nun der tote Ritter?“

Mark zeigte auf ein weißes Zelt, das mit einem riesigen Wappen beiderseits bemalt war – ein zitronengelber Adler, der auf einem silberfarbenen Pferd ritt. „Ich denke, da hinten. Wusstest du, Inka, dass es bei Rittern im Kampf oft um Leben und Tod ging?“ Mark setzte, ohne auf Antwort zu warten, seine Ausführungen fort: „Sie waren der Kriegerstand des Mittelalters, verteidigten das Land ihrer Lehnsherren und zogen aus, um Länder zu erobern. Für sie war der Krieg Beruf und Berufung zugleich. Wenn es keinen Krieg gab, suchten sie das Abenteuer auf dem Turnierplatz, im Wald oder auf dem Feld. Gekämpft wurde mit scharfen Waffen, nicht nur um Ruhm und Ehre, und es gab reichlich Tote und Schwerverletzte. Natürlich haben sie auch um das Lob der Frauen gekämpft. Belohnt wurden sie mit Anteilen am Preisgeld. Leider haben die Kriege und die Fehden den Ritterstand deutlich dezimiert, sodass viele Witwen und Waisen mittellos zurückblieben.“

„Hier wurde auch dezimiert, du Geschichtsgenie“, resümierte Inka. „Und das Burgfräulein wird heute alleine nach Hause gehen. Aber, weißt du, Mark, glücklicherweise geht es auf den Märkten heutzutage nicht um die historische Genauigkeit, sondern vielmehr darum, ein paar Stunden in eine andere Welt einzutauchen. Ein Mittelalter, das für uns immer noch durch die Geschichten, die Kirchen und Burgen präsent ist. Und ich finde es spannend, dies alles, wenn auch nicht unbedingt originalgetreu, zu erleben.“

„Hm“, machte Mark, während er auf einen Pulk Menschen zusteuerte, die sich hinter das blau-weiße Flatterband drängten. Er hielt einer Streifenbeamtin seinen Ausweis vor und schlüpfte mit Inka unter dem Band hindurch.

Inka nickte Oberkommissar Jacob Amselfeld zu, der vor dem Eingang stand, und trat in das Zelt. Mittig lag rücklings ausgestreckt ein Mann auf dem Sandboden, in seinem Brustkorb steckte eine Lanze. Ein Luftzug wehte auf und ließ die Lanzenfahne am Stabanfang kurz aufflattern, bevor sie wieder in sich zusammenfiel. Inka schätzte den Mann auf Mitte dreißig. Auf einem hölzernen Tisch, gerade groß genug für einen Teller und ein Glas, lag ein eiserner Helm, der mit aufwendigen Silber- und Goldlegierungen verziert war.

„Grüß dich, Terry“, sagte Inka. Teresa Hansen, die Stader Rechtsmedizinerin, saß in der Hocke neben dem Toten und sah kurz hoch.

Teresa, Inka und Mark kannten sich seit Schulzeiten. Sie besuchten zusammen das Hanstedter Gymnasium und absolvierten das Abitur. Teresa beschritt den Weg in die Medizin, Inka bewarb sich bei der Polizei, und Mark studierte Betriebswirtschaft und arbeitete in der elterlichen Keksfabrik, bevor er Inka ein paar Jahre später zur Polizei folgte. Inzwischen entwickelte er nebenberuflich mit seinen Eltern jahreszeitliche Kekskreationen.

„Hast du schon etwas für uns?“, fragte Inka, während sie Fridolin und seinem Team der Spurensicherung auswich, die Schildchen aufstellten und mit der Spurensuche rund um Ritter Percival begonnen hatten.

„Nur, was ihr selber sehen könnt. Er ist mausetot, und das noch gar nicht so lange. Ich orakele, so knapp eine Stunde, also gegen neun Uhr. Die Todesursache ist diese zweieinhalb Meter lange hölzerne Lanze, die ihn mitten ins Herz getroffen hat. Normalerweise sind die Lanzen an der Spitze stumpf und haben Sollbruchstellen, um bei Aufprall zu brechen. Schon im Mittelalter ging es darum, den Gegner bei den Schaukämpfen nicht zu verletzen, sondern ihn nur aus dem Sattel zu heben. Leider erfüllte nicht jede Rüstung im Zweikampf ihre Schutzfunktion. Die Schaukämpfe wurden zu großen gesellschaftlichen Ereignissen für alle Stände, vom König bis zum Bauern, bei denen es um Ruhm und Ehre, vielleicht sogar um die Liebste zu beeindrucken und Preisgeld zu erhalten, ging. Zogen die Ritter in den Krieg oder zu einer Fehde, dann ging es oft um Leben oder Tod, und dann waren die Spitzen der Lanzen aus Metall.“

Inka warf Mark einen schmunzelnden Blick zu, aber kommentierte Teresa Hansens geschichtliche Erklärung nicht, sondern sagte: „Du willst uns mit deiner geschichtlichen Ausführung sagen, Terry, dass diese Lanze keine Sollbruchstelle hat. Richtig?“

„Ganz genau. Diese Spitze ist aus Metall und so scharf, dass sie mühelos die dicke Weste …“

„Die Weste ist ein Gambeson mit den Wappenfarben von Percival, ein mit Wolle und Stoff gefütterter Unterrock, der unter dem Harnisch oder dem Kettenhemd getragen wird“, mischte sich ein Mittfünfziger ein, der in der Ecke des Zeltes auf einem Holzstuhl saß.

„Wer sind Sie?“, fragte Inka den Mann, den sie erst jetzt wahrnahm.

