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Nach "Miss Rosetti und das Haus der Hoffnung" und "Ein Heim voller Liebe" kommt nun ein weiterer historischer Liebesroman von Susan Anne Mason, der in den 1940er Jahren in Toronto spielt und Liebe, Spannung und Lokalkolorit vereint. Isabelle Wardrops luxuriöses Leben gerät völlig aus den Fugen, als sie und ihre jüngere Schwester innerhalb weniger Monate ihre Eltern, ihr Vermögen und ihr Zuhause verlieren und in einem armen Viertel der Stadt unterkommen müssen. Ohne jegliche Ausbildung ist es Isabelle beinahe unmöglich, Arbeit zu finden und sie ist gezwungen, die Hilfe von Dr. Mark Henshaw anzunehmen dem Mann, den sie für den Tod ihrer Mutter verantwortlich macht. Erst ein Zwischenfall mit Isabelles Schwester und Marks jüngerem Bruder zeigt, wie die Dinge wirklich stehen. Isabelle und Mark müssen sich zusammenraufen, um die Teenager vor Schlimmerem zu bewahren ...
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Seitenzahl: 495
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Susan Anne Mason
Deutsch von Evelyn Schneider
Copyright 2022 by Susan A. Mason
Originally published in English under the title A Feeling of Home
By Bethany House Publishers, a divison of Baker Publishing Group, Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.
All rights reserved.
Die Bibelzitate folgen dem Bibeltext der Schlachter. Copyright © 2000 Genfer Bibelgesellschaft. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung.
Alle Rechte vorbehalten.
© der deutschen Ausgabe:
2023 Brunnen Verlag GmbH, Gießen
Lektorat: Carolin Kotthaus
Umschlagfoto: © Shelley Richmond / Trevillion Images
Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger
ISBN Buch: 978-3-7655-3644-1
ISBN E-Book: 978-3-7655-7676-8
www.brunnen-verlag.de
Für meinen Vater, Stan Moneypenny,
der 2007 vor meiner Erstveröffentlichung verstorben ist.
Als Buchliebhaber wäre er sicher sehr stolz auf mich gewesen.
Glückselig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet;
denn nachdem er sich bewährt hat,
wird er die Krone des Lebens empfangen,
welche der Herr denen verheißen hat,
die ihn lieben.
Jakobus 1,12
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Epilog
Nachwort
JANUAR 1944
„Ich muss dringend mit Dr. Henshaw sprechen. Es ist ein Notfall“, brachte Isabelle Wardrop vor, als sie auf den Eingangsstufen des Mütterheims Bennington Place stand. Die klirrende Kälte, in der ihre schweren Atemzüge weiße Wölkchen hinterließen, spürte sie gar nicht, so eingenommen war sie von Sorge.
Pures Adrenalin schoss durch ihren Körper, ihr dringendes Anliegen ließ sie den starken, unaufhörlichen Schneefall völlig ignorieren. Würde dieser Sturm nicht bald ein Ende finden, drohte die Stadt unter einer dichten Schneedecke zu verschwinden. Doch das Wetter war Isabelles kleinste Sorge.
„Der Arzt hilft gerade bei einer Geburt und darf leider nicht gestört werden“, erklang die Stimme einer schüchternen Schwangeren, die Hilfe suchend über die Schulter in den Flur blickte. Doch im Haus war es unnatürlich still.
Unaufgefordert trat Isabelle in den Eingangsbereich. Dieses ungewöhnlich dreiste Verhalten zeigte das Ausmaß ihrer Verzweiflung. „Es tut mir leid, aber das Leben meiner Mutter steht auf dem Spiel. Bestimmt kann die Hebamme die Geburt auch ohne den Arzt abwickeln.“ Wenngleich Isabelle nicht viel über Dr. Henshaw wusste, erinnerte sie sich, dass er im Mütterheim, einem Ort für Frauen in Not, immer mit einer Hebamme zusammenarbeitete. Gewiss würde diese die Kinder auch ohne seine Hilfe auf die Welt holen können. Zumindest heute Nacht.
Unsicher verschränkte die junge Frau die Hände über dem großen Bauch. „Ich hole am besten Mrs Reed oder Mrs Bennington. Die beiden können Ihnen sicher besser weiterhelfen als ich.”
Widerwillig atmete Isabelle langsam aus. „Vielen Dank. Das wäre sehr freundlich.“
Sobald die junge Frau außer Sicht war, stieg Isabelle die Treppe empor bis in den ersten Stock. Auf keinen Fall würde sie auf eine der beiden Direktorinnen des Mütterheims warten. Zweifelsohne würden sie nur versuchen, sie zu besänftigen und wieder fortschicken. Isabelle suchte lieber selbst nach dem Arzt, um die Dringlichkeit ihres Anliegens klarzumachen. Dr. Henshaw war der Hausarzt ihrer Mutter und kannte Moniques kritischen Gesundheitszustand. Er musste mitkommen, und zwar sofort!
Nur keine Sorge, Mama. Ich lasse dich nicht im Stich. Versprochen.
Laut hallten Isabelles Schritte durch den oberen Flur. Als sie ein leises Stöhnen wahrnahm, hielt sie kurz inne.
„Weiter so, Miss O`Reilly. Das machen Sie sehr gut”, hörte Isabelle Dr. Henshaws Stimme.
Augenblicklich ließ der Druck auf ihrer Brust nach. Das klang nach einer Routinegeburt. Sobald der Arzt von ihrem Notfall erfuhr, würde er die Schwangere sicher der Hebamme überlassen und mitkommen. Mit einem tiefen Atemzug öffnete Isabelle die Tür und betrat das Zimmer.
Sofort schlug ihr ein beißender Körpergeruch entgegen. Mit einer Hand vor Nase und Mund sah sie sich um.
Auf dem Bett lag eine Frau, ein Laken bedeckte ihre untere Körperhälfte. Dr. Henshaw und eine kleine füllige Frau standen am Fußende, die Köpfe dicht beieinander.
„Das sieht ganz nach einer Steißlage aus, Mrs Dinglemire“, sagte Dr. Henshaw angespannt. „Ich werde Ihre Hilfe benötigen, um das Kind zu drehen.“
„O nein“, erwiderte die ältere Frau mit grauem Haar. „Das halte ich für keine gute Idee.“
„Wir haben keine Wahl. Wir müssen es versuchen, sonst verlieren wir sie beide.“
Sofort beschleunigte sich Isabelles Herzschlag wieder. Das klang nun doch alles andere als vielversprechend. Aber jeder Moment zählte! Ihre Mutter würde sterben, wenn der Arzt nicht bald nach ihr sah.
„Dr. Henshaw.“
Ihre Worte waren kaum lauter als ein Flüstern gewesen, und doch der Arzt hob überrascht den Kopf. „Miss Wardrop? Was machen Sie denn hier?“
„Sie müssen unbedingt mit mir kommen, sofort. Meine Mutter liegt im Sterben.“
Eine Vielzahl von Emotionen huschte über sein Gesicht. Ein mitfühlender Ausdruck lag in seinen haselnussbraunen Augen, als er näher an sie herantrat. „Wir stecken mitten in einer komplizierten Entbindung, ich kann hier jetzt nicht weg. Aber sobald das Kind da ist –“
„Dann wird es zu spät sein“, unterbrach Isabelle ihn. „Schafft die Hebamme das nicht allein?“
„Nein, in diesem Fall leider nicht.“
Mrs Dinglemire stellte sich zu ihnen. „Diese Mutter und ihr Kind schweben in Lebensgefahr“, erklärte sie. „Es braucht ein Wunder, um sie zu retten.“
Dr. Henshaw stellte sich ein Stück vor die Hebamme, den Blick weiterhin auf Isabelle gerichtet. „Wenn der Zustand Ihrer Mutter tatsächlich so kritisch ist, rate ich Ihnen, einen Ambulanzwagen zu rufen und sie ins Krankenhaus bringen zu lassen. Ich komme nach, sobald ich kann.“
„Sie wissen genau, dass meine Mutter das niemals mitmachen würde. Sie sind der Einzige, dem sie vertraut, Dr. Henshaw.“
Leise seufzte er und schloss kurz die Augen. Einen Augenblick lang schien es, als … betete er.
Ein gequälter Schrei riss den Arzt aus seinen Gedanken.
„Es tut mir schrecklich leid, Miss Wardrop“, sagte er mit einem Kopfschütteln. „Aber bitte, rufen Sie einen Ambulanzwagen für Ihre Mutter. Ich muss mich jetzt weiter um meine Patientin hier kümmern.“ Nach einem letzten entschuldigenden Blick trat er zurück ans Bett.
Reglos stand Isabelle da, obwohl alles in ihr danach verlangte, etwas zu unternehmen, ihn irgendwie umzustimmen. Nur fiel ihr nichts ein, außer …
Sie machte einen Schritt auf ihn zu. „Ich zahle Ihnen eintausend Dollar!“ Die Verzweiflung in ihrer Stimme ließ sie selbst kurz erschaudern.
Als sein Kopf sich in ihre Richtung drehte, erkannte sie, dass sie einen groben Fehler begangen hatte.
Dr. Henshaw versteifte sich und sein Gesicht wurde hart. „Sie sind es vermutlich gewöhnt, dass man Ihren Anweisungen immer Folge leistet, Miss Wardrop, aber ich habe meine Prinzipien“, sagte er und wandte sich in Richtung Tür. „Olivia, wärst du so freundlich, Miss Wardrop nach draußen zu begleiten?“
Erneut schrie die Gebärende so schmerzerfüllt auf, dass es Isabelle eiskalt den Rücken herunterlief. Im nächsten Augenblick spürte sie eine zarte Hand an ihrem Ellbogen, die sie in den Flur führte.
