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In der oberfränkischen Kleinstadt Hollfeld bei Bayreuth wird ein Kunstraub gemeldet. Mitten in der Corona-Krise wird ein Bildnis der Heiligen Madonna aus der Stadtkirche gestohlen. Die Polizei tappt im Dunkeln. Pfarrer Brandl beauftragt die Detektivin Melitta Daubner in dem Fall zu ermitteln. Neben Geldforderungen des Diebes an Pfarrer Brandl tauchen Graffitis auf, die offenbar mit dem Diebstahl zu tun haben. Melitta Daubner will herausfinden, wer der selbsternannte Banksy Oberfrankens ist und begibt sich auf dunkle Spuren.
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Seitenzahl: 274
Nadine Stenglein
Melitta Daubner ermittelt
XOXO Verlag
Schon als Kind liebte es Nadine Stenglein sich Geschichten auszudenken und diese niederzuschreiben. Unter ihrem Klarnamen und mit den Pseudonymen Lilian Dean und Cecilia Lilienthal hat sie bereits zahlreiche Bücher in den Genres Liebesromane, Fantasy und Krimi veröffentlicht und konnte sich so ihren Traum, Autorin zu werden, erfüllen. Die Romane »Zur Schokoladen-Symphonie« und »Unter dem Dornenhimmel« spielen wie der Krimi in Bayreuth und Hollfeld. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Bayern.
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Print-ISBN: 978-3-96752-174-0
E-Book-ISBN: 978-3-96752-674-5
Copyright (2023) XOXO Verlag
Lektorat: Bettina Dworatzek
Korrektorat: Daniela Höhne
Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag
Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag
Bilder und Grafiken von www.shutterstock.com und creativemarket.com
Stockfoto-Nummer: 1711145581, 781250872
Hergestellt in Bremen, Germany (EU)
XOXO Verlag ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH
Alte Heerstraße 29 | 27330 Asendorf
Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Melitta Daubner scrollte auf ihrem Laptop durch die neuesten Regionalnachrichten und stieß auf einen Onlineartikel, der über einen Kunstraub in Hollfeld berichtete:
Kirchlicher Kunstraub in Hollfeld
Unbekannte haben aus der katholischen Hollfelder Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt ein wertvolles Madonna-Gemälde gestohlen.
Der Diebstahl ereignete sich am 11. März 2020 kurz vor Mitternacht. Durch ein seltsames Geräusch, das aus dem Schiff der Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt drang, wurde der Mesner Richard Wollner hellhörig. Zu dieser Zeit befand er sich in seiner Mietwohnung in der Nähe der Kirche am Kirchplatz. Als er durch das gekippte Wohnzimmerfenster spähte, beobachtete er, wie ein Mann in einen weißen Van stieg, der am Rand des Parkplatzes unweit der Kirche parkte. Ein weiterer Unbekannter verstaute laut Wollner etwas, das in ein Tuch gehüllt war, im Laderaum und nahm auf der Beifahrerseite Platz. Eilig verschwand das Fahrzeug dann vom Kirchplatz. Laut Mesner Wollner trug der Mann außerhalb des Vans eine weiße Atemmaske, wie sie in Zeiten der Pandemie nicht unüblich ist, und eine Mütze. Ansonsten war er dunkel gekleidet, schätzungsweise 1,80 m groß. Durch eine Straßenlaterne sah Wollner, dass die seitliche Tür zur Pfarrkirche offen stand, die er abends abgeschlossen hatte. Misstrauisch wagte er sich nach draußen, um nachzusehen. Dass das Gemälde der Heiligen Madonna, gemalt 1803 von dem berühmten bayerischen Maler Friedrich Rosenthal, fehlte, fiel dem Mesner sogleich auf. Das Ölgemälde im schwarz lackierten Holzrahmen hatte seinen festen Platz rechts neben dem Hauptaltar an der Wand und wurde dort gewaltsam aus der Verankerung gehebelt. Das Gemälde ist eine Leihgabe des Stadtpfarrers Andreas Brandl, der das Bild von seiner 2015 verstorbenen Großmutter vererbt bekam. Das Bild zeigt, wie der Bildtitel schon sagt, die Heilige Madonna in blaugoldenem Mantel, auf einer zarten weißen Wolke stehend. Auf ihrem Gesicht trägt sie ein fast unscheinbares Lächeln, weshalb das Bild von Liebhabern Das Lächeln der Madonna genannt wird. Ihr durchdringender warmer Blick verfolgt den Betrachter, daher wird das Kunstwerk gerne als das »allsehende himmlische Auge« bezeichnet. Der Wert des Gemäldes beläuft sich auf geschätzte fünfzigtausend Euro. Die Kriminalpolizei der Stadt Bayreuth hat die Ermittlungen aufgenommen und bittet um Hinweise, vor allem über potenziell Verdächtige und den Van der Marke Volkswagen T4.
Das klingt interessant, dachte Melitta. Hollfeld war von der Stadt Bayreuth aus rund fünfundzwanzig Kilometer entfernt. Eine Kleinstadt im Herzen der Fränkischen Schweiz.
