Heidelberg- Die Schöne -  - E-Book

Heidelberg- Die Schöne E-Book

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Beschreibung

Wie Wasserwellen ziehen sie ihre Kreise durch die kleine Stadt am Neckar: Wir folgen Sagengestalten, Außerirdischen und einem unfreiwilligen Zeitreisenden, begegnen moderner Philosophie ebenso wie dem Lebensglück und den Krisen, die unseren Alltag zerbrechen und Neues beginnen lassen. Gemeinsam zeigen 15 verschiedene Autorinnen und Autoren die sonnigen, aber auch die dunklen Seiten ihrer Stadt - und auch, welche Bedeutung der Name Heidelberg andernorts hat.

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Dein Atem ist meine Luft

Jane Wels

Vergangenes

Wurzelt sich unter meine Kissen

Verzweigt sich in mir

Beugt sich über mich

Wie die Alte Brücke

Über den Unterlauf des Neckars

Flusswasser zieht mich in unsere Zeit

In die Serpentinen unserer Körper

Auf dem Schlangenweg

Lehnen wir unsere Hitze

In die weiche Seele des Buntsandsteins

Wispern Moose von Hilde Domin

„Freiheit

Ich will dich

Aufrauen

Mit Schmirgelpapier

Du geleckte…“1

Dein Atem ist meine Luft

Schürft mir einen Schmiss unter die Haut

Wo der Himmel aufhört

Lichtert Heidelberg

In die geschwärzte Zeit

1 Domin, Hilde. Ich will dich. Gedichte. Piper, München 1970.

„Die Hälfte der Schönheit hängt von der Landschaft ab, die andere Hälfte von dem Menschen, der sie betrachtet.“

Hermann Hesse

„Ich sah Heidelberg an einem völlig klaren Morgen, der dir eine angenehme Luft zugleich kühl und erquicklich war. Die Stadt in ihrer Lage und mit ihrer ganzen Umgebung hat, man darf sagen etwas Ideales.“

Johann Wolfgang von Goethe. Tagebücher, 1797

Inhalt

Dein Atem ist meine Luft

Vorwort

Die Wale

Der Pfannenmörder

Damit du mich nicht vergisst

Erfundenes Licht!

Nie etwas Spannendes

Der Einwanderer

Familienausflug

Gegen Geschlecht

Scherzkeks

Zeitlos

Abwesend

Mittagspause

Kinder müssen wild sein

Das Privileg des Sommers

Die verlorene Liebe

Die Farben der Stille

Wassermannbildnis

Wir treffen uns in Heidelberg

Der Glaube entsteht aus der Angst

Eine Legende von Heidelberg – die Schöne

Biografien

Vorwort

Der Titel, der für diese Anthologie gewählt wurde, ist wie folgt zu verstehen:

Der Ausdruck „Heidelberg – Die Schöne“ erinnert an die malerische Schönheit der Stadt am Neckar. In der Literatur gibt es zahlreiche Beschreibungen Heidelbergs, die einen literarischen Blick auf die Stadt eröffnen.

Die engen Gassen der Altstadt vermitteln ein Gefühl von Geschichte, das den Besucher nostalgisch werden lässt. Die kopfsteingepflasterten Gassen schlängeln sich zwischen liebevoll erhaltenen Gebäuden, deren Fassaden Geschichten aus vergangenen Jahrhunderten erzählen. In den roten Dächern der Fachwerkhäuser spiegeln sich die warmen Farben der Abendsonne, die den Himmel über dem Heidelberger Schloss in ein leuchtendes Gemälde verwandelt.

Die Neckarbrücke, ein architektonisches Meisterwerk, verbindet nicht nur die Ufer des Flusses, sondern auch die Zeit. Beim Überqueren der Brücke scheinen die Jahrhunderte zu verschmelzen und der Fluss fließt friedlich unter den Bögen. Die Philosophenpromenade erhebt sich majestätisch über der Stadt Heidelberg und bietet einen atemberaubenden Blick auf das Stadtpanorama. Die Promenade ist umgeben von blühenden Blumen und dem leisen Rauschen der Blätter. An diesem Ort mit seiner besonderen Atmosphäre – man denke nur an die Inspirationen, die viele Dichter und Denker hier gefunden haben – wird die Wirkung der Umgebung auf den Geist verständlich und nachvollziehbar.

