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1919: Nie hätte Grace damit gerechnet, was sie in Kanada erwarten würde: Statt ihre verwitwete Schwester Rose in die Arme zu schließen, muss sie nun an ihrem Grab stehen. Unbedingt will Grace den letzten Willen ihrer Schwester erfüllen: sich um deren Baby Christian zu kümmern, als sei es ihr eigener Sohn. Doch Christian ist längst in der Obhut von Roses unbarmherzigen Schwiegereltern. Für Grace eine Katastrophe! Wie soll sie nun ihr Versprechen einlösen, für ihren Neffen zu sorgen? Noch ahnt sie nicht, dass sie ein Wagnis eingehen muss, das ihr Herz auf zweifache Weise in Gefahr bringt ...
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Seitenzahl: 541
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Susan AnneMason
Aus dem Englischen vonEvelyn Schneider
Copyright 2018 by Susan A. MasonOriginally published in English under the titleThe Best of Intentionsby Bethany House Publishers,a division of Baker Publishing Group,Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.All rights reserved.
Titel der US-amerikanischen Originalausgabe:The Best of Intentions
Das Bibelzitat aus 2. Korinther 12,9 ist der Lutherbibel 1912 entnommen. Die Bibelzitate aus Hohelied 2,10-12 und 8,6 stammen aus: Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen.
© der deutschen Ausgabe: 2019 Brunnen Verlag GmbH GießenLektorat: Konstanze von der PahlenUmschlagfoto: LML Productions/ArcangelUmschlaggestaltung: Daniela SprengerSatz: DTP BrunnenDruck: GGP Media GmbH, PößneckISBN Buch 978-3-7655-0716-8ISBN E-Book 978-3-7655-7542-6www.brunnen-verlag.de
Lass dir an meiner Gnade genügen;denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.
2. KORINTHER 12,9
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Epilog
Grace Abernathy stand an der Reling der SS Olympic und ließ ihren Blick über das ruhige, weite Meer schweifen, während der letzte Sonnenstrahl sich langsam hinter dem Horizont verbarg. Dunkelheit breitete sich über dem Wasser aus, das einzige Licht der Schein der Dampferlaterne. Mit der Sonne war auch jede Spur von Wärme verschwunden und Grace fröstelte trotz ihres neuen Wollmantels, auf dessen Kauf ihre Mutter unbedingt bestanden hatte.
Nach dem zweiten Tag auf See zwang sich Grace, nicht mehr sehnsüchtig nach England, ihrem geliebten Heimatland, zurückzublicken, sondern sich auf das vor ihr liegende Ziel zu konzentrieren: Toronto, Kanada. Dorthin war ihre Schwester vor fünf Jahren ausgewandert. Beim Gedanken daran verspürte Grace eine Mischung aus Aufregung und Angst. In den letzten Jahren war so viel geschehen – in ihrer beider Leben.
Hätte Rose ihr Zuhause im Frühjahr 1914 auch verlassen, wenn sie gewusst hätte, dass die Welt schon bald im Krieg versinken und sich ihr Leben dadurch völlig verändern würde? Als eine große Welle gegen den Schiffsrumpf schlug und einige kalte Wassertropfen aufspritzten, griff Grace noch fester um die Reling. Das aufgewühlte Meer spiegelte die Gefühle wider, die unter der Oberfläche ihres ruhigen Äußeren tobten. Rose brauchte Hilfe und Grace würde sie nicht im Stich lassen.
Sie fingerte in der Manteltasche nach dem kleinen goldenen Kreuz, das Rose ihr vor ihrer Abreise gegeben hatte.
„Trag es ganz nah an deinem Herzen und denk dabei an mich. Irgendwann werden wir uns wiedersehen, das weiß ich.“
Nun, als Kriegswitwe mit einem Baby, flehte sie Grace in ihren Briefen an, nach Kanada zu kommen. Aber Verantwortung für ihre kränkliche Mutter und die Unsicherheit solch einer langen Überfahrt während des Kriegs hatten Grace lange Zeit davon abgehalten, Sussex zu verlassen. Als jedoch die Reisewarnungen aufgehoben wurden, bestand ihre Mutter darauf, dass Grace nach Kanada fuhr und Rose wieder nach Hause holte. Die Hoffnung, ihren ersten Enkelsohn zu sehen, war das Einzige, das sie noch am Leben hielt. Tante Violet hatte dankbarerweise zugestimmt, Mutter für diese Zeit bei sich aufzunehmen. Und so hatte Grace sich schließlich auf den weiten Weg zu ihrer Schwester gemacht.
Der Schrei einer Möwe brachte sie zurück in die Gegenwart. Der Wind in ihrem Gesicht und das Rauschen des Wassers gaben ihr ein Gefühl der Freiheit, das sie nie zuvor gespürt hatte. Freiheit von den Fesseln ihrer Heimatstadt, frei für die Abenteuer, nach denen sie sich schon lange sehnte, und frei – zumindest beinahe – von den Schuldgefühlen, die ihre Seele gefangen hielten. Grace betete, dass sich diese Ketten ein für alle Mal lösen würden, wenn sie ihrer Mutter ihren Enkelsohn nach Hause brächte. Dann könnte sie endlich ihren eigenen Träumen nachgehen. Dann wäre sie frei, ihre eigenen Ziele zu verfolgen.
Aber zuerst ging es um Rose.
„Na, wie wär’s mit einem Kuss für einen Soldaten, Schätzchen?“, durchschnitt eine raue Stimme die kühle Luft.
Als Grace die gelallten Worte vernahm, bekam sie Gänsehaut. So spät allein auf dem Deck zu sein, verschlimmerte die Situation nur. Denn neben den einfachen Passagieren waren auf dieser Überfahrt auch einige Soldaten an Bord, die nach Kanada zurückkehrten. Obwohl sich die Matrosen sehr darum bemühten, dass sich die zwei Gruppen nicht begegneten, ließen sich manche der Soldaten nicht so einfach einpferchen. Die meisten von ihnen waren respektvolle Männer, doch der Kapitän hatte den Frauen dazu geraten, nach Einbruch der Dunkelheit besser unter Deck zu bleiben.
Grace aber konnte in den muffigen, kleinen Kabinen nicht schlafen und sehnte sich nach der frischen Meeresluft, also war sie entgegen aller Ermahnungen allein an Deck gegangen. Jetzt nahm sie all ihren Mut zusammen und drehte sich zu dem uniformierten Soldaten um. „Meinem Mann würde es gar nicht gefallen, wie Sie mit mir reden, Sir. Lassen Sie mich bitte in Ruhe.“ Dann wandte sie sich wieder dem Wasser zu und hoffte, dass ihre zitternden Knie sie nicht verraten würden.
„Dein Mann, hm? Was für ein Mann würde seiner hübschen Frau erlauben, nachts auf einem Schiff voller Soldaten herumzulaufen? Allein?“
Eine schwere Hand legte sich auf ihre Schulter. Grace zuckte zusammen und versuchte, sich wegzudrehen, doch der Uniformierte zog sie näher an sich heran. Sein Atem stank nach Alkohol und Tabak. Das Kinn war von mehrtägigen Bartstoppeln bedeckt, die eine dicke rote Narbe auf der Wange jedoch nicht verdecken konnten.
Graces Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb. Warum hatte sie ihre Haare nur mit einem Tuch zusammengebunden, statt einen Hut aufzusetzen? So hätte sie wenigstens eine Hutnadel zur Verteidigung gehabt.
„Wenn Ihnen Ihre Hand noch etwas wert ist, nehmen Sie sie jetzt besser von der Dame. Sofort“, hörte Grace plötzlich von einer anderen männlichen Stimme hinter ihr.
Mürrisch drehte sich der Soldat um. „Kümmere dich um deinen eignen Kram, Kumpel. Die junge Dame und ich suchen hier ein wenig Privatsphäre, wenn du verstehst, was ich meine.“
Auch Grace drehte sich nun um und entdeckte einen großen Mann mit Filzhut und Trenchcoat. Völlig ungerührt von dieser Antwort stand er da, seine dunklen Augenbrauen finster zusammengezogen. Unter dem sauber rasierten Kinn war sein ruhiger Pulsschlag zu erkennen.
„Das wage ich stark zu bezweifeln, denn diese junge Dame ist meine Frau“, erwiderte er, ohne zu zögern.
Grace hingegen musste sich bei diesen Worten sehr zusammennehmen, damit ihr die Kinnlade nicht herunterfiel.
Der Soldat kniff die Augen zusammen. „Wenn du ihr Mann bist, wie kommt es, dass ich euch noch nie zusammen gesehen habe? Schon seit wir gestern an Bord gegangen sind, habe ich sie beobachtet. Und bisher war sie immer allein.“
Graces Herz schlug schneller. Seit wir an Bord gegangen sind? Verunsichert zog sie ihren Mantel enger um sich.
Doch der Fremde reagierte sofort. „Ich war in unserer Kabine. Der Wellengang hat mir zu schaffen gemacht. Aber jetzt geht es mir wieder besser“, sagte er, während er näher kam. „Ich schlage vor, Sie gehen besser zu den anderen Soldaten zurück. Und denken Sie gar nicht erst daran, irgendeine andere Frau hier an Bord zu belästigen“, drohte er und machte einen weiteren Schritt, wodurch er nun unmittelbar neben ihnen stand. Er überragte den Soldaten um einiges. „Habe ich mich klar ausgedrückt?“
Der Soldat betrachtete ihn einen Augenblick lang, als überlegte er, ob er eine Rauferei anfangen sollte. Verärgert spuckte er auf den Boden. „Den Versuch kannst du aber niemandem verbieten“, gab er dann mit einem humorlosen Lachen zurück, schob die Hände in die Hosentaschen und schlenderte davon.