Melitta lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück und spitzte die Lippen. Was, wenn sie die Diebe erwischen könnte? Sie sehnte sich nach einem eigenen Außeneinsatz. Der Kunstraub wäre ein Fall nach ihrem Geschmack. Ihr Freund Ben würde mit Sicherheit Augen machen – und nicht nur der –, wenn sie ihn lösen würde. Vor allem ihr Vater, der bis zu seiner Erkrankung – er wurde zunehmend dement und litt an Parkinson – Polizist aus Leidenschaft gewesen war, wäre sicher stolz auf sie. Der Gedanke brachte sie zum Lächeln. In ihr steckte mehr, als eine gute Onlineprivatermittlerin. Davon war sie überzeugt. Sie war im Herzen eine Abenteurerin. Seit ihrer Schulzeit stand für sie fest, dass sie später Polizistin oder Detektivin werden wollte. Aus dem Traum der Polizistin wurde nichts. Dafür hatten ihr ein paar Zentimeter Körpergröße gefehlt. Detektivin erschien ihr eine großartige Alternative. Ben, ihr Freund, hielt nichts von ihrem Job ohne Aufstiegsmöglichkeiten. Für ihn war die Arbeit von Privatermittlern mehr für Männer geeignet. So ein Blödsinn, fand Melitta. Bei TV-Krimis, in denen Privatermittlerinnen oder Polizistinnen vorkamen, schaltete er stets um. Dass sich in dem Beruf Männer besser durchsetzen konnten, das sah ihre Mutter genauso. Das war schade und eben ihre Meinung, aber Melitta wollte ihre Träume endlich richtig leben. Egal, was andere sagten.
Sie kühlte sich das erhitzte Gesicht mit der Flasche Wasser, die auf ihrem Schreibtisch zwischen Laptop, Handy und Akten stand und warf einen Blick aus dem Fenster ihres kleinen, aber gemütlichen Büros. Draußen zogen graue Wolken am blassblauen Himmel auf. Der Abend war kalt, aber Melittas Gedanken glühten und ihre Finger kribbelten. Wann würde ihr Chef Martin Sander sie endlich zu einem Außeneinsatz schicken? Bisher bekamen die ausschließlich ihre Kollegen Nils und Sarah. Sarah war gut, hatte viel praktische Erfahrung gesammelt. Vor drei Jahren in etwa hatte sie zwei Mädchen gerettet, die kurz nacheinander von einem Irren entführt und in ein unterirdisches Verlies gesperrt worden waren. Der Fall hatte sich, genau wie der Kunstraub, in der Kleinstadt Hollfeld ereignet. Gut, sagte sich Melitta, sie sollte weiter Geduld haben. Der Faden, an dem diese hing, war bis zum Zerreißen gespannt. Das Klingeln des Handys riss sie aus ihren Gedanken. Ein Blick aufs Display zeigte ihr, dass es ihr Boss war, der aus dem ungewollt verlängerten Mexikourlaub anrief, den er mit Sarah verbrachte. Hatte lange genug gedauert, bis sich beide ihre gegenseitige Zuneigung eingestanden hatten. Es war ihr erster gemeinsamer Urlaub und die erste gemeinsame Bruchlandung. Sarahs langgehegter Traum von einem Mexikourlaub war zu einem Albtraum geworden, seit sie mit Martin wegen Corona dort festsaß. »Na, Martin. Alles klar soweit?«, fragte sie.
»Leider nicht. Unverändert. Kommen hier nicht weg und keiner weiß, wie lange es dauert, bis wir einen Flug bekommen. Der Reiseveranstalter tut sein Bestes. Wir sind nicht die Einzigen, die festsitzen. Wenn es noch lange dauert, dann flippen hier sicher bald ein paar Leute aus.«
»Das tut mir echt leid für euch, dass ihr eine ungewollte Urlaubsverlängerung habt«, sagte Melitta.
»Uns auch. Obwohl Mexiko traumhaft ist. Mit Delfinen zu schwimmen zum Beispiel, ist der Hammer. Wie läuft es bei Nils und dir?«
Sie steckte sich einen Stift hinters Ohr. »Hab alles im Griff. Nils ebenfalls. Ist nicht viel zu tun. Wird sicher bald wieder mehr.«
Seit Corona die Welt heimsuchte, schwanden die Aufträge der Detektei und die meisten, die Martin und Sarah übernommen hatten, meist Außendienstarbeiten, waren inzwischen geplatzt, weil sie die aufgrund ihres unfreiwilligen Festsitzens nicht termingerecht erledigen konnten. Leider wollten die Klienten keinen Detektivwechsel, den Martin natürlich mit Nils und ihr als seine Assistentin vorgeschlagen hatte. Zudem gab es seit einem Monat unweit ihrer Kanzlei eine Konkurrenz-Detektei, die an einen modernen Sicherheitstrakt erinnerte. Laut Internet waren die Referenzen der Neuen sehr gut. Der Chef dort hatte sogar schon für hochrangige Politiker gearbeitet. Mehrere seiner Mitarbeiter waren sogar im Ausland aktiv.
Melitta hörte Martin, bei dem sie fest angestellt war, seufzen. Fast war es ein gequältes Stöhnen. »Nicht viel zu tun. Hm. Wenn das so weitergeht, dann kann ich die Detektei schließen. Verdammter Mist!«
Sämtliche Muskeln in ihr spannten sich an. »Steht es mit der Detektei so schlimm?«
»Na ja, gut ist was anderes.«
»Sieh nicht gleich so schwarz, Martin«, hörte sie Sarah einwerfen, die das Gespräch übernahm.
»Hi, Melitta«, sagte Sarah.
