Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein Schwur, der nicht gebrochen werden darf! Ein Unrecht, das gesühnt werden muss. Rauch wabert über Bauer Meinkes Spargelplantage in Salzhausen. Schlimm genug, dass ein Teil der Ernte vernichtet ist, doch dann liegt auch noch Erntehelferin Greta Neumann erstochen im Kühlraum des Betriebs. Die Tatwaffe: ausgerechnet ein Spargelstechmesser! Ulf Meinke entdeckt Gretas Verlobten, Erntehelfer Benedikt Hahn, wie er über der Toten kniet und verständigt die Polizei. Hauptkommissarin Inka Brandt übernimmt mit ihrem Team den Fall. Der Beschuldigte bestreitet jedoch die Tat, denn er hat kein Motiv. In vier Wochen, nach der Ernte, wollten er und seine Verlobte heiraten und in Brandenburg auf einem eigenen Hof ein Spargelfeld anlegen. Als dann der alte Rudolf Meinke auch noch tot vor der Scheunentür gefunden wird, spitzt sich der Fall dramatisch zu.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 373
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2023 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com + Adobe Stock EPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-9788-7
Angela L. ForsterHeideschwur
Für Richard
– Tempus fugit, amor manet –Die Zeit vergeht – die Liebe bleibt
Der Liebe wegen war Hauptkommissarin Inka Brandt aus der Lüneburger Heide nach Lübeck gezogen und hatte den Werbedesigner Fabian Neureuther geheiratet. Sie erfuhr zu spät, dass die Ehe auf Lügen basierte und in Fabians Branche nur ein verheirateter Mann als vertrauenswürdig und zuverlässig galt. Genau fünf Jahre zu spät.
Inka atmete tief ein und erinnerte sich an den Moment, als sie erkannte, dass in ihrer Ehe zu viel schiefgelaufen war. Fabian hatte nicht vor, sein windiges Leben als Frauenheld und Partyhengst nach der Heirat aufzugeben, und Inka hatte nicht vor, dieses Leben mitzumachen.
Mit ihrer fünfjährigen Tochter Paula war Inka in die Lüneburger Heide auf den Hof ihrer Eltern nach Undeloh zurückgekehrt. Im September wurde Paula sieben Jahre alt und kam Mitte August in die Schule. Sie war ein Kannkind, kein Musskind. Die absurde Regelung, nach dem Geburtsmonat des Kindes den Schuleintritt festzulegen, sollte endlich abgeschafft werden, überlegte Inka. Eltern sollten selbst entscheiden können, ob ihr Kind mit sechs oder sieben Jahren oder früher oder später die Schule besuchen sollte. Bedauerlicherweise würde dies ebenfalls zu einem fürchterlichen Durcheinander führen, mit dem auch keine Eltern einverstanden gewesen wären.
Inka sah aus dem Küchenfenster der Einliegerwohnung, die sie auf dem Hof bewohnte. Die Sonne erhob sich langsam und verscheuchte den Frühnebel, der die Heidelandschaft einhüllte und der Flora und Fauna eine geheimnisvolle Aura verlieh. Sie kippte das Fenster. Vögel zwitscherten. Der Duft der Wacholder und Besenheide lag schwer und herb in der Luft und schob sich durch den Fensterspalt.
Fabian hatte sich für die Einschulungsfeier angekündigt, die Inka für Paula auf dem Hof ausrichten wollte. Sein Kommen gefiel ihr nicht, dennoch schob sie ihren Widerwillen zur Seite. Paula zuliebe. Nur weil sie von Fabian geschieden war, er mit ihr im letzten Sommer einen nervenaufreibenden Sorgerechtsstreit geführt und sie vor Gericht gezerrt hatte, würde sie ihm nicht verweigern, an dem großen Tag seiner Tochter dabei zu sein. Paula liebte ihren Papa abgöttisch, und Fabian liebte seine Tochter. Er war ein lausiger Ehemann gewesen, aber ein fürsorglicher und liebevoller Vater.
Ein erfrischender Windzug wehte ihr eine blonde Haarsträhne ins Gesicht. Doch leider würde die Frische des Tagesanbruchs nur von kurzer Dauer sein, da die Wettervorhersage einen heißen Junitag in der Lüneburger Heide prophezeit hatte. Es müsste endlich regnen, dachte sie. Der kalendarische Sommeranfang hatte noch nicht einmal begonnen, und die Felder und Wiesen trockneten bereits aus. Die Bauern in der Heide und im nahen Alten Land fürchteten um ihre Getreide-, Obst- und Gemüseernte. Die Pegelstände der bundesweiten Flüsse sanken inzwischen so weit, dass sogar der Schiffsverkehr teilweise eingestellt werden musste.
Tim, ihr Schwager, fuhr täglich dreimal zur Weide, um seine Rinderherde mit Wasser zu versorgen. Hielt die Trockenheit weiter an, würde vielleicht sogar das Wasser, wie dies in einigen Teilen Europas im letzten Jahr geschehen war, rationiert werden. Die Klimaforscher prognostizierten weitere Wetterkatastrophen, die der Erde und der Menschheit in den kommenden Jahren bevorstehen würden. Waldbrände, die außer Kontrolle gerieten und Flüsse, die immer weiter austrockneten, oder eine sibirische Kälte würden nicht die einzigen Katastrophen bleiben, die die Zivilisation zusammenbrechen ließen und alle Lebewesen der Erde zukünftig bedrohen würden. Wie würden Paula und ihre Cousins Linus und Lennart aufwachsen? Wie ihre Kinder? Wie alle Menschen und Tiere auf der Welt?
Inka war gedanklich noch in Zukunftssorgen versunken, als sich die Haustür öffnete und ihre Schwester Hanna um den Küchentürrahmen blickte. Hanna war mit vierunddreißig Jahren acht Jahre jünger als Inka und seit zwölf Jahren mit Tim Sundermöhren verheiratet. Als ihre Eltern vor sechs Jahren entschieden hatten, mit einem Wohnmobil durch die Welt zu reisen, hatten Hanna und Tim den Bauernhof übernommen. In den Jahren hatten sie ihn zu einem Biohof mit Hofladen, Rindern, Schweinen und Hühnern, den Hausgänsen Gloria und Gustav und einer kleinen Gemüseanlage umgebaut sowie acht Ferienzimmer und zwei Familienwohnungen ausgebaut. Alle Zimmer waren über das Jahr hinweg ausgebucht. Die Gäste kamen zu jeder Jahreszeit auf den Heidehof, was sicherlich auch an dem Rundum-sorglos-Paket lag, das Tim und Hanna für ihre Feriengäste täglich schnürten.
Ob Tim die Touristen an seiner Arbeit in der biologischen Landwirtschaft teilhaben ließ, ihnen die Vorteile seiner leidenschaftlichen Arbeit erklärte oder er vorführte, wie er den Schweinen Märchen vorlas und sie mit Klaviermusik von Bach, Mozart und Beethoven verwöhnte. Selbst die Herstellung der Fleischwaren, die im hofeigenen Lädchen erworben werden konnten, von der Tieraufzucht bis zur Schlachtung, fand bei den Gästen großes Interesse. Währenddessen verwöhnte Hanna die Feriengäste in der Mittagszeit mit Eintöpfen und selbst gebackenem Brot. Selten blieb in der gemütlichen Bauernküche ein Platz am Mittagstisch unbesetzt.
