Ein Heim voller Liebe - Susan Anne Mason - E-Book

Ein Heim voller Liebe E-Book

Susan Anne Mason

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Beschreibung

Toronto, 1943: Jane Linder steckt ihre ganze Energie und Liebe in ihre Arbeit bei der Children's Aid Society, um Heimkindern ein neues Zuhause zu ermöglichen. Dabei hütet sie ein Geheimnis, das ihre Stelle als stellvertretende Direktorin gefährden könnte insbesondere jetzt, da Garrett Wilder eingestellt wurde, um die Abläufe und Finanzen der Children's Aid Society zu überprüfen. So muss sich Jane nicht nur mit finanziellen Missständen und zurückgewiesenen Kindern auseinandersetzen, sondern auch mit einem charmanten Buchprüfer, der ihr den Posten als Direktorin streitig machen will. Dabei möchte Jane doch eigentlich nur eins: ungeliebten Kindern ein Heim voller Liebe schenken ...

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Susan Anne Mason

EIN HEIM

voller Liebe

Aus dem Englischen vonTabitha Krägeloh

Copyright 2021 by Susan A. MasonOriginally published in English under the title To Find Her Place by Bethany House Publishers, a divison of Baker Publishing Group, Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.All rights reserved.

Die Bibelstelle aus Josua 1,9 ist der Übersetzung Hoffnung für alle® entnommen, Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung von Fontis – Brunnen Basel.

Die Bibelstelle aus Matthäus 11,25 ist der Neuen Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen entnommen. Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung.Alle Rechte vorbehalten.

© 2022 Brunnen Verlag GmbH Gießen

Lektorat: Carolin Kotthaus

Umschlagfoto: Jelena Simic Petrovic / Arcangel

Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger

Satz: DTP Brunnen

ISBN Buch 978-3-7655-3688-5

ISBN E-Book 978-3-7655-7654-6

www.brunnen-verlag.de

Für alle engagierten Sozialarbeiter,die unermüdlich danach streben,bedürftigen Kindern zu helfen.Möge Gott Sie und die Kleinen segnen!

Sei mutig und entschlossen! Lass dich nicht einschüchternund hab keine Angst! Denn ich, der HERR, dein Gott,stehe dir bei, wohin du auch gehst.Josua 1,9

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Epilog

Anmerkung und Dank der Autorin

Kapitel 1

SEPTEMBER 1943

„Ich gehe jetzt, Mama. Hast du wirklich alles, was du brauchst?“

Jane Linder blickte von ihrer Mutter, die in ihrem karierten Lieblingssessel saß, zur hölzernen Kaminuhr hinüber und versuchte, ihre wachsende Unruhe zu unterdrücken. Sie musste heute einen frühen Bus erwischen, um an einer außerplanmäßigen Vorstandssitzung teilnehmen zu können. Eine Sitzung, die sich auf die Zukunft ihres Jobs auswirken könnte.

Und ausgerechnet heute hatte ihre Mutter einen ihrer schlechteren Tage.

„Ich komme schon zurecht, Janey.“ Mutter zupfte am ausgefransten Saum ihres Morgenmantels herum. „Mach dir keine Sorgen um mich.“

Jane nahm eine Serviette vom Frühstückstablett auf dem Beistelltisch und breitete sie auf dem Schoß ihrer Mutter aus. „Dein Toast und dein Tee stehen gleich hier. Und du kannst die restliche Suppe zu Mittag essen. Wenn ich kann, komme ich mittags vorbei und schaue nach dir.“

Ihre Mutter schenkte ihr ein mattes Lächeln. „Ich weiß, dass heute ein wichtiger Tag für dich ist. Ich will nicht, dass du dir Gedanken um mich machst. Mir wird es bestimmt bald besser gehen.“

„Na gut. Ich hoffe es.“ Jane ließ rasch einen prüfenden Blick durch das kleine Wohnzimmer gleiten, um sich zu vergewissern, dass die Vorhänge nicht weiter als ein paar Zentimeter geöffnet waren – genug, um etwas Licht hereinzulassen, aber nicht genug, um den Nachbarn einen Blick nach drinnen zu gewähren. Sie vergewisserte sich auch, dass Mutters Lieblingsstehlampe eingeschaltet war und sich all ihre Kreuzworträtsel und Hausfrauenzeitschriften in Reichweite befanden.

„Wenn zu viel los ist und ich nicht nach Hause kommen kann, rufe ich Mrs Peters an und bitte sie, nach dir zu sehen.“ Jane schob das Telefon über den Couchtisch näher an den Sessel ihrer Mutter heran. „Wenn du dich bis dahin wieder schlechter fühlst, ruf mich bitte auf der Arbeit an.“ Sie kniete sich hin und ergriff die dürre Hand ihrer Mutter. „Versprich mir, dass du das tust. Und mach dir keine Sorgen, dass du mich stören könntest. Nichts ist mir wichtiger als du.“

Die schmalen Lippen ihrer Mutter bebten. „Du bist so eine gute Tochter. Ich könnte mir keine bessere wünschen.“ Tränen traten ihr in die Augen und röteten sie.

Jane unterdrückte ein Seufzen. Immer, wenn ihre Mutter einen ihrer schlechten Tage hatte, wurde sie besonders sentimental. Und manchmal auch ziemlich anhänglich, sodass sie Jane oft anflehte, nicht ins Büro zu gehen. Hin und wieder gab Jane nach und blieb zu Hause, aber dann fühlte sie sich schuldig, weil sie ihrer Verpflichtung gegenüber der Arbeit nicht gerecht wurde. An manchen Tagen dachte Jane sogar darüber nach, ihre Stelle bei der Children’s Aid Society aufzugeben. Doch solange ihr Bruder fort war, um im Krieg zu kämpfen, war Janes Einkommen das Einzige, das sie und ihre Mutter über Wasser hielt.

Außerdem lagen ihr die Kinder zu sehr am Herzen, als dass sie ihren Job hätte aufgeben können. Sie waren der Grund dafür, dass Jane überhaupt Sozialarbeiterin geworden war. Sie wollte benachteiligten Kindern helfen, eine Familie zu finden, in der sie sich geliebt wussten. Diesen Auftrag hatte Gott ihr anvertraut, da war sie sich ganz sicher. Sie konnte ihn nicht einfach guten Gewissens aufgeben. Und wenn es bedeutete, dass sie irgendwann eine Pflegerin einstellen müsste, um tagsüber bei ihrer Mutter zu bleiben, dann würde Jane auch dafür eine Lösung finden.

Aber jetzt musste sie erst einmal pünktlich bei dieser Sitzung erscheinen.

„Ich muss jetzt los, Mama. Bis später.“ Sie küsste ihre Mutter auf die blasse, knochige Wange und flüsterte ein kurzes Gebet, um Gott um seinen Schutz für sie zu bitten. Dann schnappte sie sich ihre Tasche und eilte zur Tür hinaus.

Janes Absätze klackerten auf dem Fliesenboden, als sie zum Konferenzraum im zweiten Stock des städtischen Gebäudes eilte. Im Innern des Steinbaus blieb die Luft immer kühl, was Jane sehr begrüßte. Sie wollte in ihrem besten grünen Kostüm und der cremefarbenen Bluse einen guten Eindruck machen und nicht völlig abgehetzt aussehen.

Die Doppeltür des Konferenzraums stand einen Spaltbreit offen und das Gemurmel mehrerer Stimmen drang nach außen. Janes Hände wurden feucht vor Nervosität, während sie innehielt, um sich zu sammeln und tief durchzuatmen.

Sie konnte sich vorstellen, warum der Vorstand sie heute herbestellt hatte. Ihr Chef, Mr Mills, war so nett gewesen, sie gestern anzurufen, um ihr vor der offiziellen Bekanntgabe mitzuteilen, dass er beschlossen hatte, in Rente zu gehen. Der Posten des geschäftsführenden Direktors der Children’s Aid Society von Toronto würde nun also frei werden.

In den letzten sechs Monaten war Jane als stellvertretende Direktorin für ihren erkrankten Chef eingesprungen – eine Position, die viel Verantwortung mit sich brachte. Dennoch hatte sie sich über die Gelegenheit gefreut, sich in dieser Rolle zu beweisen. Sie hatte gehofft, die Gunst des Vorstandes zu gewinnen. Und die heutige Sitzung war möglicherweise der Höhepunkt ihrer Bemühungen, da sie fest vorhatte, ihre Bewerbung als Kandidatin für den Posten einzureichen. Wenn Vera Moberly erfolgreich das Säuglingsheim von Toronto leiten konnte, gab es keinen Grund, warum Jane nicht das Gleiche mit der Children’s Aid Society gelingen sollte. Als einfache Sozialarbeiterin hatte sie sich danach gesehnt, die Richtlinien und Strategien der Organisation zu ändern, doch ihr hatte die Macht dazu gefehlt. Nun kribbelte es in ihr vor Aufregung, wenn sie an all das Gute dachte, das sie möglicherweise für die Kinder bewirken könnte.

Konzentrier dich, Jane. Nur nichts überstürzen.

Sie strich den Rock glatt, zupfte die Ärmel ihres Blazers zurecht, setzte ihr schönstes Lächeln auf und trat ein.

Der Raum wurde von einem großen ovalen Tisch beherrscht. Mehrere Männer und Frauen saßen daran, während andere am Kaffeewagen in der Ecke standen.

„Mrs Linder. Danke, dass Sie so kurzfristig kommen konnten.“ Mr Fenmore, der Vorstandsvorsitzende, kam mit einem angespannten Lächeln auf sie zu. Für einen Mann in den mittleren bis späten Fünfzigern war er hochgewachsen und gut in Form. Er trug einen dunklen Anzug und eine schmale, silberne Brille, die zu seiner Haarfarbe passte.