„Ritter Odin, also eigentlich Knut Ingels, der Turnierleiter. Ich habe Oliver, Ritter Percival, gefunden“, gab er Auskunft. Odin trug eine tannengrüne knielange Tunika, die mit aufwendiger silberfarbener Zierstickerei an den Kantensäumen versehen und ab Hüfthöhe wie ein Rock ausgestellt war. Ein ellenbreiter brauner Fellkragen lag über dem Obergewand, von dem Inka hoffte, dass Webpelz verarbeitet worden war. An einem schmalen Ledergürtel, der zweimal um seine füllige Taille geschlungen war, hing die ebenfalls aus Leder gefertigte und goldfarben verzierte Schwerthalterung. Inkas Blick fiel auf seine Beine, die in sandfarbenes Leinen gewickelt waren und in absatzlosen ockerfarbenen Lederschuhen steckten, die aussahen, als wären sie tatsächlich ein mittelalterliches Überbleibsel. „Ich wollte ihn zum Turnier abholen, er war spät dran“, sagte Odin.

„Verstehe. Wer war sein Turniergegner?“, fragte sie Ritter Odin.

„Ritter Cedric und Ritter Percival waren die ersten Reiter am Vormittag. Aber jetzt …“

„Wie viele Ritter sollten gegeneinander antreten?“

„Sechs waren angemeldet und sind auch angekommen. Ritter Cedric, Ritter Percival, Ritter Maquard von Salzberg, Ritter Harthum, Ritter Ingebrandus und Ritter Gamrath von Pinzenau.“

„Gab es eine Siegprämie?“, wollte Mark wissen.

Knut Ingels nickte. „Ja, natürlich. Die Ritterturniere damals waren gleichzusehen wie heute ein Fußballspiel. Ein großes Kräftemessen, bei dem die Ritter ihren Mut und ihre Kühnheit bewiesen. Wer den Kampf verlor, musste Lösegeld bezahlen. Der Ritter war der Inbegriff des mittelalterlichen Helden. Der Held in Eisen oder auch Pferdeherr, wie er genannt wurde. Mutig und allzeit bereit, sein Leben für höhere Ziele aufs Spiel zu setzen. Für Jahrhunderte bestimmte der Kampf Mann gegen Mann das Kriegsgeschehen. Doch auf den heutigen Mittelaltermärkten ist der Kampf mehr der Spaß an der Freud. Diesmal erhält der Gewinner ein Abendessen mit Prinzessin Kira, Kira Wedelski, sie ist die Tochter des Marktveranstalters, und es ist ein Preisgeld in der Höhe von eintausend Euro angesetzt“, sagte er.

„Diese Kira Wedelski, ist sie beliebt bei den Rittern?“

„Schon, ja. Sie ist zwanzig Jahre, Single und ein hübsches Mädchen. Der ein oder andere Ritter könnte sich eine Bekanntschaft mit ihr vorstellen. Wobei der jüngste Ritter mit vierundzwanzig sicherlich mehr Chancen hätte, gehen wir von mehr als einem Abendessen aus. Viele der Ritter sind verheiratet und meist über dreißig Jahre alt.“

„Wer ist der jüngste Ritter?“, fragte nun Inka.

„Ritter Ingebrandus, mit bürgerlichem Namen Falk Mengert. Es ist erst sein zweites Turnier.“

„Ist es nur ein einziger Kampf, den die Ritter bestehen müssen, um den Sieg zu erhalten?“

„Nein, da liegen Sie falsch, Frau Kommissarin. Jeder Ritter hat seinen Turniergegner, und die Sieger kämpfen immer noch einmal gegeneinander, bis nur noch ein Gewinner übrig bleibt. Wobei sie nicht nur gegeneinander kämpfen, sondern auch in der Turnier-Disziplin den Roland besiegen müssen, eine mit Sand oder Steinen gefüllte halbe Puppe mit Schild. Der Reiter reitet und muss das Schild treffen, ohne selbst von der sich drehenden Puppe erfasst zu werden. Dieses Jahr haben wir noch eine dritte Disziplin hinzugefügt. Ein Reiter zieht einen gefüllten Strohsack hinter sich her, während ein anderer Ritter den Sack mit seiner Lanze aufspießen muss. Erst, wer bei allen Disziplinen als Sieger hervorgegangen ist, der darf das Preisgeld und die Beute sein Eigen nennen.“

„Mit Beute meinen Sie, die Tochter des Veranstalters zum Abendessen auszuführen.“ Eine Frau als Beute zu bezeichnen, dachte Inka, das ist wirklich mittelalterlich. „Ritter Cedric hat sicher auch einen bürgerlichen Namen, oder?“

„Natürlich. Hans von Bahlow. Wir, also der Veranstalter, haben ihn eingeladen, damit er mit seinen Pferden am Wochenende dabei sein kann. Sicher kennen Sie das Gestüt der Bahlows.“

„Ich habe von ihnen gehört, ja. Aber ich hörte auch, dass das Gestüt abgebrannt und die Besitzer im Feuer umgekommen seien.“

„Nicht das Gestüt, sondern der Gutshof, Frau Kommissarin. Ja, es war ein schreckliches Unglück. Hans’ Eltern fanden in den Flammen den Tod. Beide waren angesehene Bürger der Stadt Soltau, im Grunde der ganzen Lüneburger Heide. Sie haben sich sozial engagiert. Elisabeth von Bahlow, Hans’ Mutter, war im Altersheim aktiv, organisierte Spendenaufrufe für Kindergarten und Hospiz. Ullrich von Bahlow, ihr Mann, war politisch eingespannt und unterstützte seine Frau in vielen ihrer auswärtigen Engagements. Dann kam der Brand. Früher war es ja, wie ich sagte, noch kein Gestüt, sondern ein Gutshof mit Landwirtschaft. Erst nachdem vor gut fünf Jahren der Hof abgebrannt war, hat Hans ihn als Gestüt um- und aufgebaut.“

„Herr Ingels, können Sie uns sagen, warum Herr Stiegler, Ritter Percival, wenn er zeitnah zum Turnier antreten sollte, noch nicht angezogen war?“ Inka wies auf die Rüstung, die am Tischbein lehnte.