Vor einem Jahr hatte Gisbert Sommer, ein Hobby-Ornithologe und Kochbuchverleger aus Würzburg, der den in der Heide seltenen Wachtelpelzstelzer beobachten wollte, ein Ferienzimmer auf dem Hof gebucht. Nachdem er Hannas Suppen und Eintöpfe probiert hatte, die sie nach den Rezepten ihrer Großmütter kochte, war er nicht mehr zu halten gewesen. Bis zu seiner Abreise bemühte er sich, Hanna davon zu überzeugen, mit ihm einen Vertrag über ein Heidekochbuch abzuschließen. Hanna sträubte sich vehement. Sie hätte genug Arbeit mit dem Hof, den Ferienzimmern, dem Hofladen und den Kindern. Erst nach langem Zögern erklärte sich Hanna bereit, einige überlieferte Rezepte preiszugeben.
Seitdem waren Hannas Geheime Verführungen aus dem Sommer-Verlag nicht mehr wegzudenken. Kaum einer der Feriengäste trat ohne ein Kochbuch die Heimreise an.
„Hannas Geheime Verführungen – der Titel passt zu einem Liebesschmöker“, war Inka herausgerutscht. Eine Woche hatte sie das Schmollen ihrer Schwester ertragen müssen.
„Guten Morgen, Schwesterlein“, sagte Inka, „es ist lieb von dir, dass du rübergekommen bist.“ Wenn Inka in der Nacht oder am frühen Morgen zu einem Einsatz fuhr, war Hanna zur Stelle, um auf Paula aufzupassen. Es war eine Vereinbarung zwischen den Schwestern, die ihrem Schwager Tim gründlich missfiel. Eine Mordkommission in der Lüneburger Heide, in der es um auf der Straße liegen gebliebene Pferdeäpfel oder geklaute Kartoffelsäcke aus einem Selbstbedienungshäuschen ging, befand er als überflüssiges und rausgeschmissenes Steuergeld. Dass sich in ihrer idyllischen Gegend auch Morde zutrugen, die es aufzuklären gab, wischte er kategorisch zur Seite. Sie hörte ihn bereits jetzt schon wettern. Wobei sie nicht umhinkam, einige seiner gestellten Hofaufgaben als Gegeneinsatz auszuführen. Die Hühner zu füttern, den Schweinestall auszumisten oder zusätzliche Stunden im Hofladen auszuhelfen. Irgendeine Arbeit fiel Tim immer für sie ein. Sie nahm es gelassen.
„Klar.“ Hanna gähnte. „Ich hätte sowieso bald aufstehen müssen. Die zwei Stunden früher …“ Sie schmunzelte. „Schläft Paula noch?“
„Ja. Ich hoffe, bis ich zurück bin und Paula zur Tagesmutter fahren kann. Falls nicht, habe ich ihr für den Tag bei Tilly alles bereitgelegt. Badeanzug, Handtuch und Wechselwäsche, falls sie wieder im Planschbecken spielen. Auf dem Küchentisch liegen die Einladungen für Paulas kleine Freunde zur Einschulungsfeier. Wäre super, wenn du sie mitnehmen könntest. Bitte gib sie Tilly, sie kann sie an die Eltern weiterreichen. Das Frühstück für Paula steht auf dem Küchentisch.“
„Wird alles erledigt. Was ist denn bei uns in der Heide wieder los?“
„In Salzhausen brennt ein Spargelfeld“, sagte Inka kurz und schlüpfte in die Turnschuhe.
„Und dafür ist die Abteilung Mord zuständig?“
„Wir sind alles in der Heide, Schwesterlein, sogar die Feuerwehr“, sagte Inka. Sie küsste ihre Schwester auf die Wange und eilte aus der Haustür.
Die Gänse Gloria und Gustav saßen auf dem Sitz des Treckers, der wie abfahrbereit in der Mitte des Innenhofes stand. Sie reckten ihre Gänsehälse und beobachteten Inka, die in ihren Wagen stieg. Vor der Hoftür auf einer Gemüsekiste döste Bonny, die braun-schwarz gestromte Katzendame, während Rocky, der rote Kater, Richtung Schweinestall schlich.
Inka drehte den Zündschlüssel ihres betagten Golfs, der mit einem blubbernden Geräusch ansprang. Sie musste unbedingt die Werkstatt in Hanstedt anrufen und schnellstmöglich einen Termin für eine Reparatur vereinbaren. Alles in der Hoffnung, dass ihr Wagen noch gerettet werden konnte und sie ihr Konto nicht erneut überziehen musste. Die für Paula geplante Einschulungsfeier und der von der Lüneburger Theateragentur gebuchte Schauspieler, der als Bob der Baumeister auftreten würde, hatten ihr Monatsbudget bis auf den letzten Cent geschröpft. Aber Hauptsache Paula würde sich freuen, ihrer Lieblingsfigur in Originalgröße zu begegnen.
Sie fuhr ihren Wagen vorsichtig an der Schar Hühner vorbei, die auf dem Hof herumliefen und im Sand nach Futter pickten, dann lenkte sie weiter über die Heimbucher Straße.
Windböen trieben die Rauchschwaden, die über dem Spargelfeld in Salzhausen in den Himmel der Lüneburger Heide hochschossen wie aus einem kochenden Vulkan, rasant in den frühen Morgen. Die Bauernhöfe in dem kleinen Heideort verschwanden im grau-schwarzen Dunst, welcher Hof und Lebewesen in einen beißenden Mantel hüllte, dem niemand entkommen konnte.
„Ich liebe meinen Beruf“, sagte Hauptkommissar Mark Freese, der am Eingang des Meinke-Hofes am Ortsende in Salzhausen auf Inka gewartet hatte. „Aber ich hasse es, zu dieser frühen Uhrzeit aufzustehen. Wäre schön, wenn die Einsätze bis zu der normalen Dienstzeit warten würden.“
Mark Freese war vor vier Monaten Vater geworden und von der Durchschlafphase seines zweiten Sohnes Frederik, der sich als ziemlicher Schreihals entwickelt hatte, weit entfernt. Der Dreiundvierzigjährige gähnte. Auf seinem sonst so glatt rasierten Gesicht zeigte sich ein leichter Bartschatten.
„Was ist hier los?“, fragte Inka. „Frauke rief mich an und berichtete von einem Feuer auf einem Spargelfeld.“
„Keine Ahnung. Ich weiß auch nicht mehr.“ Mark gähnte erneut.
„Aber warum sind wir dann hier? Die Kollegen haben uns einen Haufen Aktenstapel mit Fällen auf den Tisch gelegt, mit denen wir uns beschäftigen können. Deshalb müssen wir als Abteilung Mord nicht für ein kleines Feuer ausrücken. Zumindest so lange nicht, bis es sich als Brandstiftung herausstellt.“
Seitdem der Kreuzer, der Serienmörder, der sechs Jahre lang die bundesweite Bevölkerung in Atem hielt, vor einem halben Jahr sein Schicksal gefunden hatte, war es auch in der Lüneburger Heide ruhiger geworden. Auf der Hanstedter Wache waren nur kleinere Einbrüche, Lärmbelästigungen, Ehestreitigkeiten und die üblichen Krawalle eingetrudelt, in denen Inka und Mark den Kollegen vom Einbruchsdezernat und der Betrugsstelle aushalfen. Aber um kurz vor vier Uhr, da gab sie Mark recht, musste man sie wirklich nicht für ein brennendes Spargelfeld aus dem Bett scheuchen.
„Inka, ich weiß es nicht“, wiederholte Mark, als eine Frau Mitte dreißig die Eingangsstufen eines rot geklinkerten Einfamilienhauses herunterschritt. Die schwarzen Schlappen an ihren Füßen waren ihr eindeutig zwei Nummern zu groß.