Isabelles Schritte gerieten ins Stocken. Nicht eine Sekunde lang hatte sie daran gedacht, dass sie vielleicht ohne Hilfe zurückkehren würde. Was sollte sie jetzt nur tun? Ob es ihr gefiel oder nicht, ihr blieb nichts anderes übrig, als Dr. Henshaws Rat zu befolgen.
Entschieden straffte Isabelle die Schultern und wandte sich an die Frau neben sich. „Wären Sie so freundlich, einen Ambulanzwagen in die Chestnut Hill Road 124 zu bestellen? Meine Mutter braucht dringend einen Arzt.“
„Aber natürlich, sofort“, erwiderte die hübsche Italienerin, die Stirn in Falten gelegt. „Und wie kommen Sie nach Hause, Miss Wardrop?“
„Mein Fahrer wartet draußen auf mich, danke“, erklärte Isabelle, die Handtasche so fest an sich gedrückt, dass die Finger schmerzten. „Ich muss jetzt gehen.“
„Ich werde für Ihre Mutter beten.“
„Danke“, brachte Isabelle gerade noch hervor, bevor ihr unerwartet die Tränen in die Augen stiegen.
Gebet war vielleicht das Einzige, das ihre Mutter jetzt noch retten konnte.
Als Mark das Mütterheim verließ, war die Sonne gerade aufgegangen – wunderschön. Gott sei Dank hatte es gegen Mitternacht aufgehört zu schneien, sodass die Straßen befahrbar waren. Müde fuhr er sich über die Augen, als könnte er die Erschöpfung einfach wegreiben.
Er hatte noch mitbekommen, wie Isabelle schließlich doch einen Ambulanzwagen zum Anwesen der Wardrops hatte rufen lassen, von einer der Krankenschwestern hatte er jedoch erfahren, dass dieser leer zurückgekommen war. Wie von Isabelle befürchtet, hatte Mrs Wardrop sich geweigert, ihr Zuhause zu verlassen.
Auf dem Weg in das wohlhabende Stadtviertel Rosedale hoffte Mark, dass es nicht so schlimm um sie stand, wie Isabelle es dargestellt hatte. Seit über sechs Monaten war Mrs Wardrop wegen Bauchkrebs bei ihm in Behandlung und schon mehrmals hatte man ihn wegen eines Notfalls dorthin bestellt. Meistens war es ihm gelungen, sie zu beruhigen und ihre Schmerzen zu lindern. Doch nach Isabelles verzweifeltem Auftritt gestern Abend befürchtete er, dass die schreckliche Krankheit ihrer Mutter zu viel abverlangt hatte.
Die einzige frohe Botschaft dieser fürchterlichen Nacht war, dass es Mark mithilfe von Mrs Dinglemire tatsächlich gelungen war, das Kind zu drehen und es sicher auf die Welt zu holen. Trotz der qualvollen Geburt waren Mutter und Kind nun wohlauf.
Inständig betete er, dass dies auch auf Mrs Wardrop zutraf.
Mark stellte den Wagen in der kreisförmigen Einfahrt ab, stapfte durch den schneebedeckten Weg bis zur Eingangstür des Familienanwesens und betätigte den kupfernen Türklopfer. Kurz darauf öffnete die Haushälterin.
„Guten Morgen, Mrs Barton. Ich möchte nach Mrs Wardrop sehen.“
Mrs Barton setzte an, um etwas zu sagen, presste die Lippen aber wieder aufeinander und das Kinn der sonst so unerschütterlichen Frau begann zu zittern.
Zögerlich blieb Mark in der Tür stehen, ein Frösteln durchfuhr seine ohnehin schon ausgekühlten Glieder.
„Ich fürchte, Sie kommen zu spät, Dr. Henshaw“, sagte sie schließlich und schluchzte in ein Taschentuch. „Mrs Wardrop ist … Sie ist von uns gegangen. Kurz nach Mitternacht.“
Mit einem Mal schien alle Luft aus seinen Lungen gepresst zu werden. Das Adrenalin, das ihn durch die lange Nacht gebracht hatte, löste sich binnen Sekunden auf und seine Beine versagten. Haltsuchend stützte er sich am Türrahmen ab. „Aber ich habe sie doch erst vor zwei Tagen untersucht. Da ging es ihr den Umständen entsprechend gut“, stammelte er, als ihn Schuldgefühle überkamen. Er hätte doch die Anzeichen bemerkt, wenn sie sich ihren letzten Stunden genähert hätte, oder?
Aus dem Salon drang ein leises Schluchzen.
Isabelle!
Schmerzhaft zog sich seine Brust zusammen. Über den Verlust ihrer Mutter waren Isabelle und ihre Schwester sicher am Boden zerstört. Er musste sich vergewissern, ob er etwas für die beiden tun konnte.
„Bitte entschuldigen Sie mich“, sagte er und durchquerte das geflieste Foyer bis zum Salon.
Dort saß Isabelle auf dem gepolsterten Sofa, einen Arm um ihre jüngere Schwester Marissa gelegt. Blonde Strähnen hingen ihr unfrisiert ins Gesicht und ihre rot geränderten Augen waren geschwollen.
Zögernd hielt Mark inne. Es war ein sehr persönlicher Moment der Trauer und im Grunde hatte er kein recht, sich einzumischen. Und doch war Isabelle nach den zahlreichen Hausbesuchen in den letzten sechs Monaten für ihn keine Fremde mehr – als Freund hatte er das dringende Bedürfnis, sie zu trösten oder ihr zumindest sein aufrichtiges Beileid auszudrücken.
„Isab- Miss Wardrop. Ich bedauere Ihren Verlust zutiefst.“ Langsam machte er einige Schritte auf sie zu, bis ihr kühler Blick ihn innehalten ließ. Vorsichtig löste sie sich von Marissa und stand auf. „Wie können Sie es wagen, sich jetzt hier blicken zu lassen.“
Ihre vorwurfsvollen Worte trafen ihn mit voller Wucht. „Aber ich habe doch gesagt, ich komme, sobald das Kind …“, setzte er an, verstummte dann jedoch, als ihm aufging, wie wenig hilfreich dieser Kommentar war.
Isabelles blaue Augen verdunkelten sich. „Nun, offensichtlich sind Sie zu spät“, erwiderte sie scharf, ihre Lippen bebten. „Wenn Sie gleich mitgekommen wären, wäre meine Mutter jetzt sicher noch am Leben. Das ist Ihnen hoffentlich bewusst.“
Die Wahrheit in diesen Worten setzte ihm schwer zu. Womöglich wäre es ihm gelungen, Mrs Wardrop zu stabilisieren, wenngleich er das Unvermeidliche damit nur ein wenig hinausgezögert hätte. Gleichzeitig wäre seine Patientin in Bennington Place samt ihrem Kind unweigerlich gestorben. Angestrengt rieb Mark sich die Augen. Dieser Moment zählte zu den schwierigsten seines Berufs – als Arzt traf er Entscheidungen über Leben und Tod, bei denen es kein Richtig oder Falsch gab.
Entschlossen marschierte Isabelle an ihm vorbei ins Foyer. „Mrs Barton, seien Sie so gut und weisen Sie Dr. Henshaw die Tür. Und geben Sie ihm zu verstehen, dass er hier nicht länger willkommen ist.“
Mit Mühe rang Mark um einen klaren Gedanken. „Wo ist denn Ihr Vater?“, fragte er schließlich. Sollte dieser Mann nicht hier bei seinen Töchtern sein, sie trösten? Himmel, Marissa war doch erst siebzehn!
„Er ist beim Bestatter. Nicht, dass Sie das etwas anginge – Mama ist nun nicht mehr Ihre Patientin.“
Marks Blick wanderte von der steif dastehenden Isabelle zu Mrs Barton, die sich wie eine Wache neben der Eingangstür postiert hatte. Erst jetzt bemerkte er, dass er nicht einmal seinen Hut abgenommen oder seine wetterfesten Überschuhe ausgezogen hatte. Mit einem bedeutungsschweren Blick öffnete die Hausdame die Tür.
Sein Herz wurde nur noch schwerer. Da ihm keine andere Wahl blieb, ging er zur Tür, drehte sich aber noch ein letztes Mal zu Isabelle um. „Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, Miss Wardrop … Ich stehe stets zu Diensten.“
Sie hob das Kinn und musterte ihn hart. „Nach den Ereignissen der letzten Nacht werden Sie hier ganz bestimmt nie wieder gebraucht.“
Durch das offene Fenster drang der herrliche Duft von Frühlingsregen und frischem Grün zu Isabelle hinein, die am Sekretär ihrer Mutter saß. Auch drei Monate nach ihrem Tod war Isabelle noch damit beschäftigt, Dankes-Karten an die Geschäftspartner ihres Vaters zu schreiben. Viele von ihnen hatten im Gedenken an Monique großzügige Spenden an ihre Wohltätigkeitsorganisationen veranlasst. Mit einem Seufzen legte Isabelle den Stift nieder.
Oh, Mama. Wie sehr ich dich vermisse. Ich gebe mir große Mühe, deine Arbeit fortzuführen, aber ohne dich ist es einfach nicht dasselbe.
Als extravagante Frankokanadierin mit einem Hang zur Theatralik hatte Monique Wardrop die Bewunderung der Vorstandsvorsitzenden von verschiedensten Wohltätigkeitsorganisationen genossen, deren Schirmherrin sie gewesen war. Isabelle jedoch ließ man deutlich spüren, dass man sie für zu jung erachtete, um in diese verantwortungsvolle Rolle zu schlüpfen. Nichtsdestotrotz hatte Isabelle fest vor, diese Arbeit fortzuführen.
„Entschuldigen Sie bitte, Miss. Aber da ist Besuch für Sie“, erklang Mrs Bartons Stimme von der Tür aus.