„Ach, Sie meinen, warum er den Harnisch noch nicht trägt. Ja, das ist mir auch unerklärlich“, sagte Ingels. „Er hätte in fünf Minuten auf seinem Pferd sitzen sollen.“

„Hatte Herr Stiegler, Ritter Percival, keine Hilfe, um das eiserne Teil anzuziehen? Ich stelle es mir sehr schwer vor, so ganz allein in dieses Kostüm zu steigen.“

„Es ist ein Harnisch, Frau Kommissarin, kein Kostüm. Und ja, er hat einen Knappen, wie es auch zu früheren Zeiten üblich war. Allerdings hab ich keine Ahnung, wo der Bengel steckt.“

„Wir brauchen den Namen.“

„Justus Kleidrich. Er ist mit Elvira, seiner Mutter, auf dem Markt angemeldet. Sie backt Brot aus alten Getreidesorten. Vielleicht finden Sie ihn vier Stände weiter auf der linken Seite am Ofenstand. Aber Sie glauben doch nicht, dass … Nein, der Justus ist sechzehn Jahre alt. Ich kenne ihn schon, da war er …“, Ritter Odin hielt seine Hand in Kniehöhe, „… gerade aus der Windel heraus. Er ist ein anständiger Junge. Er will Mediziner werden. Niemals würde er … nein, sicher nicht“, wiederholte Ingels.

Inka nickte zu Kollege Amselfeld, der den Wink verstand und das Zelt verließ. „Herr Ingels“, wandte sich Inka zurück an den Ritter. „Gehören die Rüstungen den Rittern, oder sind es Kostümleihgaben?“

„Die Harnische gehören den Rittern. Sie kosten heute wie damals kleine Vermögen und werden in dieser Ausführung nicht verliehen, wenn, dann sind es billige Nachbildungen. Aber das kommt bei unseren Turnieren nicht infrage. Wir wollen so authentisch wie möglich bleiben.“

Mark sah von seinem Notizblock auf. Sein Blick wanderte zu einem bodenlangen schwarzen Kapuzenumhang, auf dem ein silberfarbenes Kreuz aufgestickt war. „Teresa, ich sehe kein Blut.“

„Der dicke Wollstoff wird es aufgesaugt haben“, erklärte die Rechtsmedizinerin.

„Noch einmal zurück zur Lanze, Herr Ingels. Wie wir von unserer Rechtsmedizinerin Frau Doktor Hansen erfahren haben, sind alle Lanzen für das Turnier mit einer Sollbruchstelle versehen. Diese hier …“ Inka zeigte auf den hölzernen, an einem Ende mit signalroten Federn verzierten Stab, den Fridolin in einige transparente Beweistüten verpackte, um die Länge unterzubringen, „… diese hier hat eine metallene Spitze.“

„Ja, das ist mir ebenso unerklärlich. Denn diese Lanze gehört nicht Ritter Percival.“

„Nicht?“ Inka warf Mark einen nachdenklichen Blick zu. „Dann ist es fraglich, wem diese Lanze gehört und wie sie ungesehen mit dem Täter in das Zelt kam.“

„Das ist nicht schwer, Frau Kommissarin. In der Hektik am Morgen wird auf sich selbst geachtet. Stände werden eingeräumt, die Arbeitsmaterialien überprüft und angezogen und viele andere Dinge erledigt. Da achtet niemand auf den anderen. Die Lanzen werden von mir erst vor dem Turnier ausgegeben. Ich überprüfe, ob sie für den Kampf tauglich sind. Also, ob sie den Gegner nicht verletzen können. Sicherheit geht bei den Turnieren vor. Außerdem sind sie mit den Farben der Wappen verziert. Ritter Percivals Lanze steht noch bei mir im Zelt.“

„Lanzen mit Metallspitzen gibt es keine?“

„Nein.“ Ingels schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Und diese Lanze ist mir fremd. Nicht einmal in den Wappenfarben des Besitzers ist sie geschmückt.“

„Terry, hast du einen Ausweis, Schlüssel oder Handy gefunden?“, wandte sich Inka an ihre Freundin, die ihre Latexhandschuhe von den Fingern streifte und den silberfarbenen Metallkoffer schloss.

„Liegt alles auf dem Tisch neben dem Federvieh. Fridolin hat das Handy. Es ist mit Kennwort gesichert. Er kümmert sich darum.“

Teresa Hansen nickte zu dem Helm, auf dem ein ausgestopfter Hahn montiert als Dekoration diente. „Ich kann solchem Schmuck nichts abgewinnen. Auch wenn ausgestopfte Tiere oder Puppen oder was auch immer im Mittelalter als Schmuck galten, denke ich, dass das in der heutigen Zeit nichts mehr zu suchen hat. Erste Ergebnisse kriegt ihr am Nachmittag“, sagte sie und schob sich an Oberkommissar Amselfeld vorbei, der mit einem Teenager das Zelt betrat.

„Das wird mir hier drinnen zu voll. Können wir irgendwo in Ruhe weiterreden?“, wandte sich Inka an Knut Ingels, während sie Oberkommissar Amselfeld gestikulierte, ihr zu folgen.

„Bei mir im Zelt gegenüber“, antwortete er.

Ritter Odins Zelt war um die Hälfte größer als das des Ritters Percival, dennoch ebenso spartanisch eingerichtet. Ein kleiner hölzerner Tisch mit zwei Stühlen und einer Kommode mit drei offenen Regalfächern, in denen allerlei Krimskrams wie Federn, bunte Bänder und Lederriemen lagen. In einer Ecke des Zeltes standen, gebündelt und angelehnt an einen metallenen Zeltpfeiler, sechs Lanzen.