„Sind Sie die Polizei?“, fragte sie Inka und Mark, während sie weiter den Kommissaren entgegenschlurfte. Sie trug einen roséfarbenen Jogginganzug mit Markenlogo auf dem Jackenkragen, das sich am Hosensaum wiederholte. Ihr weizenblondes Haar war auf dem Oberkopf mit einem schwarzen Samtband gebunden, aus dem einige Haarsträhnen ungeordnet heraushingen, die ihr der Wind über das ungeschminkte Gesicht pustete.
„Ja.“ Inka zog ihren Ausweis aus der Hosentasche und hielt ihn der Frau entgegen. „Inka Brandt und Kollege Mark Freese, Abteilung Mord, Hanstedt. Frau Meinke, ist das richtig? Sie haben uns angerufen.“
„Ja. Karin Meinke. Aber sind Sie nicht die Besitzerin des Hofladens vom Biohof Brandt in Undeloh?“
„Nein. Meine Schwester Hanna und mein Schwager Tim Sundermöhren haben den Hof von unseren Eltern übernommen. Aber ich wohne dort und helfe ab und an im Hofladen aus.“
„Ich wusste doch, dass ich Sie schon das ein um andere Mal gesehen habe. Wir liefern unseren Spargel jedes Jahr zu Ihnen in den Hofladen, also zu Ihrer Schwester und Ihrem Schwager in den Laden sowie früher zu Ihren Eltern. Sind Ihre Eltern noch mit dem Wohnmobil unterwegs? Ich hörte von Island, Schweden und Griechenland.“
„Ja, inzwischen sind sie wohl überall auf der Welt zu finden. Jetzt erkunden sie Deutschland. Aber ich erinnere mich ebenfalls an Sie. Sie sind erst letzte Woche bei uns auf dem Hof gewesen. Richtig?“
„Genau. Wie immer zehn Kilo Spargel der Klasse 1a, zehn Kilo Spargel der Klasse 2 und fünf Kilo Spargelbruch. Selbstverständlich in Bioqualität.“
Inka nickte. „Kommen wir zu Ihrem Anruf bei uns auf der Wache, Frau Meinke. Weshalb sind mein Kollege und ich gerufen worden, wenn es sich nur um ein kleines Feuer handelt?“
„Es ist nicht nur ein kleines Feuer, Frau Brandt. Das ganze Spargelfeld brennt!“, entrüstete sich Karin Meinke. „Greta, also Greta Neumann, eine unserer Erntehelferinnen, sie hat uns alle aus dem Schlaf getrommelt. Sie hat zuerst das Feuer auf dem Feld bemerkt und über den ganzen Hof: ,Feuer! Feuer!‘ gebrüllt.“
„Gibt es Verletzte? Einen Toten?“, fragte Inka.
„Nein, soweit ich gehört habe, nicht. Ich war noch nicht auf dem Feld. Ulf, mein Mann, ist bei der Feuerwehr.“ Karin Meinke schloss die Arme über den Körper zusammen. „Können wir hineingehen, es ist doch etwas kühl am Morgen und der Rauch …“ Sie wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht.
„Wir gehen zuerst auf das Feld, und dann würde ich gerne mit Ihren Erntehelfern sprechen. Wie viele Arbeiter sind zur Erntezeit auf dem Hof beschäftigt?“
„Zwanzig, oder warten Sie, nein, es sind nur noch zwölf Helfer. Vorgestern war Zahltag, danach sind acht bei Nacht und Nebel abgereist, zurück nach Polen. Ohne sich zu verabschieden. Sie müssten den Saustall sehen, den drei von ihnen in ihren Zimmern hinterlassen haben. Es ist immer das Gleiche. Wir können jetzt wieder den Dreck entsorgen und renovieren. Und da wundert es, wenn wir die Miete für die Unterkünfte nicht senken, na ja, außer für diese Saison.“ Karin stöhnte genervt. „Greta und Benedikt sind sowieso die einzigen Deutschen, die jede Saison wiederkommen. Von unseren Landsleuten will sich keiner mehr die Finger schmutzig machen. Das staatliche Geld und die soziale Hängematte sind deutlich bequemer. Was glauben Sie, was hier alles ankommt. Sobald diese arbeitsscheuen Faulenzer vom Mindestlohn erfahren, winken sie ab und verlangen auch noch eine Bescheinigung, dass sie einen Tag gearbeitet haben. Dabei haben sie keinen Finger gerührt. Unglaublich, was die sich herausnehmen. Da sind uns die Polen und Rumänen um ein Vielfaches lieber.“
„Ja, die Hofarbeit ist nicht jedermanns Sache“, sagte Inka, ohne auf Karins zynische Bemerkung einzugehen. Als Hanna und Tim den Hof von ihren Eltern übernommen hatten, hatten sie ebenfalls an den zusätzlichen Anbau eines Spargel- und Erdbeerfeldes gedacht. Letztendlich hatten sie sich dagegen entschieden. Die Tierhaltung, Schlachtung und Vermarktung, der Gemüseanbau und die Ferienzimmer waren für Hanna, Tim und die Aushilfen, die zweimal in der Woche auf dem Feld aushalfen, genug Arbeit. Inka wandte sich den beiden Feuerwehrwagen zu, die mit blinkendem Warnlicht in fünfzig Meter Entfernung standen. „Wir gehen auf das Feld“, sagte sie, während sie ihr T-Shirt über Mund und Nase zog.
Der aufsteigende Dampf der verglühenden Pflanzensträucher wie der beißende Gestank von geschmolzenen weißen und schwarzen Kunststoffplanen versuchte sich in jeder Lunge einzunisten. Vom rechten Ende des Feldes zischte und knisterte es, es loderten noch immer rotblaue Flammen auf, während die vordere Feldhälfte unter einem Teppich aus weißem Löschschaum lag.
„Verschwinden Sie aus dem Windschatten!“, rief ein Feuerwehrmann in Schutzkleidung Inka und Mark entgegen. Er winkte die Kommissare an den Rand des Feldes auf die linke Seite.
Einige Feuerwehrleute rollten die Meter eines Wasserschlauchs ein, andere verstauten ihre Atemgeräte im Fahrzeug. Wieder andere Kollegen löschten die letzten verbliebenen Spargelpflanzen, die wie aufgestellte Partyfackeln in den Morgen züngelten.
Inka duckte sich mit Mark unter dem Absperrband hindurch und ging auf einen Feuerwehrmann zu, der an einem Einsatzfahrzeug lehnte und sein knarzendes Funkgerät ausschaltete. „Inka Brandt und mein Kollege Mark Freese, Kripo Hanstedt“, stellte sie sich vor. „Wer ist der Einsatzführer?“
„Knut Westerfeld“, antwortete der Feuerwehrmann, der auch als kanadischer Footballspieler durchgehen konnte.