In den gemütlichen Cafés entlang der Hauptstraße verschmelzen Moderne und Tradition zu einem charmanten Mix. Studenten vertiefen sich in ihre Bücher, während der Duft von frisch geröstetem Kaffee die Luft erfüllt. Die pulsierende Energie der jungen Geister, die die Universität beleben, kontrastiert mit der Ruhe der schattigen Plätze und grünen Parks.

Entlang der Ufer des majestätischen Neckars entfaltet sich eine lyrische Symphonie, die die Seele berührt. Die Flussufer von Heidelberg sind nicht nur geografische Grenzen, sondern ein poetisches Versprechen, das zwischen den sanften Wellen und den grünen Ufern gewoben ist.

Die Silhouette der Altstadt spiegelt sich im stillen Wasser des Neckars wider, als ob die Jahrhunderte sich dort zu einem flüssigen Spiegel vereinen. Wenn die Sonne sich am Horizont neigt, malt sie mit ihren goldenen Strahlen ein kaleidoskopisches Bild auf die Flussoberfläche. Die Konturen der historischen Brücken, die sich über den Fluss spannen, werden zu kunstvollen Schatten, die mit jedem Wellenschlag tanzen.

Die Uferpromenade wird gesäumt von alten Platanen, deren schattige Äste Geschichten aus vergangenen Zeiten zu erzählen scheinen. Ihre Blätter tragen die Weisheit der Zeit, während ein sanfter Wind durch sie hindurch weht und das leise Murmeln des fließenden Wassers mit sich trägt. Unter den grünen Baumkronen findet sich Ruhe und ein Rückzugsort vom Trubel der Stadt.

© Berta Martín De La Parte (Hrsg.)

Die Wale

Christoph West

Die kleine Gnomin Gutefrage arbeitete für den Träumemacher. Eines Tages rannte sie mit ihren in schwarzen Schühchen steckenden Füßchen über weiße Pflastersteine eine ebenso weiße Treppe hinauf. Diese wand sich einen mit grünen Heidelgräsern und bunten Lichtern bewachsenen, runden Hügel empor, auf dessen Spitze das Observatorium des Träumemachers ruhte. Wegen der vielen Heidelgräser nannte sie den Hügel manchmal den Heidelberg. Das Observatorium war ein Pavillon aus einem gebogenen, dunkelbraunen Holzbalkengerüst, das sich vor dem mit glimmernden Sternen besprenkelten Nachthimmel abzeichnete. Zwischen den Balken lugte ein großes Teleskop hervor, dessen Objektiv am Ende eines langen, dünner werdenden und ins Innere des Pavillons führenden Rohres saß.

Jede Stufe stellte eine kleine Kletteraufgabe für die Gnomin dar. Doch sie hatte den Weg schon unzählige Male überwunden. Nur heute hatte sie es besonders eilig. Aus beängstigendem Grund.

Die Halme der Heidelgräser, Schimmerblumen und Leuchtebeeren auf dem Hügel bogen sich im Wind, der heute stärker war als sonst. Gutefrage konnte sich davon aber nicht wie üblich ablenken lassen. Sie hielt sonst gerne inne, stieg in die Grasbüschel, die ihr bis zur Brust reichten, und schnupperte an den Schimmerblumen oder naschte von den Leuchtebeeren.

Oben sah der Träumemacher im Augenwinkel über den Rand seiner Werkbank hinweg erst die kleinen Händchen von Gutefrage an der Stufenkante, dann schob sich ihr Köpfchen mit den kupferroten Haaren, bedeckt von ihrem Lieblingshütchen, herauf und schließlich stand sie an der Treppenkante und kam zu ihm herübergelaufen.