Der Fremde stellte sich neben Grace, wandte den Blick aber erst zu ihr, als der Soldat nicht mehr zu sehen war. „Alles in Ordnung, Miss?“, erkundigte er sich freundlich.
„Ja, vielen Dank“, antwortete sie erleichtert. Erst jetzt spürte Grace, wie angespannt sie war. „Ich weiß Ihre Hilfe sehr zu schätzen.“
Der junge Mann stand ganz nah bei ihr und seine Augen strahlten Mitgefühl aus.
Danke, Herr, dass du mir einen Beschützer geschickt hast.
„Das war das Geringste, das ich tun konnte … für meine Frau“, sagte er mit einem Zwinkern und Grace hoffte nur, dass er die Hitze in ihren Wangen nicht bemerkte.
„Ich heiße Quinten Aspinall. Und wie es aussieht, sind wir nun Reisegefährten.“
„Grace Abernathy“, stellte auch sie sich vor und klappte ihren Mantelkragen hoch. „Ich hätte hier vermutlich nicht allein hochkommen sollen, aber ich musste einfach aus der Kabine raus. Nicht mehr lange und mir wäre die Decke auf den Kopf gefallen, ganz zu schweigen davon, dass meine Zimmergenossin außerordentlich laut schnarcht.“
„Aus demselben Grund bin auch ich hier oben.“
„Quinten?“, rief nun eine weibliche Stimme hinter ihnen. „Stimmt etwas nicht?“
Jetzt erst erblickte Grace eine junge Frau im Schatten. Stirnrunzelnd kam sie auf die beiden zu. Sie hatte makellose Haut, tiefschwarzes Haar und auffallend blaue Augen. Ganz im Gegenteil zu Grace, die in ihrem schlichten grauen Mantel dastand, trug sie die neueste Mode: ein rotes Cape zu einem passenden rot gefederten Hut.
„Nein, alles in Ordnung, Emmaline.“
Grace blickte Quinten finster an. „Sie haben Ihre Frau zurückgelassen, um mir zu helfen?“
„Oh, das ist nicht mein Mann“, lachte Emmaline herzlich und trat einen Schritt auf ihn zu. „Wir haben uns gestern auf dem Schiff kennengelernt. Meine Begleitung hat sich noch nicht an den wackeligen Untergrund gewöhnt. Und als Quinten mich allein hier oben sah, hat er sich ganz galant als Beschützer angeboten, bis Jonathan sich wieder blicken lässt.“
Grace gab ihr Bestes, um ihr Erstaunen zu verbergen. Die junge Frau reiste in männlicher Begleitung? Wie ungewöhnlich.
„Wie es scheint, werden meine Dienste auch hier benötigt“, erklärte er und zwinkerte Grace zu. „Was halten Sie davon, für diese Fahrt eine Art Reisegemeinschaft zu bilden?“
„Wie meinen Sie das?“, scheute sich Grace nicht, ihre Skepsis zu äußern. Eine allein reisende Frau musste vorsichtig sein.
„In Gemeinschaft ist man immer sicherer als allein. Außerdem hätte ich auch nichts gegen ein paar Freunde an Bord.“
Emmaline lachte erneut. „Sagen Sie besser gleich zu. Er wird Sie sonst so lange bearbeiten, bis Sie nachgeben. Glauben Sie mir, ich spreche da aus Erfahrung.“ Dann streckte sie ihre Hand aus, die in einem feinen Handschuh steckte. „Ich bin Emmaline Moore. Und auch ich bin froh darüber, einen Freund an Bord zu haben.“
„Grace Abernathy“, erwiderte Grace lächelnd und schüttelte die Hand. Emmalines ansteckend gute Laune war wohltuend wie ein Heilmittel. Einen Augenblick lang zögerte Grace, dann bot sie ihre Hand auch Quinten an. „Also gut, Mr Aspinall. Wie es scheint, haben Sie soeben eine neue Freundin gefunden.“
„Freunde also. Und bitte nennen Sie mich doch Quinn.“
Hochspritzendes Wasser nässte das Deck und Quinn führte Grace und Emmaline an eine geschütztere Stelle. Er zeigte zu den Stühlen und fragte: „Warum setzen wir uns nicht und lernen uns ein wenig kennen? Es würde mich sehr interessieren, aus welchem Grund Sie nach Kanada reisen. Und warum Emmaline mit einem rätselhaften männlichen Begleiter unterwegs ist, mit dem sie weder verwandt noch verheiratet ist.“
„Das würde mich auch interessieren“, gestand Grace, die es sich gerade auf einem der Stühle bequem machte.
„Ach, das ist kein großes Geheimnis. Jonathan und ich sind zusammen aufgewachsen, wir sind wie Geschwister“, begann sie, als sie sich anmutig auf einen der anderen Liegestühle niederließ. „Als ich ihm von meinem Plan erzählte, nach Kanada zu fahren und nach meinem Vater zu suchen, bestand er darauf, mich zu begleiten. In getrennten Kabinen, versteht sich.“
„Welch ein Glück“, entgegnete Grace. „Ich wünschte, ich hätte auch jemanden, der mich begleitet.“
„Warum sind Sie denn auf der Reise, Grace?“, erkundigte sich Quinn, dessen eine Gesichtshälfte im Schatten lag.
„Ich besuche meine Schwester. Ihr Mann ist im Krieg gefallen, jetzt ist sie ganz allein mit dem Baby.“ Wieder fingerte Grace an dem goldenen Kreuz herum, das ihr um den Hals hing. „Ich hoffe, dass ich sie überzeugen kann, mit mir zurück nach Hause zu kommen.“
„Das tut mir sehr leid für Ihre Schwester“, bekundete Emmaline ihr Beileid und sah ehrlich betrübt aus. „Dieser Krieg hat unzählige Menschenleben gekostet.“
„Das ist wahr.“
Grace atmete die salzige Luft ein und wandte sich dann an Emmaline. „Sie haben gesagt, dass Sie nach Ihrem Vater suchen?“
„Ja. Das ist eine lange Geschichte …“, erwiderte sie und zog ihr Cape hoch bis ans Kinn. „Ich dachte all die Jahre, dass mein Vater tot sei. Als ich dann hörte, dass er lebt, und zwar in Kanada, musste ich mich einfach auf die Suche nach ihm begeben.“
„Das kann ich gut verstehen“, sagte Grace und dachte an die vielen Jahre ohne ihren eigenen Vater. Wenn es irgendeine Möglichkeit gegeben hätte, ihn lebend zu finden, wäre sie dafür sogar bis nach China gereist.
„Und was ist mit Ihnen, Quinn?“
Ein plötzlicher Windstoß drohte, seinen Hut wegzufegen. Schnell nahm er ihn ab und behielt ihn fortan auf seinem Schoß. „Meine Geschichte ist ähnlich, auch ich bin auf der Suche nach Familienmitgliedern. Nach Geschwistern, genauer gesagt.“ In seinen Augen lag ein stürmischer Blick und er biss die Zähne zusammen. „Aber mehr möchte ich darüber nicht erzählen.“
Grace befürchtete, dass es sich um eine leidvolle Geschichte handelte. Es schien, als hätte jeder auf dieser Reise seine eigenen Kümmernisse zu tragen. Trotz allem fühlte sie sich in diesem Moment zum ersten Mal nicht mehr allein, seit sie ihr Zuhause verlassen hatte. „Nun, ich bin jedenfalls dankbar, Sie als meine Reisegefährten zu haben. Und ich bete, dass wir in Kanada die Antworten finden, nach denen wir suchen.“
Quinn nickte, auch wenn sein Gesicht düster wirkte. „So Gott will. Ich hoffe nur, dass wir mit dem, was wir herausfinden, auch leben können.“
Grace zitterte und verbarg sich noch tiefer in ihrem Mantel, während sie sich fragte, was hinter dem seltsamen Tonfall seiner Worte steckte. Nur Gott wusste, was ihnen bevorstand. Im Angesicht einer solch unsicheren Zukunft blieb Grace nichts anderes übrig, als auf ihren Glauben zu bauen und zu vertrauen.
Meine liebe Grace,
April 1914
ich habe es geschafft! Ich bin in Toronto angekommen. Im April ist es hier immer noch kalt und der Frühling ist kaum zu erahnen. Aber Pastor Burke hat mir geholfen, eine hübsche kleine Pension mitten in der Stadt zu finden. Mrs Chamberlain, die Besitzerin, ist eine freundliche, großzügige Frau. Sie hat mich zusammen mit ein paar anderen Mädchen aus England unter ihre Fittiche genommen und mich sehr herzlich willkommen geheißen. Hier kann ich beinahe vergessen, dass ich Tausende Meilen von dir getrennt bin. Aber nur beinahe …
„Da wären wir, Miss. Das macht dann zwei Dollar fünfzig.“
Grace bezahlte und stieg aus dem Wagen. Hier stand sie nun, auf einem Bürgersteig in Toronto, ihre Reisetasche eng an sich gedrückt.
Sie konnte kaum glauben, dass sie nach einer sechstägigen Schifffahrt, einer Zugreise von Halifax nach Montreal und einer weiteren Zugfahrt von Montreal nach Toronto nun tatsächlich am Ziel angekommen war.