Sie waren in dem Jahr, das Melitta für Martin arbeitete, gute Freundinnen geworden.
»Hi. Ist das wahr? Martin denkt über eine Schließung nach?«
Kurzes Schweigen auf der anderen Seite, Herzklopfen auf ihrer. »Er ist nur in einem Tief«, hörte sie Sarah sagen. »Klar ist es nicht einfach, das Schiff an der Oberfläche zu halten, vor allem durch das Leck, das Corona schlägt, aber wir alle dürfen die Hoffnung nicht verlieren. Wir müssen bald einen Flieger bekommen, der uns zurück nach Deutschland bringt und dann wird alles gut. Und Martin will eine weitere Privatermittlerin oder einen Ermittler einstellen. Das Coronavirus macht uns auch hier einen fetten Strich durch die Rechnung. So wie es aussieht, sitzen wir länger fest.«
Ihre Worte gaben Melitta ein wenig Zuversicht, auch wenn der schale Beigeschmack blieb. Langsam entspannte sie sich. »Okay. Bestimmt wird es eine Lösung geben. Hauptsache ist, ihr bleibt gesund.«
»Wir tun unser Bestes. Wie ihr in Oberfranken«, meinte Sarah.
»Ich drücke euch die Daumen, dass ihr bald zurück nach Deutschland könnt. Und uns allen, dass diese Coronasache bald überstanden ist.«
»Danke dir. Wir telefonieren bald wieder. Ich werde jetzt Martin aufheitern. Das ist hier zu meinem Job geworden.«
»Mach das. Viel Erfolg.«
Sie hatte das Gespräch gerade beendet, da klopfte es an der Tür. »Komm rein, Nils.«
Sie staunte, als Ben die Tür öffnete.
»Ich bin’s. Hoffe, du bist nicht enttäuscht.« Er hob die Brauen.
Melitta war perplex, dass er einen Fuß in die ihm verhasste Detektei gesetzt hatte.
»Natürlich nicht. Hi.«
Der Duft seines Parfüms schwebte ihr entgegen. Ein Mix aus Sandelholz und Moschusrosen.
»Ich warte schon zehn Minuten im Auto auf dich. Ich sollte dich abholen. Vergessen?«
Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Mist, sie hatte verschusselt, dass sie heute eher Feierabend machen und mit Ben zu Hause kochen wollte. So ein gemeinsamer Abend war schon längst überfällig.
Hastig erhob sie sich von ihrem Bürostuhl und lächelte Ben zu. »Bin fertig. Tut mir leid, dass ich dich hab warten lassen.« Sie wollte nicht, dass die Kluft zwischen ihnen unüberbrückbar wurde. Erschwerend kam hinzu, dass Ben Assistenzarzt war und die Schichten oft ungünstig fielen, was ihrer Beziehung nicht guttat. Aber auch ihre Onlinefälle machten es manchmal nötig, abends oder nachts zu arbeiten. Ben schüttelte den Kopf und lächelte. »Okay. Es sei dir verziehen.«
Sie ging zu ihm, schlang die Arme um seinen Hals und gab ihm einen Kuss. Die Gedanken an eine mögliche Schließung der Kanzlei versuchte sie abzuschütteln. Ben wirkte weiterhin steif.
»Kann sein, dass das Krankenhaus anruft. Viel los wegen Corona«, erzählte er ihr.
Mit einer Hand strich sie ihm durchs weiche rötliche Haar. »Ich freu mich auf den Abend mit dir.«
Ben neigte den Kopf ein wenig zur Seite. Seine graublauen Augen richtete er auf einen Punkt hinter ihr.
»An welchem Fall arbeitest du gerade?«, fragte er, ließ sie los und ging auf ihren Laptop zu.
Melitta sah ihm nach. »Nicht, das ist …«
»Heimlichkeiten?«, fragte Ben. Er stützte beide Hände auf ihrem Schreibtisch ab und beugte sich runter.
Melitta folgte ihm.
»Das ist mein Arbeits-Laptop. Da sind vertrauliche Sachen drauf.«
Allerdings hatte sie keine Datei mit sensiblen Daten offengelassen. Es war nicht so, dass sie Ben nicht vertraute, aber sie wollte Berufliches und Privates eben trennen, vor allem weil dieses Thema schon zu oft zu Streitigkeiten geführt hatte. Ben spitzte die Lippen. »Kunstraub-Fall, Hollfeld. Ermittelst du da etwa?«
»Das darf ich dir nicht sagen.« Sie schloss den Laptop. Ben richtete sich auf und schaute sie an. »Ich bin dein Freund, bald Verlobter, dann Mann.«
Melitta staunte. Ach? Dass das alles so eintreffen würde, in naher Zukunft oder überhaupt, war für ihn also schon in Stein gemeißelt. Heiraten wollte sie nicht. Also grundsätzlich. Und das wusste er.
Außerdem nervten sie sein Kontrollwahn und seine Pingeligkeit, was sie teilweise durch seine Arbeit entschuldigte. Als Assistenzarzt im Bayreuther Klinikum musste er eben stets über alles die Kontrolle haben und haargenau sein. Nur manchmal war es für sie zum aus der Haut fahren, wenn er, war sie unterwegs, anrief, um abzufragen, wo sie war und wie es ihr ging. Meist in der Reihenfolge. Selbst wenn er wusste, dass sie im Büro festsaß, fragte er.