Der Träumemacher war ein großer und alter, alter Mann, gekleidet in ein lilanes Gewand. Sein langer, weißer Bart, so weiß wie die Pflastersteine, schlängelte sich über den ganzen Boden des Observatoriums.

Er lächelte herzlich, als Gutefrage neben ihn trat. Er mochte die kleine Gnomin. Sie brachte immer gute Laune – und gute Fragen. Er wandte sich langsam von seiner Werkbank, auf der bunte Glasplatten lagerten, zu ihr herum. Sein Gewand schimmerte dabei durch die Bewegung grünblau.

Als er den angsterfüllten Gesichtsausdruck von Gutefrage erkannte, wandelte sich sein Blick in Sorge. Der Träumemacher kniete sich hin, um Gutefrages Augenhöhe näher zu kommen. Er runzelte fragend die Stirn.

„Hast du den Indigowal gesehen?“, quiekte Gutefrage außer Atem.

„Was ist mit dem Wal?“, fragte der Träumemacher mit tiefer und ruhiger Stimme.

„Sind die Wale nicht gesund?“, erwiderte Gutefrage besorgt. Sie deutete den Hügel hinunter auf das Ende des Pfades. „Gehen wir nachsehen?“, piepste sie und packte mit ihrem kleinen Händchen einen langen, faltigen und knochigen Finger des Träumemachers und zog ihn in Richtung Treppe. Der Träumemacher nickte sanft, erhob sich und ließ sich von Gutefrage die Treppen hinunterführen.

Vom Hügel aus sah man nur das Schwarz, das mit den funkelnden Sternen verziert war, den Spiegelsee. Der Hügel befand sich umgeben davon, wie eine Insel. Nur den weißen Pfad konnte man sich im Schwarz schlängeln sehen, ebenso wie ein aus dieser Entfernung klein erscheinendes, braunes Boot, das am Ende des Pfades anlegte. Zur Verwunderung des Träumemachers konnte er neben dem Boot noch etwas Gräuliches ausmachen. Je näher sie dem Boot kamen, desto besorgter wurde sein Blick, denn der Träumemacher ahnte, was das Gräuliche sein musste. Es war ein Indigowal. Er war so groß wie das Boot. Nur schimmerte er nicht mehr indigofarben. Er hatte jegliche Farbe verloren. Grau und leblos lag er angespült neben dem Boot. Der Träumemacher begutachtete den Wal. Gutefrage stand nervös mit den Füßchen tippelnd und an den Fingernägelchen kauend daneben. Plötzlich wimmerte sie laut auf. Langsam und kaum merklich war ein weiterer Indigowal, so grau wie der andere, an der Oberfläche des Spiegelsees erschienen und wurde ebenfalls angespült. „Ich glaube wir müssen uns das draußen ansehen. Es müsste gleich wieder Zeit für die Ernte sein. Schauen wir, ob es Probleme geben wird“, sagte der Träumemacher, stieg ins Boot und hielt Gutefrage die Hand hin. Gutefrage mochte keine Boote. Schon gar nicht in ihnen fahren. Aber der Träumemacher nahm ihr die Angst.

Beide im Boot, glitten sie langsam hinaus auf den Spiegelsee. Es war, als würden sie durch den Nachthimmel schweben. Nur kleine, glänzende Wellen zogen sich als Spuren durch das Schwarz. Sie fuhren eine Weile bis der Pfad und der Hügel verschwunden und ringsherum nur noch Sterne zu sehen waren. Dann stoppte der Träumemacher das Boot. Unter seinem Umhang zog er eine an einem Band befestigte Sanduhr hervor. Er hielt sie sich vor sein rechtes Auge. Die Sanduhr war beinahe abgelaufen. Der Träumemacher wartete geduldig einige Momente. Als das letzte Sandkorn nach unten durchgefallen war, begann sie türkisblau aufzuleuchten.