Der sechzehnjährige Justus Kleidrich, der für den heutigen Freitag, wie jedes Jahr zum Mittelaltermarkt, schulfrei bekommen hatte, trippelte von einem Fuß auf den anderen und beantwortete die Fragen der Kommissare. Seine Mutter hielt ihn beim Backen und Verkauf am Ofen, worüber er die Zeit vergessen hätte, um Percival in die Rüstung zu helfen, sollte erst einmal alles sein, was er aussagen konnte.

„Gibt es eine Frau, Kinder und Eltern von Ritter Percival, die wir benachrichtigen müssen? Kollege Amselfeld, wissen Sie darüber etwas?“

„Er ist nicht verheiratet und hat keine Kinder. Die Eltern leben in Wietzendorf, so wie er auch. Sie betreiben ein Hotel.“

„Hat er eine Freundin?“

„Er ist sogar verlobt“, bemerkte Knut Ingels. „Hat er mir gestern noch erzählt, als wir das Zelt aufgebaut haben. Sie heißt Sabrina, aber weiter …“

„Noch eine Frage, Herr Ingels: Wissen alle Ritter im Vorfeld, gegen wen sie im Turnier antreten werden?“

„Früher, Frau Kommissarin, war ein Ritter bei heruntergelassenem Visier nicht zu erkennen. Dennoch musste er Farbe bekennen und deutlich sichtbar sein Wappen tragen. Es gab sogenannte Wappenbücher, und nur registrierte Ritter von Geblüt und Adelssöhne durften an den Start gehen. Sein Wappen machte ihn unverwechselbar. Aber um nicht zu weit auszuholen, Sie merken schon, dass ich mit dem Rittertum ganz eins bin. Ich bin fasziniert von den Bräuchen und Sitten. Nun, um auf Ihre Frage zurückzukommen – wenn er das Wappen des Gegners kennt, dann schon. Wir verschicken an alle Teilnehmer die Termine und die Programmhefe für die Veranstaltungen. Die Schwertkämpfe, die Feuerspiele, das Brotbacken, die Schmuckherstellung, das Weben, Schmieden und …“

„Herr Ingels, so interessant sich Ihre Ausführungen auch anhören, wir müssen wissen, ob …“, begann Mark, als er von Ingels unterbrochen wurde.

„Sicher, verstehe. In dem Programmheft steht nur, dass Ritter Percival mit Ritter Cedric im ersten Turnier antreten wird. Dann sind die Wappen abgebildet. Allerdings ist es heutzutage ein Leichtes, über Suchmaschinen herauszufinden, wer sich hinter dem Wappen versteckt.“

„Wie war das Verhältnis von Ritter Percival zu den anderen Markthändlern und Rittern? Gab es Streit? Eifersüchteleien oder Unstimmigkeiten?“, fragte Inka nach.

„Nein, da hab ich nichts mitbekommen. Alles lief friedlich ab. Wir sind auf dem Markt eine große, liebende Familie.“

„Aber in jeder harmonischen Familie, da kracht es manchmal“, setzte Inka dagegen.

„Ja, aber dafür sehen wir uns alle zu selten, um Spannungen aufzubauen.“

„Kollege Amselfeld“, wandte sich Inka an den Kollegen. „Sie beginnen mit der Befragung der Händler an den Ständen, die auf Ritter Percivals Zeltseite liegen. Kollege Faller und Kollegen sperren den Markt ab. Kein Besucher darf mehr hinausgehen, bevor wir nicht von jedem die Personalien notiert haben. Der Markt wird für heute geschlossen. Kümmern Sie sich darum“, dirigierte Inka. „Kollege Freese und ich beginnen bei den Marktständen gegenüber, sobald wir bei Ritter Cedric angeklopft haben.“

Ritter Cedric, Hans von Bahlow, saß in seinem Zelt und las in dem Programmheft des Marktes. Er hatte seine Rüstung ausgezogen, die mit dem Helm auf dem Fußboden auf einem bunt gemusterten Teppich lag, der nicht größer als eine Badematte war.

„Herr von Bahlow?“ Inka blieb im Eingang stehen. „Können wir hereinkommen?“

„Sicher, nur zu. Sie sind die Polizei, oder?“, fragte er, während er das Programmheft auf den Tisch legte.

„Sieht man uns das an?“ Inka hielt ihren Ausweis hoch und stellte sich mit Mark vor.

Von Bahlow lächelte leicht und stand auf. „Sie kommen wegen Oliver Stiegler, richtig? Mit einer Lanze ermordet, wie grausam, aber unwahrscheinlich. Die Lanzen sind stumpf. Wie ist das geschehen?“ Neugierig wartete er auf Inkas Erklärung.

„So sollten sie im Normalfall sein“, sagte Inka, ohne weiter auf die Frage einzugehen. „Herr von Bahlow, Sie waren der Turniergegner von Oliver Stiegler und …“

„… und ich habe ihn nicht umgebracht“, griff von Bahlow in Inkas Satz ein.

„Sie kannten Herrn Oliver Stiegler.“

„Nein. Oder eigentlich ja, weil er zwei- oder dreimal bei uns auf dem Hof war, als dieser abgebrannt ist. Er kam von unserer Versicherung. Ein Schnüffler, ein Versicherungsdetektiv, der uns unterstellt hat, Annabell und mir, wir hätten das Feuer gelegt, um die Versicherung zu betrügen. Der glaubte tatsächlich, wir brennen den Hof nieder und nehmen in Kauf, dass unsere Eltern sterben. So ein Arsch.“

„Ihre Eltern sind im Feuer umgekommen. Ich hörte davon. Das tut mir sehr leid.“

„Ja, tut es das?“ Von Bahlow lachte spöttisch auf.

„Ja, das tut es. Ihre Eltern waren geschätzte Mitbürger der Lüneburger Heide. Ich habe sie auf einer Spendenfeier für die Obdachlosen kennenlernen dürfen. Annabell ist Ihre Schwester, richtig?“

Hans von Bahlow nickte zustimmend.