„Gern geschehen, Mr Fenmore.“ Sie reichte ihm die Hand. „Ich hoffe, Sie mussten nicht auf mich warten.“

„Ganz und gar nicht. Sie sind genau rechtzeitig. Wenn Sie sich bitte setzen würden, dann können wir mit der Besprechung beginnen.“

Jane setzte eine freundliche Miene auf, die hoffentlich ihre Nervosität verbarg, und nahm auf dem Stuhl Platz, den Mr Fenmore ihr zuwies.

Mr Fenmore nahm seinen Platz am Kopf des Tisches ein und nickte einer Frau am anderen Ende zu. „Marcie, sind Sie so weit?“

Die Frau, die offensichtlich hier war, um das Protokoll zu führen, hob den Kopf, den Stift über einem Notizblock gezückt. „Ja, Sir.“

Er neigte den Kopf. „Dann eröffne ich jetzt offiziell diese Notfallsitzung des Vorstandes.“

Jane schluckte. Sie war in ihren sechs Monaten als Direktorin bereits zu einigen Sitzungen des Vorstandes eingeladen worden, aber die hatten nicht ganz so förmlich gewirkt. Das Wort „Notfall“ ließ nichts Gutes erahnen und jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Aber bestimmt bedeutete es nur, dass die Sitzung außerplanmäßig stattfand und keines der üblichen monatlichen Treffen war.

„Nochmals vielen Dank für Ihr Kommen, Mrs Linder“, sagte Mr Fenmore. „Ich hätte Sie zwar auch in Ihrem Büro aufsuchen können, aber wir waren der Ansicht, dass es diskreter wäre, sich hier zu treffen.“

„Ich verstehe.“ Der Schauer breitete sich über ihre Beine bis in ihre Zehen aus. Warum sollten sie solch ein Geheimnis aus Mr Mills’ Pensionierung machen? Es würde doch sowieso schon sehr bald jeder bei der Children’s Aid Society davon wissen.

Der Mann rutschte auf seinem Stuhl hin und her. „Mrs Linder, ich nehme an, dass Sie sich der Schwierigkeiten bewusst sind, denen unsere Organisation derzeit ausgesetzt ist – die zusätzliche Arbeitslast, der Mangel an verfügbaren Pflegefamilien und der Rückgang der Spendeneinkünfte, um nur einige wenige zu nennen.“

„Dessen bin ich mir durchaus bewusst, Sir“, sagte sie mit ruhiger Würde. „Ich habe tagtäglich mit diesen und anderen Problemen zu tun.“

Mr Fenmores graue Augenbrauen hoben sich ein wenig. „Natürlich haben Sie das. Und Sie haben bewundernswerte Arbeit in Mr Mills’ Abwesenheit geleistet. Ich hoffe nur, dass Sie sich von dem, was ich Ihnen jetzt sagen werde, nicht angegriffen fühlen.“

Janes Magen zog sich zusammen. Das hörte sich nicht gut an. Und bisher schien es auch nichts mit Mr Mills’ Ankündigung zu tun zu haben.

„Bei der Prüfung der Bilanzen der letzten Monate hat sich herausgestellt, dass die Einrichtung in einem schlimmeren Engpass steckt als angenommen.“

„Wesentlich schlimmer“, fügte eines der anderen Mitglieder hinzu.

Der Mann, der gerade das Wort ergriffen hatte, war Mr Warren. Er war der Buchhalter, ein eher griesgrämiger Mensch, der die Finanzen der Organisation jeden Monat genauestens unter die Lupe nahm.

Janes Rücken versteifte sich, als sie in die Runde blickte. Statt Mitgefühl zu zeigen, warfen ihr einige der Mitglieder starre, kalte Blicke zu, die ihr die Kehle zuschnürten. Sie gaben doch sicherlich nicht ihr die Schuld an der Lage der Organisation, oder? Mr Fenmore wusste doch, dass die Probleme von den Auswirkungen des Krieges herrührten. Welchen Einfluss hatte sie schon darauf?

„Es stimmt“, sagte sie vorsichtig, „dass die letzten paar Monate besonders schwierig waren. Trotzdem bin ich zuversichtlich, dass es sich nur um ein vorübergehendes Problem handelt, das sich in Kürze von selbst erledigen wird.“

„Das hoffen wir auch.“ Mr Warren hatte wieder das Wort. „Doch um sicherzugehen, hätten wir gerne Zugang zu den Finanzunterlagen der Children’s Aid Society sowie allen anderen relevanten Aufzeichnungen der letzten zwei Jahre.“

„Ich verstehe.“ Ihre Gedanken überschlugen sich. Wie sollte sie es bewerkstelligen, so viel Papierkram zusammenzutragen?

Mr Fenmore beugte sich in seinem Stuhl vor. „Diese Unterlagen werden einem unabhängigen Berater zugänglich gemacht, den wir angestellt haben, um die Organisation gründlich zu durchleuchten. Sein Name ist Garrett Wilder und er wird nicht nur die Finanzen, sondern die gesamte Einrichtung überprüfen. Wir hielten es für vorteilhaft, die objektive Meinung eines Außenstehenden einzuholen.“

Janes Brustkorb fühlte sich plötzlich leer an, als ob sämtliche Luft daraus entwichen wäre. Ein Wirtschaftsprüfer? Der Zeitpunkt hätte nicht ungelegener sein können. Sie konnte keinen Außenstehenden gebrauchen, der über ihre Methoden urteilte – ausgerechnet jetzt, wo sie vorhatte, sich um den Posten des Direktors zu bewerben.

„Mr Wilder wird morgen früh anfangen.“ Mr Fenmores Stuhl quietschte, als er sich darin zurücklehnte. „Wir möchten, dass Sie ihm einen Arbeitsplatz zur Verfügung stellen und vollständig mit ihm kooperieren.“

Einen Arbeitsplatz? Wo sollte sie den Raum dafür finden, wenn ihre Büros ohnehin schon völlig überfüllt waren?

„Darf ich fragen, wie lange er bei uns bleiben wird?“, fragte Jane. Hoffentlich nur einen oder zwei Tage. Dann würde es zwar eng werden, aber es ließe sich einrichten.

„Wahrscheinlich für einige Wochen.“

Jane beugte sich vor. Ihre Wangen brannten. Irgendetwas stimmte hier nicht. Warum hatten sie das ausgerechnet jetzt so entschieden? Der versteinerte Blick, den Mr Fenmore ihr zuwarf, ließ sie vermuten, dass es noch einen anderen Grund für die Inspektion gab. Einen, den er ihr nicht verraten wollte.

„Darf ich fragen, was mit Mr Mills ist?“, erkundigte sie sich, als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte. „Soweit ich weiß, hat er offiziell beschlossen, in Rente zu gehen.“

Mr Fenmore nickte. „Ja. Wir haben es gestern Abend erfahren. Ich nehme an, dass er Sie auch darüber informiert hat.“

„Das hat er. Er hielt es für angebracht, mir von seiner Entscheidung zu erzählen, weil …“ Sie holte tief Luft und versuchte, ihren Herzschlag zu mäßigen. „Weil ich vorhabe, mich um seinen Posten zu bewerben.“

Ein leises Gemurmel erhob sich rund um den Tisch.

Jane musterte einige der weiblichen Vorstandsmitglieder in der Hoffnung, dass wenigstens diese sie unterstützen würden. Doch ihre stoischen Gesichter verrieten nichts.

„Ich verstehe.“ Mr Fenmore strich sich über den Schnurrbart. „Nun ja, wir werden keine Entscheidung treffen, bevor Mr Wilder uns seine Empfehlungen präsentiert hat. Wenn es so weit ist, werden wir Ihre Bewerbung gerne entgegennehmen, ebenso wie die der anderen Kandidaten.“

Eine Welle der Erleichterung überkam sie. Der Vorstand hatte also nichts gegen ihre Bewerbung einzuwenden. Jetzt musste sie nur noch dafür sorgen, dass Mr Wilder alles in einwandfreiem Zustand vorfand und einen begeisterten Bericht von ihr verfasste.

„Ich denke, es ist nur gerecht, Ihnen mitzuteilen“, fuhr Mr Fenmore fort, „dass Mr Wilder ebenfalls für den Posten kandidieren möchte. Und bei dem aktuellen Mangel an Arbeitsplätzen werden wir wahrscheinlich noch Dutzende weitere Bewerbungen erhalten. Ich möchte Ihnen nur klarmachen, wie groß die Konkurrenz um diese Stelle sein wird.“

„Ich verstehe.“ Jane bemühte sich, die Fassung zu bewahren.

„Aber wir gehen jetzt erst mal eins nach dem anderen an, in Ordnung?“ Er blickte in die Runde. „Wenn alle einverstanden sind, denke ich, dass wir die Sitzung für heute beenden können.“

Während die Vorstandsmitglieder nach und nach den Raum verließen, betete Jane inständig, dass sie der Herausforderung gewachsen war.

Kapitel 2

Als Jane am nächsten Morgen von der Bushaltestelle zum Büro der Children’s Aid Society lief, gestattete sie sich einige Minuten, um sich über die Ereignisse des Vortages aufzuregen – vor allem über das willkürliche Vorgehen des Vorstands. Sie hatte kaum Zeit, ihre Mitarbeiter auf die bevorstehende Invasion von Mr Wilder vorzubereiten. Als sie gestern aus der Sitzung gekommen war, hatte sie erst Mr Mills’ Pensionierung bekannt gegeben und dann die Ankunft des „Eindringlings“, wie sie ihn inzwischen insgeheim nannte, angekündigt. Anschließend hatte sie den Rest des Tages damit verbracht, alles für seine Ankunft vorzubereiten.