Die ersten Eindrücke von Kanada waren so unterschiedlich wie die drei Städte, die sie seit der Ankunft am Hafen von Nova Scotia gesehen hatte. Das kalte graue Halifax hatte immer noch einige Überreste des Winters gezeigt, dazu flächenweise mit Schnee bedeckte Landschaften. Montreal hingegen war ihr sehr fremd und etwas angsteinflößend vorgekommen. Überall standen große Gebäude und man hörte seltsames, blitzartig schnell gesprochenes Französisch. Und nun Toronto. Da sie sich noch nicht einmal eine Stunde in der Stadt befand, musste sich ihr Bild davon erst noch formen. Auf der Fahrt von der Union Station kam sie zunächst an einer skandalösen Mischung aus Gebäuden vorbei, von Bürotürmen bis zu historischen Kirchen, bis sie schließlich zu einer Wohnsiedlung mit dreispurigen Straßen gelangte.
Kaum zu glauben, dass noch keine drei Wochen vergangen waren, seit Grace sich zu Hause in Sussex um ihre Mutter gekümmert hatte und alles so normal erschien, wie es nach den Kriegsverwüstungen möglich war. Nur schlecht verarbeiteten sie und ihre Mutter die Nachricht vom Tod ihres Bruders Owen, der kurz vor Friedensschluss in einer der letzten Schlachten gefallen war. Ihre Mutter verkraftete die Nachricht gar nicht gut und fiel über diesen Verlust in eine tiefe Depression. Nichts, was Grace tat oder sagte, schien ihre Stimmung heben zu können.
Ein weiterer Grund dafür, weshalb ihr diese Reise so viel bedeutete.
Nun aber wandte Grace ihre Aufmerksamkeit dem roten Backsteinhaus vor sich zu. Es war nicht ansatzweise so spartanisch, wie sie es sich vorgestellt hatte. In diesem hübschen Haus fühlten sich Rose und das Baby sicher sehr wohl. An den Bäumen im Vorgarten grünten die ersten Blätter und ein einladender Blumentopf mit Stiefmütterchen stand auf der weißen Veranda. Darüber gab es einen Balkon, der über die gesamte Hausfront verlief und in der Mitte einen kleinen, überdachten Erker hatte. Wo Rose wohl wohnte? Womöglich im dritten Stock, wo ein ansprechendes Mansardenfenster aus dem Dach blickte.
Grace atmete tief ein und drückte ihre Hand auf den Magen, der immer noch rumorte, als befände sie sich auf See. Würde Rose wohl überrascht sein, sie vor ihrer Tür stehen zu sehen? Selbst wenn das Telegramm sie erreicht hatte, hätte sie nicht einschätzen können, wie lange Grace von Halifax nach Toronto brauchte.
Grace stieg die wenigen Stufen hoch und klopfte an der Eingangstür. Sie hoffte, dass Rose recht hatte und Grace ebenfalls bei Mrs Gardiner unterkommen könnte, bis die beiden sich etwas überlegt hatten. Rose schien ziemlich gut von der Frau zu denken, die sie und das Baby bei sich aufgenommen hatte, als sie nicht länger in der Pension hatten wohnen können. Aber eigentlich wollte Grace all diese Sorgen beiseiteschieben, zumindest für den Moment, und sich stattdessen auf das langersehnte Wiedersehen mit ihrer Schwester freuen. Vorfreude sprudelte durch ihren Körper. Sie konnte es kaum erwarten, endlich wieder bei Rose zu sein, zum ersten Mal ihren Neffen in den Armen zu wiegen und seine süßen Bäckchen zu küssen. Und natürlich war sie gespannt auf all die Geschichten und Neuigkeiten ihrer Schwester.
Einige Sekunden vergingen, ohne dass sich jemand rührte. War denn keiner zu Hause? Erneut klopfte Grace an der Tür, doch niemand öffnete ihr. Enttäuschung legte sich schwer auf ihre Schultern. Sie setzte die Reisetasche ab und schaute sich etwas um. Da entdeckte sie ein „Zum Verkauf“-Schild im Garten, das von einem dicken Baumstamm verdeckt wurde. Merkwürdig – Rose hatte gar nicht erwähnt, dass Mrs Gardiner plante, das Haus zu verkaufen. Vielleicht war das aber der Grund, weshalb Rose gern eine eigene Unterkunft suchen wollte, sobald Grace einen Job gefunden hatte.
Bei diesem Gedanken musste Grace schwer schlucken und spürte den metallischen Geschmack von Schuld. Sie hatte Rose verschwiegen, dass sie gar nicht vorhatte, eine Arbeit zu suchen oder selbst etwas zu mieten. Vielmehr wollte sie alles dafür tun, mit dem nächsten Schiff gemeinsam mit Rose und dem Kleinen zurück nach Sussex zu fahren.
Nach einem weiteren unbeantworteten Klopfen nahm Grace die Reisetasche wieder an sich und ging die Treppe herunter zur Straße. Erschöpft dachte sie über einen neuen Plan nach, doch sie war ratlos. Sie hatte nicht einmal an die Möglichkeit gedacht, dass Rose bei ihrer Ankunft nicht hier sein könnte.
In diesem Moment kam aus dem Haus nebenan eine Frau auf die Veranda. Vielleicht wusste sie ja etwas über Rose oder ihre Vermieterin. Also überquerte Grace den Rasen und ging auf sie zu.
Die Frau im blumigen Kleid war gerade dabei, einen Teppich auszuklopfen. Als sie Grace sah, schaute sie auf. „Guten Tag. Kann ich Ihnen helfen?“
Grace setzte ihr freundlichstes Lächeln auf. „Das hoffe ich. Ich bin auf der Suche nach Mrs Gardiner. Aber sie scheint nicht zu Hause zu sein.“
Da unterbrach die Frau ihre Arbeit und sagte: „Vermutlich haben Sie es noch nicht gehört. Mrs Gardiner ist nach Vermont gezogen, um bei ihrer Tochter zu leben. Bis das Haus verkauft ist, werfe ich ein Auge darauf.“
Nach Vermont gezogen? Aber was war mit Rose und dem Baby? Sicherlich hatte sie sie nicht einfach auf die Straße gesetzt. „Wissen Sie denn, ob Rose Ab… – ich meine Easton, Rose Easton – noch hier wohnt? Sie und ihr Baby leben seit einigen Monaten bei Mrs Gardiner zur Untermiete.“
Die Frau überlegte einen Moment. „Ich kann mich an eine Frau mit Baby erinnern, ja. Aber leider weiß ich nicht, was aus ihnen geworden ist, nachdem Cora krank wurde. Tut mir leid. Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, Miss. Aber warum versuchen Sie es nicht mal bei Pastor Burke, dem Pfarrer der Holy Trinity Church? Er hat die beiden damals sehr oft besucht. Vielleicht weiß er ja, wo sie jetzt sind.“
„Vielen Dank. Das werde ich tun“, erwiderte Grace zuversichtlich und biss sich sogleich auf die Unterlippe, als sie bemerkte, dass sie gar nicht wusste, wie sie den Pastor finden sollte. „Könnten Sie mir vielleicht noch sagen, wie ich zu der Kirche komme?“
„Die ist etwa zehn Häuserblocks von hier entfernt“, erklärte die Frau und zeigte zur nächsten Kreuzung. „Gehen Sie einfach immer die Sherbourne Street entlang. Dann können Sie sie nicht verpassen.“
Grace hielt einen kleinen Seufzer zurück. Zehn Blocks klang nicht gerade nah, aber vielleicht war ein wenig Bewegung nach den langen Zugfahrten genau das Richtige. „Danke noch mal“, sagte sie und ging los.
Mit der Zeit sahen die Straßen etwas stadttypischer aus und füllten sich mit Menschen. Alle gingen sehr zügig und drängelten sich an Grace vorbei, die sich bemühte, Schritt zu halten. Eine kleine Welle von Heimweh überkam sie und sie sehnte sich nach den geordneten Straßen ihres Dorfes. Dort war das einzige mögliche Hindernis für einen Fußgänger der Schubkarren eines Bauern, der von einem sturen Esel nur langsam vorangezogen wurde.
Beim Kampf durch die Straßen der unbekannten Stadt plagte Grace die Sorge um ihre Schwester. Was mochte ihr und dem kleinen Christian wohl geschehen sein? Sicherlich hatte Pastor Burke ein neues Zuhause für sie gefunden. Vielleicht bei einer anderen liebenswürdigen Frau aus seiner Gemeinde.
Schließlich zeichnete sich vor ihr ein Kirchturm ab, und als Grace nah genug war, um das Schild lesen zu können, war sie erleichtert. Tatsächlich war sie an der Holy Trinity Church angekommen. Schnell scherte Grace aus dem Menschenstrom aus und lief auf den Kirchenvorhof.
Würde an einem Mittwochnachmittag überhaupt jemand da sein? Sie drehte am Türknauf der großen Holztür und trat ein. Sobald sich ihre Augen ans Halbdunkel des Inneren gewöhnt hatten, ging sie ein paar Schritte weiter und suchte mit ihrem Blick die Bankreihen ab. Vereinzelt saßen Frauen auf den Bänken, doch einen Pfarrer konnte Grace nicht ausmachen. Gerade wollte sie wieder gehen, als ihr jemand auf die Schulter tippte. „Kann ich Ihnen helfen, Miss?“
Als Grace sich umwandte, stand vor ihr eine freundlich dreinblickende Frau, die sie mit unverhohlener Neugierde ansah.