Die Erinnerung an ihre Au-pair-Zeit huschte durch Inkas Gedanken. Nach dem Abitur war sie für ein Jahr nach Australien in die Stadt Queanbeyan, ein Städtchen nahe der Hauptstadt Canberra, gereist. John, der zwanzigjährige Sohn der Familie Henson war Rugbyspieler, ein Meter neunzig groß, und mit seinen einhundertdreißig Kilogramm Gewicht brachte er einiges an Muskelmasse auf die Waage. Starke Arme, die die achtzehnjährige, zierliche Inka in die Luft hoben und beschützten, näherte sich auch nur ansatzweise ein Fremder. Was hatte sie mit John für eine wunderbare Zeit verbracht. Sie waren Freunde. Den Hauch von etwas mehr Nähe, den sehnsüchtigen Blick in seine unglaublich blauen Augen hatte Inka ihrem Alter geschuldet. Wenn John Rugby gespielt hatte, hatte sie auf der Tribüne gesessen und ihn angefeuert. Sie hatte gebibbert und die Luft angehalten, wenn ihr Freund auf dem Spielfeld von seinen Mitspielern zu Boden geworfen wurde, weil die den ledernen eiförmigen Ball für sich eroberten. Inka war immer froh, wenn er ihr vom Spielfeld aus zuwinkte und ihr signalisierte, dass es ihm gut ging.
Jeden Freitagnachmittag, sobald er aus dem College in Canberra zurückkehrte, schnallten sie die Surfbretter auf das Autodach und fuhren mit vier Freunden an die Tasmansee, an den südwestlichen Zipfel des Südpazifiks. John lenkte seinen Jeep über Braidwood durch den Nationalpark Monga, den Currowan State Forest und den Sugar Loaf Mountain, bis er über den Clyde River an der Malua Bay vorbei auf die Pretty Point Bucht zuhielt. Nach der zweistündigen Autofahrt schlugen sie ihre Zelte auf. Sie saßen am Lagerfeuer, tranken billiges Bier und Rotwein aus dem Pappkarton und sahen in den Sternenhimmel. Fred und Victor spielten auf ihren Gitarren Rock- und Liebeslieder, die alle mitsangen, während sie im Mondschein in der Runde saßen oder um das Feuer tanzten. Es war ein Jahr, das sie nicht missen wollte. Sie hatte sich in all den Jahren nie wieder so leicht und unbeschwert gefühlt wie in diesem Jahr in Australien. Fast wäre sie geblieben und nie mehr nach Hause zurückgekehrt. Sie musste John, Fred, Victor, Olivia und Matilda endlich wieder schreiben. Zu viel Zeit war vergangen. Viel zu viel.
„Sie finden ihn an dem anderen Wagen bei Brandschutzexperte Kleinschmidt“, hörte sie einen der Männer sagen.
Inka nickte und folgte Mark zum Rand des Feldes bis zum zweiten Einsatzfahrzeug. Zwei Männer unterhielten sich. Sie hoben die Arme und gestikulierten wild über die Spargelreihen hinweg. „Guten Morgen. Inka Brandt und mein Kollege Mark Freese, Kripo Hanstedt“, stellte sie sich den Männern vor, während sie weiterhin ihr Shirt schützend über Mund und Nase hielt. „Gibt es Verletzte oder Tote?“
„Nein, zum Glück nicht.“ Der Mann in der Feuerwehruniform reichte ihr die Hand. „Knut Westerfeld, ich bin der Einsatzleiter des Führungsdienstes aus Soltau. Mein Kollege Willi Kleinschmidt aus Winsen ist Brandermittler. Wir haben Sie hinzugerufen, da es sich nach unserer Begutachtung eindeutig um Brandstiftung handelt. Fast die gesamte Fläche des Spargelfeldes wurde mit Benzin übergossen und angezündet. Bis an die linke Ecke konnten wir die Reste einer Benzinlache ausmachen.“ Er deutete mit erhobenem Arm über das Feld. „Da hinten“, er nickte mit dem Kinn zu der rechte Ecke des Feldendes, „in der Abfalltonne haben wir einen Benzinkanister und ein paar alte Lumpen gefunden. Offenbar sind damit die Reihen angezündet worden. Bei dem Wetter brennt ja alles wie Zunder.“
Über achtzig mit Folien abgedeckte Spargelreihen waren in Flammen aufgegangen. Ein lichterloher Auftritt, der in den Morgenstunden für die Bürger in Salzhausen für Aufregung gesorgt hatte.
„Wer hat den Brand gemeldet?“ Mark hob den Stift von seinem Notizbuch, in dem er inzwischen die wichtigsten Informationen festgehalten hatte. Er wartete auf Westerfelds und Kleinschmidts weitere Antworten.
„Eine Erntehelferin. Die Rauchentwicklung hätte sie aus dem Schlaf gerissen, was ich jedoch bezweifle. Unsere klassischen Sinne sind zwar während des Schlafs aktiv, aber ein Reiz des Geruchssinns führt nicht zum Aufwachen. Das ist der Grund, warum es Rauchmelder gibt.“ Westerfeld lächelte. Es war ein ernstes Lächeln, das sich sofort wieder verflüchtigte.
„Und wann war das?“, erkundigte sich Inka.
„Wir erhielten die Meldung um drei Uhr vierundvierzig.“
Inka blickte zu Mark, der weiterhin in seinem Notizbuch schrieb. „Der Hofeigentümer, Herr Ulf Meinke, soll sich auf dem Feld befinden. Wo ist er?“ Inka sah über das Spargelfeld.
„Er war vor Kurzem noch hier und hat geflucht und geschimpft“, berichtete Kleinschmidt. „Dann ist er Richtung Feldende losgestampft.“
Ulf Meinke stand am Feldende beim beginnenden Nachbargrundstück. Er sprach mit einigen Anwohnern, die besorgt die Flammen beobachtet hatten, die ihren Grundstücken gefährlich nahegekommen waren.
„Guten Morgen“, sagte Ulf Meinke, während er Inkas Ausweis näher betrachtete. „Was will die Kripo hier? Es ist nur ein Feuer.“ Meinke war Anfang vierzig und schlank. Er trug einen schwarzen Jogginganzug, in den er offenbar kurz geschlüpft war, als die Erntehelferin das Feuer gemeldet hatte.
„Ein Feuer, das durch Brandstiftung ausgelöst wurde, wie uns gerade vom Einsatzleiter der Feuerwehr mitgeteilt wurde“, erwiderte Inka. Sie ersparte sich weitere Erklärungen, dass bei einer Brandstiftung auch die Polizei als Fachkommission ermittelte. Zudem stand er als Eigentümer ganz oben auf der Liste der Verdächtigen. „Haben Sie einen Verdacht, wer das Feld mit Benzin übergossen und angezündet haben könnte?“
„Woher soll ich das denn wissen? Ich meine, wer setzt schon ein Spargelfeld in Brand? Was ergibt das für einen Sinn? Noch dazu kurz vor dem Ernteende.“ Ulf Meinke schüttelte den Kopf.
„Es ist offensichtlich jemand, der Ihnen schaden will, Herr Meinke“, antwortete Mark.
„Ja, einen Schaden hat dieser Idiot tatsächlich angerichtet. Wir müssen die Erde abtragen, und erst dann, nach einigen Bodengutachten, können wir neue Pflanzen setzen, wenn überhaupt. Der Spargel braucht mindestens einhundert Tage, um durchzuwachsen und einen grünen Busch zu bilden, um die Pflanze viele Jahre beernten zu können. Dieses Jahr wird das nichts mehr. Und in zwei Wochen wollten wir den Spargelsilvester feiern. Wir sind am Arsch.“
„Spargelsilvester?“, fragte Inka nach. Zögernd steckte sie die Nase unter dem Shirt hervor.