In ihr brodelte es. Was war der wahre Grund dafür, dass der Vorstand diesen Geschäftsmann eingeschaltet hatte, um die Organisation unter die Lupe zu nehmen? Sie spürte, dass Mr Fenmore ihr etwas verheimlichte. Und sie mochte es gar nicht, im Dunkeln gelassen zu werden.

Jane wartete auf eine Lücke im Verkehr, um die Straße überqueren zu können. Einige Vorstandsmitglieder waren anfänglich wenig begeistert gewesen, als Bob Mills darauf bestanden hatte, dass Jane ihn vertrat, während er sich von seiner Herzoperation erholte. Doch sie hatte gehofft, dass ihre harte Arbeit und ihr Engagement den Vorstand inzwischen überzeugt hätten. Offensichtlich hatte sie sich geirrt.

Auch wenn es ihr überhaupt nicht passte, würde sie jetzt ihre feindselige Haltung gegenüber Mr Wilder ablegen und ihm so freundlich wie möglich begegnen müssen.

Zum Wohle aller.

Ihr Team stand sowieso schon unter genügend Druck. Es lag nun an ihr als Direktorin, den Ton anzugeben und alle durch die unsicheren Wochen zu lotsen, die vor ihnen lagen. Wenn das bedeutete, dass sie in nächster Zeit Überstunden einlegen musste, bis sich die Situation beruhigt hatte, dann würde sie das tun.

Glücklicherweise fühlte sich ihre Mutter mittlerweile etwas besser, sodass Jane nun eine Sorge weniger hatte. Sie würde heute einen kühlen Kopf bewahren müssen, wenn sie alles schaffen wollte, was auf ihrer Tagesordnung stand.

Eine ungewöhnliche Stille lag auf dem Eingangsbereich, als sie das Gebäude der Children’s Aid Society betrat. Jane hielt einen Moment inne, um ihre Nerven zu beruhigen, bevor sie ins Sekretariat ging.

„Guten Morgen, Melanie“, sagte sie zu der jungen Frau am Empfang. „Mr Wilder ist noch nicht in Sicht, hoffe ich?“

„Nein, noch nicht.“ Die fröhliche Blondine sah von den Papieren auf ihrem Schreibtisch auf. „Hast du eine Ahnung, worum es bei dieser Wirtschaftsprüfung wirklich geht?“

Jane zögerte. Da sie wusste, dass Melanie gerne tratschte, beschloss sie, die wenigen Details, die sie kannte, lieber für sich zu behalten. „Ich bin mir nicht sicher. Mr Fenmore hat sich diesbezüglich sehr vage ausgedrückt.“

„Na ja, ich für meinen Teil finde den Zeitpunkt sehr verdächtig.“ Melanie beugte sich näher heran. „Hältst du es etwa für einen Zufall, dass genau einen Tag nachdem Mr Mills seine Pensionierung bekannt gegeben hat, ein Wirtschaftsprüfer kommt?“

Jane versuchte, das mulmige Gefühl in ihrem Bauch zu ignorieren. Melanie sprach genau die Gedanken aus, die sie die ganze Nacht gequält hatten. „Ich weiß es nicht. Ich hoffe, dass sie einfach nur ein klareres Bild von der aktuellen Lage bekommen wollen, bevor sie einen neuen Direktor einstellen.“

„Oder eine neue Direktorin.“ Melanie zwinkerte Jane zu. „Hast du ihnen gesagt, dass du dich bewerben willst?“

„Ich habe es erwähnt.“ Jane verlagerte nervös ihr Gewicht. Ihr war bewusst, dass die anderen Angestellten im Raum mit gespitzten Ohren zuhörten. „Konntest du eigentlich mein Treffen mit dem Bürgermeister verschieben?“

Sie versetzte Bürgermeister Conboy nur sehr ungern, da er einen Großteil der Finanzen der Children’s Aid Society in der Hand hatte, aber sie konnte es nicht ändern. Da sie nicht wusste, was sie von Mr Wilder zu erwarten hatte, wollte Jane an seinem ersten Tag möglichst viel Zeit für ihn haben. Sie stellte sich den Eindringling als einen mittelalten Geschäftsmann vor, der keine Ahnung hatte, wie man eine soziale Einrichtung führte. Ihre Organisation war etwas ganz anderes als ein Großkonzern. Sie war entschlossen, Mr Wilder eindeutig klarzumachen, wie sie hier arbeiteten. Dass der Profit nicht ihr höchstes Ziel war. Und dass das Wohlergehen der Kinder an erster Stelle stand.

„Ja. Mr Conboy war sogar erleichtert, weil ihm auch etwas dazwischengekommen ist. Der Termin wurde jetzt auf nächsten Donnerstag um 13 Uhr gelegt.“

„Gut. Und die Budgetbesprechung mit Mr Warren und den anderen Vorstandsmitgliedern?“

„Die ist jetzt am Freitag um 16 Uhr.“ Melanie sah zu Jane herüber, als könnte sie ihre nächste Frage bereits erahnen. „Keine Sorge, ich habe deinen Terminplan umgestellt, damit du Zeit dafür hast. Ich denke, dass einer der oberen Räume frei sein müsste.“

„Danke.“ Jane ließ ein wenig die Schultern hängen. Sie mochte Besprechungen so spät am Tag nicht. Aber da in ihrem Gebäude so wenig Platz war, mussten sie für ihre Treffen entweder andere Räume anmieten oder bis zum späten Nachmittag warten, wenn die meisten Sozialarbeiter aus den oberen Büros bereits nach Hause gegangen waren.

„Wenn Mr Wilder kommt“, sagte Jane, „zeig ihm bitte direkt den Weg in mein Büro und stell keine Anrufe mehr durch.“

„Klar doch, Jane … Mrs Linder, meine ich.“ Melanie wandte sich wieder ihrer Schreibmaschine zu.

Jane schüttelte den Kopf, während sie in den Flur zurückging. Es war allen schwergefallen, sich daran zu gewöhnen, sie Mrs Linder zu nennen. Vor allem Melanie. Jane hatte die Freundschaft mit dem jungen Mädchen als weniger problematisch empfunden, als sie noch eine einfache Sozialarbeiterin gewesen war. Doch in den letzten sechs Monaten hatte es sich als schwierig erwiesen, ihr Arbeitsleben von ihrem Privatleben zu trennen.

Sie schloss die Tür auf und schlüpfte in ihr Büro – genauer gesagt in Mr Mills’ Büro, das sie in seiner Abwesenheit nutzen durfte. Als ihr einfiel, dass Mr Mills nicht mehr zurückkehren würde, ließ sie sich mit einem Seufzer in den Bürostuhl sinken. Sie nahm sich vor, dem Vorstand vorzuschlagen, eine Abschiedsparty für Mr Mills zu organisieren. Dann schlug sie eine Akte auf ihrem Tisch auf. Wenn Mr Wilder kam, wollte sie den Eindruck erwecken, konzentriert bei der Arbeit zu sein und alles im Griff zu haben. Sie wollte auf keinen Fall so aufgeregt wirken, wie sie sich fühlte.

Ein paar Minuten später wurde sie durch ein leises Klopfen an der Tür aufgeschreckt. „Herein!“

„Guten Morgen, Mrs Linder.“ Bonnie Dupuis, eine Sozialarbeiterin, die noch nicht so lange bei ihnen arbeitete, betrat das Büro.

Jane atmete erleichtert auf. „Bonnie. Sie sind früh dran. Was kann ich für Sie tun?“

„Ich dachte, es würde Sie bestimmt interessieren, dass Mrs Bennington heute früh angerufen hat. Da ist wieder eine Frau im Mütterheim, die ihren Säugling zur Adoption freigeben möchte. Mrs Bennington hat gefragt, ob jemand vorbeikommen könnte. Ich weiß, dass Sie sich am liebsten persönlich um Bennington Place kümmern, aber Melanie hat gesagt, dass Sie mit dem Wirtschaftsprüfer beschäftigt sein werden, der heute kommt?“, schloss sie mit fragender Stimme und neugierigem Blick.

„Das stimmt leider. Ich werde mich um Mr Wilder kümmern müssen.“ Jane unterdrückte einen Anflug von Enttäuschung. Sie pflegte ein sehr gutes Verhältnis zu den beiden Frauen, die das Mütterheim Bennington Place führten. Und sie freute sich immer, den Schwangeren, die dort Zuflucht suchten, helfen zu können. Aber jetzt, als stellvertretende Direktorin, hatte sie oft keine Zeit mehr für solche Außeneinsätze. „Ich würde mich freuen, wenn Sie an meiner Stelle hingehen könnten. Bitte grüßen Sie Ruth und Olivia von mir.“

„Das werde ich. Danke, Ma’am.“

Als sich die Tür wieder geschlossen hatte, entfuhr Jane ein leiser Seufzer. Wenn sie „Ma’am“ genannt wurde, fühlte sie sich wie fünfzig, obwohl sie noch keine dreißig war. Freudlos blätterte sie durch die restlichen Seiten ihres kleinen Kalenders. Sie würde nur noch drei Monate lang neunundzwanzig Jahre alt sein. Warum war der Gedanke, dreißig zu werden, so deprimierend für sie?

Als hoffnungsvolles achtzehnjähriges Mädchen hätte sie sich nie vorstellen können, dass sie mit dreißig geschieden wäre und mit ihrer verwitweten Mutter zusammenleben würde. Eigentlich hatte sie gedacht, dass sie in diesem Alter glücklich verheiratet sein würde und mindestens vier Kinder hätte. Ein vertrauter Schmerz legte sich um ihre Brust – der gleiche Schmerz, den sie jedes Mal verspürte, wenn sie ein Neugeborenes im Arm hielt oder miterlebte, wie Adoptiveltern voller Freude ihr erstes Kind entgegennahmen. Für die meisten Menschen war eine Fehlgeburt bloß ein schlimmer Gedanke, der kaum in ihr Bewusstsein drang. Doch für Jane bedeutete das Wort weit mehr als den Verlust eines Kindes. Für sie bedeutete es die Zerrüttung ihrer Ehe und das Ende ihrer Zukunftsträume.