»Hast du gehört, was ich gesagt habe, Melitta?«
»Ja. Im Moment bist du mein Freund. Alles andere sehen wir.«
Er spitzte die Lippen. »Also ich weiß, was ich will. Bin erwachsen, fast dreißig. Mit deinen siebenundzwanzig dachte ich, weißt du ebenfalls, was du willst. Die Uhr tickt. Außerdem dachte ich, wir sagen uns alles. Ich bin Arzt und kann schweigen.«
»Ich möchte den Kunstraub-Fall übernehmen.« Sie wollte sehen, wie er reagierte.
Ben schob die Brauen zusammen und sah drein, als hätte sie gerade Chinesisch gesprochen. »Das heißt, dann würdest du außerhalb dieses Büros arbeiten. Allein? Das wollte dieser Martin doch nicht. Und du denkst, nun schon?«
Allmählich kam sie sich vor wie in einem Verhör.
»Ja, es sind andere Zeiten und die erfordern Ausnahmen. Außerdem traut Martin mir das sicher schon zu.«
Ben schüttelte den Kopf. »Das ist viel zu gefährlich. Das kannst du nicht«, stieß er aus.
Melitta hatte es befürchtet. Es ehrte ihn, dass er sich Sorgen um sie machte, aber dieses Nicht-Zutrauen war beschämend.
Nach ihrer Security-Ausbildung hatte sie für eine Detektei in Würzburg gearbeitet. Sie war dort mehr für allgemeine Büroarbeiten zuständig gewesen, weshalb sie nach ein paar Monaten gekündigt hatte. Kurz darauf hatte sie in einer Disco Ben kennengelernt und sich in ihn verliebt. Ein halbes Jahr später war sie zu ihm in seine Wohnung nach Bayreuth gezogen.
»Ich weiß, was ich tue, Ben.«
»Da bin ich mir manchmal nicht so sicher«, erwiderte er.
Melitta schnaubte. Ihr war der Appetit vergangen. »Du, sorry, ich muss noch ein paar dringende Telefonate wegen des Falls machen und dazu bitte ungestört sein. Danke. Bis gleich.«
»Du wirfst mich tatsächlich raus?« Ben sah sie ungläubig an. Melitta blieb hart, auch wenn es ihr schwerfiel. Sie nickte. Ben wollte etwas erwidern, da klingelte sein Handy. Er ging ran. »Was ist?«
Er lauschte, pustete ein paar Sekunden später die Wangen auf und ließ die Luft gleich darauf geräuschvoll entweichen. »Ja, gut. Bin gleich da«, sagte er dann. Als er aufgelegt hatte, eilte er zur Tür.
»Das Klinikum?«, fragte Melitta.
»Vielleicht«, gab Ben schnippisch zurück.
Melitta verdrehte die Augen. »Du bist kindisch.«
»Wieso?«
»Weil du vielleicht sagst. Eine Revanche wegen vorhin, oder?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte traurig den Kopf. »Ich will nicht mit dir streiten.«
Er presste die Lippen aufeinander und nickte. »Ich mit dir auch nicht. Ja, war die Klinik. Muss los. Bis später.«
Sie wünschte ihm »viel Erfolg«.
Ben kam in dieser Nacht spät nach Hause. Ohne ein Wort legte er sich neben Melitta. Sie tat, als würde sie schlafen. Er wollte sie wohl nicht wecken. Sie dachte über den Kunstraub nach und wie es wäre, wenn sie tatsächlich mit der Aufklärung des Falls beauftragt wäre. Wie würde sie dann am besten vorgehen? Ein konkreter Plan musste her. Je mehr sie überlegte, desto klarer wurde ihr, dass sie erst einmal mit dem Pfarrer und mit diesem Richard Wollner, seinem Mesner, reden musste. Melitta entfuhr ein Seufzen. Langsam drehte Ben sich zu ihr um.
»Dachte, du bist schon im Traumland, wollte dich nicht wecken. Kannst du nicht schlafen?«
Seine Augen glänzten wie feuchte Murmeln.
»Nein, noch nicht.«
»Wegen des Kunstraubs oder weil wir vorhin ein wenig gestritten haben?«
»Schwamm drüber.«
»Ist besser. Du, im Klinikum haben sich Leute darüber unterhalten. Also über den Kunstraub.«
Mondlicht, das durchs Zimmerfenster schien, erhellte zur Hälfte Bens Gesicht.
Melitta schob eine Hand unter ihre Wange und blinzelte zu ihm hinüber. Sie fand ihren Freund attraktiv und nun, wo er milder dreinblickte und zurückruderte, spürte sie ein paar Funken in sich für ihn aufsteigen. Früher waren es mehr als nur ein paar. Sie hoffte, es würde wieder so werden. »Ich möchte nicht mit dir streiten Ben. Ich werde den Fall übernehmen, wenn Martin zustimmt. Es ist dann mein erster richtiger Außeneinsatz. Darauf bin ich stolz. Versuch mich wenigstens zu verstehen. Ich tue das umgekehrt auch.«
Ben murrte. »Aber mach das nicht allein.«
»Nils hat keine Zeit und du weißt, dass Sarah und Martin in Mexiko festsitzen. Ich krieg das hin. Du wirst sehen.«
Ben drehte sich auf den Rücken, starrte zur Decke. »Das alles gefällt mir nicht. Ganz und gar nicht. Ich hab kein gutes Gefühl dabei.«
Sie legte eine Hand auf seinen Brustkorb. »Ich schon. Vertrau mir. Was haben die Leute denn über den Kunstraub gesagt?«
»Nichts, was man nicht aus der Zeitung weiß.«
Er wandte sich ihr abermals zu. »Du könntest sofort einen anderen Job haben. Selbst im Krankenhaus. Ich kann …«
Melitta verdrehte die Augen. »Aber ich will keinen anderen. Ich pass auf mich auf.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist echt traurig, dass du mir nichts zutraust.«
Ben schaltete die Lampe auf dem Nachttisch ein und setzte sich auf. Mit beiden Händen rieb er sich über das Gesicht. Ein paar Strähnen seines Haars standen von seinem Kopf ab.