„Wir müssen mit ihr sprechen. Betreibt sie einen Stand auf dem Markt?“

„Annabell und arbeiten?“ Von Bahlow verdrehte die Augen. „Annabell hat noch nie gearbeitet und wird nie arbeiten. Sie rührt keinen Staublappen an. Mit Stiegler hat sie jedoch nichts zu tun, das kann ich Ihnen sagen. Aber wenn Sie trotzdem mit ihr sprechen wollen, dann müssen Sie nach Dänemark fahren. Sie ist mit Erich, unserem früheren Verwalter und meinem besten Freund, nach dem Tod unserer Eltern nach Svaneke, das ist ein Ort auf der Insel Bornholm, abgehauen. Sie hatten nichts Besseres zu tun, als schleunigst ihr schlechtes Gewissen einzupacken und zu verschwinden. Mich haben sie mit dem ganzen Scheiß alleingelassen. Dem Papierkram, der Versicherung, dem Schutt und dem Abriss des Hofes sowie meiner Trauer um unsere Eltern. Geschwister und Freunde, wenn es darauf ankommt, dann kannst du die meisten von ihnen in die Tonne kloppen. Nicht einmal die Beerdigung der Eltern haben sie abgewartet. Sie wollten nur wissen, wann das Versicherungsgeld ausbezahlt wird. Diese Schleimer.“

„Wie dürfen wir das verstehen – ihr schlechtes Gewissen eingepackt?“, wollte Mark wissen.

„Na, wegen ihrer Unachtsamkeit ist es doch erst zu dem Feuer gekommen.“

„Ihre Schwester und Ihr Freund tragen die Schuld an dem Feuer?“

„Ja, sicher. Sie waren in der Scheune und haben sich vergnügt, als es ausbrach. Natürlich haben sie alles abgestritten, aber ich weiß es, da das Feuer in der Scheune begann und dann auf das Haupthaus übergesprungen ist.“

„Wo waren Sie zu der Zeit?“

„In der Dorfkneipe. Ein Bekannter hatte mich zu seinem Geburtstag eingeladen.“

„Und dann wissen Sie, dass das Feuer in der Scheune zu brennen angefangen hat, obwohl Sie nicht auf dem Hof gewesen sind.“ Mark zog die Augenbrauen hoch.

„Sie sind wie dieser Stiegler. Der hat mir die gleiche Frage gestellt. Wie ich das wissen kann, wenn ich nicht selbst der war, der das Feuer gelegt hat?“

„Das liegt nahe“, erwiderte Mark.

„Ja, mag sein, aber so war es nicht. Für Annabell und Erich hat erst das Haupthaus gebrannt, darauf haben sie beharrt. Erst dann hätte eine der drei Scheunen Feuer gefangen, aus der sie gerade noch herauslaufen konnten. Keiner der beiden hatte sein Handy dabei, weil sie nicht gestört werden wollten. Das kann man ausstellen, oder?“ Von Bahlow wartete nicht auf Antwort. „Alles eine Lüge. Jedenfalls, bis die Feuerwehr ankam, standen das Haupthaus und die drei Scheunen in hellen Flammen. Meine Eltern hatten keine Chance. Sie sind während des Schlafes verbrannt.“

„Herr von Bahlow, wie sind Sie dazu gekommen, an Ritterturnieren teilzunehmen? Braucht es da eine spezielle Ausbildung?“ Mark hob den Stift vom Notizblock.

„Nein. Früher war das Rittertum nur den Söhnen von Adelsgeschlecht vorenthalten. Es gab strenge Regeln, bis der Ritterschlag erfolgte. Heutzutage darf jeder, der an den Sitten und Gebräuchen interessiert ist, dabei sein. Oftmals sind wir, die Ritter, in einem Mittelalterverein oder zumindest mittelalterliche Enthusiasten und beschäftigen uns intensiv mit den Sicherheitsbestimmungen, damit niemand verletzt wird. Es sind Unterhaltungsveranstaltungen und nicht mit den mittelalterlichen Turnieren aus damaliger Zeit vergleichbar, in denen es sogar um Tod oder Leben ging und wo Grausamkeit an der Tagesordnung war. Wir spielen eine Rolle, um die Atmosphäre der vergangenen Zeiten für interessierte Besucher zu erschaffen, mehr nicht.“

„Kommen wir zurück auf Ihren Gegner, Oliver Stiegler alias Ritter Percival. Wo haben Sie sich“, Inka warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, „vor zwei Stunden aufgehalten, als Sie mit ihm zum Kampf antreten sollten?“

„Na, wo wohl, hier im Zelt natürlich. Ich war dabei, die Rüstung anzuziehen.“

„Alleine?“

„Nein. Mein Knappe, der kleine Paul, war hier.“

„Jetzt ist er wo zu finden?“

„Ich habe ihn nach Hause geschickt. Er ist vierzehn Jahre alt. Den ganzen Zinnober, Polizei, der Mord, er muss das nicht mit ansehen. Der arme Junge, da kriegt er jedes Jahr zum Mittelalterfest – wie der Justus auch – von der Schule einen Tag frei, um uns Rittern zu helfen, und dann so etwas.“

Inka nickte. „Die Versicherung hat damals gezahlt. Richtig?“

„Ja, hat sie. Auch wenn dieser Stiegler dagegen war. Sein Chef stand auf unserer Seite.“

„Was wurde als Brandursache festgestellt?“

„Die Versicherung hat angegeben, dass es sich um ein Leck bei der Gasleitung in der Küche im Haupthaus gehandelt hat. Aber ich bin mir da nicht sicher.“ Hans von Bahlow krauste nachdenklich die Stirn.

„Weil Sie immer noch denken, dass das Feuer in der Scheune ausgebrochen ist.“

„Genau. Aber es ändert jetzt nichts mehr. Meine Eltern sind tot.“

„Mit der Versicherungssumme haben Sie den Gutshof dann in ein Gestüt umgebaut.“

„Ja, so ist es. Ich liebe Pferde. Außerdem bringt die Pferdezucht mehr ein als Getreide und Gemüse.“

„Dann geht es Ihnen ja nach dem Feuer besser als zuvor“, bemerkte Mark.