„Ja. Eine Bauernregel besagt, dass ab dem 15. April bis zum Johannistag, dem 24. Juni, Spargel gestochen werden darf. Anschließend muss sich die Pflanze wieder regenerieren. Wir feiern dann jedes Jahr immer ein kleines Hoffest mit unseren Erntehelfern. Und zu Ihrer Frage: Nein, ich habe keine Ahnung, wer das getan haben könnte.“
„Wie ist es mit Ihnen?“ Suchend sah Inka durch die angesammelte Menschenmenge in Jogginganzügen, Morgenmänteln und Pyjamas. Es kam nicht selten vor, dass Brandstifter ihr Werk beobachteten, weil sie es als aufregend empfanden, so als legten sie das Feuer ein weiteres Mal. Doch am Gartenzaun standen nur Rentnerehepaare, von denen Inka nicht vermutete, dass sie mit Benzinkanister über Meinkes Feld gestiefelt waren. Sie waren einfach nur besorgt, ob das Feuer für ihr Grundstück gefährlich werden konnte. Sie wandte sich an zwei Pärchen, die hinter der Einfriedung standen und das Gespräch aufmerksam verfolgt hatten.
„Nein, ich kann mir nicht vorstellen, wer der Karin, dem Erik und dem Ulf das antun würde. Die Elsbeth und der Rudolf werden fassungslos über die Katastrophe sein. Die schöne Ernte. Der Spargel ist immer so lecker. Wir kaufen ihn nur bei den Meinkes, schon seit Jahren“, sagte eine kleine rundliche Frau. Sie war an die siebzig. Ihre grauen Locken lagen vom Wind oder möglicherweise auch vom Schlaf verwirbelt um ihr Gesicht. Der dunkelblaue Morgenmantel aus Frotteestoff war stramm über ihren Körper gewickelt und mit dem Gürtel über der Taille zusammengebunden.
Der Mann, der neben ihr stand, nickte zustimmend. „Ich weiß auch nicht, wer so eine Scheiße anstellt“, brummte er. Er zog noch einmal an seiner Zigarette und warf sie dann hinter sich auf den Boden. Mit der Schuhspitze seines Slippers drückte er sie in den Sand. Wie die Frau trug er einen Morgenmantel aus Frotteestoff, der über seinem Bauch spannte. Wüsste man es nicht besser, sah das Ehepaar aus, als warte es auf den Einlass zu einer Pyjamaparty.
Auch die weiteren Ehepaare trugen Strickjacken über ihrer Nachtkleidung oder waren leger in Jogginganzüge gekleidet.
Doch keiner der Anwesenden hatte jemanden gesehen oder konnte sich einen Reim darauf machen, wer dem Spargelhof Meinke mit dieser Feueraktion schaden wollte.
Die Unterkünfte für die Erntehelfer lagen wie Reihenbungalows nebeneinander und entsprachen mit dem einzigen Zimmer eher einer provisorischen Behausung als einem Eigenheim. Die Toiletten und Duschen wie die Küche, die an dem linken Ende der Bungalows anschlossen, vermittelten eine zweckmäßige Campingplatz-Ausstattung.
Greta Neumann saß auf einem karminrot gemusterten Polstersofa in der Unterkunft, die sie mit ihrem Verlobten Benedikt Hahn während der Erntesaison bewohnte.
Inka setzte sich auf den Stuhl, den ihr die Vierundzwanzigjährige anbot. Mark lehnte sich an die Haustür. Das Mobiliar war abgenutzt und chaotisch zusammengewürfelt, als wäre der Speicher der Großeltern geräumt und die Unterkunft damit eingerichtet worden. Dennoch war alles sauber und aufgeräumt.
Inka war rätselhaft, wie zwei Personen in diesem kleinen Zimmer Ordnung halten konnten. Bei ihr in der Wohnung lag immer etwas herum. Die Spielzeuge von Paula, das Bügelbrett im Wohnzimmer, die aufgerissene Tüte Lakritzbonbons auf dem Küchentisch oder das ein ums andere Kleidungsstück. Sie fand ihre Wohnung nicht unordentlich, sondern bewohnt und mit einer kleinen Note von Gemütlichkeit versehen.
„Frau Neumann“, begann Inka. Sie blickte zu Mark, der erneut sein Notizbuch aus der Tasche zog. Er nickte Inka zu. „Sie haben heute Morgen um kurz vor vier Uhr das Feuer als Erste bemerkt. Ist Ihnen jemand aufgefallen? Jemand, der auf dem Hof herumlief oder weglief? Jemand, der hier nicht hingehört.“
„Nein. Niemand. Um diese Uhrzeit schlafen alle. Die Arbeit auf dem Feld ist anstrengend.“
„Sie haben aber nicht geschlafen“, bemerkte Mark.
„Ich bin aufgewacht, weil es so merkwürdig gerochen hat. Verbrannt eben. Ich habe aus dem Fenster gesehen …“ Die junge Frau nickte zum einzigen Fenster neben der Eingangstür. Anders als andere Hofbewohner, denen Inka an diesem frühen Morgen bereits begegnet war, trug Greta eine Bluejeans und eine kurzärmlige weiße Baumwollbluse. Jede Strähne ihres brünetten Haares lag an seinem Platz, und sie trug ein leichtes Make-up. „… jedenfalls sah ich die Flammen über dem Feld aufsteigen“, berichtete sie weiter. „Ich rief sofort die Feuerwehr an.“
„Wie ist es mit Ihnen, Herr Hahn? Ist Ihnen das Feuer ebenfalls aufgefallen?“ Inka sah zu dem Mann, der eine graue Jogginghose und ein zerknittertes T-Shirt trug, das er sich eilig übergezogen haben musste, da es nur lose in dem Hosenbund steckte.
„Nein, ich habe tief und fest geschlafen. Wie Greta sagt – die Arbeit auf dem ist Feld anstrengend. Aber für uns ist es ohnehin die letzte Saison. Seit sechs Jahren helfen wir auf dem Meinke-Hof bei der Ernte. Inzwischen haben wir genug gespart und viel über den Spargelanbau gelernt. Ende Juni fahren wir nach Hause und legen unser eigenes Spargelfeld an“, sagte er. Lächelnd sah er zu Greta.
„Karin Meinke erzählte, dass Sie die einzigen deutschen Erntehelfer auf dem Hof wären.“
„Ja, das ist richtig. Von uns Deutschen will ja kaum jemand bei der Spargelernte helfen. Die Arbeiter kommen in der Regel aus Polen oder Rumänien und sind mit dem Hungerlohn und der harten Arbeit zufrieden. Sie arbeiten in Deutschland, weil sie in den drei Monaten bei der Ernte so viel verdienen wie in einem halben Jahr in ihrem Heimatland.“
„Wenn es ein Hungerlohn ist, den Sie verdienen, Herr Hahn, wie können Sie dann …“
Der Achtundzwanzigjährige ließ Inka nicht ausreden. „Na ja, es geht schon. Die Meinkes sind knausrig, und die Unterkunft ist nicht billig. Wir hatten überlegt, auf den Hof nach Bispingen zur Spargelernte zu wechseln. Die Besitzer zahlen besser. Die Erntehelfer arbeiten zu fairen Bedingungen. Es gibt eine Krankenversicherung und die sozialen Absicherungen. Wir haben Ulf und Karin daraufhin angesprochen, sie versprachen uns den Lohn zu erhöhen, falls wir über die Saison bleiben.“
„Haben sie den Lohn erhöht?“
„Gering, aber dafür wurde die Miete für die Unterkunft um die Hälfte reduziert. Es ist eine Erleichterung. Und für die paar Wochen sind wir geblieben. Ich besitze ja auch einen Hof, nicht so groß wie der der Meinkes, aber für uns beide reicht er aus.“ Wieder warf er Greta einen lächelnden Blick zu. „Ich habe ihn vor drei Jahren von meinem Onkel geerbt. Der Hof liegt in Brandenburg. In den letzten Jahren haben wir ihn Stück für Stück renoviert und für unser eigenes Feld vorbereitet. Wenn wir nicht zum Spargelstechen kommen, dann arbeiten wir in unseren Hauptberufen. Greta ist Kosmetikerin, und ich bin für eine Keramikfirma als Mediengestalter tätig. Allerdings arbeite ich hauptsächlich im Homeoffice. So konnten wir mit den Jobs den ein um anderen Euro in den Jahren zurücklegen.“ Er strich sich mit den Fingern durch sein vom Schlaf verstrubbeltes Haar.