„Wer ist es diesmal?“ Isabelle war die unzähligen Besucher leid, die noch immer unangekündigt hier auftauchten. Potenzielle Verehrer mitinbegriffen. Merkten sie denn nicht, wie erschöpft Isabelle war? Wie sehr es sie anstrengte, in ihrer Trauer allen beweisen zu müssen, wie „gut sie sich schlug“?
„Mr Noland. Soll ich ihm sagen, Sie seien unpässlich?“
„Nein, ist schon in Ordnung“, erwiderte Isabelle und stand auf. Mit einer Hand strich sie sich den Rock glatt, überprüfte, dass die Nähte ihrer Nylonstrumpfhose gerade saßen, und machte sich auf ins Foyer.
Seit Mutters Tod hatte Vater sich umso emsiger darum bemüht, Isabelle so vielen heiratswürdigen Männern vorzustellen wie möglich. „Deine Mutter hat stets davon geträumt, dich glücklich verheiratet zu wissen“, sagte er ihr eins ums andere Mal. „Ihr letzter Wunsch ist mir ein großes Anliegen.“
Immer wenn die beiden miteinander sprachen, setzte sein besorgtes Gesicht Isabelle schwer zu, und sie brachte es nicht übers Herz, seinen Bemühungen ein Ende zu setzen. Stattdessen nahm sie tapfer Mutters Rolle an seiner Seite ein und begleitete ihn nicht nur zu den zahlreichen gesellschaftlichen Anlässen, sondern billigte auch die Avancen der Junggesellen, denen ihr Vater sie vorstellte. Die meisten erschienen ihr eintönig und fad, nicht aber Roger Noland. Mit seiner freundlichen Art hatte er schnell ihre Gunst gewonnen.
„Hallo, Roger“, grüßte sie ihn, entschieden, die fröhliche Fassade aufrechtzuerhalten. „Das ist aber eine nette Überraschung.“
„Isabelle. Wie schön, Sie zu sehen“, sagte der hochgewachsene Mann mit einem Lächeln auf den Lippen.
Wenngleich er nicht dem klassischen Schönheitsideal entsprach, hatte Roger sehr markante Züge. Die lange Nase, die eleganten Brauen und das kantige Kinn fielen sofort ins Auge und mit seiner selbstbewussten Haltung erregte er überall Aufsehen.
Sie trat auf ihn zu. „Was führt Sie her?“
Er beugte sich vor, um ihr einen schnellen Kuss auf die Wange zu geben. „Braucht es denn einen anderen Grund als Ihr schönes Gesicht?“ Hitze breitete sich auf Isabelles Wangen aus. Unter anderen Umständen hätte sie einen ebenso koketten Kommentar erwidert, doch für solch einen Schlagabtausch war sie heute nicht in Stimmung. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“
„Nein, vielen Dank. Ich muss gleich wieder weiter. Im Grunde bin ich nur hier, um Sie für morgen Abend zum Essen einzuladen.“
„Und da hätten Sie nicht einfach anrufen können?“, fragte Isabelle mit einem Stirnrunzeln.
„Und Ihnen die Chance geben, mich abzuweisen? Nein, nein. Am Telefon ist es viel einfacher, eine Einladung auszuschlagen, als wenn man sich gegenübersteht.“ Ein zaghaftes Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Nun, da haben Sie wohl recht.“
„Es hat also funktioniert?“, hakte er mit hochgezogener Braue nach. „Beehren Sie mich morgen Abend mit Ihrer Anwesenheit?“
Isabelle spürte ein leichtes Kribbeln in der Magengegend. Die letzten Monate hatte sie sich voll und ganz dem Gram hingegeben. Vielleicht war es Zeit für ein paar vergnügliche Momente – mit einem wahren Gentleman, der auch in den Augen ihres Vaters eine sehr gute Partie abgab.
Von all den Männern, die ihre Eltern ihr über die letzten Jahre angepriesen hatten, waren nur drei von ihnen für Isabelle infrage gekommen: Adam Templeton, Elias Weatherby und Roger Noland. Tatsächlich mochte sie Roger, ein Immobilienmakler aus Vaters Firma, am liebsten. Mit seinem Scharfsinn und für ihn so typischen Humor war er in den Tagen nach Mutters Tod der einzige gewesen, der sie aufzumuntern vermochte.
Auch in den Wochen und Monaten danach hatte er den Kontakt aufrechterhalten und sie hatte seine Besuche immer willkommen geheißen. Nie hatte er sie zu einer Verabredung gedrängt, sie aber immer wissen lassen, dass er für sie da war. Adam Templeton hatte seine Beileidsbekundungen zusammen mit einem Blumenstrauß geschickt und sich beim Leichenschmaus sehr besorgt um sie und ihre Schwester gezeigt. Elias Weatherby hingegen hatte bloß eine unpersönliche Trauerkarte geschickt und abgesehen von einem kurzen Wortwechsel am Tag der Beerdigung hatte er seither nichts mehr von sich hören lassen.
Lächelnd hob Isabelle den Blick. „Ja, ich gehe sehr gern mit Ihnen essen, Roger.“ Vielleicht würde endlich wieder ein gewisser Grad von Normalität in ihr Leben zurückkehren. Das Dinner könnte zumindest ein Anfang sein.
„Hervorragend“, sagte er mit einem breiten Strahlen, bei dem seine Grübchen zum Vorschein kamen. „Dann reserviere ich uns einen Tisch im Le Beau Monde. Das wird ein ganz besonderer Abend“, verkündete er und hob ihre Hand überschwänglich für einen Handkuss an seinen Mund. „Bis morgen.“
Das Funkeln in seinen Augen ließ Isabelles Herz höherschlagen. Und das Le Beau Monde war ein ausgesprochen romantisches Restaurant. Hatte er womöglich vor, um ihre Hand anzuhalten?
Und falls ja, wie würde ihre Antwort lauten?
Mark zog vor der Tür rasch seine schlammverkrusteten Schuhe aus. Er hatte nicht vorgehabt, vor seiner Schicht im Krankenhaus noch zu Hause vorbeizugehen, aber der anhaltende Regen hatte die unbefestigten Straßen in Torontos Armenviertel in einen Morast verwandelt. Mit seiner mit Schlamm besprenkelte Hose und den dreckigen Schuhen konnte er sich keineswegs im Krankenhaus blicken lassen. Er hing den Mantel an die Garderobe und wollte gerade die Treppe hocheilen, als er ein Scheppern aus der Küche hörte.
Verwundert runzelte er die Stirn. „Josh, bist du das?“ Eigentlich sollte sein jüngerer Bruder noch in der Schule sein.
„Ja“, lautete die einsilbige Antwort, die Mark keinerlei Informationen darüber lieferte, warum Josh hier und nicht im Unterricht war.
Mit einem Seufzen machte Mark sich auf in den hinteren Teil des Hauses.
Josh stand an der Küchenzeile und schenkte sich ein Glas Milch ein. In der Spüle stapelte sich das dreckige Geschirr, das er eigentlich heute Morgen vor der Schule hätte abspülen sollen.
„Warum bist du schon so früh zu Hause?“, wollte Mark wissen und gab sich Mühe, möglichst neutral zu klingen und seinem Bruder einen Vertrauensvorschuss zu gönnen.
Der schlaksige Junge zuckte mit den Schultern, ohne sich zu Mark umzudrehen. „Chemie ist ausgefallen. Also bin ich kurz heimgekommen, um vor dem Chor noch eine Kleinigkeit zu essen.“
Ärger machte sich in Mark breit. „Das ist schon das zweite Mal diesen Monat, dass dieser Kurs angeblich ausfällt. Was ist wirklich los, Josh?“
In letzter Zeit fiel es Mark immer schwerer zu unterscheiden, ob sein Bruder ihm die Wahrheit sagte oder nicht. Eine sehr beunruhigende Entwicklung. An Joshs Wut, die immer unter der Oberfläche zu brodeln schien und in den unverhofftesten Momenten ausbrach, hatte Mark sich bereits gewöhnt. Doch dass er nun auch noch log, war neu. An diesem entscheidenden Punkt in seiner schulischen Laufbahn durfte Mark auf keinen Fall zulassen, dass er sich mit seiner jugendlichen Aufsässigkeit die Zukunft verbaute.
„Nichts ist los“, erwiderte Josh gereizt und drehte sich mit zusammengezogenen Brauen zu ihm herum. „Was kann ich denn dafür, dass unser Lehrer so unzuverlässig ist.“
In letzter Zeit lehnte sich Josh immer mehr gegen seine Autorität auf und Mark hatte den Eindruck, die Kontrolle zu verlieren. Das musste er verhindern, zumindest bis Joshs Zukunftsbahnen geebnet waren – die Zukunft, die sich ihre Eltern für die beiden gewünscht hatten. „Vielleicht sollte ich mal mit deinem Lehrer sprechen. Schließlich stehen schon in zwei Monaten die Abschlussprüfungen an, das muss ihm doch klar sein.“
Ein Ausdruck von Unbehagen legte sich über Joshs Gesicht. „Ach, es ist doch nur der Zusatzkurs, Mark. Nichts Wichtiges.“
„Natürlich ist der wichtig, vor allem für dich. Du brauchst Bestnoten in Mathematik und allen Naturwissenschaften, um zum Medizinstudium zugelassen zu werden.“
Josh grummelte: „Bis zum Studium ist es noch lange hin.“
„Aber für die Aufnahme an der Uni sind gute Noten unabdingbar. Ich verstehe einfach nicht, warum –“
„War’s das dann?“, sagte Josh genervt und schob sich mit aufgeblähten Nasenflügeln an Mark vorbei. „Und außerdem riechst du wie ein Plumpsklo. Warum arbeitest du eigentlich immer noch in diesem Armenviertel?“
Bei der Verachtung in seinen Worten zuckte Mark zusammen. „Auch diese Menschen brauchen einen Arzt, Josh. Und nur weil sie arm sind, heißt das nicht, dass sie nicht genauso unseren Respekt und unser Mitgefühl verdienen.“
Eine Philosophie, nach der auch ihr Vater gelebt hatte. „Arme Menschen haben das gleiche recht auf medizinische Behandlung wie Reiche, mein Sohn. Vergiss das nie.“ Thaddeus Henshaw war der Inbegriff eines Landarztes gewesen. Selbst als sie in die Stadt gezogen waren, hatte er jedem das Gefühl gegeben, ein wichtiger Patient zu sein. Etwas, das auch Mark Tag für Tag vor Augen hatte.