„Wir hatten auch davor unser Auskommen. Außerdem heißt es nicht, dass ich das Feuer gelegt habe. Wenn Sie darauf spekulieren.“

„Es war nur ein Gedankengang, der sicherlich nichts zu bedeuten hat. Dennoch, Sie kennen das sicher aus dem Fernsehen, kommt gleich ein Kollege und nimmt Ihre Fingerabdrücke, nur rein ermittlungstechnisch.“ Mark grinste. „Hast du noch eine Frage an Herrn von Bahlow, Inka?“

„Die Adresse des Knappen brauchen wir, und ich hätte da tatsächlich noch eine Frage: Herr von Bahlow, wann wussten Sie, dass Sie gegen Oliver Stiegler antreten werden?“

„Das wusste ich nicht. Ich habe es erst von Knut kurz vor dem Turnier erfahren. Wenn ich es gewusst hätte, dann hätte ich den Kampf abgelehnt und auf einen anderen Gegner bestanden. Ich will mit ihm nichts mehr zu tun haben. Er hat uns, Annabell und mir, mit seinen Verdächtigungen zur Weißglut getrieben.“

„Wir müssen seine Finanzen überprüfen, Inka“, sagte Mark als sie das Zelt verlassen hatten und außer Hörweite waren. Ein Duft von Gebratenem wehte zu Inka und Mark. „Wer weiß, ob es stimmt, was er uns erzählt. Möglicherweise hat die Versicherung, aufgrund von Stieglers Berechnungen, doch nicht so viel bezahlt, um den Gutshof umzubauen. Aber was anderes, Inka. Ich kriege Hunger. Meinst du, wir könnten … ich meine, das Spanferkel hat sicher genug Runden gedreht.“

„Mark, später. Ruf Frauke an, sie soll die Bankauskünfte von Stiegler und von Bahlow einholen, und sag ihr auch, dass wir noch zu den Eltern von Stiegler fahren. Und noch was, das Unglück geschah vor über fünf Jahren, hätte die Versicherung nicht gezahlt, hätte er möglicherweise mit dem Umbau nicht anfangen können. So ein Gestüt ist kostenaufwendig.“

Mark nickte zustimmend. „Doch dass er nicht gewusst hat, gegen wen er kämpfen soll, nehme ich ihm auf keinen Fall ab. In den Programmheften stehen zwar nicht die bürgerlichen Namen des Ritters, aber sein Wappen ist abgebildet. Und wie Knut Ingels schon sagte, jede Suchmaschine spukt dir den Namen des Wappeninhabers aus.“ Mark holte sein Handy aus der Jackentasche.

„Ja, ich bin auch sicher, dass er uns nicht alles erzählt hat. Doch lass uns überlegen, was wir mit seiner Schwester und seinem Freund machen. Ich habe keine Lust, nach Dänemark zu fahren. Paula ist noch nicht in der Schule gefestigt, und Hanna kann und will ich nicht fragen. Es sind alle Zimmer und Ferienwohnungen ausgebucht. Sie hat genug zu tun.“

„Ich will auch nicht fahren, Inka. Mein Vater braucht mich in der Fabrik für die neue Winterkreation.“

„Zimt.“ Inka zog die Nase kraus.

„Auch, aber hauptsächlich Mürbetaler mit verschiedenen Fruchtfüllungen und neue Nusskringel mit Schokolade.“ Er tippte die Nummer der Hanstedter Zentrale ein.

„Frauke soll Fritz anrufen, soll er entscheiden, was wir mit Bahlows Schwester und Schwager machen“, sagte Inka und blieb abseits eines Marktstands mit allerlei verschiedenen Gefäßen stehen. Sie wartete, bis Mark das Telefonat mit Frauke erledigt hatte, dann trat sie an den Stand.

„Hallo. Seid gegrüßt“, sagte die Frau lächelnd, die Inka auf Mitte vierzig schätzte. Sie trug ein ockerfarbenes bodenlanges Baumwollkleid und darüber einen sandfarbenen Umhang, den sie mit einem braunen Ledergürtel geschlossen hielt. Ihr Haar hatte sie unter einer sandfarbenen Leinenhaube versteckt, aus der sich an den Seiten kleine weizenblonde Strähnen hervorgeschummelt hatten. „Möchtet ihr etwas kaufen?“ Sie breitete die Arme nach beiden Seiten aus und wies über ihre Auslage. „Es ist alles selbst getöpfert. Krüge, in denen Saatgut, Getreide oder Schmalz gelagert werden können, ganz so, wie es im Mittelalter üblich war. Natürlich könnt ihr auch Wein oder Bier hineingeben. Meine Schalen sind wasserdicht.“

„Nein, wir sind nicht hier, um einzukaufen“, sagte Inka, hielt ihren Ausweis hoch und stellte sich und Mark vor. Sie griff nach einem Tonkrug mit einem Henkel, der mit signalroten und weißen Blumen bemalt war.

„Ja, ich hörte es. Ritter Percival … schrecklich.“

„Sie kannten Ritter Percival?“, fragte sie, während sie den Krug zurückstellte.

„Nicht richtig. Wir haben uns erst gestern beim Aufbau des Marktes kennengelernt. Udo, also der Veranstalter Udo Wedelski, er hat uns alle zu einem Umtrunk und zu einem ersten Beschnuppern in sein Zelt eingeladen.“

„Bei diesem Beschnuppern waren da alle Marktbetreiber, Künstler und Ritter und wer noch am Markt teilnimmt, anwesend?“

„Ja. Es ist Pflicht. Udo besteht bei jeder Veranstaltung darauf. Er will sich vergewissern, ob alle, die angemeldet sind, auch gekommen sind. Er erklärt die Aufgaben und Öffnungszeiten, gibt die Anweisungen für den Verkauf, den Kampf, das Aufräumen und die anderen zu erledigenden Dinge.“

„Stehen die Bestimmungen, wer welche Dienste zu erledigen hat, nicht in den Einladungen, die jeder von Ihnen vorab erhält?“

Inka griff erneut zum Tonkrug mit den rot-weiß bemalten Blumen.