„Ja, vielleicht. Wissen Sie, wo ich Pastor Burke finden kann?“
„Zu dieser Tageszeit vermutlich bei sich zu Hause.“
„Ach ja, natürlich“, erwiderte Grace und kam sich etwas dumm vor. Sie wusste auch nicht, wie man vorging, wenn man einen Pfarrer zu Hause aufsuchen wollte; aber da sie unmöglich bis Sonntag warten konnte, blieb ihr nichts anderes übrig.
„Möchten Sie, dass ich Sie zum Pfarrhaus begleite?“, bot die nette Frau mit einem Lächeln an.
„Oh, sehr gern. Wenn es Ihnen nichts ausmacht.“
„Überhaupt nicht. Es ist gleich da vorne, folgen Sie mir.“
Sie führte Grace zu einem kleinen Häuschen neben der Kirche, das etwas versteckt von der Straße abgewandt war. Die Frau ging zur Tür und klopfte.
Als sie sich öffnete und ein älterer, leicht zerknitterter Mann im Türrahmen erschien, war Grace sehr erleichtert.
Sein Blick wanderte von der einen Frau zur anderen. „Mrs Southby. Das ist aber eine unerwartete Überraschung“, sagte er und zog fragend seine Augenbrauen hoch.
„Die junge Dame hier würde gerne mit Ihnen reden, Pastor. Da habe ich sie kurz herübergebracht“, erklärte sie.
Der Pfarrer schaute zuerst auf Graces Reisetasche und dann zu Grace selbst. „Sind Sie wegen unseres Einwandererprogramms hier?“
„N-nicht direkt“, stotterte Grace und ihre Zunge schien wie verknotet, als sie nach passenden Worten suchte. Sie hatte auf eine etwas weniger öffentliche Atmosphäre gehofft und war nicht sehr erpicht darauf, vor der Tür des Pfarrers mit der Sprache herauszurücken.
„Einen Moment, bitte“, bat er. „Lassen Sie mich nur kurz meine Jacke holen und dann gehen wir in mein Büro.“
„Hier sind Sie auf jeden Fall an der richtigen Stelle. Pastor Burke ist schon für viele Zugezogene in diesem Land ein wahres Himmelsgeschenk gewesen. Ich bin mir sicher, dass er auch Ihnen helfen kann“, sagte Mrs Southby und lächelte erneut.
Keine fünf Minuten später verabschiedete sich Pastor Burke von Mrs Southby und bot Grace einen Platz in seinem Büro an. Er selbst setzte sich auf einen hölzernen Stuhl hinter dem vollgestellten Schreibtisch. „Nun, was kann ich für Sie tun?“
An der Wand hing eine Kuckucksuhr, die gerade die volle Stunde verkündete. Der Lärm zerrte an Graces Nerven. Erst jetzt bemerkte sie, wie müde sie von der Reise war – oder schlicht überfordert vom unerwarteten Ausgang ihrer Ankunft.
„Wie kann ich Ihnen helfen, Miss?“, fragte Pastor Burke noch einmal.
„Mein Name ist Grace Abernathy und ich bin Rose Eastons Schwester“, begann sie und merkte, wie sich das Lächeln des alten Mannes auf der Stelle löste. Tiefe Sorge spiegelte sich in seinen Augen wider.
„O meine Liebe. Mein Telegramm hat Sie wohl nicht erreicht?“
„Ihr Telegramm?“ Das Wort lief Grace eiskalt den Rücken herunter und ließ sie all das vergessen, was sie gerade hatte sagen wollen.
„Ja. Ich habe es zu Ihrer Mutter nach England geschickt“, erklärte der Pastor besorgt.
Der plötzliche Wunsch davonzurennen kam in Grace hoch, aber ihre Füße schienen am Boden festzukleben. „Uns hat nichts erreicht, nein. Ich bin gekommen, weil Rose mich hergebeten hat.“
Der Pastor stand auf, kam um den Tisch herum und setzte sich neben Grace auf einen Stuhl. „Nun, wie soll ich das sagen …“, begann er und schwieg einen Moment, bevor er weitersprach. „Rose war an der Spanischen Grippe erkrankt. Es tut mir leid, aber sie ist vor etwa drei Wochen gestorben. Alles kam ganz unerwartet und ging sehr schnell …“
Grace war, als schnürte sich ihr Hals zusammen. „Nein“, flüsterte sie, „das kann nicht sein. Das hätte jemand … Das würde ich wissen …“
Traurig schüttelte der Pastor den Kopf. „Ich habe das Telegramm losgeschickt, so schnell ich konnte. Es ging an den Postmeister Ihrer Stadt. Ich weiß nicht, warum Sie es nicht erhalten haben.“
Grace versuchte sich zu erinnern, wo sie vor drei Wochen gewesen war. Das war ungefähr zu der Zeit, als Mutter zu Tante Violet gezogen war, um während Graces Abwesenheit nicht allein zu sein.
„Ich … das … nein, das kann nicht sein.“ Grace legte ihre Hand vor den Mund, um das Zittern der Lippen zu kontrollieren. „Ich sollte Rose doch wieder nach England bringen! Zu unserer Mutter.“ Der Gedanke daran, dass ihre Mutter diese schreckliche Nachricht erreichen würde, ohne dass Grace für sie da wäre, ließ heiße Tränen in Grace aufsteigen.
„Es tut mir so schrecklich leid, Miss.“ Eine warme Hand drückte ihr leicht die Schulter.
Apathisch starrte sie auf ein kleines Loch in einer der Holzdielen.
All die Pläne, ihre Familie wieder zu vereinen, Rose und den Kleinen nach Hause zu holen, lösten sich in Luft auf. Mit zittrigen Händen holte Grace ein Taschentuch hervor und wischte sich über die nassen Augen. „Was soll ich denn jetzt nur tun?“, flüsterte sie. „Ich hatte vor, mit Rose bei Mrs Gardiner zu wohnen. Sie wollte, dass wir endlich wieder zusammen sind …“, sagte sie und ein Schluchzen wurde laut.
„Das alles muss ein entsetzlicher Schock für Sie sein“, entgegnete der Pfarrer ruhig. Er ging zur Anrichte und schenkte ein Glas Wasser ein, das er Grace reichte. „Darf ich vorschlagen, dass ich Sie zunächst einmal zu meiner Freundin, Mrs Chamberlain, bringe? Sie führt die Pension, in der auch Rose direkt nach ihrer Ankunft untergebracht war. Ich bin mir sicher, dass Harriet einen Platz für Sie hat, bis Sie entschieden haben, wie es weitergehen soll.“
Wegen der tränenverschleierten Augen konnte Grace kaum etwas sehen, sie blinzelte nur. Die Gedanken in ihrem Kopf rasten, ohne dass sie Pastor Burkes Worte wahrnahm.
Er musste ihr Schweigen als Zustimmung verstanden haben, denn er nickte und ging zum Telefon. „In Ordnung. Ich werde Harriet anrufen und ihr Bescheid geben, dass wir gleich kommen.“
Grace nippte am Wasser und rang um Fassung. Mitten in diesem Moment der Trauer und Überforderung wurde eine Frage in ihr laut: Warum hatte Gott sie den ganzen Weg nach Kanada geführt, nur damit sie erfuhr, dass ihre Schwester nicht mehr lebte? Dass der kleine Christian seine Mutter verloren hatte?
Nur langsam kam Grace gedanklich wieder in die Gegenwart zurück und bemerkte, wie fest sich ihre Finger um das Glas klammerten.
„Was ist mit dem Baby? Es ist nicht in ein Kinderheim gekommen, oder?“, fragte sie. Unmöglich konnte sie zulassen, dass ihr Neffe an solch einem Ort groß würde. Er gehörte zur Familie – oder zu dem, was davon noch übrig war.
Pastor Burke hielt inne, den Telefonhörer in der Hand. „Machen Sie sich keine Sorgen. Christian geht es gut“, versicherte er ihr, aber sein schuldvoller Gesichtsausdruck überzeugte Grace nicht.
„Wer kümmert sich um ihn? Jemand aus der Kirche?“ Mrs Gardiner konnte es nicht sein, wenn sie nach Vermont gezogen war. Graces Hände zitterten so sehr, dass sie etwas Wasser verschüttete, als sie das Glas auf dem Schreibtisch abstellte. „Sagen Sie es mir. Dann kann ich ihn gleich abholen gehen.“
Grace wusste zwar nicht, wie man ein Kind versorgte, aber das würde sie noch schnell genug lernen. Auf jeden Fall wäre Christian bei ihr sicher. Und bei seiner Familie.
Mit einem entschuldigenden Schulterzucken legte der Pfarrer den Hörer zurück. „Wenn ich nicht binnen vierundzwanzig Stunden einen Angehörigen gefunden hätte, der sich um Christian kümmert, hätte die Krankenhausleitung das Jugendamt verständigen müssen. Und da Sie und Ihre Mutter so weit weg waren, hatte ich keine Wahl.“
Ein schreckliches Gefühl kam in Grace auf und ihr Magen zog sich zusammen. Bitte nicht die gefürchteten Schwiegereltern von Rose! Diejenigen, die ihren eigenen Sohn dafür enterbt hatten, dass er sich für sie entschieden hatte. Diejenigen, vor denen Rose das Kind unbedingt hatte verstecken wollen, nachdem ihr Mann gestorben war.