Der Blick des Träumemachers fiel hinter die Sanduhr. Dort leuchtete ebenfalls etwas türkisblau auf. Gutefrages Äuglein wurden groß. Ein weiteres Leuchten flammte direkt neben dem Boot auf. Sie kletterte auf den Rand des Bootes und erlangte einen möglichst guten Ausblick. Das Leuchten schwamm an ihnen vorbei.

„Ist das ein Indigowal?“, ertönte es von Gutefrage. Sie hatte dieses Schauspiel noch nie von Nahem gesehen.

Der Träumemacher nickte. Es war nicht der Wal, der leuchtete, sondern das Wasser, das um ihn herumströmte. Es sah aus, als leuchteten die Umrisse des Wals.

Plötzlich weiteten sich Gutefrages Äuglein noch weiter. Nach und nach tauchten mehr Wale auf und schoben das lumineszierende Wasser mit sich, bis das Boot von einem ganzen Schwarm umgeben war.

Gutefrage lief ganz aufgeregt von der einen zur anderen Seite des Bootes und quiekte dabei: „Leuchten die Wale? Leuchten die Wale?“

Der Träumemacher schaute ihr glucksend zu.

„So weit, so normal“, dachte er, ehe er in den Bauch des Bootes griff und einen Kescher hervorzog.

Mit einem geschickten Handgriff tauchte er den Kescher in den Spiegelsee direkt hinter die Schwanzflosse eines Indigowals und zog ihn durch das türkisblau leuchtende Wasser.

Diese Technik hatte er schon hunderte Male angewendet. Als er noch jünger war, war es ihm leichter gefallen. Jetzt hatte er die Gnome Guterfang und Gutesicht, die ihm die Arbeit abnahmen.

Der Träumemacher zog den Kescher zurück ins Boot. Der Stiel bog sich unter der Last des Gefangenen.

Im Boot betrachtete der Träumemacher den Inhalt. Er runzelte die Stirn. Es war nicht der gewohnte Anblick. Im Netz befanden sich glasig graue und durchsichtige Träumesplitter. Normalerweise waren sie bunt und in verschiedenen Größen. Doch in diesem Fang fehlte jegliche Farbe. Beunruhigt zog der Träumemacher eine Lupe aus seinem Mantel hervor und nahm einige Splitter heraus, um sie genauer zu betrachten. Nichts Weiteres als die Durchsichtigkeit war zu erkennen. Als er einen größeren Splitter nahm, zerbröselte dieser in winzig kleinere. Auch das war ungewöhnlich. Zwar mussten die Splitter mit großer Behutsamkeit behandelt werden, aber leichtem Druck hielten sie üblicherweise stand. Es war wichtig, dass die Splitter so blieben, wie sie gefangen worden waren, denn nur in diesem Zustand konnte er sie an seiner Werkbank zu Träumen zusammensetzen.

Aus diesem Fang aber waren keine Träume zu machen.

Die Sorgenfalte runzelte sich noch tiefer über die Stirn des Träumemachers.

Plötzlich schrie Gutefrage auf. Der Träumemacher wandte seinen Blick von den Splittern und erkannte sofort die Ursache des Aufschreis. Das Leuchten verschwand Stück für Stück und beim Erlischen erkannte man, dass die Wale an Farbe verloren. Einer nach dem anderen trieb an die Oberfläche des Spiegelsees. Der Träumemacher schaute auf die Sanduhr. Sie war noch nicht abgelaufen. Das hier war alles andere als der normale Ablauf.

Der Träumemacher verstaute den Fang in einem Beutel und diesen in seiner Manteltasche und packte die Ruder.

„Gibt es keine Träume mehr?“, quiekte Gutefrage.

„Ich weiß es nicht“, antwortete der Träumemacher ratlos. „Fahren wir zurück zum Observatorium. Guterfang und Gutesicht haben vielleicht Ähnliches zu berichten.“ Das Rudern durch die leblos grauen Walkörper jagte ihnen beiden einen Schauer über den Rücken. Es war, als glitten sie durch eine kühle Stille.