Die Worte des Arztes hallten noch stets in ihr nach. „Es tut mir sehr leid, Mrs Linder, aber nach meiner ärztlichen Meinung können Sie keine Kinder austragen. Ich rate Ihnen dringend davon ab, noch einmal schwanger zu werden.“

Jane ließ die Seiten des Kalenders wieder auf September zurückfallen. Im Laufe der letzten vier Jahre hatte sie Zeit gehabt, ihre Verluste zu betrauern und sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Sie hatte ihre ganze Energie in ihre Karriere investiert. Offenbar hatte Gott einen anderen Plan für ihr Leben, schenkte ihr andere Möglichkeiten, Kindern zu helfen.

Das war ein weiterer Grund, warum ihr diese Arbeit so wichtig war – und warum sie alles in ihrer Macht Stehende tun würde, um sie zu behalten!

Garrett Wilder stieg aus der Straßenbahn und drückte den Filzhut fester auf den Kopf, damit die Windböe, die um ihn herum fegte, den Hut nicht davontrug. Er hatte entschieden, sein Auto zu Hause zu lassen, weil er nicht wusste, wie viele Parkplätze es bei der Children’s Aid Society gab.

Als er in Richtung Isabella Street lief, rumorte der Kaffee, den er in der Pension getrunken hatte, in seinem unruhigen Magen. Vielleicht hätte er heute auf sein übliches Frühstücksgetränk verzichten sollen. Er hätte wissen müssen, dass sich die Unsicherheit des vor ihm liegenden Tages auf seine Verdauung auswirken würde.

Entschlossen schob er alle Zweifel beiseite und lief festen Schritts weiter. Das war bloß die Nervosität des ersten Arbeitstags, sagte er sich. Er hatte keinen Grund, sich schuldig zu fühlen, weil die Children’s Aid Society ihn hergeholt hatte, um ihre laufenden Geschäfte zu überprüfen. Auch wenn seine Anwesenheit auf Ablehnung stoßen könnte, vor allem bei Mrs Linder – der Frau, die nun schon seit einigen Monaten für den ehemaligen Direktor einsprang.

Garrett hatte das Bild einer unscheinbaren, spindeldürren Frau vor Augen, etwa Mitte fünfzig und streng gekleidet, passend zu ihrem militärischen Auftreten. Es war recht ungewöhnlich, dass eine Frau auf einen solchen Posten befördert wurde, wenn auch nur vorübergehend.

Aber die Tatsache, dass der Vorstand es für nötig hielt, Garrett für eine Untersuchung herzuholen, war sogar noch ungewöhnlicher. Sie hatten Mrs Linder zwar nicht direkt die Schuld an den finanziellen Schwierigkeiten der Organisation oder den mysteriösen Unstimmigkeiten in den Büchern gegeben, aber ihre Andeutungen waren ziemlich eindeutig gewesen.

„Nehmen Sie besonders die Direktorin unter die Lupe“, hatte Mr Fenmore ihn gedrängt. „Wenn irgendetwas darauf hinweist, dass sie zum Rückgang der Effizienz der Abteilung beigetragen hat, müssen wir das wissen.“

Garrett wechselte auf den Bürgersteig, als er sich der gesuchten Adresse näherte. Er freute sich nicht gerade darauf, nach Hinweisen zu suchen, die möglicherweise die Karriere einer Frau zerstören würden. Wenn ihre Misswirtschaft jedoch einen wichtigen öffentlichen Dienst gefährdete und er durch seine Arbeit bessere Chancen auf den seit Kurzem offenen Direktorenposten haben würde, dann war er bereit, ein paar schwierige Wochen in Kauf zu nehmen. Es war ein geringer Preis für die Sicherung seiner Zukunft.

Auch wenn diese Zukunft ganz anders aussah, als er sie sich vor Beginn dieses abscheulichen Krieges vorgestellt hatte.

Gedankenverloren rieb er die Stelle an seiner Brust, unter der immer noch einer der tödlichen Granatsplitter steckte. Es war schon verrückt, wie sehr zwei kleine Metallstückchen den Lebensweg eines Menschen verändern konnten.

Als er die Isabella Street 32 erreichte, blieb Garrett vor der Öffnung in der Ziegelmauer stehen. The Children’s Aid Society stand auf einem Messingschild am Torpfosten. Garrett presste die Lippen zusammen und bog auf den Weg ab, der zu dem majestätischen Backsteinhaus führte. Wenn alles gut ging, würde dies vielleicht sein fester Arbeitsplatz werden. Seine Karriere – und vor allem das Wohlergehen seiner Familie – hing davon ab.

Er atmete tief durch, öffnete die Haustür und trat in einen schmalen Flur mit offenen Torbögen auf beiden Seiten. Von links war das Klicken von Schreibmaschinen zu hören. Der Duft von frischem Kaffee und Möbelpolitur hing in der Luft. Garrett hängte seinen Hut an die Garderobe im Eingangsbereich, strich sein Jackett glatt und überquerte den polierten Holzboden des Flurs. Er steckte den Kopf in den Raum auf der linken Seite, wo eine Frau saß, vermutlich die Sekretärin. Sie hörte auf zu tippen.

„Guten Morgen. Kann ich Ihnen helfen?“ Sie schenkte ihm ein freundliches Lächeln, das eine kleine Zahnlücke sichtbar machte. Ihr blondes Haar fiel in sanften Wellen auf ihre Schultern.

Garrett trat vor und warf einen Blick auf das Namensschild auf dem Schreibtisch. „Ich denke schon, Miss Benton. Ich bin Garrett Wilder. Ich bin hier, um …“

Augenblicklich verschwand der freundliche Ausdruck von ihrem Gesicht.

Garrett versteifte sich, aber es gelang ihm mit äußerster Willenskraft, seinen Gesichtsausdruck unverändert zu lassen. „Wie ich sehe, wissen Sie bereits, wer ich bin.“

Miss Benton straffte die Schultern, stand auf und streckte ihm die Hand entgegen. „Schön, Sie kennenzulernen, Mr Wilder.“

Er schüttelte ihr die Hand. „Ebenso, Miss Benton.“

„Ich werde Sie in Mrs Linders Büro führen.“ Miss Benton kam um den Schreibtisch herum. „Sie hat gesagt, ich soll ihr Bescheid geben, sobald Sie da sind.“

„Da bin ich mir sicher“, murmelte er.

„Wie bitte?“

Er schenkte ihr ein bestechendes Lächeln. „Ich kann es auch kaum erwarten, sie kennenzulernen.“ Garrett folgte der Frau den Flur entlang, bis dieser sich nach links und rechts gabelte. Vor dem ersten Büro auf der linken Seite blieb Miss Benton stehen, um zweimal laut an der Tür zu klopfen.

„Herein!“ Die Stimme war melodisch und strahlte zugleich Autorität aus.

Miss Benton öffnete die Tür. „Mr Wilder ist da, Mrs Linder.“

„Danke, Melanie. Lass ihn bitte eintreten.“

Garrett sträubten sich die Haare. Sie klang wie eine Königin, die einem Bauern Zugang zum Thronsaal gewährte. Doch mit seinen fast einunddreißig Jahren war Garrett kein Kind mehr. Er würde sich nicht einschüchtern lassen.

Miss Benton winkte ihn hinein. „Bitte, Mr Wilder.“

Garrett richtete sich zu seiner vollen Größe auf und trat ein. „Guten Morgen, Mrs Lind…“ Er stutzte und ihm blieb der Mund offen stehen.

Die Frau hinter dem Schreibtisch konnte unmöglich die stellvertretende Direktorin sein. Diese Frau war jung – wahrscheinlich noch jünger als er. Ihr kastanienbraunes Haar trug sie zu einer modischen Rolle geformt über der Stirn, die den Blick auf einen makellosen Porzellanteint und atemberaubende grüne Augen freigab. Als er merkte, dass er sie anstarrte, blinzelte er und versuchte, sein Gleichgewicht wiederzufinden.

Mrs Linder sah ihn unentwegt an. Ihre schmalen Augenbrauen hoben sich fragend.

„Verzeihen Sie“, sagte er. „Auf einem solchen Posten hätte ich einfach jemanden in einem … reiferen Alter erwartet.“ Er besann sich auf seinen professionellen Charme und streckte die Hand aus. „Garrett Wilder. Schön, Sie kennenzulernen.“

„Ebenso.“ Sie erhob sich in einer fließenden Bewegung und schüttelte ihm die Hand. Dabei sah sie ihm unverwandt in die Augen. „Allerdings muss ich zugeben, dass ich auch jemand Älteren erwartet habe.“

Er grinste verlegen. „Danke, dass Sie das sagen. Jetzt fühle ich mich etwas besser.“

Er wartete, bis sie wieder Platz genommen hatte, dann öffnete er den oberen Knopf seines Jacketts und setzte sich ebenfalls. Die Aktentasche stellte er neben sich auf den Boden.

Mrs Linder faltete die Hände auf dem Tisch. „Ich gebe zu, dass ich ziemlich überrascht war, als ich gestern von Ihrer bevorstehenden Ankunft erfahren habe. Mr Fenmore hat mir nur gesagt, dass Sie hier sind, um unsere Abläufe zu untersuchen und uns darin zu beraten, wie wir unsere Situation verbessern könnten.“ Sie sah kurz nach unten auf ein Blatt Papier. „Aus Ihrer Akte habe ich erfahren, dass Sie hervorragende Qualifikationen mitbringen, unter anderem ein Wirtschaftsdiplom. Ich nehme an, dass Sie zuerst unsere Finanzbücher prüfen möchten.“

Garrett versuchte, seine Überraschung zu verbergen. Sie wusste mehr über ihn, als er erwartet hatte. „Die Finanzen gehören dazu, ja, aber mein Auftrag ist noch viel umfassender.“

„Ich verstehe.“ Sie spielte an einem einfachen goldenen Ring an ihrer linken Hand.