Sie straffte den Rücken und forderte mit fester Stimme: „Sagen Sie mir, wo er ist.“
„Ich habe das Einzige getan, was ich tun konnte. Ich habe seine Großeltern informiert.“ Ein bedauernder Blick legte sich auf sein Gesicht. „Christian lebt nun bei den Eastons.“
Als Andrew Easton das Kinderzimmer im zweiten Stock betrat, musste er sich ein Grinsen verkneifen: Seine sonst eher zurückhaltende Schwester lehnte über der Wiege und zog aberwitzige Grimassen, um den kleinen Neffen zum Lachen zu bringen.
„Pass bloß auf, Ginny. Nicht dass dein Gesicht dabei einfriert!“, warnte Andrew sie, als er lachend ins Zimmer kam.
Abrupt hob Virginia den Kopf und zwei leuchtend rote Wangen zierten ihr Gesicht. „Wie lange stehst du da schon?“
„Lange genug, um dich schielen gesehen zu haben.“
„Hmm…“, rümpfte sie die Nase und eine dunkle Haarlocke fiel ihr ins Gesicht. „Christian gefällt es jedenfalls. Mit strahlenden Augen hat er mich angelächelt. Nicht wahr, mein Süßer?“, sagte Virginia und nahm den Kleinen aus der Wiege. Als sie ihm ein Küsschen auf die Wange geben wollte, packte er kräftig nach ihrer Nase.
„Aua! Dafür, dass du noch so klein bist, hast du schon ganz schön viel Kraft“, beschwerte sie sich und nahm ihn auf den anderen Arm. Dann wandte sie sich Andrew zu. „Und was führt dich hierher, Drew, mitten am Tag? Solltest du nicht auf der Arbeit sein?“
„Heute arbeite ich von zu Hause aus und deshalb wollte ich mal eben nach unserem Neffen schauen“, antwortete er und kam zum Kinderbett. „Meinst du, er hat sich schon an sein neues Zuhause gewöhnt?“, fragte er. Seit drei Wochen lebte Christian nun bei ihnen. Andrew konnte sich nicht vorstellen, wie schrecklich es für ein Kind sein musste, noch als Baby zum Waisen geworden zu sein.
Franks Sohn hatte ein glückliches und sorgloses Leben verdient. Und als sein neuer Vormund fühlte Andrew sich dazu verpflichtet, ihm dieses zu bereiten.
Virginia gab ihm das Baby und öffnete Vorhang und Fenster. „Ja, ich glaube, Christian ist dabei, sich an uns zu gewöhnen. Nachts wacht der Arme aber immer noch weinend auf. Vermutlich schreit er nach seiner Mama“, mutmaßte sie und streichelte ihm über den Kopf. „Ich wünschte, Frank hätte ihn wenigstens einmal sehen können.“
„Ich auch. Er wäre so stolz auf ihn“, erwiderte Andrew traurig. Der Tod ihres Bruders machte ihnen allen zu schaffen.
Virginia seufzte. „Wäre seine Frau nach seinem Tod doch bloß zu uns gekommen. Vielleicht …“
Andrew schüttelte den Kopf. Ginny wusste genau, dass ihr Vater so etwas niemals zugelassen hätte. Nicht, solange er in Rose Abernathy den Grund für Franks „gescheitertes Leben“ sah. „Es bringt nichts, sich das Unmögliche zu wünschen, Gin. Lass uns einfach froh darüber sein, dass wir Christian haben. Und mit ihm können wir versuchen, die Dinge wiedergutzumachen. Wir werden unser Bestes geben, damit er eine glückliche Kindheit hat.“
„Darüber wollte ich sowieso noch mit dir reden“, entgegnete Virginia, als sie den Kleinen wieder an sich nahm.
„Worüber genau?“
„Ich habe über meine Pläne für den Sommer nachgedacht und …“, sie holte tief Luft, bevor sie weitersprach. „Und entschieden, meine Reise abzusagen.“ Ein wenig nervös wagte sie es kaum, ihren Bruder anzusehen. Nach einem flüchtigen Blick zu ihm, wandte sie sich schnell wieder dem Baby zu, lockerte eine Haarsträhne, nach der es gerade griff, und setzte sich auf den Schaukelstuhl.
Andrew folgte ihr und suchte auf Virginias Gesicht nach einem Hinweis, der ihren plötzlichen Meinungswechsel erklären konnte. Hatte es wirklich mit Christian zu tun? Oder verbarg sie etwas ganz anderes vor ihm?
„Du hast Basil versprochen, ihn und seine Familie nach Europa zu begleiten. Sie werden sehr enttäuscht sein, wenn du dich jetzt umentscheidest.“
„Aber ich werde doch hier gebraucht. Ich kann Christian nicht auch noch verlassen, wo er sich gerade an mich gewöhnt. Das wäre einfach zu grausam.“
Grausam war wirklich kein passendes Attribut für Virginia. Andrew kannte kaum eine fürsorglichere junge Frau als seine Schwester.
„Kinder stellen sich schnell auf neue Situationen ein“, entgegnete Andrew beschwichtigend. „Und ein Kindermädchen steht ganz oben auf meiner Liste. Sobald wir jemand Passendes gefunden haben, könnt ihr euch gemeinsam um ihn kümmern und Christian kann sich ganz langsam umgewöhnen, bevor du tatsächlich fährst.“
Tränen standen in Virginias Augen und betonten die kleinen goldenen Flecken darin. „Ich kann ihn nicht einfach zurücklassen. Er hat sich schon längst in mein Herz gestohlen. Wenn Basil doch nur in Betracht ziehen würde …“
„Ginny“, unterbrach Andrew sie und beugte sich zu ihr herunter. „Ich weiß, wie sehr du Christian liebst. Aber du kannst nicht einfach dein Leben für ihn aufgeben.“
„Warum denn nicht?“, fragte sie herausfordernd. „Hast du nicht genau dasselbe vor?“
„Nein, habe ich nicht. Ich kümmere mich um Hilfe, und falls ich heiraten sollte …“ Warum brachte ihn das Thema Ehe jedes Mal ins Zögern? „Wenn ich heirate“, sagte er nun mit kräftigerer Stimme, „werden meine Frau und ich die Rolle seiner Eltern übernehmen. So kann Christian mit ein und demselben Kindermädchen aufwachsen.“ Er gab sich Mühe, ein Lächeln aufzusetzen. „Das wird das Beste für ihn sein. Hab nur Geduld.“
Virginia stützte ihr Kinn auf Christians Kopf ab. „Ich hoffe, du hast recht. Auch wenn ich mir zurzeit nicht vorstellen kann, dass es für mich etwas Besseres geben kann als Christian“, gestand sie und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Der schwermütige Ausdruck darin versetzte Andrews Herz einen Stich.
„Geht es hier wirklich um Christian?“, fragte er besorgt. „Oder eher um Basil und dich?“ Dass seine Schwester über die Verbindung mit Basil nicht so erfreut war wie ihr Vater, hatte Andrew bereits bemerkt. Und doch bezweifelte er, dass Virginia sich jemals gegen ihren Vater stellen würde. Nicht nach dem Desaster, das Frank damit ausgelöst hatte.
Bedrückt schaute sie zu Boden. „Womöglich ist es beides.“
„Das solltest du besser klären, bevor du ihm dein Jawort gibst, Ginny. Vorausgesetzt, dass er überhaupt den Mut findet, dich endlich zu fragen“, sagte er mit einem Grinsen. „Aber jetzt entschuldige mich bitte. Ich muss mich darum kümmern, dass unsere Annonce für ein Kindermädchen noch eine Woche länger in der Zeitung erscheint.“ Und damit stand er auf, gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn und ging zur Tür.
„Drew?“
„Ja?“
„Lass dir ruhig noch etwas Zeit mit dem Kindermädchen. Bis zu meiner Abreise sind es noch acht Wochen. Davon möchte ich den Kleinen so lange wie möglich für mich haben.“
Ihre Bitte, untermalt von dem harmonischen Bild, das die beiden auf dem Schaukelstuhl abgaben, berührte Andrew. Eines Tages wird sie sicherlich eine wundervolle Mutter sein, dachte er. Bedauerlich, dass Basil nicht merkte, wie viel es Virginia bedeuten würde, Christian großzuziehen. Und das wäre nicht nur für das Baby das Beste, sondern auch für Andrew: Damit hätten seine Debatten mit Celia auch ein Ende gefunden.
„Keine Sorge. Dir wird noch genug Zeit mit ihm bleiben. Ein Kindermädchen zu finden, das Mutters Ansprüchen gerecht wird, ist schwerer als gedacht“, erklärte Andrew mit einem Zwinkern und zog die Tür hinter sich zu.
Auf dem Weg die Treppe hinunter betete er, dass Gott ihm das richtige Kindermädchen schicken würde. Eine Frau, die dem Kleinen all die Liebe und Fürsorge schenken würde, die er verdiente.
Nach einem kurzen Halt bei der Zeitung fuhr Andrew mit seinem Wagen in Richtung Easton Towers Hotel. Wie sehr er diese Stadt liebte. Das Zusammenspiel aus Alt und Neu war wie eine Quelle der Inspiration. Als er an der Universität vorbeifuhr, überkam ihn die Nostalgie: Selbst mehrere Jahre nach seinem Abschluss fehlte ihm die Zeit auf dem Campus und das kameradschaftliche Miteinander. Doch mit Kriegseintritt war diese unbeschwerte Zeit jäh beendet worden. Woher hätte Andrew auch wissen sollen, dass sich sein Leben damit vollständig verändern würde?