Als sie wieder am weißen Pfad anlegten, sahen sie die beiden anderen Gnome. Sie saßen erschöpft und mit gesenkten Köpfchen auf den weißen Steinen. Neben ihnen lagen weitere grau gewordene Indigowale und unzählige Netze voll mit ebenfalls grauen Träumesplittern.

Guterfang hatte sein Köpfchen in seinen Händchen vergraben. Gutesicht versuchte, ihn zu beruhigen. Sie bemerkte den Träumemacher und Gutefrage, nachdem sie angelegt hatten, so sehr war sie geschockt, dass sie nicht einmal mehr alles im Blick hatte. Sie blickte auf und es durchströmte sie Hoffnung. Denn der Träumemacher würde schon wissen und lösen können, was hier vor sich ging.

Doch als sie die tiefe Sorgen- und Fragenfalte im Gesicht des Träumemachers erkannte, schwand diese wieder.

Der Träumemacher kam zusammen mit Gutefrage näher. Gutefrage lief sofort zu den beiden anderen Gnomen und umarmte sie Beistand suchend und gebend. Der Träumemacher überblickte die Lage.

„Dann ist bei euch dasselbe geschehen wie bei uns“, mutmaßte er. Gutesicht nickte.

„Das Leuchten verschwand und die Wale wurden grau“, erzählte sie mit zitternder Stimme. „Und wir haben keinen einzigen bunten Splitter fangen können. Sind die Wale krank?“

„Was machen wir denn jetzt? Ohne Träume kann es nicht weitergehen“, schluchzte Guterfang.

„Wir brauchen die Wale, die Menschen brauchen die Träume“, stimmte Gutesicht zu.

„Sind die Menschen ohne Träume verloren?“, piepste Gutefrage.

Der Träumemacher strich sich bedenklich durch den Bart.

„Ich muss in den alten Büchern nachlesen. Vielleicht ist so etwas schon einmal vorgekommen“, sagte er, bevor er mit wehendem Mantel in Richtung Observatorium losging. Die Gnome folgte ihm mit schnellen Schrittchen.

Oben angekommen, legte er den Beutel auf die Werkbank, auf der allerhand Werkzeuge lagen. Hammer jeglicher Größe, ebenso wie Meißel, Scheren, Zangen und Lupengläser. Am Rand lag ein dickes und schweres Buch. Es hatte Benutzungsspuren von unzähligem Lesen darin. Er schlug es auf und blätterte darin. Seite um Seite, die mit handschriftlichen Notizen und Zetteln versehen waren. Immer wieder hielt der Träumemacher inne und fuhr mit dem Finger über Zeilen. Er murmelte dabei unverständlich vor sich hin. Was verursachte die Krankheit der Wale?

Die Menschen brauchten ihre Träume. Die Menschen brauchten etwas, woran sie glaubten, wovon sie träumen konnten. Brauchten Abenteuer, in die sie eintauchen konnten. Brauchten Geschichten, die sie inspirierten. Egal ob verrückt, fantastisch oder ruhig. Träume brachten das Leuchten in die Menschen. Und das war seine Aufgabe, die Aufgabe des Träumemachers. Was waren die Menschen ohne sie? So grau wie die Wale.

Da fiel ihm plötzlich auf, was den Walen fehlte.

„Die Menschen wollen nicht mehr träumen“, stieß der Träumemacher hervor. Die Gnome blickten ihn an, in Erwartung, dass der Träumemacher nun die Lösung offenbarte. Doch er blieb still.

„Können wir ihnen keine Träume bauen?“, quiekte Gutefrage unsicher.

Der Träumemacher verharrte plötzlich. Sein Gesicht erhellte sich.

„Gute Frage!“, lobte er und Gutefrage blickte stolz. Er begann durch die Seiten zu blättern und mehrere von ihnen miteinander abzugleichen. Dann nickte er.