„Ja, sicher, aber jeder liest sie leider nicht oder vergisst die Hälfte. Die Einladungen verschickt Udo ein Vierteljahr im Voraus. Bis der Markt eröffnet wird, ist einiges aus dem Kopf. Der ist hübsch, nicht wahr?“ Die Händlerin warf Inka ein Lächeln zu.

„Frau …?“, fragte Inka. Der Krug fand erneut seinen Platz auf dem Holztresen.

„Seifert, Ulrike“, half die Händlerin.

„Frau Seifert, heute Vormittag, haben Sie da eine Person in Ritter Percivals Zelt hineingehen oder herauskommen gesehen? Oder haben Sie Ritter Percival mit jemandem reden, vielleicht sogar streiten gehört?“

„Nein, darauf habe ich nicht geachtet. Ich war damit beschäftigt, meine restlichen Waren aus dem Wagen zu holen und aufzustellen. Aber selbst dann, Sie sehen ja, was hier jetzt schon am Vormittag los war. Und ich hatte ja auch gleich Kundschaft, da achtet man nicht auf die anderen Marktbetreiber. Außerdem ist Percivals Zelt zwei Häuser vor mir, wenn ich das so ausdrücken darf.“ Sie lächelte wieder.

„Wohnen Sie in der Lüneburger Heide, Frau Seifert?“

„Ja, auch hier in Soltau.“

„Ist der Verkauf von Tongefäßen Ihre Arbeit?“

„Zurzeit ja“, sagte die Händlerin. „Ich bin Sekretärin von Beruf, aber der Firma, einer Möbelspedition, in der ich fünfzehn Jahre gearbeitet habe, sind die Aufträge ausgegangen, und der Chef musste Insolvenz anmelden. Jetzt wird der Gürtel bei uns zu Hause etwas enger geschnallt.“

„Sie verkaufen alleine?“

„Am Nachmittag wollten mein Mann und mein Sohn zum Helfen kommen, aber nun ...“ Sie zuckte die Schultern. „Udo kam vorhin vorbei und sagte, dass die Polizei keinen Besucher mehr hereinlässt. Ist das richtig?“

„Vorerst haben wir nur Percivals Zelt abgesperrt. Bis jedoch unsere Kollegen alle ihre Untersuchungen abgeschlossen haben, werden keine neuen Marktbesucher hereingelassen, ja, das ist richtig.“

„Wie lange wird es dauern, ich meine nur, weil ja …?“ Frau Seifert warf einen Blick auf ihre Krüge, Schalen und Töpfe.

„Das kann ich Ihnen leider nicht beantworten. Es ist ein Mord geschehen, Frau Seifert, da sind einige Untersuchungen unumgänglich.“

„Natürlich. Ich verstehe. Nur, mein Mann verdient leider auch nicht die Welt, und unser Sohn, mit sechzehn haben sie ihre Wünsche. Und jetzt kommt auch noch eine Klassenreise dazu. Manchmal … Entschuldigung, jetzt nerve ich Sie auch noch mit meinem Alltagskram, dabei haben Sie genug zu tun.“

„Das ist schon in Ordnung, Frau Seifert. Es tut manchmal gut, über seine Sorgen zu reden, auch wenn es mit Fremden ist. Wir sind alle nur Menschen. Aber jetzt …“, Inka holte einmal tief Luft, „jetzt war es das erst einmal von unserer Seite aus. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, dann melden Sie sich bitte.“ Inka reichte der Frau ihre Karte, warf noch einen letzten Blick auf den hübschen Krug, der so gut in ihre Küche gepasst hätte. Erst einmal steht ein Auto auf der To-do-Liste. Ohne Wagen auf dem Land war es eine Katastrophe.

„Ich habe immer noch Hunger, Inka“, sagte Mark und steckte seinen Notizblock ein.

„Du willst doch nicht etwa das Fleisch von dem armen kleinen Spanferkel in dich hineinstopfen, oder?“ Inka folgte Marks sehnsüchtigem Blick zum Grill.

„Sei froh, dass es kein Biber ist, der gegrillt wird, der zählte nämlich damals als Fisch. Wusstest du, Inka, dass im Mittelalter sogar Storch gebraten wurde. Na gut, Hammel und Schwein auch, es war eine bunte Küche. Was auf den Tisch kam, hing davon ab, wie viel ihnen von den Grundabgaben übrig blieb. Bis zu dreißig Prozent ihres Ertrages mussten die Bauern an ihre Schutzherren abgeben.“

„Biber, Storch, was erzählst du mir für Schauergeschichten, Mark?“

„Nie und nimmer. Ich hab nur beim Geschichtsunterricht besser aufgepasst als du.“

„Ja, natürlich, du Streber. Aber was hältst du von Hannas Kartoffel-Rüben-Eintopf mit Mettklößchen?“

„Immer gerne, aber …“

„Ich verstehe. Also gut, Mark. Geh du dir deine Proteine holen, ich nehme mir den nächsten Ritter vor“, sagte Inka, während sie einen letzten Blick auf Ritter Cedriks Zelt mit dem sonnengelben Wappen und dem aufsteigenden schwarzen Pferd warf. „Wenn dir Amselfeld, Faller oder ein anderer Kollege über den Weg läuft, dann schicke ihn zu mir. Wir treffen uns später vor Percivals Zelt.“

Kapitel 3

„Hallo“, rief Inka durch den geschlossenen Zelteingang. „Ist jemand zu Hause? Ritter Maquard von Salzberg?“, rief sie erneut.