Wenige Minuten später stellte er den Wagen vor dem Hotel ab und ging mit leicht geschwellter Brust in die Lobby. Die Easton Towers waren der Inbegriff von Eleganz und Oscar Eastons ganzer Stolz. Manchmal kam es Andrew sogar vor, als bedeutete seinem Vater das Hotel mehr als die eigene Familie. Nichtsdestoweniger musste auch Andrew zugeben, dass ihnen damit eine außerordentliche Unternehmung gelungen war.
Auf dem Weg zum Aufzug, der ihn bis in den zehnten Stock zu den Büroräumen brachte, begrüßte er das Empfangspersonal mit einem Nicken. Oben angekommen klopfte er an der Tür seines Vaters und wartete auf eine Reaktion, bevor er das opulente Zimmer betrat.
„Guten Tag, Vater.“
„Andrew, wie gut, dass du gerade kommst“, entgegnete ihm sein Vater, als er den Blick vom Schreibtisch hob. „Mir ist gar nicht aufgefallen, dass du heute Vormittag nicht hier warst. Ist alles in Ordnung?“
Vom freundlichen Ton dieser Worte ließ Andrew sich nicht hinters Licht führen. Die verborgene Kritik darin – Warum warst du nicht an deinem Schreibtisch?– nahm er deutlich wahr.
„Ich habe heute Morgen von zu Hause aus gearbeitet. Ein Umgebungswechsel fördert die Produktivität“, antwortete er betont locker und ging die Fensterfront entlang, die einen wunderschönen Blick auf den Stadtkern eröffnete. Wenn er weit geradeaus schaute, konnte er beinahe erkennen, wie die Sonnenstrahlen auf dem Ontariosee glitzerten. Wie lange war es her, dass er dort zum letzten Mal am Strand gelegen hatte? Oder mit dem Boot über das Wasser gefahren war? Jetzt, wo das gute Wetter endlich da war, sollte er solchen Freizeitaktivitäten mehr Zeit einräumen.
Als Andrew sich umdrehte, bemerkte er das Stirnrunzeln seines Vaters. Durch die Deckenleuchte glänzten die einzelnen silbernen Strähnen in seinem sonst dunklen Haar. Zweifelsohne eine Folge der jüngsten Ereignisse.
„Lass das nicht zur Gewohnheit werden. Du wirst hier gebraucht.“
Einen Moment später zog er eine Augenbraue hoch, als wäre ihm gerade etwas eingefallen, und sah dabei genauso aus wie Frank. Mit seinem dunklen Haar war Andrews großer Bruder ihrem Vater zum Verwechseln ähnlich gewesen. Andrew hingegen hatte äußerlich mehr von seiner Mutter. Vielleicht war das auch der Grund, warum sein Vater immer schon Frank bevorzugt hatte – er war sein perfektes Spiegelbild gewesen, das Oscar Eastons Selbstbewusstsein stärkte. Insbesondere dann, wenn er mit seinem Charme selbst den letzten Idioten um den Finger wickelte.
Sein Vater lehnte sich zurück. „Gibt es schon Neuigkeiten bezüglich eines Kindermädchens?“
Christians Ankunft in der Familie war für alle eine große Überraschung gewesen, aber Andrews Vater schien besonders damit zu kämpfen. Andrew vermutete, dass das Baby Schuldgefühle in ihm aufkommen ließ: darüber, wie er seinen Sohn verleugnet hatte, und vor allem darüber, wie forsch er dessen Frau gegenübergetreten war.
Für Andrew hingegen war Christian ein Geschenk des Himmels. Er hoffte, dass er die klaffende Lücke füllte, die Franks Tod hinterlassen hatte, und die Eastons als Familie wieder mehr zusammenbringen würde.
„Bisher haben wir noch niemanden gefunden. Mutters Ansprüche schüchtern die Kandidatinnen ganz schön ein. Aber heute Morgen habe ich die Ausschreibung ein wenig umformuliert und auf dem Weg hierher zur Zeitung gebracht.“
„Gut“, erwiderte Oscar nun etwas weniger kritisch. „Sobald der Junge gut umsorgt ist, kann auch ich wieder beruhigt sein. Ich möchte nicht, dass er deiner Mutter zu viel Arbeit bereitet oder gar einen gesundheitlichen Rückschlag bedeutet.“
Andrew verkniff sich ein Seufzen – wenn sein Vater doch bloß erkannte, dass genau das Gegenteil der Fall war. Der kleine Christian bewahrte seine Großmutter davor, in ihrer Trauer über Franks Tod zu versinken.
„Jetzt aber haben wir Wichtigeres zu besprechen“, unterbrach Oscar Andrews Gedanken, als er plötzlich aufstand und seine Weste zurechtrückte.
„Und das wäre?“, fragte Andrew nichts ahnend.
„Cecilias Geburtstag. Die Abendgesellschaft bei den Carmichaels morgen.“
„Was ist damit?“
„Ich hoffe, dass du daran teilnehmen wirst. Du musst schließlich deine Absichten verteidigen. Glaube mir, es gibt genügend andere Männer, die gern an deine Stelle treten würden.“
Andrew unterdrückte das Verlangen, mit den Augen zu rollen. „Ich werde dort sein, keine Sorge. Celia hat mir schon gesagt, wann ich kommen soll.“
„Wunderbar.“ Zufriedenheit lag in Oscars Stimme, als er weitersprach: „Es freut mich sehr, dass du und Harrisons Tochter so gut miteinander auskommt. Sicherlich werdet ihr bald eure Verlobung bekannt geben?“
Wütend ballte Andrew seine Hände zu einer Faust, löste sie aber gleich wieder. „Ganz im Gegenteil. Ich gehe das langsam an, Vater.“
„Die Zeit rennt, Andrew. Wenn du nicht aufpasst, kommt dir noch jemand zuvor. Eine Schönheit wie Cecilia, die zudem auch noch klug ist, ist selten.“
„Das weiß ich. Trotzdem möchte ich mir wirklich sicher sein, bevor ich mich auf etwas so Ernstes einlasse wie eine Ehe.“
Oscar schenkte sich gerade auf der Anrichte eine Tasse Kaffee ein, hielt dann aber inne. „Sicher sein worüber?“
„Dass sie nicht immer noch in Frank verliebt ist.“ Andrew merkte, wie bei diesem Gedanken Eifersucht in ihm hochkam. Würde er sich je damit abfinden können, dass Celia sich einst für Frank entschieden hatte? Wenn er damals nicht der koketten Engländerin begegnet wäre, hätte er ihre Verlobung auch nicht aufgehoben und Celia wäre jetzt Franks Ehefrau. Das konnte Andrew nicht so einfach vergessen. Überdies machte ihn ihr plötzliches Interesse stutzig. Früher hatte sie ihn kaum beachtet.
Jetzt trat sein Vater neben ihn und legte die Hand auf Andrews Schulter. „Das ist deine Chance, Andrew, dich noch ein letztes Mal für deinen Bruder einzusetzen. Wenn du Cecilia heiratest, stellst du damit die gute Beziehung zwischen den Eastons und den Carmichaels wieder her.“ Und mit leicht zusammengekniffenen Augen ergänzte er: „Du warst immer schon ein Mann von Integrität. Mehr noch als dein Bruder, wie sich herausgestellt hat.“
Dieses Kompliment hörte Andrew gern. Und doch fühlte es sich nicht richtig an, hatte einen sauren Beigeschmack. Warum musste Frank erst sterben, damit ihr Vater Andrew lobte? „Ich weiß, was auf dem Spiel steht, Vater. Aber ich werde nichts überstürzen.“
Für mehrere Augenblicke betrachtete der Vater seinen Sohn stillschweigend. „Ich glaube, es ist an der Zeit, dich über einen Plan zu informieren, über den Harrison und ich in Verhandlung stehen“, sagte er schließlich. Er zeigte in Richtung der zwei Sessel, die an einem Tisch standen, und die beiden setzten sich. „Was ich dir jetzt erzähle, muss allerdings unter uns bleiben“, begann er und nahm sich eine Zigarre aus der Box. „Harrison denkt darüber nach, sich mit uns zusammenzuschließen, um eine Hotelkette zu eröffnen. Mit dem Geld seiner Entwicklungsfirma im Rücken hätten wir alles, was wir bräuchten, um mehrere neue und sogar noch größere Hotels aufzumachen. Wir haben uns bereits ein paar infrage kommende Objekte in Ottawa und Winnipeg angesehen. Vielleicht können wir sogar bis nach Vancouver gehen.“
Andrew strich sich besorgt mit der Hand durch den Bart. „Ist das wirklich der richtige Zeitpunkt für solch eine Veränderung? Die Wirtschaft ist durch den Krieg immer noch geschwächt. Leute gehen nicht auf Reisen, wenn sie kaum genug Geld zum Überleben haben. Ich halte das für ein sehr waghalsiges Vorhaben.“
„Vielleicht. Vielleicht zeugt es aber auch von zwei Männern mit einer Vision, die einen mutigen Schritt wagen und sich die Unsicherheit der anderen zu eigen machen“, erwiderte er selbstbewusst und zündete genussvoll die Zigarre an, mit der er kleine Rauchkringel formte. „Wenn alles funktioniert, brauche ich jemanden, der die Hotels an den neuen Standorten betreut. Wer wäre dafür besser geeignet als du? Dir kann ich blind vertrauen, du hast immer schon an meiner Seite gearbeitet und das Unternehmen kennst du in- und auswendig.“
Überrascht rutschte Andrew auf dem Sessel herum und konnte kaum glauben, was sein Vater soeben gesagt hatte.