»Das hat nichts damit zu tun, Litta. Ich hab eben im Gefühl, dass irgendwann die Polizei klingeln und mir mitteilen wird, dass du von irgendeinem Irren da draußen umgebracht oder schwer verletzt wurdest bei irgendwelchen irrsinnigen Recherchearbeiten. Vom Büro aus kannst du recherchieren so viel du willst und ermitteln, okay. Der Schreibtisch ist viel sicherer. In freier Wildbahn ist das was anderes. Das ist nichts für dich. Du bist außerdem eine Frau. Versteh doch. Ich hab Angst um dich, Melitta. Wie gesagt, du hast eben keine große Erfahrung.«
Sie setzte sich ebenfalls auf. »Eine Frau kann das also schon mal von Grund auf nicht. Aha.« Das wurde immer interessanter.
»Ist halt meine Meinung«, sagte Ben.
Sie legte sich wieder hin und drehte sich von ihm weg.
»Du bist ein Sturkopf«, zischte Ben.
»Gute Nacht.«
»Eher nicht«, meinte er.
Melitta wusste, ließe sie sich darauf ein, die Diskussion fortzuführen, würde sie damit nur ein Karussell in Gang setzen und alles vielleicht sogar mit in die Träume nehmen. Selbst dort stritt sie sich in letzter Zeit häufig mit Ben. Morgen brauchte sie einen klaren Kopf. Also schloss sie die Augen und atmete tief durch.
Melitta weckte Ben nicht, als sie gegen sieben Uhr früh in die Detektei aufbrach, die ihren Sitz am Fuße des Grünen Hügels in Bayreuth hatte. Ben und sie wohnten fünfzehn Minuten entfernt in einem Mehrfamilienhaus einer ruhigeren Straße. Dort gehörte ihrem Freund eine Eigentumswohnung. Auch, wenn Melitta sauer auf Ben war, hatte sie ihm den restlichen Kaffee warmgestellt. Sie wollte die Hoffnung, dass er seine Meinung noch änderte, nicht aufgeben.
Ihr Kollege Nils packte gerade eine Videokamera in seine Tasche, als sie die Detektei durch die Eingangstür aus milchigem Sicherheitsglas betrat.
»Guten Morgen.« Er sah müde aus. Sein schmales dünnes Gesicht mit der hohen Stirn war so kalkweiß wie die Wände ihrer Büros, an denen ein paar gerahmte Schwarz-Weiß-Fotos von Landschaften und Städten hingen, die Martin gemacht hatte.
»Neuer Fall?«, fragte sie ihren Kollegen. Der zog sich eine dunkle Lederjacke über. »Leider nicht. Mein Geschäftsmann vermutet, dass seine Frau fremdgeht, wenn er in Hongkong oder sonst wo einen Geschäftstermin hat.« Er pustete geräuschvoll Luft aus. »Sie war bis jetzt immer sauber, aber er vertraut ihr nicht. Sein Bauchgefühl sagt ihm deutlich, da gibt es andere. Er zahlt gut und das ist mit ein Grund weswegen ich weitermache.« Er sah Melitta direkt an. »Wir brauchen das Geld dringend. Und dann gibt es da außerdem diesen Bandenchef, den ich überwachen soll.« Ihr kribbelte es in den Fingern. Das klang spannend.
Er marschierte zur Ausgangstür.
Melitta erinnerte sich an das, was Martin angekündigt hatte. »Glaubst du, wir müssen schließen, wenn das mit Corona länger dauern sollte?«
Er zuckte mit den Schultern. »Kann sein. Wie läuft es mit deinen Onlinefällen?«
Melitta ermittelte in sozialen Netzwerken, auch schon ein paar Mal im Darknet, um Personen und Faker zu identifizieren und um Verbindungen und Beziehungen aufzudecken, sowie relevante Informationen zu Geschehnissen zu sammeln. Bisher meist mit Erfolg. Durch ihre Mithilfe waren schon ein Waffenhändler und Drogendealer überführt worden.
»Läuft gut. Aber langsam könnte ich neue Aufträge gebrauchen.«
Nils fuhr sich durch das an den Seiten kurzrasierte dunkle Haar.
»Was ist?«
»Du bekommst sicher bald deinen heißersehnten Außeneinsatz, wenn Martin und Sarah zurück sind. Hoffentlich ist diese Coronascheiße bald vorbei.« Er kramte ein paar Atemmasken hervor.