Er fragte sich flüchtig, was für ein Mann ihr Ehemann sein mochte. Wie fand er es wohl, dass seine Frau einen so anspruchsvollen Posten innehatte? Sie musste wahrscheinlich oft lange arbeiten und trug sehr viel Verantwortung. Würde Garrett je so aufgeschlossen sein, wenn er heiratete? Zugegeben, seine Mutter half seinem Vater auch auf dem Bauernhof, aber das war nicht mit dieser Art von Karriere vergleichbar.

„Ich habe vor, alle Bereiche der Organisation zu untersuchen“, fuhr er fort. „Ich werde beobachten, wie hier alles gehandhabt wird. Dann werde ich Empfehlungen abgeben, wie man die Gesamtsituation verbessern könnte.“ Er fügte nicht hinzu, dass ein großer Teil seiner Arbeit darin bestehen würde, sie zu überprüfen.

Sie runzelte leicht die Stirn. „Angesichts der aktuellen Wirtschaftslage ist es verständlich, dass meine Mitarbeiter nervös sind. Werden diese Empfehlungen möglicherweise zu Entlassungen führen?“

Garrett wusste, dass er vorsichtig sein musste, um die Angestellten nicht unnötig zu beunruhigen. Das würde sich bloß negativ auf ihre Leistung auswirken. „Nur, wenn es sinnvoll ist, und nur als allerletzter Ausweg. Ich möchte lediglich feststellen, wie wir die Abläufe optimieren können, um allen Mitarbeitern Zeit zu sparen und ungerechtfertigte Ausgaben zu vermeiden.“

Er strich ein paar Fusseln von seiner Hose, während er aufstand. „Wenn Sie mir jetzt bitte mein Büro zeigen würden, dann könnte ich mich einrichten und mich darauf vorbereiten, die anderen Mitarbeiter kennenzulernen.“

Sie erhob sich und zupfte ihren Blazer zurecht. „Natürlich. Folgen Sie mir.“

Als sie um den Tisch herumkam, trat er einen Schritt zurück. Sie war groß für eine Frau. Aber mit seinen fast ein Meter neunzig überragte er sie immer noch um einige Zentimeter.

„Wir haben einen Raum am Ende des Ganges für Sie hergerichtet.“ Als sie an ihm vorüberging, blieb ein blumiger Duft in der Luft hängen. „Sie werden sehen, dass wir in diesem Gebäude relativ wenig Platz haben. Aber wir versuchen, das Beste daraus zu machen.“

Er folgte ihr in einen Raum, der nicht viel größer war als eine Besenkammer und so aussah, als diente er normalerweise als Abstellraum. Nun war er mit einem ziemlich ramponierten Schreibtisch, einem Bürostuhl und einem Aktenschrank aus Metall ausgestattet worden. Nicht gerade die Chefetage, die er sich erhofft hatte. Er stellte seine Aktentasche auf die zerkratzte Platte des Schreibtischs und runzelte die Stirn. „Ich werde ein Telefon brauchen.“

„Das habe ich mir gedacht. Die Telefongesellschaft sollte heute oder morgen vorbeikommen, um eins anzuschließen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß, dass es hier drinnen etwas schlicht ist, aber Sie können dem Raum gerne eine persönliche Note verleihen.“ Sie lächelte, aber obwohl sie immer das Richtige sagte und tat, spürte er, dass sie etwas gegen seine Anwesenheit hatte.

„Das meiste Büromaterial ist in dem Schrank da drüben.“ Sie zeigte in eine Ecke. „Wenn Sie noch etwas anderes brauchen, können Sie sich an Melanie wenden.“

„Melanie?“

„Miss Benton, unsere Sekretärin und Empfangsdame. Sie kümmert sich um alle Büroartikel, Bestellungen, Schreibarbeiten und so weiter. Also gut, dann lasse ich Sie mal allein …“

Garrett unterdrückte einen Fluch. Diese unangenehme Spannung war kein guter Start in ihre Zusammenarbeit. Er musste irgendwie eine Beziehung zu dieser Frau knüpfen, wenn er wollte, dass sie mit ihm kooperierte. „Bevor Sie gehen, Mrs Linder, würde ich gerne ein paar Dinge aus der Welt schaffen.“

Jane erstarrte. Sie war wie gebannt von den blauen Augen dieses Mannes und wünschte, er wäre stattdessen der dickbäuchige Herr mittleren Alters, den sie sich vorgestellt hatte. Die Erfahrenheit eines älteren Mannes hätte sie zwar auch eingeschüchtert, aber nicht so sehr wie das unglaublich gute Aussehen von Mr Wilder. „Ich weiß nicht, was Sie meinen.“

Sie reckte das Kinn und gab ihr Bestes, um sich ihr Unbehagen nicht anmerken zu lassen.

Mr Wilder lehnte sich mit der Hüfte an den Tisch und verschränkte die Arme. Irgendwie gelang es ihm, dabei trotzdem elegant auszusehen in seinem dreiteiligen, vollkommen faltenlosen Anzug. „Mir ist klar, dass wir uns in einer nicht sehr wünschenswerten Situation befinden. Aber meine Zeit hier wird wesentlich angenehmer sein, wenn wir uns irgendwie einigen könnten. Immerhin arbeiten wir beide auf dasselbe Ziel hin – die Abläufe der Organisation zu verbessern, damit wir möglichst vielen Kindern helfen können.“

Ihre Schultern entspannten sich ein wenig. Er hatte recht. Bei der Children’s Aid Society stand das Wohlergehen der Kinder im Mittelpunkt. „Glauben Sie das wirklich, Mr Wilder?“, fragte sie kühl. „Oder interessieren Sie sich nur für die Zahlen und Fakten?“

Ein Muskel in seiner Wange zuckte. „Mir liegen die Kinder, die hierherkommen, sehr am Herzen. Aber wenn wir uns nicht um die finanziellen Probleme der Einrichtung kümmern und irgendwann gezwungen sind, sie zu schließen, was passiert dann mit den Kindern?“

Bei Jane schrillten sämtliche Alarmglocken. „Das darf nicht sein. Die Regierung würde nie zulassen, dass die Einrichtung schließt.“

„Warum hat der Vorstand es dann für absolut notwendig gehalten, mich einzustellen?“

Jane biss sich auf die Lippe. Diese Frage beschäftigte sie schon, seit sie zum ersten Mal von Mr Wilders Auftrag gehört hatte. „Mr Fenmore hat gesagt, dass sie einen objektiven Dritten hinzuziehen wollen, um die Organisation zu untersuchen. Ich bin davon ausgegangen, dass es dabei hauptsächlich um eine Buchprüfung und die Optimierung unserer Spendeneinkünfte geht.“

Mr Wilder sah sie direkt an. „Glauben Sie mir, Mrs Linder, es ist etwas viel Ernsteres als eine einfache Buchprüfung. Aber wenn wir zusammenarbeiten, bin ich zuversichtlich, dass wir tragbare Lösungen finden werden, um diese Einrichtung in Höchstform zu bringen.“ Er stieß sich vom Tisch ab und streckte die Hand aus. „Kann ich mit Ihrer Zusammenarbeit rechnen?“

Jane zögerte den Bruchteil einer Sekunde. Es wäre nutzlos, mit diesem Mann zu streiten. Wenn sie eng mit ihm zusammenarbeitete, würde sie eher in der Lage sein herauszufinden, was genau hier vor sich ging. Sie zwang sich zu einem Lächeln und schüttelte ihm die Hand. „Solang ich dieselbe Höflichkeit von Ihnen erwarten kann.“

Er warf ihr einen prüfenden Blick zu und nickte dann. „Na schön, Mrs Linder. Einverstanden.“

Kapitel 3

Nachdem er eine Stunde in dem fensterlosen Kämmerchen gesessen hatte, das ihm nun als Büro diente, stand Garrett auf und streckte sich. Er nahm sein Jackett von der Lehne des unbequemen Stuhls und zog es an. Wenn er die Angestellten traf, war der erste Eindruck entscheidend.

Er lief den schmalen Flur entlang zu Mrs Linders Büro. Diesmal schenkte er dem Namensschild neben der Tür mehr Aufmerksamkeit: Robert Mills, Geschäftsführender Direktor. Es war also eigentlich gar nicht Mrs Linders Büro. Wo saß sie normalerweise? Und welche Stellung hatte sie gehabt, bevor sie zur stellvertretenden Direktorin wurde?

Er klopfte an die Tür.

„Herein.“

Sie war gerade am Telefon und deutete ihm, Platz zu nehmen.

„Ich bin froh, dass Miss Dupuis helfen konnte.“ Pause. „Das ist lieb von dir, Olivia. Ich vermisse es auch, mit euch zu arbeiten, aber momentan bin ich zu …“ Mrs Linders Blick fiel auf Garrett. „In meiner neuen Position muss ich die Arbeit in den Mütterhäusern meinen Sozialarbeitern überlassen. Aber sobald ich einen freien Tag habe, komme ich euch besuchen. Dann können wir reden. Ansonsten könnt ihr euch jederzeit an meine Mitarbeiter wenden.“ Pause. „Dir auch, Olivia.“ Mrs Linder legte den Hörer auf und sah mit einem Lächeln hoch. „Das war die Ko-Direktorin von Bennington Place, einem örtlichen Mütterheim, das wir unterstützen.“

Er runzelte die Stirn. Die Unterhaltung – oder das, was er davon mitbekommen hatte – hatte sich mehr wie ein Gespräch zwischen zwei Freundinnen als wie ein beruflicher Austausch angehört. „Sie sind wohl ziemlich eng befreundet, was?“

Sie schnaubte entnervt. „Als Sozialarbeiterin habe ich das Mütterheim oft besucht. Wir haben eine freundschaftliche Arbeitsbeziehung aufgebaut. Was ist daran so falsch?“

„Nichts, nehme ich an. Solang Sie objektiv bleiben können.“

Auf ihren Wangen bildeten sich rote Flecken und sie presste die Lippen fest zusammen. „Womit kann ich Ihnen helfen, Mr Wilder?“, stieß sie hervor.