„Hat Ihre Verlobte Sie geweckt? Oder sind Sie von dem Lärm und dem Brandgeruch allein aufgewacht?“
„Ich bin von Greta geweckt worden. Ja, das ist richtig. Sie schrie immer: ,Feuer! Feuer! Das Feld brennt!‘“
„Und das war um drei Uhr vierundvierzig heute Morgen?“
„Kann schon sein. Ich habe nicht auf die Uhr gesehen. Allerdings war es noch dunkel draußen. Aber warum wird die Mordkommission gerufen, wenn ein Feld brennt? Ist jemand ums Leben gekommen?“
„Glücklicherweise nicht“, antwortete Inka kurz. Sie ließ Benedikts erste Frage unbeantwortet. „Frau Neumann, was haben Sie getan, nachdem Sie die Feuerwehr angerufen haben?“
„Ich bin zu Karin und Ulf gelaufen und habe an ihrer Tür geklingelt und geklopft, bis sie aufgemacht haben.“
„Wer hat Ihnen die Tür geöffnet?“
„Na, Karin und Ulf. Erik war nicht da, der hat sich wieder einmal herumgetrieben.“
„Erik?“
„Ja, Karins Bruder. Ulf und Karin leiten den Hof, während Erik sich um die Verwaltungsarbeiten kümmert, falls er sich dann um seine Aufgaben kümmert.“
„Greta, die Familienangelegenheiten der Meinkes gehen uns nichts an, und es steht dir nicht zu, wie ein altes Waschweib darüber zu plaudern“, mahnte Benedikt.
„Ich plaudere nicht, ich sage die Wahrheit, die sowieso jeder weiß“, setzte Greta mürrisch dagegen. „Es ist kein Geheimnis, dass Erik mit dem Hof nichts am Hut hat und nur seine finanziellen Vorteile aus der Bewirtschaftung zieht.“
„Nun, wenn es jeder weiß, dann können wir die Wahrheit ja auch erfahren. Was bedeutet es, falls Erik Meinke sich dann kümmert?“, fragte Mark.
Greta warf einen schnellen Blick zu Benedikt, dann sagte sie: „Ulf und Karin reißen sich ein Bein aus, damit der Hof läuft. Sie haben ja nicht nur das Spargelfeld, sondern auch noch den Kartoffel- und Rübenacker sowie die Strohschweine.“
„Was sind Strohschweine?“, wollte jetzt Mark wissen.
„Es sind Schweine, denen es besser geht als in der konventionellen Landwirtschaft. Von der Geburt bis zur Schlachtung und zum Verkauf findet alles in Norddeutschland statt. Häufig in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Ulf, also Herr Meinke, hat vor zwei Jahren mit der besonderen tierfreundlichen Zucht in der Lüneburger Heide begonnen. Es ist zwar noch immer keine Biohaltung, aber die Tiere bekommen so mehr Auslauf mit Außenklima, Strohbäder, Beschäftigungsmaterialien, und sie erhalten regionales Futtermittel. Außerdem sind alle Tiere bis zu ihrem Aufzuchtsort zurückverfolgbar, was ja leider nicht immer selbstverständlich ist“, erklärte Greta. „Was ich sagen wollte, ist, dass Erik nicht immer so hinter seiner Aufgabe steht, wie er es sollte. Erst vor drei Tagen hörte ich ihn mit seinem Schwager fürchterlich streiten. Sie standen im Kühlkeller, als ich die leeren Spargelkisten runtertragen wollte. Ich bin oben an der Treppe stehen geblieben, um die Männer nicht zu stören.“
„Du hast gelauscht“, sagte Benedikt.
„Ja, stimmt. Ich habe gelauscht, aber nicht lange, dann bin ich zurück aufs Feld gegangen. Wobei Ulf und Erik sich so laut angeschrien haben, dass ihr Streit sogar bis auf den Innenhof zu hören war.“
„Um was ging es?“, kürzte Inka Gretas Ausführung ab.
Die junge Frau druckste. „Ulf hat Erik angebrüllt, er könne sich nicht alles erlauben, auch wenn er das Lieblingskind des Alten wäre.“
„Wer ist der Alte?“, wollte jetzt Mark wissen.
„Der alte Bauer Meinke. Rudolf Meinke. Seiner Frau Elsbeth zuliebe hat er den Hof vor zwei Jahren seinen Kindern Karin und Erik und seinem Schwiegersohn Ulf übergeben und sich nun zur Ruhe gesetzt. Einmal in der Woche kommt er vorbei und sieht nach dem Rechten. Er kann es noch nicht lassen, auf dem Hof mitzumischen.“
„Haben Sie die Adresse von Rudolf Meinke?“
Greta Neumann schüttelte den Kopf. „Ich weiß nur, dass sie nach Bispingen gezogen sind. Aber die Straße kenne ich nicht. Da müssen Sie die Kinder fragen.“
Mark nickte und schrieb eine Notiz in sein handgroßes Büchlein. „Was konnten Sie zwischen den Männern noch verstehen, als Sie auf dem Weg in den Kühlkeller waren?“
„Na ja, die Tür zum Keller stand offen, und da hörte ich, wie es um Geld, einen Mann und irgendwelche Geschäfte ging. Ulf sagte, dass er dem Alten, seinem Schwiegervater, davon erzählen werde. Aber mehr weiß ich wirklich nicht, weil ich ja dann auf das Feld gegangen bin.“
„Aber was er Rudolf Meinke über seinen Lieblingssohn erzählen würde, würde dem gar nicht gefallen. Ist das richtig?“
„Das nehme ich an. Aber ich weiß ja nicht, worum es sich im Einzelnen gehandelt hat. Jedenfalls war das schon mehrmals ein Thema, das mit dem Lieblingskind. Der Erik ist der Erstgeborene, der Stammhalter, er hat Verantwortung zu tragen und den Hof so weiterzuführen, wie ihn der Alte aufgebaut hat. Karin ist nur das Mädchen, die Zweitgeborene, die hübsch zu sein hatte und eine gute Partie und einen der Söhne der reichen Nachbarhöfe heiraten sollte, um die Meinkes ein Stückchen weiterzubringen. Sozusagen war sie nichts weiter als der Köder am Haken. Dass sie nicht hübsch zur Welt kam, dafür kann sie ja nichts. Auch nicht, dass sie keinen Esprit, keine besondere Ausstrahlung besitzt. Sie ist eher die unscheinbare graue Maus, nett, doch sie tut sich schwer mit den Qualitäten, die eine Frau für Haushalt und Ehemann benötigt. Karin ist für das Grobe. Sie hält den Hof sauber, organisiert die Markttage und koordiniert die Mitarbeiter, solche Dinge kriegt sie gut hin. Aber das reicht eben nicht. Doch zum Ausgleich gibt es ja die Irene, die Haushälterin, die alles kann, was Karin von Natur aus versagt blieb. Irene ist die Perle des Hauses Meinke und seit Jahrzehnten auf dem Hof beschäftigt. Bereits seit Erik und Karin Babys waren, ist sie mehr ihre Mutter, als Elsbeth es jemals sein konnte. Sie, also die alte Elsbeth Meinke, war nicht so geschaffen für das Muttersein. Irene hingegen blühte in der Rolle als Zweitmutter auf. Das spürt man noch heute, obwohl Erik und Karin erwachsen sind. Als Karin dann Ulf geheiratet hat, einen Büroangestellten, keinen reichen Bauernsohn aus der Nachbarschaft, hat es der Irene sauer aufgestoßen. Sie soll gesagt haben, dass der Ulf sie wie ihre zwei vorherigen Männer nur ausnutzen wolle. Auch der alte Rudolf Meinke war mit der Heirat seiner Tochter überhaupt nicht einverstanden. Angeblich war Ulf froh und hätte es nur darauf angelegt, aus seinem Büroalltag herauszukommen, um sich auf dem Hof in ein gemachtes Nest zu setzen, sagte der Alte. Aber so ist der Ulf nicht. Und selbst wenn, wer wünscht sich nicht ein besseres Leben. Ulf ist wirklich fleißig und hat sich seinen Platz auf dem Hof verdient. Aber er ist ja auch schon Karins dritter Ehemann. Bei ihr hält es eben keiner lange aus. Sie vergrault sie alle.“
Inka staunte über das Wissen der Erntehelferin. „Wie lange sind die Meinkes verheiratet?“, fragte sie nach. Wenn Greta Neumann schon so auskunftsfreudig war, sollte sie das ausnutzen.