„Und wenn du Cecilia heiratest, wäre das das Sahnehäubchen auf der Torte. Das würde die beiden Familien noch viel enger und anhaltender miteinander verbinden. Und Harrisons Beteiligung garantieren.“
Sofort lief es Andrew eiskalt den Rücken herunter. „Willst du meine Ehe wirklich als Schmiergeld nutzen? Das klingt ja gerade so, als soll ich damit bloß dein Unternehmen voranbringen.“
„Natürlich nicht. Ich zeige dir nur die Fakten auf. Eure Ehe wäre beiden Familien zum Vorteil“, sagte er und schwieg einen Moment. „Denk darüber nach, Andrew. Eine wunderschöne Frau. Ein eigenes Hotel. Was wünscht man sich mehr?“
Plötzlich wirkte Andrews Traum, das, worauf er lange und hart hingearbeitet hatte, zum Greifen nahe. Es ging ihm nicht nur um den Respekt seines Vaters – eine mächtige Beförderung, die neue Herausforderungen und mehr Verantwortung mit sich brachte, stand im Raum.
Aber konnte er Toronto dafür wirklich verlasen? In eine Stadt ziehen, die eine Tagesreise weit von seiner Familie und seiner Heimat entfernt lag?
„Darüber muss ich mir Gedanken machen.“
„Sicher. Aber denk nicht zu lange nach, mein Sohn. Wie ich schon sagte: Die Zeit rennt.“ Mit seinem stählernen Blick verlieh er den Worten mehr Nachdruck, als jedes ausgesprochene Ultimatum es je vermocht hätte.
Wenn Andrew das Angebot seines Vaters ausschlug, ließe er damit nicht nur ihn, sondern auch das Unternehmen im Stich. Eigentlich hätte Frank diese Position zugestanden, nun aber lag es an Andrew, in seine Fußstapfen zu treten. Die Rolle des pflichtbewussten Sohnes zu übernehmen und Celia zu heiraten. Eine Kluft zu überwinden, die Frank einst zwischen die zwei mächtigsten Familien Torontos geschlagen hatte.
In Andrews Hand lag der Schlüssel zu alledem, wonach sein Vater immer schon strebte. Und doch nagte an Andrew der Zweifel: War er bereit, sich dem Wunsch seines Vaters zu unterwerfen? Was, wenn er damit womöglich sein eigenes Glück aufs Spiel setzte?
Liebe Grace,
30. April 1914
ich habe ganz wundervolle Neuigkeiten: Seit Kurzem arbeite ich in einem großen Hotel, nicht allzu weit weg von der Pension. Bei gutem Wetter kann ich zu Fuß gehen und sonst fährt eine Straßenbahn bis fast genau vor die Tür. Durch meine Erfahrungen als Schreibkraft hat man mich in einem der Büros der Hotelverwaltung angestellt. Mr Easton senior ist ein sehr strenger Arbeitgeber, aber glücklicherweise ist sein Sohn überaus freundlich.
In ihrem Zimmer im dritten Stock von Mrs Chamberlains Pension war Grace damit beschäftigt, ihre wenigen Kleidungsstücke auszupacken und im Schrank aufzuhängen. Vor etwas mehr als vierundzwanzig Stunden hatte Pastor Burke sie hierhergebracht. Der gutmütigen Hauswirtin war sofort aufgefallen, wie mitgenommen Grace war. Sie hatte sie lediglich zu ihrem Zimmer geführt, ihr ein Tablett mit etwas Brot und Tee gebracht und sie dann in Ruhe trauern lassen.
Stundenlang hatte Grace geweint, bis sie völlig aufgewühlt und von den Anstrengungen der Reise übermannt in einen tiefen Schlaf gefallen war. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, fühlte sie sich vom vielen Weinen ganz ausgetrocknet. Zuallererst nahm sie ein ausgiebiges, heißes Bad, zog frische Kleidung an und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Im Moment war es zu schwierig, sich auf die Zukunft zu konzentrieren. Stattdessen dachte sie über den heutigen Tag nach. Sie wollte Roses Grab besuchen und mit Pastor Burke und Mrs Chamberlain darüber sprechen, wie sie ihren Neffen sehen konnte. Erst wenn sie wusste, dass es dem kleinen Christian gut ging, wäre sie beruhigt.
Nachdem sie das Bett gemacht und ihre Reisetasche darunter verstaut hatte, schaute sie sich im Raum um. Über dem Bett lagen eine handgemachte blau-weiße Steppdecke sowie mehrere bunte Kissen. Farblich passten sie sehr gut zu denen auf der breiten Fensterbank. Auch ein Waschtisch, eine Kommode und ein Nachtschränkchen gehörten zum Mobiliar. Unter anderen Umständen hätte Grace den heimeligen Charakter dieses Zimmers sicher mehr wertschätzen können. Nun fragte sie sich, ob dies wohl auch Roses Zimmer gewesen war, als sie nach Toronto gekommen war.
Grace nahm einen Stapel Briefe aus ihrer Handtasche und setzte sich damit in die Fensterecke. Dort war es hell und man hatte einen herrlichen Ausblick. Sie öffnete den letzten von Roses Briefen, um vielleicht einen Hinweis darauf zu entdecken, wann sie krank geworden war. Doch auch beim erneuten Lesen fand sie keinerlei Andeutungen auf eine bedrohliche Krankheit.
„Ach, Rose“, seufzte Grace laut. „Hatte ich dir nicht gesagt, dass Kanada keine gute Idee war?“
Doch nichts hätte sie davon abbringen können, auch nicht der gut gemeinte Rat ihrer jüngeren Schwester. Damals schien es, als hätten die beiden die Rollen getauscht: Rose agierte aus einem Impuls heraus, während Grace vergeblich zur Vorsicht riet.
Sie steckte die Briefe wieder weg und schaute auf die Uhr. Sicherlich war Mrs Chamberlain bereits wach und bereitete das Frühstück für ihre Gäste vor. Grace fand, dass es an der Zeit war, sich der Gegenwart zu widmen. Und dazu brauchte sie Mrs Chamberlains Hilfe.
Entschlossen ging Grace die Treppe hinunter in den Salon. Jetzt fiel ihr auch die wohnliche Dekoration auf: Geblümte Sofas und Ohrensessel mit hoher Rückenlehne standen um einen Kamin und an der Wand hingen Landschaftsbilder aus England. Sie stellten grüne Weiden und ein kleines Cottage dar, das ihrem Elternhaus sehr ähnlich war. Eine alte graue Dame hob ihren Kopf, betrachtete Grace kurz und fiel dann wieder über ihr Buch gebeugt in den Sessel zurück.
„Guten Morgen, Grace. Wie schön, dass Sie auf sind und zu uns herunterkommen“, begrüßte Mrs Chamberlain sie aus dem Flur. Über ihrem Kleid trug sie eine Schürze mit Blumenmuster und in der Hand hielt sie eine große Teekanne. „Ich serviere gerade das Frühstück, falls Sie sich zu uns gesellen wollen?“, bot sie an, Mitgefühl in ihrem freundlichen Blick.
„Ich bin nicht sehr hungrig, aber über eine Tasse Tee würde ich mich freuen“, antwortete Grace und ging einen Schritt auf sie zu. „Und anschließend könnte ich Ihre Hilfe gebrauchen, wenn Sie einen Moment hätten.“
„Natürlich. Sobald ich mit dem Geschirr fertig bin, bin ich ganz Ohr.“
Am hinteren Ende des Holy Trinity Friedhofs bückte sich Grace über einen frischen Haufen Erde und legte einen Strauß Gänseblümchen darauf. Dann richtete sie sich wieder auf und schlang die Arme fest um ihren Oberkörper, als könnte sie sich auf diese Weise vor der Trauer schützen, die sie zu überwältigen drohte. An Roses Grab stand kein Stein, nicht einmal ein schlichtes Holzkreuz. Pastor Burke hatte ihr erzählt, dass die Kirchenmitglieder großes Mitleid mit der jungen Witwe gehabt hatten und nun für einen Grabstein zusammenlegten.
Wie konnte das nur geschehen, Rose? Hätte ich dich davor bewahren können, wenn ich früher gekommen wäre?
Ein kühler Frühlingswind wehte. Er hob den Saum von Graces Rock an und löste einige braune Haarsträhnen, die ihr nun ins Gesicht fielen. „Wie soll ich das nur Mutter erklären?“, flüsterte sie.
In ihren Gedanken erinnerte sie sich an eins ihrer letzten Gespräche.
„Das bist du mir schuldig, mein Kind. Das weißt du.“ Selbst von ihrem Krankenbett aus hatte ihre Mutter sie mit ihrem stählernen Blick wie festgenagelt und in Grace die Schuldgefühle hervorgeholt, die nur knapp unter der Oberfläche begraben lagen. „Das Mindeste, was du tun kannst, ist, Rose und meinen Enkel wieder nach Hause zu bringen.“
Den Blick auf die schlichte Grabstätte ihrer Schwester gerichtet, wischte sich Grace die Tränen von der Wange. „Ich werde alles dafür tun, dass es Christian gut geht. Irgendwie werde ich die Eastons dazu bringen, sich liebevoll um ihn zu kümmern. Und sollten sie das nicht tun, werde ich eine andere Lösung finden.“
Wie, wusste sie nicht. Aber sie vertraute darauf, dass Gott ihr zur rechten Zeit eine Tür öffnen würde.