„Das könnte funktionieren. Wir brauchen Farben!“, rief der Träumemacher den Gnomen zu. „Unmengen an Farben. Wenn die Träumesplitter nicht bunt sind, dann nehmen wir das selbst in die Hand!“

Lächeln kehrte zurück in die Gnomenäuglein.

„Aber woher sollen wir die Farben bekommen?“, piepste Gutefrage.

„Die Schimmerblumen!“, entfuhr es Gutesicht.

„Und die Leuchtebeeren“, ergänzte Guterfang.

Der Träumemacher nickte. Und schon machten sie sich auf, die Farben zu ernten. Die Blumen und Beeren glimmten in den verschiedensten Farben. Von Purpur über Eisweiß zu Bernstein.

Aus einer Schublade holte der Träumemacher Glasbehälter mit verschiedenen, gebogenen und langen Hälsen hervor, die sie über Rohre verbanden und in einer Extraktionskonstruktion verankerten. Ein kleiner Blasebalg feuerte eine kleine Flamme an, über der die Flüssigkeit im Glas blubberte. Dämpfe stiegen auf.

Der Träumemacher hatte die verschiedenen Lupen in eine Brillenhalterung eingelegt, mit der er zwischen den einzelnen Vergrößerungen durch klickendes Ein- und Ausklappen der Linse wechseln konnte. Er stand vornübergebeugt an der Werkbank. Rechts von ihm in einer Schüssel lagen die grauen Träumesplitter. In einem Holzrahmen vor ihm hatte er begonnen, die Splitter zusammenzufügen, die er immer wieder mit Farbtropfen beträufelte. Gutefrage stand auf der Werkbank und reichte die Farbphiolen.

Nach langer und anstrengender Arbeit hatten sie den gesamten Fang in Träume verwandelt. Jetzt mussten sie noch zu den Menschen geschickt werden. Dazu klappte er die Werkbank auf und es offenbarte sich eine Halterung, die etwas die Größe der Holzrahmen hatte und unter der sich ein seltsames Objekt befand. Es sah aus wie eine riesige Glühbirne. An der Seite der Werkbank nahm der Träumemacher vier dunkle Schutzbrillen, drei kleine und eine große. Die drei kleinen gab er den Gnomen. Sich selbst setzte er die verbliebene auf, nachdem er das Lupengestell abgelegt hatte.

Dann griff er vorsichtig einen Traumrahmen und legte ihn in die Halterung. Er nickte Gutefrage zu, die sich an einem Hebel auf der Werkbank positioniert hatte. Mit ihren Händchen und etwas Anstrengung legte sie den Hebel um. Die Glühbirne flammte auf und schickte durch die Träumesplitter einen bunten Lichtstrahl in den Sternenhimmel. Nach einigen Augenblicken betätigte Gutefrage den Hebel wieder. Das Licht erlosch.

Gebannt blickten sie in den Himmel und drückten Daumen und Däumchen, dass es funktionierte.

Nichts passierte.

„Hat es nicht geklappt?“, piepste Gutefrage enttäuscht. Nur der Träumemacher und Gutesicht blickten weiterhin stur in den Himmel. Plötzlich nahm Gutesicht ihre Schutzbrille ab und deutete zum Sternenhimmel.

„Da!“, entfuhr es ihr. Der Träumemacher folgte ihrem Fingerchen.

Er lief zum Teleskop, richtete es aus und blickte hindurch. Er sah es. Es wuchs. Grünblaulila schimmernd begann sich ein Licht über den Himmel zu schlängeln. Die Menschen kannten sie als Polarlichter. Die Träume waren angekommen.

„Es hat geklappt!“, rief Guterfang.

Der Träumemacher lächelte durch seinen Bart hindurch.

Sie machten sich daran, die anderen Träume loszuschicken.

Am Ende erfüllten unzählige Lichtspuren den Sternenhimmel und erhellten den Spiegelsee, auf dem sie nun unzählige kleinere Wellen erkennen konnten. Die Wale, die Menschen, die Träume, sie waren gerettet.

Der Pfannenmörder

Christoph West