„Sie sind im verflixten siebten Jahr.“ Greta schmunzelte.
„Und die beiden vorherigen Ehemänner, was war mit ihnen?“
„Den ersten hat Karin mit einer anderen Frau erwischt und vom Hof gejagt. Der zweite hat den Hof fast in den Bankrott gesoffen. Karin hat ihm die Koffer vor die Tür gestellt und die Scheidung eingereicht. Die Ehen haben immer kaum ein halbes Jahr gehalten. Aber Karin wird auch für die Dramen verantwortlich gewesen sein. Nie trägt einer allein die Schuld, wenn die Ehe nicht mehr funktioniert.“ Gretas Wangen röteten sich leicht. „Der Ulf ist solide“, sagte sie schnell. „Er trinkt nicht, also nicht so und …“ Greta verstummte. Die Röte auf ihren Wangen vertiefte sich eine Nuance. „… also nicht wie Karins zweiter oder auch erster Ehemann, wollte ich sagen.“
„Verstehe“, sagte Inka. „Wobei sieben Jahre Ehe doch schon beachtlich sind. Gibt es Kinder?“
„Nein, das hat bisher zwischen den beiden nicht geklappt. An wem das liegt? Ob an Ulf oder Karin?“ Greta zuckte die Schultern.
„Ich denke, das war es fürs Erste“, sagte Inka. „Hast du noch Fragen, Mark?“
Mark nickte und wandte sich an Benedikt. „Mich würde interessieren, ob Sie, Herr Hahn, auch von dem Streit der beiden Männer gewusst haben?“
„Nein, ich höre erst jetzt davon.“ Benedikt blickte Greta erstaunt an.
„Sie haben also nie mitbekommen, dass Erik Meinke seinen Aufgaben auf dem Hof nicht so nachkommt wie sein Schwager und seine Schwester oder auch sein Vater es sich wünschen würden?“
„Na ja, manchmal hört man das ein oder andere Wort, aber ich bin an Geschwätz nicht so interessiert wie Greta.“ Er blickte zu seiner Verlobten, die bei Benedikts Worten mürrisch das Gesicht verzog. „Ich mache meine Arbeit und mische mich nicht in die Familienangelegenheiten der Meinkes. In jeder Familie gibt es gelegentlich Unstimmigkeiten, da muss man nicht gleich die Goldwaage auf den Tisch stellen. Außerdem sind wir bald in Brandenburg auf unserem Hof. Was gehen mich da die Auseinandersetzungen der Meinkes an?“
„Noch eine letzte Frage, Herr Hahn: Wer hat das Spargelfeld mit Benzin übergossen und angezündet? Was denken Sie?“
„Keine Ahnung“, antwortete Benedikt. „Was will man auch damit bezwecken? Die Saison ist in zwei Wochen beendet. Vielleicht war es ein Jungenstreich.“
Auch die weiteren befragten Erntehelfer konnten den Kommissaren keine klärenden Aussagen geben. Einerseits haperte es an der Sprachverständigung der polnischen und rumänischen Erntehelfer, die Inka und Mark ängstlich anstarrten, als die ihren Polizeiausweis vorzeigten, andererseits hätten sie tief und fest geschlafen und von dem Feuer nichts mitbekommen. Um genauere Aussagen zu erhalten, war es unerlässlich, einen Dolmetscher hinzuzuziehen. Wobei sich Inka nicht mehr Auskünfte erhoffte, als sie bisher erfahren hatten. Wahrscheinlich würde der Fall im Sand verlaufen, in der Dateiakte abgelegt werden und dort verstauben.
Inka gähnte. Sie war müde und ihr Magen knurrte. Ohne Frühstück aus dem Haus war nicht nach ihrem Geschmack. „Gehen wir noch kurz zu den Meinkes.“ Sie sah zu Mark, der müde nickte.
Karin Meinke öffnete die Tür des Haupthauses. Sie trug noch immer ihren roséfarbenen Jogginganzug. Inzwischen hatte sie ein Make-up aufgelegt und ihre blonden Haare zu einem strammen Pferdeschwanz gebunden.
Ein Kaffeeduft durchzog die Diele, als Karin sie auf den Weg in die Küche führte. Es war eine große Küche, wie Inka sie aus den Bauernhöfen der Lüneburger Heide kannte. Über den weiß-blau gekachelten Fliesenboden zogen sich Risse und Kratzer wie eine ausgetrocknete Flusslandschaft. Das 50er-Jahre-Inventar wurde mit moderneren Geräten erweitert. In dieser Küche spielte sich das Leben ab. Hier wurde gegessen, gelacht und geweint. Eine Küche, die Gemütlichkeit ausstrahlte und die es so nur in Bauernhäusern gab.
„Bitte, setzen Sie sich“, bat sie. Sie deutete auf eine rustikale Rundecke und einen Holztisch, der mit Frühstücksgeschirr für zwei Personen eingedeckt war. „Mein Mann ist unter der Dusche. Er kommt gleich herunter. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“ Karin Meinke wies mit erhobenem Arm zur Kaffeemaschine, die gluckernd und dampfend ihre Arbeit verrichtete.
Der eingedeckte Tisch erinnerte Inka daran, dass sie gestern Abend zuletzt mit Sebastian auf der Terrasse ihrer Einliegerwohnung gesessen und sich mit ihm eine Pizza geteilt hatte.
Inka sah kurz zu Mark. „Sehr gerne“, sagte sie. Sie zog einen Stuhl unter dem Esstisch hervor und nahm an dem nicht eingedeckten Teil des Tisches Platz. Mark tat es ihr gegenüber gleich.