„Aber du bist doch mit dem Krankenhaus und dem Mütterheim schon genug beschäftigt. Und dann noch all deine Privatpatienten. Warum musst du dort auch noch hin?“
Ohne den kleinen Anflug von Verletzlichkeit im Gesicht seines Bruders hätte Mark den wahren Grund für Joshs Beschwerde nicht erkannt – er nahm sich zu wenig Zeit für seinen Bruder.
„Ich bin nicht nur Arzt, um Geld zu verdienen. Für mich ist das nicht bloß ein Beruf, es ist meine Berufung. So wie bei Dad.“
Als Mark an der Treppe ankam, stieg ihm der strenge Geruch in die Nase, wegen dem er ursprünglich nach Hause gekommen war. „Ich muss mich jetzt umziehen und dann ins Krankenhaus. Im Kühlschrank ist noch etwas Schinken, wenn du nachher vom Chor zurückkommst.“
„Okay.“
„Oh, und Josh – das Gespräch ist noch nicht zu Ende, über deine letzten Monate in der Schule reden wir noch mal.“
Doch Josh verdrehte bloß die Augen und schlug die Tür zu.
Mark hielt ein Seufzen zurück. Irgendetwas hatte Josh – etwas, das er vor seinem älteren Bruder verbarg.
„Herr“, flüsterte Mark, „bitte hilf mir, herauszufinden, was mit Josh los ist. Und hilf mir, ihn vor einem groben Fehler zu bewahren.“
In letzter Zeit betete Mark immer öfter. Er konnte jede Hilfe brauchen, denn es war seine größte Herausforderung gewesen, sich allein um seinen jüngeren Bruder kümmern zu müssen.
Als ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, hatte es Mark das letzte Bisschen seiner Kraft gekostet, sich zusammenzureißen und das Medizinstudium hinter sich zu bringen. Nach seinem Abschluss hätten Vater und Sohn in der Praxis Seite an Seite arbeiten sollen.
„Eine Gemeinschaftspraxis mit meinen zwei Söhnen“, hatte Thaddäus oftmals gesagt, „ich kann mir nichts Schöneres vorstellen.“
Zum ersten Mal nagten Zweifel an Mark, ob es ihm tatsächlich gelingen würde, den Traum seines Vaters wahr werden zu lassen.
Er würde sich einfach noch mehr Mühe geben müssen. Scheitern war keine Option.
„Du siehst bezaubernd aus, Belle. Wohin führt Roger dich aus?“, fragte Marissa, die auf Isabelles Himmelsbett saß und ihrer Schwester beim Fertigmachen zuschaute.
Über den Spiegel des Schminktischs sah Isabelle zu Marissa. „Ins Le Beau Monde. Und er hat angedeutet, dass es ein ganz besonderer Abend werden soll“, sagte sie mit einem kleinen Lächeln und errötete leicht.
„Denkst du, er macht dir einen Antrag?“, fragte Marissa neugierig.
Mit ihren siebzehn Jahren war sie eine hoffnungslose Romantikerin und es kribbelte ihr bereits in den Fingern, sich selbst mit Männern zu verabreden, obgleich ihr Vater dies noch verbot. Anscheinend konnte er kaum fassen, dass sein kleines Mädchen zu einer jungen Frau heranwuchs, und versuchte, sie so lange wie möglich zu beschützen.
Umso mehr interessierte sich Marissa für Isabelles Liebesleben.
„Ja, vielleicht.“ Sie legte ein Silberarmband um und steckte sich passende Ohrringe an.
„Und was wirst du antworten?“
Kurz dachte Isabelle nach, dann lächelte sie wieder. „Ich denke, ich werde Ja sagen.“ Schon bei dem Gedanken daran, wie Roger ihr seine Liebe gestand und sein Leben mit ihr teilen wollte, schnellte ihr Puls in die Höhe. Die Ehe ihrer Eltern war ihr ein gutes Vorbild gewesen und so fühlte Isabelle sich auf diese Rolle bestens vorbereitet. Sie hoffte bloß, eine ebenso gute Ehefrau abzugeben wie ihre Mutter.
Voller Vorfreude sprang Marissa vom Bett auf und warf sich Isabelle in die Arme. „Oh, Belle! Und ich werde deine Brautjungfer sein und dir bei den Hochzeitsvorbereitungen helfen. Ich kann es kaum erwarten!“ Isabelle lachte. „Ein Schritt nach dem anderen. Vielleicht irre ich mich ja auch.“
„Ganz bestimmt nicht. Mir ist nicht entgangen, wie er dich immer ansieht“, erklärte Marissa verträumt. „Ich hoffe nur, dass man mich eines Tages auch mal so bewundert.“
Nachdenklich studierte Isabelle ihre Schwester. „Hast du jemand Bestimmtes im Sinn?“
Sofort errötete Marissa. „Nein, eigentlich nicht.“
„Wirklich? Da ist niemand, auch nicht von der Jungenschule zum Beispiel?“, hakte Isabelle grinsend nach. „Oder vielleicht aus dem Kirchenchor?“
Marissa zuckte mit den Schultern. „Na gut, vielleicht gibt es da jemanden, den ich mag.“
„Aha, dachte ich’s mir doch. Und wie heißt er?“
„Das sage ich nicht“, erwiderte Marissa schnell und warf ihr honigbraunes Haar über die Schulter. „Sonst blamierst du mich nur.“
„Niemals.“
Abwehrend verschränkte Marissa die Arme, an die Stelle ihres Lächelns trat ein herausfordernder Blick. „Ach ja? Du führst dich nämlich immer mehr auf wie Mum, seit …“, sie hielt inne und presste die Lippen aufeinander.
Ihre Worte trafen Isabelle. Es stimmte, sie hatte Marissa in den letzten Wochen etwas bemuttert. Aber doch nur, weil ihr Vater so wenig Zeit für sie hatte und Isabelle sich verantwortlich fühlte für ihre jüngere Schwester. „Ich möchte dich doch nur beschützen, Rissa. Bitte versprich mir, vorsichtig zu sein. Jungs in deinem Alter sind oft aufdringlich und … können sehr überzeugend sein.“
„So ein Unsinn. Mach dir keine unnötigen Sorgen.“
„Also gut“, sagte Isabelle und legte eine Hand auf Marissas Arm. „Bitte denk an deine Hausaufgaben, ja? Ich bin vermutlich erst zurück, wenn du schon schläfst.“ Sie nahm die dünne Jacke vom Bett und gab Marissa einen Kuss zum Abschied. „Und bitte sorg dafür, dass Papa etwas Vernünftiges isst.“ Bei diesen Worten zeichneten sich Sorgenfalten auf ihrer Stirn ab. „In letzter Zeit scheint er neben sich zu stehen. Und er arbeitet viel zu viel. Versuch doch mal, ob du ihn zu einem gemeinsamen Urlaub überreden kannst.“ Wenn das jemandem gelang, dann ihrer Schwester.
„Ich gebe mein Bestes“, sagte Marissa und folgte ihrer Schwester wie ein kleines Hündchen. „Und weck mich, wenn ich später tatsächlich schon schlafen sollte, ja?“
„Morgen ist Schule, Rissa … aber gut, wenn es einen Ring gibt, wecke ich dich.“ Gute Nachrichten würden Marissa guttun.
„Danke. Habt einen schönen Abend.“
Bevor Isabelle ging, wollte sie noch kurz bei ihrem Vater in der Bibliothek vorbeisehen. Wider Erwarten stellte sie fest, dass er gar nicht da war. Merkwürdig – ihn hatte es nämlich besonders gefreut, dass sie Rogers Einladung angenommen hatte.
„Fiona?“, rief Isabelle.
„Ja, Miss?“, erwiderte die rothaarige Bedienstete aus dem Foyer.
„Ist mein Vater schon zu Hause?“
„Nein, Miss. Nicht, dass ich wüsste“, sagte sie und senkte den Staubwedel. „Aber ich kann gern noch einmal Mrs Barton fragen.“
„Ja, bitte. Ich warte derweil im Salon auf Mr Noland.“
Leicht beugte Fiona sich zu Isabelle vor und flüsterte mit einem Zwinkern: „Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Abend.“ Ihre grünen Augen funkelten.
Auch Isabelle lächelte. „Danke sehr.“
Fiona, die bloß wenige Jahre älter war als Isabelle, war das persönliche Dienstmädchen ihrer Mutter gewesen. Nach Mutters Tod hatten Isabelle und Marissa darauf bestanden, dass Fiona ihre Anstellung nicht verlor. Die beiden waren mit ihr aufgewachsen und mit Fiona im Haus fühlte es sich an, als wäre ihnen wenigstens noch ein kleiner Teil ihrer Mutter erhalten geblieben.
Fünf Minuten später kehrte Fiona zurück. „Weder Mrs Barton noch die Köchin haben etwas von Mr Wardrop gehört, Miss. Sicherlich wurde er im Büro aufgehalten.“
„Ja, wahrscheinlich. Danke, Fiona.“
Mit einem Blick auf die Uhr sank Isabelle auf das Sofa. Auch Roger verspätete sich.