Garrett atmete tief durch. Er musste lernen, nicht so direkt zu sein. Er war schließlich nicht mehr bei den Soldaten im Schützengraben. Und Mrs Linder verdiente es, mit mehr Feingefühl behandelt zu werden. „Ich bin bereit, das restliche Gebäude zu besichtigen und die anderen Mitarbeiter kennenzulernen, wenn es Ihnen recht ist.“

Ihre Nasenflügel bebten, als sie aufstand. „Natürlich. Ich hätte Sie schon vorher herumgeführt, aber ich dachte, Sie hätten lieber erst ein wenig Zeit, um sich einzugewöhnen.“

„Nun, betrachten Sie mich als vollständig eingewöhnt.“

Sie starrte ihn an, als wüsste sie nicht, ob er es ernst meinte oder nicht. Dann ging sie an ihm vorbei in den Flur und blieb vor einem schmalen Empfangszimmer stehen. Eine Vielzahl von Menschen aus den unterschiedlichsten Schichten saß auf den Stühlen – Erwachsene und Kinder, manche gut angezogen, andere eher ungepflegt.

„Das ist unser Wartezimmer, wo die Klienten auf ein Gespräch mit den Sozialarbeitern warten. Auf der anderen Seite des Gangs ist das Büro der Stenografen. Auch die Ehrenamtlichen, die uns bei den Büroarbeiten unterstützen, arbeiten dort.“

„Hat einer von diesen Ehrenamtlichen Zugang zu den Finanzunterlagen?“ Er hoffte, dass die Frage beiläufig genug klang, um keinen Verdacht zu erregen.

Doch Mrs Linder hob leicht die Augenbrauen. „Ja. Mr Bolton. Er ist Buchhalter und hilft uns bei der Buchführung.“

„Ich nehme an, dass jemand seine Arbeit überprüft?“

„Wenn er fertig ist, ja, falls Sie das meinen. Das war Mr Mills’ Aufgabe. Er war ziemlich penibel, wenn es um die Finanzen ging.“ Sie zuckte die Schultern. „Jetzt ist es meine Verantwortung.“

Garrett biss sich auf die Zunge, um sich weitere Fragen zu verkneifen. Es würde später noch ausreichend Gelegenheit geben, sich mit den Details der einzelnen Abläufe zu beschäftigen. Diese Information könnte jedoch für einige seiner Untersuchungen ausschlaggebend sein.

„Oben befinden sich die Räume, in denen sich die Sozialarbeiter mit den Eltern treffen.“ Sie steuerte auf die Treppe zu und stieg die Stufen empor. Oben angekommen, sah sie beinahe verlegen über die Schulter. „Ich sollte Sie vorwarnen, dass wir hier oben noch weniger Platz haben als unten. Wenn Sie diese Etage gesehen haben, sind Sie wahrscheinlich froh, dass Sie Ihr eigenes Büro haben, auch wenn es sehr klein ist.“

Er grinste. „Und ich dachte, Sie wollten mich bestrafen.“

Ein ersticktes Geräusch drang an sein Ohr und für eine Sekunde lang war er sich sicher, dass Mrs Linder gerade ein Lachen unterdrückt hatte.

Sie blieb vor einer offenen Tür stehen und ließ ihn einen Blick hineinwerfen. Zum zweiten Mal an diesem Tag blieb ihm der Mund offen stehen. Nichts hätte ihn auf den überfüllten Raum und das Stimmenwirrwarr darin vorbereiten können.

In der Mitte des Raums waren drei Tische zusammengeschoben worden, um einen großen Arbeitsbereich zu schaffen. Rundherum waren mindestens zehn Stühle aufgestellt. An den Wänden ringsum standen noch mehr Tische und Stühle neben einer Reihe von Aktenschränken und einer Art Materialschrank. Jeder verfügbare Platz war mit Menschen gefüllt – sowohl Eltern mit kleinen Kindern auf dem Schoß als auch Angestellte, die fleißig in ihre Notizblöcke schrieben. Andere telefonierten gerade und mussten fast schreien, um bei dem Lärm gehört zu werden.

Wie konnten sie in diesem Chaos arbeiten?

Er wandte sich an Mrs Linder. „Geht es hier immer so zu?“

„Ich fürchte, ja. Heute ist sogar ein relativ harmloser Tag. Manchmal wird es noch viel voller, je nach Anzahl der beteiligten Kinder.“

Ein kleines Kind stieß einen schrillen Schrei aus.

Garrett zuckte zusammen und widerstand dem Drang, sich die Ohren zuzuhalten. „Das scheint kein guter Zeitpunkt zu sein, mich vorzustellen.“

„Sie haben recht. Am besten wäre es nach der Sprechstunde, wenn nur noch die Angestellten da sind, um den Papierkram zu erledigen.“

Er trat zurück in den Flur und entfernte sich ein paar Schritte.

„Es gibt noch einen ähnlichen Raum auf der anderen Seite der Treppe. Dort arbeiten etwa siebzehn Angestellte, während in diesem hier meistens nur zehn bis zwölf sind.“ Mrs Linder ging voraus und zeigte ihm die Toiletten sowie einen kleinen Abstellraum, in dem eine Mitarbeiterin auf einem Stuhl saß und in einen Notizblock auf ihrem Schoß schrieb.

Mrs Linder warf ihm einen vielsagenden Blick zu. „Die Leute nutzen jeden freien Platz, sogar die Besenkammer.“

„Was ist geplant, um dieses Problem zu lösen?“ Garrett konnte nicht glauben, dass die Organisation in solch einer Unordnung überhaupt funktionieren konnte.

„Der Vorstand spart auf ein neues Bürogebäude hin. Aber die Pläne wurden aus mir unbekannten Gründen auf Eis gelegt. Da müssen Sie Mr Fenmore fragen.“ Sie zuckte die Schultern. „In der Zwischenzeit machen wir das Beste daraus.“

Sie stiegen langsam die Treppe hinunter.

„Einige unserer Probleme sind wahrscheinlich nur vorübergehend“, sagte Mrs Linder. „Es liegt in erster Linie am Krieg, dass wir so überlaufen sind und so viel Arbeit haben.“

Garrett runzelte die Stirn. „Wieso?“

„Zum einen gibt es viel mehr vernachlässigte und misshandelte Kinder. Da die Männer weg sind, kommen viele Mütter kaum über die Runden. Die meisten nehmen irgendeine Arbeit an, um Geld zu verdienen, während sie gleichzeitig all ihren üblichen Pflichten zu Hause nachkommen müssen. Wir haben auch weniger Ehrenamtliche, die uns Arbeit abnehmen, und weniger Pflegefamilien, die bereit sind, weitere Kinder aufzunehmen und durchzufüttern. Alle sind mit ihren eigenen Problemen beschäftigt und versuchen, ihre Familien über Wasser zu halten. Das ist verständlich, aber schade.“ Sie blieb am Fuß der Treppe stehen. „Ich denke, dass der wirtschaftliche Umbruch, den der Krieg ausgelöst hat, auch ein Grund dafür ist, dass die Expansionspläne auf Eis gelegt wurden.“

Garrett nickte. Er war beeindruckt von ihrer Scharfsinnigkeit. „Sie haben wahrscheinlich recht. Niemand hätte gedacht, dass dieser Krieg so lange dauern würde. Er scheint einfach kein Ende zu nehmen.“

„Ich weiß.“ Ihr Gesicht wurde traurig. „Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, seit ich meinen Bruder zum letzten Mal gesehen habe.“

Garrett rieb sich unauffällig die Brust. Wieder plagten ihn Schuldgefühle, weil er nicht mehr bei seinen Kameraden in Europa war. Wenn das Schicksal ihm nicht in die Quere gekommen wäre, würde er in diesem Moment vielleicht an der Seite von Mrs Linders Bruder kämpfen.

Jane versuchte, die Melancholie abzuschütteln, die sie immer überkam, wenn sie über den Krieg sprach. Mr Wilders finsteres Gesicht verriet ihr, dass er dasselbe empfand. Jetzt war jedoch nicht der richtige Zeitpunkt, um sich auf andere Dinge als die Arbeit zu konzentrieren.

Sie blieben vor Janes Büro stehen.

„Könnten Sie mir etwas erklären, Mrs Linder?“ Mr Wilder blätterte durch seinen Notizblock. „Soweit ich weiß, hat Mr Mills die Organisation in drei separate Bereiche gegliedert: das Kinderheim, die Vermittlungsstelle und die Jugendhilfe.“

„Das ist richtig.“

„Was genau ist die Aufgabe der Jugendhilfe?“

Jane lehnte sich an den Türrahmen. Der Gedanke an ihren Mentor hob ihre Laune für einen Augenblick. „Mr Mills war es ein Herzensanliegen, Kinder vor Gewalt und Vernachlässigung zu schützen. Wir erhalten zahlreiche Anrufe, in denen uns Eltern gemeldet werden, die ihre Kinder misshandeln oder sie einfach vernachlässigen, sie nicht angemessen mit Essen und Kleidung versorgen. Wir gehen jedem Vorwurf nach und entscheiden, ob es für das Kind sicher ist, in seiner Familie zu bleiben. Wenn nicht, kommt es in eine Pflegefamilie, die wir regelmäßig überprüfen.“

Mr Wilder kratzte sich am Kinn. „Diese Organisation ist komplexer, als ich dachte. Meine Einschätzung, wie viel Zeit ich für eine umfassende Untersuchung brauchen werde, war wohl etwas optimistisch.“

In diesem Augenblick flog die Eingangstür auf. Herein kam eine stämmige Frau, die einen mürrisch dreinblickenden Jungen hinter sich herzerrte.