»Da sagst du was. Du, ich könnte dich begleiten.«
Nils wurde ernst und schüttelte den Kopf. »Das müsste ich erst mit Martin besprechen.«
»Er muss es nicht wissen.«
Nils sah sie ernst an. »Nein! Was, wenn dir was passieren würde? Dann wäre ich der Gelackmeierte. Vergiss es. Außerdem, einer muss aufs Büro aufpassen.«
Melitta versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Die Zurückweisung wurmte sie, auch wenn seine Gründe für das Dagegenhalten vernünftig waren.
Eins der Telefone klingelte.
»Siehst du.«
Das klang ein wenig herablassend, wie sie fand.
»Und Telefondienst schieben. Schon klar«, entgegnete sie. Sie konnte ihren Unmut nicht mehr hinunterschlucken. Nils schien das wenig zu interessieren. »Ich muss los. Bis später.«
Ohne Erwiderung ging sie in ihrem Büro ans Telefon.
»Bin ich hier bei SOS Xperts?«, fragte ein Mann.
So hieß doch die neue Detektei.
»Nein, bei SpiKom.« Der Name setzte sich aus Spionage und Kommunikation zusammen. Das S stand zudem für Martins Nachnamen Sander.
»Haben Sie vielleicht die richtige Nummer von denen?« Sie ließ sich auf ihren Bürostuhl nieder.
»Wir sind ebenfalls eine Detektei. Unsere Referenzen -«
»Ich möchte die Nummer von SOS Xperts bitte. Die wurden mir empfohlen. Sollen spitze sein. Sie haben zwar auch gute Bewertungen, aber die zu hundert Prozent.«
Seltsam. So lange gab es die Detektei doch noch gar nicht. »Dann schauen Sie im Telefonbuch nach. Guten Tag.« Sie legte auf und schnaubte. Blöder Kerl.
Sie stürzte sich in die Arbeit, vor allem um den Ärger mit Ben ein wenig zu vergessen. Wenigstens hatte ihre Arbeit Erfolg. Zwei Fakeprofile auf einer bekannten Plattform konnten von ihr geknackt und dem Betreiber gemeldet werden. Danach folgte eine Flaute. Da kam ihr der Kunstraub in Hollfeld in den Sinn – und eine verrückte Idee.
Sie lehnte sich zurück und knabberte nachdenklich an ihrem Bleistift. Wie wäre es, fragte sie sich, wenn sie den Fall tatsächlich übernehmen, der Pfarrer sie damit beauftragen würde? Denn die Polizei tappte anscheinend völlig im Dunkeln. Sie surfte ein wenig im Internet, sammelte Informationen über Hollfeld und fasste schließlich einen Entschluss.
Hollfeld wirkte auf Melitta wie eine Geisterstadt. Sie parkte ihren Wagen in der Nähe des Altenheims. Von dort aus waren es nur wenige Schritte bis zur Stadtkirche. Durch ihre Recherche, die sie vorhin im Büro gemacht hatte, wusste Melitta, dass die Kirche im Laufe der Jahrhunderte mehrmals zerstört und wiederaufgebaut worden war. Sie besaß eine schlichte frühklassizistische Eleganz. Wie eine Königin thronte das Gebäude mit seiner weißen und gelben Fassade auf dem gepflasterten Kirchplatz. Der Fassadenturm beherrschte ihr Erscheinungsbild. Unweit vom Haupteingang der Kirche befand sich rechtsseitig das Pfarrhaus. Das Mehrfamilienwohnhaus, in dem der Mesner wohnte, stand zur linken Seite der Kirche. Dazwischen gab es einen Springbrunnen, dessen Plätschern Melittas Aufregung ein wenig dämpfte. Ein grauer Himmel hing über der Stadt und es begann leicht zu nieseln. Melitta störte es nicht. Interessiert besah sie sich das prächtige Wappen über dem Portal der Kirche.
»Grüß Gott«, sagte jemand hinter ihr. Erschrocken wandte sie sich um und sah sich einem schlanken Mann gegenüber. Er hielt, sicher aufgrund der Pandemie, etwa zwei Meter Abstand zu ihr. Sie erkannte ihn sofort, hatte ihn auf Fotos im Internet gesehen. Auch an seinem schwarzen Anzug mit dem goldenen Kreuz und Oratorianer-Kragen, hätte sie gesehen, dass er Pfarrer war. Melitta nickte dem großgewachsenen und durchaus sportlich wirkenden Mann mit dem braunen kurzen Haar und den warmen braunen Augen freundlich zu.
»Grüß Gott«, erwiderte sie.
Er musterte sie und eine Falte bildete sich dabei zwischen seinen Brauen. Gemächlich ging er weiter zum Pfarrhaus hinüber. Bevor er darin verschwand warf er ihr einen Schulterblick zu. Sie hätte ihn gleich ansprechen können, wollte sich aber langsam vortasten und sich zunächst weiter umsehen.
Ein weiterer Mann kam um die Ecke. Auch ihn erkannte Melitta. Allerdings rein durch vorher gesehene Internetfotos. Es war der Mesner.
Richard Wollner war von schmächtiger Statur, besaß lichtes graues Haar und durchdringende graue Augen. Er wirkte auf Melitta ein wenig schmuddelig. Eine Frau eilte ihm nach und spannte einen grauen Schirm auf, den sie über ihren Kopf hielt. Ihre Hände steckten in blauen Handschuhen.
»So a Sauwetter«, schimpfte sie.