Fünfundzwanzig Minuten später wurde Isabelle allmählich ärgerlich. Wie unhöflich von Roger, nicht einmal anzurufen und sich für die Verspätung zu entschuldigen.
Er wagte es doch nicht, sie einfach sitzen zu lassen?
Gereizt marschierte Isabelle zum Telefon im Flur und ließ sich mit dem Büro ihres Vaters verbinden. Ob sie wohl noch jemand erreichen würden? Um diese Uhrzeit war der Empfang sicher nicht mehr besetzt.
„Wardrop Realty“, antwortete eine unbekannte männliche Stimme.
„Oh, ja, hallo. Ich bin auf der Suche nach Roger Noland. Ist er vielleicht noch im Büro?“
Stille. „Ich fürchte, er ist gerade gegangen.“
„Ah.“ Isabelle entspannte sich. Wahrscheinlich war er bereits auf dem Weg zu ihr. „Und mein Vater, ist er noch da?“
„Ihr Vater?“
„Ja, Mr Wardrop.“ Bei der erneuten Stille machte sich ein ungutes Gefühl in Isabelle breit. „Entschuldigung, mit wem spreche ich?“
„Constable Spencer.“
Mit einem Mal versagten Isabelles Beine und sie sank auf den kleinen Stuhl neben dem Telefonbänkchen nieder. Was hatte ein Polizist in Vaters Immobilienfirma zu suchen? „W-wo ist mein Vater, geht es ihm gut?“
„Sind Sie allein zu Hause, Miss?“
„Nein, mit meiner jüngeren Schwester. Warum?“
„Am besten warten Sie auf Mr Noland. Er wird gleich bei Ihnen sein.“
Woher wusste dieser Mann, dass sie und Roger verabredet waren?
Jetzt klingelte es, doch Isabelle ignorierte die Tür.
„War das die Türklingel?“
„Ja.“
„Dann lege ich jetzt auf. Mr Noland wird Ihnen alles weitere erklären.“
In der Zwischenzeit hatte Mrs Barton die Tür geöffnet und Roger hereingebeten. Mit dem Hut in der Hand blieb er im Foyer stehen und blickte über den langen Flur zu Isabelle.
Langsam hängte sie den Hörer ein und stand auf. „Roger, was ist passiert? Warum sind Sie so spät? Und was hat die Polizei im Büro zu suchen?“
Er streckte ihr die Hand entgegen. „Kommen Sie, Isabelle, wir gehen besser in den Salon und setzen uns.“ Sorge lag in seinem Blick und seine Augen waren gerötet. Irgendetwas war ganz und gar nicht in Ordnung.
Vor Schreck konnte sie sich kaum bewegen. Roger trat auf sie zu, legte sanft einen Arm um sie und führte sie ins Zimmer, wo sie mit rasendem Herzen auf dem Sofa Platz nahm.
Einfühlsam nahm Roger ihre Hand in die seine. „Ich fürchte, ich habe schlechte Neuigkeiten“, begann er mit feuchten Augen. „Es tut mir so leid, meine Liebe. Aber Ihr Vater … Er ist tot.“
Seine Worte ließen ihr das Blut in den Adern gefrieren. „Das kann nicht sein, er ist nur etwas länger auf der Arbeit. Sicher kommt er jeden Moment zur Tür herein.“
„Ich wünschte, es wäre anders. Bitte glauben Sie mir, es ist die Wahrheit“, bekräftigte Roger seine Worte mit aschfahlem Gesicht.
Isabelles Hände zitternden und ihr Kopf war wie leer gefegt. Ihr Vater war kerngesund gewesen – war er vor Kummer gestorben? Das schien die einzig logische Erklärung.
„Was ist geschehen?“, fragte Isabelle schließlich. „Hatte er einen Herzstillstand?“
„Nein, das war es nicht.“ Tränen liefen über Rogers Wangen und er schluckte schwer, bevor er ein langes Seufzen von sich gab. „Als ich gerade gehen wollte, habe ich einen Schuss gehört.“
Vor Schreck keuchte Isabelle auf und riss die Hände vor den Mund.
„Ich bin natürlich sofort in sein Büro gerannt, aber es war zu spät“, erklärte Roger mit einem Kopfschütteln. „Ich konnte nichts mehr tun.“ Seine Stimme brach, er blinzelte mehrmals und wandte das Gesicht ab.
Das konnte nicht sein! Alles an ihr weigerte sich, diesen Worten zu glauben. Niemals würde ihr Vater –
„Auf dem Schreibtisch hat die Polizei eine kleine Notiz gefunden“, sagte er und griff traurig in die Manteltasche. „Und der hier ist für Sie.“
Mit zittrigen Händen nahm sie den Brief entgegen. Auf dem Umschlag stand Isabelles Name, eindeutig in der Handschrift ihres Vaters. Offensichtlich hatte er ihr wenigstens einen Abschiedsbrief geschrieben. Doch womit könnte er seine Tat erklären?
Plötzlich rebellierte ihr Magen und Isabelle sprang auf. „Entschuldigen Sie mich.“ Eilig stürmte sie aus dem Salon in das nächstgelegene Bad und übergab sich mehrmals. Ausgelaugt kniete sie anschließend auf dem kühlen Boden und spürte, wie ihr der Kopf schwirrte. Zu viele Gedanken auf einmal rangen um ihre Aufmerksamkeit.
Ihr Vater war tot. Ihre Mutter war tot. Was um Himmels willen sollte sie jetzt nur tun?
„Isabelle?“ Roger klopfte an der Tür. „Kann ich etwas für Sie tun?“
„Nein, es geht schon“, sagte sie und stand auf. Über das Waschbecken gebeugt spülte sie sich den Mund aus und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht.
Zittrig holte sie Luft und kehrte zu Roger zurück.
Mit besorgtem Gesicht sah er sie an. „Das alles muss ein fürchterlicher Schreck für Sie sein. Vielleicht sollte ich Ihren Arzt anrufen?“
„Nein. Er ist der Letzte, den ich jetzt sehen möchte“, entgegnete Isabelle scharf. „Und außerdem ist er nicht länger unser Arzt.“ Hölzern schritt sie zurück in Richtung Salon. Ihrer Schwester zuliebe würde sie sich zusammennehmen müssen, für sie musste Isabelle stark sein. Doch bevor sie Marissa über die schrecklichen Neuigkeiten ins Bild setzte, wollte sie so viel wie möglich herausfinden.
Schweigend folgte Roger ihr. Im Salon schloss Isabelle die doppelflügelige Tür hinter sich und nahm Platz. Den Brief legte sie bewusst beiseite. Die letzten Worte ihres Vaters würde sie allein lesen.
Sie blickte zu Roger und holte tief Luft. „Bitte erzählen Sie mir alles, was Sie wissen.“
Zwei Tage später saß Isabelle mit einer Tasse Kaffee in der Hand am Esstisch. Noch immer stand sie neben sich, die Realität war noch nicht bis zu ihr hindurchgedrungen. Immer wieder spielte sie im Kopf die Ereignisse der fürchterlichen Nacht durch, unfähig, Rogers Worte aus ihren Gedanken zu verbannen.
Ihm zufolge habe ihr Vater seit dem Tod ihrer Mutter mit Depressionen gekämpft und zu dieser drastischen Maßnahme gegriffen, um seinem Leiden ein Ende zu setzen. Rogers Erklärung spiegelte sich in dem letzten Brief wider, den ihr Vater an sie und Marissa geschrieben hatte. Darin hatte er sie um Vergebung gebeten, gleichzeitig aber auch gesagt, dass er diesem Chaos nicht anders habe entfliehen können. Und dass die Trauer um ihre Mutter ihn schier überwältigt habe.
Mit einem Stirnrunzeln dachte Isabelle noch einmal über den genauen Wortlaut nach. Was für ein Chaos meinte er?
Und wie war es möglich gewesen, dass sie den großen Kummer ihres Vaters derart unterschätzt hatte? Hätte sie mehr für ihn da sein müssen? Wäre er vielleicht besser mit seinen Gefühlen zurechtgekommen, wenn er sich in seiner Trauer nicht so allein gefühlt hätte?
Fiona betrat den Frühstückssalon, in den Händen ein Tablett mit Eiern, einer Kanne Orangensaft und der gefalteten Morgenzeitung. Sie stellte alles ab und schenkte Isabelle ungefragt ein Glas Saft ein. „Darf ich Ihnen auch etwas Ei und Toast servieren, Miss Isabelle?“
„Nein, vielen Dank. Ich bin nicht hungrig“, erwiderte Isabelle, griff nach der Zeitung und betrachtete erstaunt die hässliche schwarze Schlagzeile.
Immobilienmogul begeht Selbstmord – das Ende für Wardrop Real Estate.
Mehrmals blinzelte Isabelle, doch die Worte blieben die gleichen. Widerwillig überflog sie den Artikel, der von dem Bankrott des millionenschweren Unternehmens von Hugh Wardrop berichtete und den endgültigen Firmenuntergang verkündete. Infolgedessen waren auch alle anderen Makler, die mit ihrem Vater zusammengearbeitet hatten, entlassen worden.
Bei dem Gedanken an all die arbeitslosen Menschen, Roger eingeschlossen, drohte Isabelles Magen erneut zu streiken.
Wie war das nur möglich?
Es wurde behauptet, dass ihr Vater Darlehen in Millionenhöhe aufgenommen hatte und nicht zahlungsfähig gewesen war, als die verschiedenen Banken die Rückzahlungen eingefordert hatten.