Jane erkannte das Kind sogleich und eilte auf die beiden zu. „Martin. Mrs McElroy. Was kann ich für Sie tun?“

Die Frau schubste den Jungen vor. „Es tut mir leid, Mrs Linder, aber ich muss Martin leider ins Heim zurückbringen. Mr McElroy und ich können seine Faxen nicht länger ertragen.“

Jane sank der Mut und ihre Hoffnungen für den Jungen schwanden. Sie hatte gebetet, dass Martin bei den McElroys endlich ein dauerhaftes Zuhause finden würde. Was war diesmal schiefgegangen?

Der Junge verschränkte die Arme vor der Brust und blickte immer noch finster drein.

Da Jane nur allzu bewusst war, dass Leute im nahen Wartezimmer saßen und Mr Wilder hinter ihr stand, traf sie eine schnelle Entscheidung. „Martin, ich möchte, dass du mit Mr Wilder gehst. Er wird dich in unseren Pausenraum begleiten, während ich mit deiner … mit Mrs McElroy spreche.“ Sie trat näher an Mr Wilder heran und flüsterte: „Der Pausenraum ist am Ende des hinteren Gangs. Auf der Theke steht eine Keksdose und es gibt Getränke im Kühlschrank.“

Falls er überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken. Mr Wilder nickte nur und wartete auf Martin.

Als der Junge an ihr vorüberging, widerstand Jane dem Drang, ihm eine tröstende Hand auf die Schulter zu legen. „Mrs McElroy, würden Sie bitte mit in mein Büro kommen, damit wir das Ganze besprechen können?“

„Es hat keinen Sinn.“ Mrs McElroys schrille Stimme schallte durch den Flur. „Ich lasse den Jungen hier. Nichts, was Sie sagen, wird meine Meinung ändern.“

Jane versteifte sich und sprach in ihrem strengsten Ton. „Ma’am, Sie sind für dieses Kind verantwortlich. Das steht schwarz auf weiß in den Papieren, die Sie unterschrieben haben.“

„Sie können diese Papiere zerreißen.“ Sie warf einen Blick auf die Wanduhr. „Ich muss jetzt los. Ich muss zurück sein, bevor die anderen Kinder aus der Schule nach Hause kommen.“

Jane folgte ihr zur Tür. Außer Mrs McElroy zur Rede zu stellen, hatte sie keine Möglichkeit, die kräftige Frau länger aufzuhalten. „Sind Sie sicher, dass Sie Ihre Meinung nicht ändern werden? Wenn Sie vielleicht –“

„Nein!“

Jane sah den verbissenen Ausdruck im Gesicht der Frau und wusste, dass es reine Zeitverschwendung wäre, mit ihr zu streiten. „Dann werde ich morgen jemanden mit den nötigen Papieren vorbeischicken. Wann würde es Ihnen denn passen?“

„Immer, wenn Schule ist.“ Die Frau winkte kurz, dann stürmte sie zur Tür hinaus und schlug sie hinter sich zu.

Sämtliche Luft wich aus Janes Lungen und sie musste gegen den Drang ankämpfen, sich gegen die Wand sinken zu lassen.

Mr Wilder tauchte vom hinteren Gang her auf. „Martin isst gerade ein paar Kekse im Pausenraum.“

„Allein?“, kiekste sie.

Mr Wilder runzelte die Stirn. „Es kann doch nichts passieren, er –“

„Sie verstehen das nicht.“ Alarmiert stürmte sie los, an Mr Wilder vorbei. „Sie dürfen Martin nicht allein lassen!“ Warum hatte sie ihm nicht gesagt, dass Martin oft davonlief?

Ihre Befürchtungen wurden bestätigt, als sie den Pausenraum erreichte. Er war leer.

„O nein.“ Jane rannte den hinteren Flur entlang zum Hintereingang und stürzte zur Tür hinaus. „Martin! Martin, komm zurück!“

Als sie im Innenhof nichts weiter fand als ein paar trockene Blätter, folgte sie der Seitengasse zwischen den Gebäuden, in der die Mülltonnen standen. „Alles ist gut, Martin. Mrs McElroy ist fort.“

Sie stand still und lauschte nach Anzeichen dafür, dass er in der Nähe war. Er konnte noch nicht weit gekommen sein, oder?

Auf der Isabella Street angelangt, suchte sie die Bürgersteige in beide Richtungen ab. Keine Spur von dem Jungen. Sie atmete tief durch, um ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen, dann kehrte sie in die Seitengasse zurück. Plötzlich sah sie eine kleine Bewegung bei den Mülltonnen. Durch einen Spalt konnte sie den Kragen von Martins blauem Hemd ausmachen.

Ihre Anspannung wich der Erleichterung. Sie atmete langsam ein, während sie einen Moment darüber nachdachte, wie sie nun vorgehen sollte. Der Junge hatte ihr einmal vertraut, aber nach mehreren erfolglosen Versuchen, ihn an eine Pflegefamilie zu vermitteln, hatte sie wahrscheinlich sein Vertrauen verloren.

„Es tut mir leid, dass es nicht geklappt hat mit den McElroys“, sagte sie leise. „Möchtest du mit reinkommen und mir davon erzählen?“

Einen Moment herrschte Stille, dann folgte ein Schniefen. „Nein.“

Sie beugte sich näher an die Mülltonnen heran. „Wie kann ich dir sonst helfen? Du kannst nicht die ganze Nacht hier draußen bleiben.“ Obwohl es erst Anfang September war, sanken die Temperaturen bereits deutlich, vor allem nachts.

„Sie werden mich ins Heim zurückschicken. Ich mag es da nicht. Mrs Shaughnessy hasst mich.“

Jane unterdrückte ein Seufzen. „Sie hasst dich nicht, Martin. Wenn du dich an die Regeln hältst, wirst du keine Probleme mit ihr haben.“

„Die anderen Kinder mögen mich auch nicht. Sie machen sich über mich lustig.“ Er schniefte wieder.

„Es wird ziemlich kalt hier draußen.“ Sie rieb sich die Arme. „Komm nach drinnen, da können wir reden.“

„Ist Mr Mills da?“

Jane stutze. Als Martin das letzte Mal zurückgeschickt worden war, hatte Mr Mills die Geduld mit ihm verloren und den Jungen in einem Moment der Verzweiflung angeschrien. Obwohl er sich später entschuldigt hatte, war der Schaden bereits angerichtet. „Nein. Mr Mills ist … gerade nicht da. Solang er weg ist, bin ich verantwortlich.“

„Sie?“ Ein Hauch von Hoffnung klang in seiner Stimme mit.

„Ja, ich.“ Jane hielt die Luft an und betete, dass ihre frühere Verbindung zu dem Jungen wieder aufleben würde.

Nach einer Weile klapperten die Mülltonnen und Martin kam zum Vorschein. Sein Anblick tat Jane in der Seele weh. Oh, Martin. Ich würde alles tun, um dir die Familie zu geben, die du verdient hast. Sie wünschte sich so sehr, dass jemand durch den Zorn und die mürrische Art des Jungen blicken könnte, um das verletzte Kind dahinter zu sehen. Sie war sich sicher, dass Martin mit ein wenig Liebe und Verständnis aufblühen würde. Lächelnd streckte sie die Hand aus. „Ich könnte jetzt ein heißes Getränk gebrauchen. Wie wäre es mit einem Kakao?“

Martin nickte zögernd und nahm dann ihre Hand.

Jane sehnte sich danach, ihn hochzunehmen und feste zu umarmen. Doch mit seinen acht Jahren fühlte Martin sich zu alt für solche Gesten. Sie begnügte sich damit, seine kleine Hand zu halten und sie ermutigend zu drücken.

Als sie aufsah, verlangsamte sich ihr Schritt. Mr Wilder stand mit verschränkten Armen am Ende der Gasse. Sein Gesicht zeigte eine Mischung aus Verwirrung und Missbilligung. Wie lange hatte er sie beobachtet?

Garrett kratzte sich am Kopf, während Mrs Linder den ungezogenen Jungen zurück ins Haus führte. Warum schalt sie ihn nicht für sein ungeheuerliches Verhalten? Wenn einer seiner Neffen so etwas anstellen würde, wäre eine ordentliche Tracht Prügel angesagt. Stattdessen hatte Mrs Linder vor, ihm einen Kakao zu machen?

Er folgte ihnen in den Pausenraum, der nur wenig größer war als Garretts sogenanntes Büro. Neben einem Tisch, dem schmalen Herd und dem winzigen Kühlschrank befand sich eine geflieste Arbeitsplatte, auf der ein Kessel und ein paar Vorratsdosen standen.

Nachdem sie Martin an den Tisch gesetzt hatte, wo noch stets sein Saft und die Kekse standen, sah Mrs Linder auf. „Das ist Martin Smith, einer unserer Lieblingsgäste.“ Sie zwinkerte dem Jungen zu. „Martin, das ist Mr Wilder. Er wird einige Wochen lang hier arbeiten.“

„Freut mich, dich kennenzulernen, Martin.“

Der Junge zuckte bloß die Schultern.