Nach einem letzten Blick auf das Grab verabschiedete sie sich und ging in Richtung Kirche, wo Mrs Chamberlain auf sie wartete.
Gerade als sie bei der Treppe ankam, hörte sie ihren Namen.
„Hier, Grace, hier drüben“, rief Mrs Chamberlain vom Pfarrhaus herüber. „Kommen Sie und trinken Sie einen Tee mit uns. Drinnen ist es schön warm.“
Langsam ging Grace zu dem Haus. Die Einladung kam ihr gelegen, so konnte sie Pastor Burke weiter über die Eastons ausfragen. Und für einen Moment den tiefen Schmerz in ihrem Herzen vergessen.
Mrs Chamberlain erwartete sie an der Tür und führte sie in die Diele. In der Luft hing der süße Duft von Hefe und Zimt und Grace lief das Wasser im Mund zusammen. Außerdem erinnerte er sie daran, wie wenig sie in den letzten vierundzwanzig Stunden gegessen hatte. So eingenommen war sie von der Trauer über ihre Schwester. Es fühlte sich beinahe falsch an, jetzt hungrig zu sein.
„Pastor Burke hat mich in der Kirche gesehen und mich eingeladen. Auf dem Tisch steht frisch gebackenes Brot, wenn Sie möchten.“ Die Einfühlsamkeit in Mrs Chamberlains Stimme erwärmte Grace das Herz.
„Oh, vielen Dank. Das klingt wunderbar“, bedankte sie sich und trat in die gemütliche Küche, wo sie Pastor Burke vor dem Ofen stehen sah.
„Willkommen, Grace. Setzen Sie sich doch. Das Zimtgebäck ist auch gleich fertig.“
„Sie backen, Pastor Burke?“, fragte Grace, als sie sich an einen runden Tisch mit roter Tischdecke setzte.
Fältchen umgaben seine Augen, als er lächelnd erklärte: „Eine Fähigkeit, die ich mir nach dem Tod meiner lieben Frau aneignen musste. Da ich so gerne esse …“ – und bei diesen Worten strich er sich über den Bauch – „blieb mir nichts anderes übrig. Harriet war so nett, mir etwas Nachhilfe zu geben“, sagte er und zwinkerte Mrs Chamberlain zu. Sie grinste.
Verunsichert darüber, wie leichtfertig die beiden über den Tod eines geliebten Menschen sprachen, schaute Grace sie ungläubig an. Für sie war dieses Thema viel zu groß, um es so beiläufig zu erwähnen.
Mit einem Spültuch in der Hand öffnete Pastor Burke die Ofentür, holte eine Backform heraus und stellte sie auf den Tisch. Sogleich platzierte Mrs Chamberlain zwei der Stückchen auf jeden Teller.
Grace überlegte, wie sie ein Gespräch beginnen könnte. „Leben Sie schon lange in Toronto?“, fragte sie schließlich. Vielleicht war das ein guter Startpunkt, um die beiden etwas besser kennenzulernen.
„O ja“, antworte Pastor Burke nur kurz und überließ zunächst Mrs Chamberlain das Wort.
„Ich kam schon als sehr junge Frau nach Kanada. Doch musste ich erst durch mancherlei Schwierigkeiten, bis ich meinen lieben Mann kennenlernte. Gott sei Dank fanden wir bald darauf diese Kirche. Und mit der Zeit hat sie sich zu meiner persönlichen Kraftquelle entwickelt – besonders, als der kleine Miles von uns ging“, erzählte Mrs Chamberlain und schenkte sich Tee nach.
Nun setzte sich auch Pastor Burke an den Tisch. „Und ich war noch ein kleiner Junge, als meine Eltern hierherkamen. Als ich dann den Ruf in den Pastorendienst erkannte, bin ich ins Wycliffe College hier in der Stadt gegangen. Inzwischen leite ich seit sechzehn Jahren die Holy Trinity Church.“ Dann schaute er zu Mrs Chamberlain, als er weitersprach: „Harriets Startschwierigkeiten hier in Kanada gaben den Anstoß für unser Einwandererprogramm. Wir wollten damit einen Ort schaffen, an dem sich Neuankömmlinge austauschen können und Hilfe finden. Beispielsweise für eine erste Arbeit oder eine Unterkunft.“
„Die meisten haben kurz nach ihrer Ankunft erst einmal schreckliches Heimweh. Da ist es von Vorteil, Gleichgesinnte und Menschen aus dem eigenen Land um sich zu haben. Aus diesem Grund hat mein Mann damals die Pension eröffnet. In seinen Augen war es unabdingbar, dass man von Anfang an ein sicheres Dach über dem Kopf hat, bis man einmal wirklich hier angekommen ist“, fügte Mrs Chamberlain nickend hinzu und süßte ihren Tee mit einem Löffel Zucker. „Nach seinem Tod wollte ich die Pension in seinem Gedenken weiterführen, auch wenn ich jetzt nur noch weibliche Gäste aufnehme. Als Frau muss man vorsichtig sein.“
Etwas überrascht sicherte Pastor Burke ihr zu: „Ich bin immer nur ein paar Schritte entfernt, wenn Sie mich brauchen sollten.“
„Das weiß ich doch“, erwiderte Mrs Chamberlain mit einem herzlichen Lächeln. „Und es tut sehr gut, Freunde unter seinen Nachbarn zu haben.“
Bei diesem Stichwort setzte Grace ihre Tasse ab und nutzte die Gelegenheit, um auf ein anderes Thema zu sprechen zu kommen: „Apropos Nachbarn: Wohnen die Eastons denn auch hier in der Nähe?“
„Ihr Hotel ist nicht weit von hier, aber bis zum Anwesen ist es eine ordentliche Strecke mit der Straßenbahn“, antwortete Mrs Chamberlain mit besorgtem Blick.
„Wie ich gehört habe, ist es sehr modern“, fügte Pastor Burke hinzu.
Das Hotel hatte Grace beinahe vergessen, dabei war es der Ort, an dem sich Rose und Frank kennengelernt hatten.
„Das modernste der ganzen Stadt“, korrigierte Mrs Chamberlain ihn. „Und die Eastons gehören zu den wohlhabendsten Familien Torontos. Sie sind tonangebend in der Stadt. Ihr Anwesen soll wahrhaftig eine Villa sein, so groß wie ein Schloss.“
Bei diesen Worten überkam Grace ein Gefühl der Beklommenheit. Bisher hatte sie sich nie Gedanken darüber gemacht, wie gut betucht Roses Schwiegereltern wohl sein mochten. Doch Mrs Chamberlain zufolge waren sie nicht nur reich, sondern auch hoch angesehen. Wie sollte Grace da bloß mithalten?
Zu ihrer Verteidigung holte sie einen Brief von Rose aus ihrer Handtasche. „Dass sie reich sind, macht sie noch nicht zu guten Menschen. Vielleicht verstehen Sie meine Bedenken, wenn Sie hören, was Rose über sie geschrieben hat“, erwiderte sie und las vor: „Jetzt, wo Frank fort ist, mache ich mir Sorgen darüber, dass seine Familie mir Christian wegnehmen möchte. Aber ich kann nicht zulassen, dass mein Sohn von solchen Menschen aufgezogen wird. Menschen, die Frank enterbt haben, nur weil er seinen eigenen Weg gegangen ist. Wie können Eltern nur so grausam zu ihrem Kind sein? Grace, eins musst du mir versprechen: Sollte mir je etwas zustoßen, dann nimmst du Christian zu dir und kümmerst dich um ihn, als wäre er dein eigener Sohn.“
Plötzlich gab Graces Stimme nach und sie musste eine Pause machen. War Rose bereits krank gewesen, als sie diese Worte formuliert hatte?, schoss es ihr durch den Kopf. Hatte sie damals schon befürchtet, nicht wieder gesund zu werden?
Bekümmert blickte sie zu Mrs Chamberlain und Pastor Burke auf. „Rose hatte mich schon mehrmals gebeten zu kommen. Wäre ich doch nur früher hier gewesen! Vielleicht wäre sie dann jetzt noch am Leben …“
„O Liebes, nicht doch. So dürfen Sie nicht denken“, versuchte Mrs Chamberlain Grace zu trösten und legte ihr fürsorglich die Hand auf die Schulter. „Auch ich habe mich zeitweise schuldig gefühlt. Als hätte ich mehr für sie tun müssen.“
„Harriet, Sie haben Ihr Bestes gegeben“, versicherte ihr Pastor Burke, bevor er sich an Grace wandte. „Rose war eine sehr unabhängige Frau. Und entschlossen, allein zurechtzukommen und keine Almosen anzunehmen. Ich habe geholfen, wo ich konnte, doch letztlich lag es nicht in unserer Hand. Gottes Wille ist größer als wir.“ Als er den Satz beendete, zeichnete sich tiefe Trauer auf seinem Gesicht ab.
Wie konnte es Gottes Wille sein, dass ein kleiner Junge ohne seine Eltern aufwuchs? Grace klammerte sich am Brief fest und rang um Fassung. „War Rose … war jemand bei ihr, als es so weit war?“ Der Gedanke, dass ihre arme Schwester ihre letzten Minuten ganz allein verbracht hatte, zerriss ihr beinahe das Herz.