Wenn auch nicht explizit erwähnt, wurde klar angedeutet, dass er sich feige davongemacht hatte. Schlimm genug, wenn nur der engste Kreis Bescheid gewusst hätte – nun aber kannte alle Welt die Wahrheit.
Wut überkam Isabelle und mit einem lauten Poltern stellte sie die Tasse auf dem Tisch ab.
Wie konntest du nur, Papa? Wie konnten dir die Bedürfnisse deiner Töchter so egal sein? Was soll jetzt nur aus uns werden?
Im Gang ertönten Schritte und kurz darauf erschien Mrs Barton in der Tür. „Bitte entschuldigen Sie, Miss. Da ist ein Besucher für Sie.“
Genervt seufzte Isabelle. „Wer ist es diesmal?“ Sie war der vielen unangekündigten Besucher überdrüssig geworden, die nun wieder Tag um Tag vorbeikamen, um ihr Beileid zu bekunden. Natürlich meinten sie es nur gut, aber Isabelle war einfach noch nicht so weit.
Vielleicht war es ja Roger? Seit er ihr die Hiobsbotschaft überbracht hatte, hatte er sie nicht mehr besucht. Dabei war er der Einzige, den sie wirklich sehen wollte.
Mrs Barton zögerte. „Ein Mr Meade von der Bank of Commerce.“
Bei dem Wort Bank läuteten bei Isabelle die Alarmglocken. „Hat er gesagt, was er möchte?“
„Nein. Nur dass es um eine Privatangelegenheit gehe.“
Beunruhigt fragte Isabelle sich, ob das ein Zufall sein konnte.
Sie straffte die Schultern. „Bitte sagen sie ihm, dass ich mit den letzten Vorbereitungen für die Beerdigung beschäftigt bin. Vielleicht finden wir nächste Woche einen Termin.“
„Das habe ich schon versucht, Miss. Aber er ist sehr beharrlich. Es sei dringend, sagt er, und er werde nicht gehen, ehe er Sie gesprochen habe.“
Isabelle seufzte. „Nun gut, wenn es denn sein muss …“
„Ich komme mit“, verkündete Marissa entschieden, die gerade das Frühstückszimmer betrat. „Und denk bloß nicht, du könntest die Wahrheit vor mir verbergen, Belle. Ich brauche Antworten, genau wie du.“
Zuerst wollte Isabelle ablehnen, doch dann überlegte sie, dass sie ihm zu zweit wenigstens zahlenmäßig überlegen wären. „Also gut. Gehen wir gemeinsam.“
Mrs Barton führte die beiden in den Salon, wo ein kräftiger Mann um die vierzig wartete.
„Guten Morgen, die Damen. Mein Name ist Samuel Meade und ich bin der leitende Bankdirektor der Bank of Commerce.“
„Isabelle Wardrop und das ist meine Schwester Marissa.“ Isabelle wies zur Sofaecke und sie setzten sich. „Was kann ich für Sie tun, Mr Meade?“
Insgeheim hoffte sie, dass er vielleicht gute Nachrichten für sie hatte, so etwas wie ein geheimes Konto mit genug Geld, um die Schulden zu begleichen.
Sichtlich unbehaglich öffnete Mr Meade den obersten Knopf seines Jacketts, sah wenig dezent zu Marissa und räusperte sich. „Vielleicht sollten wir dieses Gespräch besser unter vier Augen führen.“
Kurz blickte Isabelle zu Marissa, die kaum sichtbar den Kopf schüttelte. „Meine Schwester und ich haben keine Geheimnisse, Sir. Worum auch immer es geht, es betrifft uns beide.“
„Wie Sie wünschen“, erwiderte er knapp und holte einen Stapel Papier aus der Aktentasche neben seinen Füßen. „Zunächst einmal möchte ich Ihnen mein tiefes Beileid über Ihren Verlust ausdrücken.“ Seinen Worten mangelte es an jeglicher Aufrichtigkeit. „Ich weiß nicht, ob Ihnen bewusst ist, wie sehr das Unternehmen Ihres Vaters –“
„Wir sind uns dessen sehr bewusst“, unterbrach Isabelle ihn kühl. „Aber was hat das mit uns zu tun?“
„Erst kürzlich hat Mr Wardrop eine zweite Hypothek auf dieses Grundstück aufgenommen. Aufgrund der hohen finanziellen Schwierigkeiten seitens des Unternehmens sowie im Privaten sieht sich die Bank nun leider dazu verpflichtet, das Haus zu pfänden.“
Isabelle spürte, wie das Blut in ihren Adern brodelte. Auf keinen Fall würde sie sich ihr Zuhause wegnehmen lassen! Nicht, solange sie noch etwas zu sagen hatte. „Von welchem Betrag reden wir, Mr Meade?“ Sichtlich unbehaglich lockerte er seine Krawatte und nannte eine schwindelerregend hohe Zahl. Doch Isabelle ließ sich nichts anmerken.
„Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich mit der Versicherung meines Vaters in Verbindung zu setzen“, begann sie kühn. „Sobald wir die Lebensversicherung ausgezahlt bekommen, können wir sicher einen Großteil davon zurückzahlen.“ Das hoffte sie zumindest. Doch wie sie ihren Vater kannte, hatte er nicht zu wenig für sich selbst zurückgelegt.
„Das glaube ich ehrlich gesagt nicht“, sagte der Mann mit einem Kopfschütteln. „Bei Selbstmord verweigern die meisten Versicherungen die Zahlungen. Tut mir leid.“
Ungläubig starrte Isabelle Mr Meades an. „In Anbetracht der Tatsache, dass mein Vater noch nicht einmal beerdigt wurde, halte ich diese Unterhaltung für äußerst unangemessen, Mr Meade. Sobald wir uns mit unserem Buchhalter besprochen haben, informieren wir Sie über unseren Rückzahlungsplan“, erklärte sie mit fester Stimme.
Mr Meade nickte und erhob sich. „Bitte verzeihen Sie die Störung, ich wollte Ihnen bloß genug Zeit zum Packen geben.“
„Zum Packen? Warum sollten wir packen, wenn in wenigen Wochen doch sicher alles geklärt sein wird?“
Eindringlich sah er Isabelle an. „Ich wünsche Ihnen viel Glück, Miss. Aber ich sage Ihnen jetzt schon, dass es schier unmöglich sein wird, die benötigte Summe binnen der nächsten vierzehn Tage aufzutreiben.“
„Vierzehn Tage?“
„So viel Zeit wird Ihnen für die Rückzahlung gewährt. Andernfalls geht das Grundstück in den Besitz der Bank über.“ Dann setzte er seinen Hut auf und nickte kurz. „Einen guten Tag noch, die Damen. Ich finde selbst hinaus.“
Mark machte sich ein paar Notizen zu seiner Patientin und sah zu der jungen Schwester neben sich. „Bitte stellen Sie sicher, dass Mrs Standish die passenden Schmerzmittel erhält. Die Dosis habe ich notiert.“
„Ja, Dr. Henshaw“, sagte sie und nahm lächelnd die Akte entgegen. Kurz ließ er den Blick zu ihrem Namensschild wandern. Megan. Wenngleich ihm nie ihr Name einfiel, erinnerte er sich wohl an ihre zarten Flirtversuche. Aber vielleicht war das genau der Grund, warum ihm ihr Name immer wieder entfiel. Sie war zwar eine fähige Krankenschwester und eine reizende Person, doch für alles Weitere – wie z.B. ein Date – hatte Mark keine Zeit. Und wenn doch, käme eine Arbeitskollegin für ihn nicht infrage.
Stattdessen wanderten seine Gedanken zu Isabelle Wardrop. Seine lang gehegte Hoffnung, sie eines Tages zum Essen einzuladen, war zusammen mit ihrer Mutter gestorben.
Mit einem Seufzen schüttelte er den Gedanken ab und verließ das Patientenzimmer. Ein langer Tag lag vor ihm, für unsinnige Tagträume war keine Zeit.
„Dr. Henshaw?“ Er drehte sich zu Schwester Peters um, die neben dem Empfangstresen stand. „Könnten Sie bitte noch die Papiere für Mr Maguires Entlassung unterzeichnen?“
„Natürlich“, erwiderte er und entspannte sich unmerklich, als er neben sie trat. Maisie Peters war die einzige Schwester, die ihm in dieser Hinsicht keine Sorgen bereitete. Sie war Mitte vierzig und eher der mütterliche Typ. „Ist seine Familie hier, um Mr Maguire abzuholen?“
„Ja, sein Sohn und die Schwiegertochter sind gekommen. Sie freuen sich schon, ihn bei sich zu Hause aufzunehmen.“
„Wie schön. Ich bin froh, dass er sich so gut erholt hat.“ Vor zwei Wochen hatte man Mr Maguire nach einem leichten Herzinfarkt in die Notaufnahme gebracht, sein Herz hatte aber dankbarerweise keine größeren Schäden davongetragen.
Mit einem letzten Blick auf die Papiere setzte Mark seine Unterschrift ans Blattende und gab es Maisie mit einem Lächeln zurück. Dabei fiel ihm auf, dass sie heute nicht so heiter wirkte wie sonst. Sorge lag in ihrem Blick.
„Stimmt etwas nicht, Maisie?“
„Sind Sie nicht auch der Hausarzt der Wardrops?“
Sein Magen zog sich zusammen. Warum fiel nun ausgerechnet dieser Name? „Das war ich, zumindest bis zu Mrs Wardrops Tod“, gab er ihr recht und studierte alarmiert ihr Gesicht. „Warum fragen Sie?“
Sie nahm die Zeitung vom Tisch und zeigte ihm die erste Seite. „Dann sollten Sie das hier besser gesehen haben.“
Sofort erregte die große Schlagzeile Marks Aufmerksamkeit. Immobilienmogul begeht Selbstmord.