„Frau Meinke“, begann Mark. „Frau Neumann hat Sie und Ihren Mann geweckt und das Feuer gemeldet.“
„Ja, das ist richtig.“ Karin Meinke drehte sich kurz zu Mark, bevor sie zwei Kaffeetassen und zwei Teller aus dem Oberschrank nahm. „Wie eine Wilde hat sie an unsere Tür geklopft und ,Feuer! Feuer!‘ geschrien. Ein Glück, wir hätten es sonst nicht bemerkt, und womöglich wären noch die Nachbarhöfe betroffen gewesen, wäre das Feuer übergesprungen. Man hört ja immer wieder von solchen schrecklichen Szenarien. Glücklicherweise ist kein Mensch verletzt worden.“ Karin stellte die Tassen und Teller vor Inka und Mark auf den Küchentisch. Sie schien davon auszugehen, dass die Kommissare an ihrem Frühstück teilhaben würden.
„Ja, glücklicherweise“, wiederholte Mark und bedankte sich für den Kaffee, den ihm Karin einschenkte. „Sie haben keine Kinder?“
„Nein, haben wir nicht“, antwortete Karin kurz, dann: „Da ist mein Mann. Sie haben ihn ja bereits kennengelernt. Ulf, die Kommissare aus Hanstedt sind noch einmal zu uns gekommen.“
„Das sehe ich, Karin. Nur – was sollen wir Ihnen noch erzählen, was ich Ihnen nicht schon auf dem Feld erzählt habe?“ Ulf Meinke rutschte auf die Eckbank vor ein Frühstücksgedeck und griff in dem Brötchenkorb nach einem Mohnbrötchen. Er schnitt es in der Mitte durch und legte es auf den Teller. „Entschuldigung, ich bin unhöflich. Wo sind nur meine Manieren?“ Er hob den Brötchenkorb und hielt ihn Inka und Mark entgegen. „Sie haben sicher noch nicht gefrühstückt.“ Er sah auf die Küchenuhr über der Tür. „Bitte, greifen Sie zu. Unser Dorfbäcker liefert uns jeden Morgen frische Brötchen bis an die Haustür.“ Ulf Meinke lächelte. Statt des schwarzen Jogginganzugs, den er auf dem Feld getragen hatte, trug er nun Bluejeans und ein bis zu den Ellenbogen aufgekrempeltes, blaugrau kariertes Baumwollhemd. Sein dunkles Haar lag in feuchten Strähnen nach hinten gekämmt über dem Oberkopf, während sein Gesicht von einer aufgetragenen Creme glänzte. Der Duft eines Aftershaves erinnerte Inka an süßen Jasmin.
Mark griff zu einem Vollkornbrötchen. Inka verneinte dankend. Ihr knurrender Magen hätte anders entschieden.
„Ist noch zu früh. Ja, verstehe. Es ist auch nicht unsere Frühstückszeit“, erklärte Ulf Meinke und strich Butter auf seine Brötchenhälften. „Aber heute ist wohl alles etwas anders“, sagte er, bevor er ins Butterbrötchen biss. Er kaute. „Doch was können wir Ihnen noch sagen? Um uns Gesellschaft beim Frühstück zu leisten oder um den Schweinestall auszumisten, dazu sind Sie sicher nicht hergekommen.“
„Nein, sicher nicht“, übernahm Inka die Antwort, da Mark mit seinem Brötchen beschäftigt war. Sie zog sich Marks Notizbuch heran. „Fällt Ihnen jemand ein, der Ihnen Ihren Hof neidet?“ Inka sah von Ulf zu Karin, die an der Stirnseite des Tisches Platz genommen hatte.
Ulf Meinke schüttelte wortlos den Kopf, und auch Karin blieb stumm. „Nein, das kann ich mir nicht vorstellen“, sagte er nach kurzem Schweigen. „Wer sollte einen Grund haben, uns unseren Hof nicht zu gönnen? So gut geht es uns wirtschaftlich nicht. Hätten wir nicht den Kartoffel- und Rübenacker und unsere Schweine, wie saisonbedingt das Spargelfeld, dann … jedenfalls müssen wir hart ran, um über die Runden zu kommen. So ein Leben will nicht jeder führen. Aber Neider gibt es ja überall und in jeder Branche. Wie heißt es so schön: Neid musst du dir erarbeiten – Mitleid bekommst du geschenkt. Die Menschen sehen nur, was sie sehen wollen. Hinter die Fassade, die vielleicht bröckelt, will kaum einer einen Blick werfen.“
„Sie wollen es aber mitmachen, dieses Leben auf dem Hof. Ich meine, sonst würden Sie die Landwirtschaft ja nicht betreiben.“
„Richtig, Frau Kommissarin.“ Ulf Meinke steckte den Rest der einen Brötchenhälfte in den Mund.
Inka sah zu Mark, der sein Brötchen mit einer dicken Schicht Butter bestrichen und drei Scheiben Schweinebraten belegt hatte. Nur Karin saß, ohne zu essen, vor ihrer Kaffeetasse. Ihr Löffel rührte einen Strudel in den Kaffee.
„Wir hörten, dass Sie mit Ihrem Mann und Bruder den Hof von Ihren Eltern übernommen haben. Wann war das, Frau Meinke?“, fragte Inka.
„Im September werden es zwei Jahre.“
„Wo finden wir Ihren Bruder Erik?“
„Er ist in Hamburg bei seiner Freundin. Aber er wollte heute zurückkommen.“
Inka wartete, bis Ulf Meinke auch die andere Brötchenhälfte, die er zuvor mit Honig bestrichen hatte, aufgegessen hatte, dann fragte sie: „Vor drei Tagen gab es einen Streit zwischen Ihnen und Ihrem Schwager. Um was ging es?“ Sie sah, wie Meinke schluckte und ein leichter Rotton sein Gesicht überzog.
„Es war lediglich eine Auseinandersetzung unter Männern, nichts weiter“, wiegelte er ab.
Inka wusste, wenn sie weiterbohren würde, würde Ulf Meinke ihr den Grund verschweigen, also ließ sie es vorerst auf sich beruhen. „Wir brauchen die Namen und Adressen Ihrer Eltern und der Freundin Ihres Bruders“, bat sie.
„Wofür? Mein Vater wird sich nur aufregen, und Erik hat uns nur den Vornamen seiner Freundin verraten. Sie heißt Laura, aber eine Adresse …“ Karin zuckte die Schultern.
„Es gibt Sturm. Ein Sommergewitter zieht auf“, sagte Mark am frühen Nachmittag mit Blick aus dem Bürofenster.
„Dann wird es Zeit, dass wir nach Hause kommen. Außerdem muss ich Paula von Tilly holen“, antwortete Inka mit Blick in den wolkenverhangenen Himmel, der sich grauschwarz über der Lüneburger Heide zusammenschob.
„Dann fährst du nach Hause, und ich schreibe den vorläufigen Bericht zu Ende. Viel ist es ja nicht mehr, wir müssen ja noch auf den Abschlussbericht der Brandschutzermittlung des Kollegen Kleinschmidt aus Winsen warten. Und morgen Vormittag steht die Befragung von Erik Meinke und weiteren Nachbarn an.“
„Ich bin gespannt, was er uns zu dem Streit mit seinem Schwager erzählen wird. Vielleicht war der Brand ja eine Art Rache“, antwortete Inka.
„Ich glaube nicht. Er lebt ebenso von dem Einkommen, das die Familie mit der Landwirtschaft erwirtschaftet. Und obwohl sie sagen, dass sie gerade so über die Runden kommen, scheint es mir doch ein einträgliches Geschäft zu sein. Immerhin erreichen sie maximalen Profit auf dem Rücken polnischer und rumänischer Erntehelfer. Hungerlohn, teure Unterkünfte, keine soziale Absicherung, da sollten wir dringend nachhaken. Ich hasse Ausbeutung.“