»Net fluchen, Hilde. Des schickt sich net als Haushaltshilfe des Pfarras und a sonst net«, sagte Wollner und tauchte, sobald sie auf seiner Höhe war, unter ihren Schirm. »Hob grade mei Haar gwaschn.«
»Abstand haltn«, schimpfte sie.
Er lachte. »Des sogt die Richtige. Beim Pfarra nimmst es auch net so genau.«
Die mollige Frau, die Melitta wie den Pfarrer auf Mitte sechzig schätzte, war schick gekleidet. Dunkler Hosenanzug, weiße Bluse. Ihr rundes Gesicht war dezent geschminkt. Sie starrte Richtung Pfarrhaus, als hätte sie dort etwas Wunderhaftes gesehen. Melitta folgte ihrem Blick. Unterdessen kam der Pfarrer zurück, in den Händen ein Gebetsbuch.
»Da sinds ja, Herr Pfarra«, rief diese Hilde. »Nehmens einen Schirm. Sonst werdens krank.«
Sie achtete nicht mehr auf den Mesner und eilte auf den Pfarrer zu. Wollner verdrehte die Augen. »Na, Dankschö«, sagte er und hob einen Finger. »Abstand, Hilde!«, rief er forsch. Denn Hilde stolperte Hochwürden fast in die Arme. Sie bedachte Wollner mit einem dunklen Blick, trat drei Schritte zurück und schaute dann zu Andreas Brandl. »Schuldigung, Herr Pfarra.« Ihre Stimme klang fast wie Gesang.
»Für was denn? Diese kleine Ausnahme wird uns nicht gleich das Leben kosten. Der Herr, unser Gott, steht uns bei«, sagte Brandl.
Hilde schien selig. »Ja, Herr Pfarra. Aber jetzt nehmans in Gottes Namen mei Schirm.«
»Also gut.« Er nahm ihn an sich. Wollner schnaubte leise.
Hilde lenkte ihre Aufmerksamkeit auf Melitta. »Wos suchn Sie do, junge Frau?«
Melitta schaute ihm freundlich entgegen. »Ich schaue mich nur ein wenig um.«
»Sicher wecha dem Bild«, sagte der Mesner.
Der Pfarrer seufzte tief und ging auf die Kirche zu. »Noch nie haben sich für die Kirche und das Bild so viele interessiert wie seit dem Raub«, sagte er.
Melitta steuerte den Seiten- und Haupteingang an, der mit einem Absperrband von der Polizei abgesichert worden war. Da bemerkte sie einen Streifenwagen, der auf dem Parkplatz vor dem Haus, in dem Wollner wohnte, stoppte. Zeit, um weiterzugehen, dachte sie. Zu spät. Zwei Beamte stiegen aus dem Wagen. Einen davon kannte Melitta, war sicher, dass er mit seinem Team in dem Fall ermittelte. Der Kommissar hieß Steffen Berner. Als er sie bemerkte, reckte er den Kopf und runzelte die Stirn. Unterdessen lief der Pfarrer ihm entgegen und begrüßte ihn. Wollner und Hilde schauten zu Melitta, die sich umwandte und so tat, als würde sie sich brennend für einen Spruch interessieren, der auf eine Hauswand gemalt war.
»Ah, die Detektei Sandner ist in dem Fall vertreten?«, hörte sie Berner fragen.
Er hatte sie also erkannt.
Langsam drehte sie sich um und setzte ein Lächeln auf. Cool bleiben, dachte sie. Der Pfarrer, diese Hilde und der Mesner, sowie Berner und sein Kollege nahmen sie ins Visier. Fast kam sie sich wie eine Verbrecherin vor. »Nicht in dem Fall«, sagte sie nur. Sollte er darüber denken was er wollte.
»Hm«, brummte er nur.
Berners Kollege ging lässig neben ihm, als wäre er einer dieser coolen Fernsehseriencops. Berner schaute zwischen seinem Kollegen und ihr hin und her.
»Gibt es schon eine neue Spur, Kommissar Berner?«, wollte der Pfarrer wissen.
Hilde und der Mesner schlossen zu ihm auf.
Sein Kollege, den Melitta an die zehn Jahre jünger als Berner schätzte, antwortete, als dieser ihn dazu aufforderte. »Die Fahndung nach dem weißen Van blieb weiterhin erfolglos. Auch sonst …« Er hielt inne, als er merkte, dass Melitta an Ort und Stelle verweilte. »Ist noch was?«, fragte er.
»Nein, nichts«, gab Melitta zurück. »Was hier geredet wird, geht Sie nichts an.«
»Ich hab sowieso schlechte Ohren, verstehe nichts.«
Berner schmunzelte. Der Kollege hingegen blieb ernst und warf ihr einen warnenden Blick zu. Mit dem, merkte sie, war nicht gut Kirschen essen.
»Das ist übrigens Herr Jürgen Miltenberg«, stellte Berner seinen Kollegen bei Brandl vor. »Er übernimmt den Fall, kennt sich mehr in der Kunstszene aus als ich und hat schon ein paar Kunsträuber überführt.«
Miltenberg nickte mit stolzgeschwellter Brust.
»Sehr gut«, meinte Brandl.
Der neue Kommissar winkte den Pfarrer mit sich und sprach leiser weiter. Alle bis auf Berner folgten ihm. Melitta beschloss, den Kirchplatz zu verlassen und vielleicht später noch einmal vorbeizuschauen.