Er nahm die Zeitung entgegen und überflog den dazugehörigen Artikel, mit jedem Satz wurde sein Herz schwerer.
Arme Isabelle! Das hatten sie und Marissa nicht verdient. Und schon gar nicht jetzt, nur wenige Monate nach dem Tod ihrer Mutter.
Drei Monate, zwei Wochen und sechs Tage.
„Schrecklich, oder?“, riss Maisies Stimme Mark aus seinen Gedanken. „Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie grausam das für seine Töchter sein muss.“
Mark konnte bloß nicken. Nun waren Isabelle und ihre Schwestern Vollwaisen. Wie sich das anfühlte, wusste er nur zu gut.
Eilig blätterte er weiter zu den Todesanzeigen. Mit großen Worten am Seitenende ehrte man den erfolgreichen Hugh Wardrop und gab Tag und Zeit der Bestattung bekannt.
Mark notierte sich Zeit und Ort der Beerdigung. Willkommen oder nicht – hingehen und den Wardrops seinen Respekt zollen würde er auf jeden Fall. Und vielleicht fand er ja auch einen Weg, sich mit der Familie zu versöhnen.
Aber wem machte er eigentlich etwas vor? Es gab nur eine, auf deren Vergebung er inniglich hoffte: Isabelle – bereits vor Monaten war ihm diese wunderbare junge Frau aufgefallen, auch wenn sie ihn kaum eines Blickes gewürdigt hatte. Die wuterfüllten Worte bei ihrer letzten Begegnung hatten sich tief in sein Gedächtnis gebrannt.
„Wenn Sie gleich mitgekommen wären, wäre meine Mutter jetzt sicher noch am Leben. Das ist Ihnen hoffentlich klar.“
Mit einem tiefen Seufzen nahm er sich vor, einen Weg zu finden, wie er die beiden Frauen unterstützen konnte. Dann würde er vielleicht zumindest die Schuldgefühle los.
Zum schwermütigen Läuten der Glocken schritten Isabelle und Marissa Hand in Hand aus der Kirche. Der Trauergottesdienst für ihren Vater war deutlich weniger besucht als der ihrer Mutter vor wenigen Monaten. Es ärgerte Isabelle, dass sich von den sogenannten Freunden und Kollegen ihres Vaters kaum jemand hatte blicken lassen. Bei all den gesellschaftlichen Anlässen hatten sie unerbittlich auf seine Anwesenheit bestanden, doch nun, in Anbetracht seines unwürdigen Endes, fehlten sie.
Erhobenen Hauptes führte Isabelle ihre Schwester über die Stufen auf den kleinen Weg, wo die Sargträger den Sarg in den Leichenwagen hoben. Wieder mussten sie das Grab aufsuchen, das kürzlich erst ausgehoben worden war. Dieses Mal um ihren Vater für seine ewige Ruhe an die Seite seiner Frau zu legen.
Ein Schatten fiel auf den Weg. „Guten Tag, Isabelle, Marissa“, erklang eine vertraute Stimme. „Ich möchte Ihnen beiden mein aufrichtiges Beileid ausdrücken.“
Isabelle erstarrte. Was machte ihr Arzt denn hier? Hatte sie ihm bei ihrer letzten Begegnung nicht ausdrücklich gesagt, dass sie ihn nie wieder sehen wollte?
„Danke, Dr. Henshaw“, sagte Marissa kaum lauter als ein Flüstern. Im Gegensatz zu Isabelle schien sie ihn nicht für den Tod ihrer Mutter verantwortlich zu machen.
Mit einem kurzen Nicken ging Isabelle einfach weiter in Richtung des wartenden Wagens.
„Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann“, fuhr Dr. Henshaw fort, „zögern Sie nicht, mich darum zu bitten.“
Auch dies ignorierte Isabelle beflissentlich.
Marissa hingegen löste sich aus ihrem Arm und drehte sich dem Arzt zu, offen für ein Gespräch. „Vielen Dank für Ihre Unterstützung, Dr. Henshaw. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie … schwierig das alles ist. Unsere Freunde haben –“
„Marissa!“, zischte Isabelle durch die Zähne.
Mit Tränen in den Augen blickte Marissa sie an. „Isabelle, wir können es uns nicht leisten, auch noch die wenigen Menschen zu vergrämen, die zu uns stehen.“
„Wir schaffen das auch allein. Nun komm, alle warten auf uns.“
Wieder nickte Isabelle Dr. Henshaw nur kurz zu und schob ihre Schwester in Richtung des Leichenwagens. Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ sie sich verärgert in den kühlen Ledersitz fallen, ihr Herz kalt wie Eis.
Wie konntest du nur so ein Schlamassel anrichten, Vater? Uns ganz allein zurücklassen, mittellos und bald auch ohne ein Zuhause?
Nur mit großer Mühe gelang es ihr, die pochenden Kopfschmerzen auszublenden. All diese Probleme mussten warten. Jetzt ging es erst einmal darum, ihrem Vater ein Begräbnis zuteilwerden zu lassen.
„Und wohin hiermit, Miss?“, fragte Fiona einige Tage später, während sie zwei rosafarbene Laternen hochhielt.
„In die Kiste unter dem Fenster. Da sollte noch Platz sein“, erwiderte Isabelle und strich sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie viele Besitztümer ihre Familie über die Jahre angesammelt hatte. In jedem Zimmer häuften sich Kunstwerke, Schmuck und Zierrat. Ganz zu schweigen von der Vielzahl an Möbelstücken, die zweifelsohne auch fünf Wohnungen füllen könnten.
Isabelle war fest entschlossen, wenigstens ein paar Lieblinge ihrer Mutter vor der Bank zu retten, die sich alles andere zu eigen machen würde. Anfangs hatte Isabelle sich gesträubt, zu packen, aber Fiona hatte sie erkennen lassen, wie ungeschickt es wäre, bis zum letzten Moment auf eine Begnadigung zu hoffen. Die zweiwöchige Frist war beinahe abgelaufen und schon bald käme der nächste Bankbeamte, um ihnen die endgültige Entscheidung mitzuteilen. Wenn Isabelle wenigstens ein wenig Kontrolle darüber behalten wollte, was die Bank bekam und was nicht, musste sie ihr Hab und Gut schleunigst zusammenpacken.
Natürlich hatte Isabelle in der Zwischenzeit alles versucht, um an Geld zu kommen. Vergeblich. Keine der aufgesuchten Banken war gewillt, ihnen auch nur den kleinsten Kredit anzubieten.
So hatten Isabelle und Marissa angefangen, den Schmuck ihrer Mutter durchzusehen und ein paar Einzelstücke, an denen sie hingen, für sich zur Seite zu legen. Aus Angst vor Geldeintreibern hatten sie sie unauffällig zwischen ihrer Wäsche versteckt. Alle anderen Stücke, die Isabelle für wertvoll erachtete, brachten sie zu Mr Jenkins, dem Juwelier in der Stadt, bei dem ihr Vater oftmals Schmuck für ihre Mutter in Auftrag gegeben hatte. Nur ungern wollte er die Schmuckstücke zurücknehmen, hatte schließlich aber in Anbetracht der verzwickten Lage nachgegeben und Isabelle alle zusammen für einen Festpreis abgekauft. Wenngleich Isabelle wusste, dass sie viel weniger Geld erhalten hatte, als der Schmuck wert war, war sie dennoch dankbar dafür.
„Und die hier?“, fragte Fiona und zeigte eine grüne Vase, ein scheußliches Ding, das Mama einst aus ihrem Elternhaus in Montreal mitgebracht hatte.
„Die versuchen wir zu verkaufen. Aber die mit den Rosen würde ich gern behalten. Am besten wickeln wir sie in eines der Leinentücher.“
Fiona zögerte. „Bitte nehmen Sie mir die Frage nicht übel, Miss Isabelle“, begann sie vorsichtig und in ihrem irischen Singsang schwang ein Hauch einer Entschuldigung mit. „Aber was haben Sie mit alledem vor? Sie wissen doch nicht einmal, wo Sie als Nächstes wohnen werden.“
„Darüber habe ich noch nicht nachgedacht“, sagte Isabelle, die gerade eine Schmuckschatulle aus Glas wegpackte. Schwermütig ließ sie sich auf die gepolsterte Ottomane sinken. „Ich will nur nicht, dass sich die Bank alles unter den Nagel reißt.“ Gedankenversunken griff sie nach einer zierlichen Frauenfigur mit einem Sonnenschirm und strich über das feine Porzellan. Ihre Mutter hatte es geliebt, schöne Dinge zu sammeln.
Vorsichtig packte Fiona die Vase in eine Kiste. „Aber es gibt sicher Hunderte solcher Schatullen im ganzen Haus verteilt. Alle können Sie nicht mitnehmen.“
„Nein, natürlich nicht“, gab Isabelle ihr mit einem kleinen Seufzen recht. Tränen stiegen ihr in die Augen, doch sie blinzelte sie weg. Geweint hatte sie schon genug. Jetzt war es an der Zeit, Hand anzulegen.
„Und wo wollen Sie unterkommen, wenn die Bank das Haus tatsächlich in Beschlag nimmt?“, fragte Fiona sanft.
„Ich … ich weiß es nicht. Vielleicht gehen wir für eine Weile in ein Hotel, bis wir etwas anderes gefunden haben.“
„Können Sie sich das denn leisten?“
„Eigentlich nicht.“ Insgeheim hatte Isabelle gehofft, dass sie und Marissa sich vorübergehend bei ihrer guten Freundin Candace Bingley einquartieren könnten, doch diese hatte sich damit rausgeredet, dass ihre Eltern bald Besuch erwarteten und die Gästezimmer brauchten.