Sie bekam keine Antwort.

„Wollen Sie zu mir?“, fragte eine Stimme, als Inka gerade in ihrem Block nach dem Namen eines weiteren Ritters suchte. Ein Mann in Jeans, Wollmütze und dunkelblauer Steppjacke lächelte Inka freundlich an.

„Wenn Sie Ritter Maquard von Salzberg sind, dann ja.“

„Der bin ich tatsächlich. Aber so nenne ich mich nur hier auf dem Mittelaltermarkt, ansonsten bin ich ein ganz bürgerlicher Rainer Sobottka. Und Sie sind?“

„Hauptkommissarin Inka Brandt aus Hanstedt. Wir untersuchen den Mord an Ihrem Ritterkollegen Oliver Stiegler.“

„Ritter Percival, ja, ich habe es schon gehört. Kommen Sie herein.“ Ritter von Salzberg schob die Zeltplane zur Seite und ließ Inka eintreten. „Ein Kollege von Ihnen bat, das Zelt nicht zu verlassen, aber mir hat so der Magen geknurrt.“ Er wies auf ein Brötchen mit dem Innenleben eines dicken Fleischstücks. „Und bei gegrilltem Spanferkelbraten kann ich einfach nicht widerstehen. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich einmal abbeiße.“ Er wartete nicht auf Inkas Antwort, sondern vergrub genießerisch seine Zähne in das Brötchen.

„Herr Sobottka, wie gut kannten Sie Herrn Stiegler?“ Ein Fleisch- und Brötchenduft stieg Inka in die Nase.

„Hm, na ja, wir sind im gleichen Schützenverein.“ Sobottka kaute, schluckte. „Wir trainieren alle zwei Wochen auf dem Feld mit dem Langbogen, sitzen dann auf ein Bier zusammen und quatschen ein wenig. Er ist ein Bekannter, aber mehr nicht. Für eine engere Freundschaft reicht die Sympathie nicht aus, wenn es das ist, was Sie wissen wollen. Percival war vierunddreißig, ich bin fünfzehn Jahre älter, da setzt man andere Prioritäten.“

„Wie darf ich das verstehen, andere Prioritäten?“, wollte Inka wissen.

„Man hat andere Ansichten, Meinungen zur Politik und der ganzen Wirtschaftslage, oder auch zu den Freizeitaktivitäten. Percival war eher der verbissene Detektiv.“ Sobottka legte das angebissene Brötchen neben seinen Harnisch auf den Tisch und bot Inka einen Platz auf einem der beiden Holzstühle an.

„Sie wussten, dass er bei einer Versicherung gearbeitet hat.“ Inka zog den Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich Sobottka gegenüber.

„Sicher. Bei meiner Frau und mir ist er vor einem Jahr aufgelaufen, als das Wintergartendach von hühnereigroßen Hagelkörnern attackiert wurde und daraufhin gesprungen ist. Er hat alles auf den Kopf gestellt und Messungen durchgeführt, weil er dachte, wir hätten Steine auf das Glas geworfen, um ein neues Dach zu bekommen. Was für ein Blödsinn. Ein Erbsenzähler ist er gewesen. Aber wir haben die Versicherung nicht betrogen. Er hat uns nicht geglaubt, und die Versicherung hat nicht gezahlt. Am Ende blieben wir auf zweieinhalbtausend Euro sitzen, und das angesparte Urlaubsgeld war auch futsch. Danach saß er im Verein alleine bei seinem Bier.“

„Es ist die Versicherung Schutz & Sicherheit aus Hanstedt, die nicht gezahlt hat, richtig?“

„Richtig, Frau Kommissarin Brandt.“

„Das muss Sie wütend gemacht haben.“

„Kann man so sagen.“

„Dann wäre es doch eine Genugtuung für Sie gewesen, es Stiegler heimzuzahlen, dass er Sie so hat hängen lassen. Wie schön, wenn es Ihr Lanzenstoß gewesen wäre, der ihn vom Pferd geholt hätte“, mutmaßte Inka.

„Zu Wagemut und Furchtlosigkeit und dem Spaß kommt die ritterliche Tugend des Fairplays. Ich habe Stiegler nichts angetan. Ja, meine Frau und ich waren wütend, aber mehr, weil der Großteil unseres angesparten Urlaubsgeldes für das neue Dach draufging. Aber nicht in einem Ausmaß, um einen Menschen zu töten. Ich bin Pfarrer, Frau Brandt, ich achte das fünfte Gebot. Zumal ich nicht nur Percivals Turniergegner war, sondern auch Ritter Cedrics. Hans von Bahlow mit bürgerlichem Namen, der Ihnen sicher ein Begriff ist. Und selbst wenn Cedric den Kampf gewonnen hätte, wäre ich gegen ihn und nicht gegen Percival angetreten.“

Inka nickte. „In welcher Gemeinde predigen Sie?“

„Wir wohnen in Hanstedt und arbeiten in Egestorf. Ich als Pfarrer und meine Frau als Bürokraft.“

„Besteht für Sie keine Residenzpflicht?“

„Doch, natürlich. Katholische und evangelische Geistliche müssen immer noch nahe der Kirche in einer ihnen zugewiesenen Dienstwohnung oder im Pfarrhaus wohnen. Meine Frau und ich haben eine Ausnahmegenehmigung erhalten. Wir durften in unserem Haus wohnen bleiben, da die Dienstwohnung noch von meinem Vorgänger bewohnt war. Die Diözese wollte ihn mit seinen dreiundachtzig Jahren nicht auf die Straße setzen.“

„Herr Sobottka, ob Sie nun Pfarrer sind oder nicht, ich muss Sie fragen, wo Sie heute Vormittag in der Zeit von acht Uhr dreißig bis um neun Uhr gewesen sind.“

„Ich war betteln.“

„Wie?“, fragte Inka irritiert nach.