»Grüßen Sie Ihre Kollegin Sarah Pillar von mir«, rief Berner ihr nach.
Sie schaute zu ihm. »Mach ich gern. Wird sie freuen.«
Nach seinem »Okay« ging sie weiter.
Sarah und Berner kannten sich aus dem Entführungsfall, in den Sarah sich damals erfolgreich als Privatermittlerin eingemischt hatte. Selbst wenn es dem Kommissar damals ein Dorn im Auge war, so hatte er sie am Ende doch für ihre Arbeit gelobt. Vor allem ihr war die Aufklärung zu verdanken. Für Melitta war Sarah ein Vorbild, auch wenn sie sich, um ans Ziel zu kommen, im damaligen Fall nicht immer an alle Regeln gehalten hatte. Vielleicht gerade deshalb.
Ben schnippelte Paprika für einen Fitness-Salat, als Melitta nach Feierabend nach Hause kam. Er wirkte angespannt, was unschwer an seinem verkniffenen Gesichtsausdruck und der Art, wie er mit dem Messer umging, zu erkennen war.
»Sieht lecker aus«, sagte Melitta.
Er lächelte für den Hauch eines Augenblicks in ihre Richtung. »Kannst was haben, wenn du magst.«
Sie lehnte sich rücklings an die Arbeitsplatte, nahm ein Stück Paprika und steckte es sich in den Mund. »Danke, vielleicht später. Alles klar bei dir?«
Sie steuerte den Kühlschrank an und goss sich Milch in ein Glas. Hunger verspürte sie keinen.
»Passt. Wie geht es denn mit deinem Fall voran?«
»Du meinst den, den du mir nicht zutraust? Prima, danke.«
»Sei nicht kindisch, Melitta. Und wer ist hier beleidigt?«
Kindisch? Sie biss sich auf die Zunge, wollte lieber nicht darauf eingehen, um einen Streit zu vermeiden, und beschloss, lieber an der frischen Luft eine Runde zu laufen. Das musste nun sein.
»Ich hab Kopfweh, muss kurz raus.«
Sie spitzte zum Abschied die Lippen zu einem Kuss, den Ben erwiderte, und machte sich auf den Weg. Der führte über ein paar ruhigere Straßen letztendlich in den Festspielpark. Das Joggen tat ihr richtig gut, sie fühlte sich freier und gönnte sich im Park eine Pause. Bewusst gleichmäßig atmend setzte sie sich auf eine der Bänke, die unter einem mächtigen Ahorn stand. Von dort aus hatte man einen hervorragenden Blick auf das imposante Festspielhaus Richard Wagners. In den hohen Bäumen des Parks saßen Vögel und trällerten vor sich hin, was Melitta irgendwie beruhigte. Die Luft roch schon ein wenig nach Frühling, fand sie. Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Wie schön Ruhe sein konnte. Bald wollte sie erneut nach Hollfeld fahren und sich dort genauer umsehen, um mehr über den Fall zu erfahren. War nur zu hoffen, dass sie nicht den beiden Kommissaren über den Weg lief. Kurzerhand schrieb sie Sarah die Grüße von Berner übers Handy. Die meldete sich kurz darauf.
Sarah: Wo hast du den denn getroffen?
Melitta: In der Stadt. Zufall.
Sie musste nicht ins Detail gehen, sagte sie sich.
Melitta: Er war nicht allein, hatte Kollegen dabei, einen Kommissar Miltenberg.
Sarah: Ah, okay. Hab schon lang nichts mehr von Berner gehört. Wenn du ihn siehst, dann sag ihm Grüße zurück. Wie geht’s dir?
Melitta: Passt. Gibt es Fortschritte bei euch?
Sarah: Leider nicht. Aber die Landschaft ist einfach umwerfend schön und entschädigt viel. Trotzdem sitzt uns die Pflicht im Nacken. Melden uns, wenn sich was tut. Jetzt geh ich Martin aufheitern. Schönen Abend.
Melitta: Euch dennoch auch.
Wieder daheim trat Ben zu ihr und reichte ihr eine Schüssel mit Salat und frisch gebackenen Croûtons.
»Hab ich für dich aufgehoben«, sagte er und schenkte ihr ein Lächeln.
Sie schürzte die Lippen und warf einen Blick auf die Salatschüssel. »Langsam bekomme ich Hunger. Vielen Dank.«
»Ich hoffe, nicht nur auf den Salat.«
Sein Grinsen war ansteckend.
Sie reagierte mit einem Schmunzeln. »Vielleicht.« Und vielleicht würde nun alles besser werden, was die Diskussionen über ihre Arbeit anging.
»Lass uns nicht mehr streiten«, flüsterte er.
Sie stellte die Schüssel weg und schlang ihre Arme um seinen Hals. Ihre Blicke tauchten ineinander. Sie spürte, dass sie Lust auf ihn hatte, wenn er so einsichtig war. »Sehr, sehr gern. Ich wünsche mir, dass du mich in Zukunft ernster nimmst und aufhörst, mir Vorschriften machen zu wollen. Die mach ich dir umgekehrt nicht oder traue dir deinen Beruf nicht zu. Wir haben beide außerdem eine super Ausbildung absolviert.«
Ben verzog einen Mundwinkel und küsste sie auf die Nasenspitze. »Ja, aber wie schon mal gesagt, vor allem hab ich Angst um dich.«