Mit gerunzelter Stirn sah Isabelle zu Fiona. Von den eigenen Sorgen völlig eingenommen hatte sie noch gar nicht darüber nachgedacht, was aus Fiona werden würde. „Und was ist mit dir, Fiona? Weißt du schon, wo du hinkannst?“
Gleich nach ihrer Ankunft aus Irland, im zarten Alter von sechzehn, hatte Fiona vor zehn Jahren bei den Wardrops angefangen zu arbeiten. Der Gedanke daran, ihre heitere Freundin bald nicht mehr täglich um sich zu haben, machte Isabelle umso trauriger.
„Meine Tante hat eine kleine Wohnung auf der anderen Seite der Stadt und sie hat mir das Zimmer ihrer Tochter angeboten. Meine Cousine ist vor Kurzem ausgezogen.“
„Oh, das freut mich sehr, Fiona. Bei der Tante, die du an deinen freien Tagen häufig besucht hast?“
„Ja, genau. Sie ist nun schon eine Weile verwitwet und hat sich allein um ihre Tochter gekümmert. Aber jetzt ist Noreen mit der Schule fertig, hat eine Arbeit gefunden und ist ausgezogen. Sicher freut sich meine Tante über die Gesellschaft“, erklärte Fiona und dachte kurz nach. „Wenn Sie wollen, Miss, fänden wir sicher auch ein Plätzchen für Sie und Marissa. Tante Rosie hätte bestimmt nichts dagegen.“
Isabelle lächelte. „Das ist ein großzügiges Angebot. Ich behalte es im Hinterkopf“, bedankte sich Isabelle. „Aber zuerst kümmern wir uns darum, dass Mrs Barton und die anderen Angestellten irgendwo unterkommen.“
„Das müssen Sie nicht, Miss. Auch wenn wir es sehr zu schätzen wissen, dass Sie sich so um uns sorgen.“
„Aber natürlich. Sie gehören doch quasi zur Familie.“
„Wir kommen schon zurecht. Sie beiden sind es, um die wir uns sorgen“, sagte Fiona und legte sanft die Hand auf Isabelles Schulter. „Wie wird es ohne das Geld Ihrer Familie für Sie weitergehen?“
Nur zu gut konnte Isabelle sich vorstellen, wie ihrer Mutter bei einem so privaten Gespräch mit einer Bediensteten die Haare zu Berge gestanden hätten, doch Isabelle machte es nichts aus. „Ich muss mir wohl eine Arbeit suchen.“
„Und woran denken Sie da, wenn ich fragen darf?“
„Ich habe nicht den leisesten Schimmer“, gestand Isabelle mit einem verlegenen Lachen. „Ich habe gelernt Klavier zu spielen, kann ganz passabel singen, sticken und Teegesellschaften abhalten. Doch das sind keine Eigenschaften, die mich für eine Arbeitsstelle qualifizieren.“
Fiona zog einen Stuhl hervor und setzte sich neben Isabelle. „Sie haben Ihrer Mutter bei der Wohltätigkeitsarbeit unterstützt, das kommt Ihnen sicher zugute.“
Die gutherzige Fiona, so treu und zuversichtlich. „Hoffen wir es. Zunächst muss ich wohl daran arbeiten, einen guten Auftritt hinzulegen, wenn ich je irgendwo genommen werden möchte. Aber ehrlich gesagt weiß ich nicht einmal, wo ich es versuchen sollte.“
Langsam wanderte Fionas Blick über Isabelle. „Sie sind eine wohlgekleidete Dame und haben einen ausgezeichneten Geschmack. Vielleicht könnten Sie im Eaton’s oder im Simpson’s in der Damenkonfektion anfangen.“
Bei der Vorstellung zuckte Isabelle zusammen. Allein der Gedanke daran, in einem der Geschäfte zu arbeiten, in denen sie und Mutter einst selbst Kundinnen gewesen waren, war mehr als demütigend. „Lieber würde ich da arbeiten, wo mich niemand kennt. Es wird sicher schwer genug sein, sich an einen niederen Lebensstil zu gewöhnen, auch ohne …“ Plötzlich hielt sie inne und erschrak über ihre Worte. „Oh, Fiona. Bitte verzeih mir, ich wollte damit nicht sagen –“
Doch Fiona unterbrach sie mit einem Kopfschütteln. „Das verstehe ich. Es muss sehr herausfordernd sein, seinen gewohnten Lebensstil hinter sich zu lassen.“
Es klingelte an der Tür.
„Ich gehe schon“, sagte das Mädchen und stand auf. „Mrs Barton ist gerade bei einem Vorstellungsgespräch.“ Eilig huschte Fiona in die Eingangshalle und nur einen kurzen Augenblick später hörte Isabelle sie sagen: „Guten Tag, Mr Noland. Kommen Sie doch herein.“
Roger? Schnell stand Isabelle auf, zog sich die Schürze aus und zupfte ihr Haar zurecht. Als sie in einen der kleinen Spiegel sah, erschrak sie über die Staubstreifen auf ihrem Gesicht. Hätte er seinen Besuch nicht anmelden können?
„Hallo Isabelle. Fiona hat mich hereingelassen.“
Überrascht drehte sie sich um. „Roger. Wie schön, dass Sie vorbeischauen.“
Er sah sich im Raum um und legte die Stirn in Falten. „Sie packen? Haben Sie vor, umzuziehen?“
Nur mit Mühe gelang es Isabelle, ihr Lächeln aufrechtzuhalten und sich nichts anmerken zu lassen. „Es scheint mir der beste Weg. Für mich und Marissa wäre das Haus doch viel zu groß“, antwortete sie. Vielleicht war sie zu stolz, aber auf keinen Fall sollte Roger erfahren, wie schlimm es um ihre finanzielle Situation stand. Noch immer hegte sie die Hoffnung, dass er um ihre Hand anhalten würde. Aber wie unerträglich wäre es, wenn er sie bloß aus Mitgefühl heiratete? Nein, er sollte sie zur Frau nehmen, weil er sie aufrichtig liebte.
Allein bei dem Gedanken beschleunigte sich ihr Puls wieder. Roger zu heiraten wäre die optimale Lösung für ihr Dilemma, dann hätten sie und Marissa wenigstens wieder ein Zuhause.
„Wahrscheinlich haben Sie recht. Aber ist es nicht noch etwas früh dafür?“ Sein Blick zeigte Isabelle, dass er befürchtete, die Situation wüchse ihr über den Kopf.
„Es … es steht ja noch nicht offiziell zum Verkauf. Ich fange nur schon einmal mit dem Aussortieren an, um es … aufzuwerten“, sagte sie und winkte ab. „Aber was führt Sie her?“ Sie bemühte sich, heiter zu klingen, so als wären die zahlreichen Umzugskisten und die Einpackutensilien nichts Außergewöhnliches.
„Können wir uns kurz setzen?“
„Aber natürlich, bitte verzeihen Sie meine Manieren“, erwiderte sie und wies mit der Hand auf das glücklicherweise freie Sofa.
Sie nahmen Platz. Einen Moment lang blickte Roger stur geradeaus, die Hände auf den Oberschenkeln. Dann sah er zu ihr und seufzte. „Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden, Isabelle.“
Das Lächeln auf ihren Lippen gefror. „W-was meinen Sie mit ‚verabschieden‘?“
Entschuldigend zuckte er mit den Schultern. „Ich werde bei einer anderen Immobilienfirma anfangen. In British Columbia.“
Nur mit Mühe unterdrückte Isabelle ein Keuchen. British Columbia lag auf der anderen Seite des Landes! Die Entfernung könnte kaum größer sein. „Wie kommt es, dass Sie sich so weitläufig umgesehen haben?“
„Das habe ich nicht, es war eher ein Zufall. Ein Freund der Familie lebt dort und hat mir angeboten, bei ihm in der Firma einzusteigen. Und eine Veränderung kommt jetzt sehr gelegen.“
Nachdenklich betrachtete Isabelle sein Gesicht. Erst jetzt fiel ihr auf, dass der Tod ihres Vaters auch Roger einiges gekostet hatte. „Das tut mir sehr leid, Roger. Auch für Sie muss das Ganze ziemlich schwierig sein.“
Wieder seufzte er. „Durchaus. Aber wem sage ich das …“
Sie nickte und wartete einen Moment, bevor sie weiterfragte. Es war sehr kühn, aber sie musste es einfach wissen: „Und was ist mit uns, Roger? Vielleicht habe ich mich geirrt, aber ich dachte, dass Sie vorhatten, um meine Hand anzuhalten. Oder etwa nicht?“
Mitgefühl lag in seinem Blick. „Nein, es stimmt“, sagte er und nahm Isabelles Hand in die seine.
„Aber warum gehen Sie dann fort? Warum suchen Sie nicht nach einer anderen Stelle hier in der Stadt?“
„Bitte glauben Sie mir, ich habe es schon überall versucht. Aber hier möchte mir niemand mehr eine Chance geben. Die Verbindung zu Ihrem Vater ist beinahe wie ein Schandfleck“, sagte er und schloss die Augen. „Bitte entschuldigen Sie, das war taktlos.“
Isabelle bemühte sich, das Gesicht nicht zu verziehen. „Und haben Sie je überlegt, mich zu fragen, ob ich mit Ihnen gehen würde?“
Roger zögerte und rieb sich die Stirn. „Das habe ich. Aber die traurige Wahrheit ist, Isabelle, dass ich Ihnen im Moment nicht viel bieten kann. Und ich weiß auch nicht, wie sich alles entwickelt. Auf keinen Fall kann ich Sie bitten, auf mich zu warten, das wäre viel zu egoistisch“, erklärte er und streichelte ihre Hand. „Und so bleibt mir nur, mich höflich von Ihnen zu verabschieden und Ihnen alles Gute zu wünschen.“