Mrs Linder holte einen Topf aus einem der unteren Schränke und einen Krug mit Milch aus dem Kühlschrank. Sie zitterte, während sie den Gasherd anzündete und mehrere Esslöffel Kakao in die Milch rührte.

„Wie ich sehe, haben Sie einige Vorräte hier“, sagte er.

Sie warf einen Blick über die Schulter. „Wir versuchen, immer etwas Verpflegung dazuhaben. Man weiß nie, wann man ein heißes Getränk oder einen Keks gebrauchen kann.“

„Ich würde auch eine Tasse nehmen, wenn Sie genug haben“, sagte er.

Martin funkelte ihn an. „Was wollen Sie hier?“

Mrs Linder wirbelte herum. „Martin, denk an deine Manieren.“

„Entschuldigung.“ Der Junge ließ den Kopf auf seine schmale Brust sinken.

Garrett sah zu Mrs Linder hinüber, die nur mit einem flehenden Blick den Kopf schüttelte. Er nickte verstehend. Martin sah etwa so alt wie Garretts ältester Neffe aus. Was würde seine Schwester in dieser Situation tun? Cassie war zartfühlender als Garrett oder seine Eltern.

Garrett schob einen Stuhl zurück und setzte sich. „Klingt, als hättest du einen harten Tag gehabt“, sagte er.

Martin durchbohrte ihn mit einem finsteren Blick.

Das Klirren des Schneebesens, der gegen den Topf schlug, schien lauter zu werden. Zeit für eine andere Taktik.

„Spielst du Baseball, Martin?“

Der Junge schüttelte den Kopf.

„Was ist mit Fußball oder Football?“

„Nein. Ich mag Hockey.“

„Eishockey?“

Martin warf ihm erneut einen steinernen Blick zu. „Ich habe keine Schlittschuhe. Ich spiele auf der Straße.“

„Ach so. Das macht bestimmt Spaß.“

Mrs Linder stellte zwei Tassen auf den Tisch. „Bitte schön, die Herren.“

Garrett nahm sich eine Tasse. „Danke. Das sieht köstlich aus.“ Er nahm einen kleinen Schluck, der ihm die Zunge verbrühte, und sog scharf die Luft ein. „Jetzt weiß ich, warum es heiße Schokolade genannt wird.“

Martin schnaubte und beugte sich vor, um auf seinen Kakao zu pusten.

Mrs Linder schaltete den Herd aus und goss die restliche Flüssigkeit aus dem Topf in eine angeschlagene Tasse. Dann setzte sie sich neben Martin.

„Mr Wilder“, sagte sie, „würden Sie uns bitte entschuldigen? Ich möchte gerne unter vier Augen mit Martin sprechen.“

„Natürlich. Hat mich gefreut, Martin. Vielleicht können wir mal ein paar Bälle zusammen werfen.“

Warum hatte er das gesagt, wenn es wohl kaum je dazu kommen würde?

Als Garrett zurück in seinem winzigen Büro war, fiel es ihm schwer, sich auf die Zahlen zu konzentrieren. Er musste immer wieder an Mrs Linder und Martin denken. Die beiden schienen recht vertraut miteinander zu sein. Was hatten sie für eine gemeinsame Geschichte?

Irgendetwas an Martin ließ Garrett nicht los. Als er darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass der Junge ihn an seinen Kindheitsfreund Nelson erinnerte. Martin hatte den gleichen gehetzten Blick wie Nelson damals, als Garretts Nachbarn ihn auf ihrem Hof aufgenommen hatten. Dank Mr und Mrs O’Neills geduldiger Fürsorge hatte Nelson nach und nach gelernt, sich zu entspannen. Er hatte verstanden, dass er wirklich in Sicherheit war. Nach dem, was Garrett zuletzt gehört hatte, war Nelson zurückgekehrt, um seinem Adoptivvater auf dem Hof zu helfen, nachdem Mrs O’Neill gestorben war. Garrett hoffte, dass Martin so viel Glück wie Nelson haben und irgendwann ein dauerhaftes Zuhause finden würde.

Etwa zwanzig Minuten vergingen, bis Garrett wieder Mrs Linders Stimme hörte.

„Hast du eine Jacke, Martin?“

„Nein, Ma’am.“

„Kein Problem. Wir werden eine für dich finden. Lass mich Mr Wilder fragen, ob er uns begleiten möchte.“

Er hörte Schritte, dann streckte Mrs Linder den Kopf herein. „Ich bringe Martin jetzt ins Heim. Ich dachte, das wäre vielleicht eine gute Gelegenheit, Sie herumzuführen.“

Garrett schloss das Kassenbuch und stand auf. „Danke, ich komme gerne mit.“

Mrs Linder kam herein und senkte die Stimme. „Martin ist nicht glücklich darüber, ins Heim zurückzumüssen. Ich möchte kurz mit der Hausmutter sprechen, um sie zu bitten, ihn mit Feingefühl zu behandeln.“

Garrett konnte seine Überraschung kaum verbergen. Was der Junge brauchte, war sicherlich nicht mehr Feingefühl, sondern mehr Disziplin. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, seine Meinung zu äußern. „Lassen Sie mich wissen, wie ich helfen kann.“

Sie sah erleichtert aus und schenkte ihm ein kurzes, warmes Lächeln. „Danke. Das arme Kind hat schon so viel durchgemacht. Ich möchte, dass dieser Übergang möglichst glatt läuft.“

„Alles klar.“ Garrett nahm seinen Mantel vom Haken. „Nach Ihnen.“

Kapitel 4

Jane blieb im Flur stehen, um ihren Mantel anzuziehen. Sie hatte gehofft, Mrs Shaughnessy mehr als fünf Minuten Vorlaufzeit geben zu können, bevor sie Mr Wilder zum ersten Mal mitbrachte. Dann hätte die Heimleiterin das Haus und die Kinder herausputzen können.

Jane griff nach ihrer Tasche und versuchte, die Schultern zu entspannen. Trotz der Aufregung um Martin hatte sie es geschafft, noch schnell ihre Mutter anzurufen, während Melanie nach dem Jungen sah. Erleichtert hatte sie festgestellt, dass Mutter heute bessere Laune hatte. Trotzdem war Jane froh, ihre Nachbarin gebeten zu haben, wie bereits am Vortag nach ihr zu schauen.

„Das Kinderheim ist gleich um die Ecke“, sagte sie, während sie auf Martin und Melanie warteten.

„Es ist bestimmt praktisch, das Heim in der Nähe zu haben.“ Mr Wilder hatte seinen Filzhut und seinen Regenmantel angezogen und an der Tür auf Jane gewartet.

„Ja, das ist es wirklich. Ich gehe in der Regel mindestens einmal die Woche hin, um mit der Hausmutter zu sprechen, nach dem Rechten zu sehen und die Kinder zu besuchen.“

Er hob die dunklen Augenbrauen. „Wirklich? Ist das Teil Ihrer Arbeit als Direktorin?“

Janes Wangen brannten. „Das ist eine Frage der Interpretation. Mr Mills war der Ansicht, dass man die Leitung des Heims am besten Mrs Shaughnessy überlässt. Er hat sich lieber auf die Maßnahmen zum Schutz der Kinder konzentriert. Aber da ich schon vorher eine gute Beziehung zu den Kindern und Mitarbeitern im Heim hatte, habe ich mir vorgenommen, mich auch weiterhin dort einzubringen. Natürlich nur so gut es geht, ohne einen anderen Teil meiner Arbeit zu vernachlässigen. Deshalb nehme ich mir Zeit, sie zu besuchen, selbst wenn es in meiner Mittagspause ist.“

In diesem Moment tauchte Melanie vom Empfangsbereich her auf. Ihre Hand lag auf Martins Schulter. Er trug einen braunen Strickpulli, eins der Kleidungsstücke, die sie für Notfälle wie diesen immer parat hatten. Für den kurzen Weg zum Heim würde der Pulli wohl reichen. Dort würden sie dann weitere Kleider für ihn suchen müssen, bis seine wenigen Besitztümer von den McElroys abgeholt werden konnten.

„Danke, Melanie“, sagte Jane. „Wir sollten in etwa einer halben Stunde zurück sein.“ Jane nahm Martin bei der Hand. „Also gut. Los geht’s, junger Mann.“

Sie ging voraus. Der kühle Herbstwind war eine angenehme Abwechslung nach der stickigen Luft im Büro. Jane atmete tief durch.

Sie liefen einige Minuten schweigend nebeneinander her, bis Jane das Bedürfnis hatte, das Eis zwischen ihnen zu brechen. Martin traute Mr Wilder offensichtlich nicht und der Mann unternahm auch nicht viel, um Martins Meinung zu ändern.

„Ich war einige Jahre als Sozialarbeiterin für die Einrichtung tätig“, sagte sie zu Mr Wilder. „So habe ich Martin kennengelernt. Stimmt’s, Martin?“

Der Junge nickte, ohne seinen Blick vom Boden zu heben.

„Dann werden Sie die Kinder gut kennen“, sagte Mr Wilder.

„Das tue ich. Ich versuche, über jedes Kind etwas zu lernen und mit jedem persönlich zu reden.“

Mr Wilder verlangsamte seine Schritte, um sich Jane und Martin anzupassen. „Ich bin froh, dass Sie mich den Kindern vorstellen können. Es wäre ihnen sicher nicht geheuer, wenn plötzlich ein Fremder wie aus dem Nichts dort auftaucht.“

„Das ist sehr einfühlsam von Ihnen. Haben Sie viel Erfahrung mit Kindern, Mr Wilder?“

Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu. „Wenn das Ihre subtile Art ist, mich zu fragen, ob ich Kinder habe, lautet die Antwort Nein. Aber ich habe eine Nichte und zwei Neffen, also kenne ich mich ein bisschen mit Kindern aus.“