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Seit Jahrzehnten erfreut sich das Genre des Heimat-Bergromans sehr großer Beliebtheit. Je hektischer unser Alltag ist, umso größer wird unsere Sehnsucht nach dem einfachen Leben, wo nur das Plätschern des Brunnens und der Gesang der Amsel die Feierabendstille unterbrechen.
Zwischenmenschliche Konflikte sind ebenso Thema wie Tradition, Bauernstolz und romantische heimliche Abenteuer. Ob es die schöne Magd ist oder der erfolgreiche Großbauer - die Liebe dieser Menschen wird von unseren beliebtesten und erfolgreichsten Autoren mit Gefühl und viel dramatischem Empfinden in Szene gesetzt.
Alle Geschichten werden mit solcher Intensität erzählt, dass sie niemanden unberührt lassen. Reisen Sie mit unseren Helden und Heldinnen in eine herrliche Bergwelt, die sich ihren Zauber bewahrt hat.
Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:
Alpengold 197: Ein Stadtkind auf dem Lande ...
Bergkristall 278: Denn sie waren wie Katz und Hund
Der Bergdoktor 1751: Weil ein Brautstrauß Schicksal ist
Der Bergdoktor 1752: Du bist nicht mehr unser Sohn
Das Berghotel 134: Der Traum vom fernen Märchenprinz
Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 622
Carolin Thanner, Lothar Eschbach, Andreas Kufsteiner, Verena Kufsteiner
Heimat-Roman Treueband 39
Cover
Impressum
Ein Stadtkind auf dem Lande …
Vorschau
Ein Stadtkind auf dem Lande …
Endlich trocknen Nickis Tränen
Von Carolin Thanner
Mit dick geschwollenen Lidern und geröteten Wangen liegt die kleine Nicki im Bett, ihren grünen Plüschfrosch ganz fest an sich gedrückt. Nachdem sie den ganzen Tag geweint hat, ist sie nun vor Erschöpfung eingeschlafen. Ihrem Onkel, dem jungen Lukas, zieht sich vor Mitleid das Herz zusammen.
Du armes Hascherl, was mach ich nur mit dir? Bei einem tragischen Autounfall sind sein Bruder und dessen Frau ums Leben gekommen – und Nicki steht plötzlich ganz allein auf der Welt! Doch dass das Madel künftig hier bei ihm auf dem einsamen Berghof bleibt, ist ganz und gar ausgeschlossen! In seinem kargen Leben ist kein Platz für ein Kind – für gar keinen anderen Menschen mehr!
Doch ganz gegen seinen Willen schleicht sich der kleine Wirbelwind in Lukas’ bitter gewordenes Herz. Nicki wird für ihn der warme Sonnenstrahl, der endlich wieder Licht in sein Leben bringt – Licht und Lachen und die Liebe …
»Hoppla, meine Schürze steht net auf dem Speiseplan!« Lächelnd wich Daniela Meindl dem Schaf aus, das neugierig an dem weißen Stoff zupfte. Sie hielt ihm eine Handvoll Hafer hin, den es hungrig nahm. Während es den Leckerbissen verzehrte, bimmelte die Glocke um seinen Hals.
Daniela hatte Feigl mit der Hand aufgezogen, weil seine Mutter die Geburt nicht überlebt hatte. Seitdem wich ihr das Schaf nicht von der Seite. Auch jetzt blieb es bei ihr, während sie über die Weide lief und Haselzweige neben der Tränke platzierte. Das zarte Grün der Blätter und die Rinde boten eine willkommene Abwechslung im Speiseplan der Herde.
Auf dem Meindl-Hof wurden Tiroler Bergschafe gezüchtet. Wolle und Milch sicherten Daniela und ihrem Großvater das Einkommen. Aus der Wolle, die sie nicht verkauften, fertigte die junge Bäuerin Filz an, aus dem sie Pantoffel, Hüte und Taschen machte und die sie im Hofladen verkaufte.
An diesem Morgen brannte die Sonne auf das Chiemgau herab. Es war noch früh am Tag, aber schon jetzt versprach der wolkenlose Himmel über den Bergen wieder einen schönen Frühsommertag.
Der Meindl-Hof lag im Luftkurort Rimsting. Von hier aus hatte man einen wunderbaren Ausblick auf die grüne Landschaft. Der Flickenteppich aus blühenden Wiesen und Weizenfeldern wurde von Wäldern unterbrochen. Rimsting erstreckte sich terrassenförmig vom Westufer des Chiemsees aus bis hinauf zur Ratzinger Höhe. Die helle Kirche mit dem grauen Schieferdach ragte zwischen den blitzsauberen Bauernhäusern auf.
Daniela liebte ihre Heimat und hätte sich nicht vorstellen können, irgendwo anders zu leben. Während ihre Eltern beide als Lehrer in München arbeiteten, hatte es Daniela nach ihrem Studium der Agrarwissenschaften zurück in die Berge gezogen. Der Bauernhof ihres Großvaters war ihr Zuhause geworden. An der westlichen Hauswand war eine Lüftlmalerei angebracht, wie sie typisch für ihr Heimatdorf war. Die aufwendige Fassadenmalerei zeigte eine Familie bei der Heumahd.
»Griaß di, Dani!« Toni Steindl stoppte sein gelbes Postauto vor dem Haus und stieg aus. Er holte einen Stapel Briefe und ein Päckchen aus dem Fond und kam zu ihr herüber.
Toni war ein sportlicher Mann in Danielas Alter, mit sommerlich gebräunter Haut und hellblonden Haaren. In seiner Freizeit arbeitete er als Wanderführer und zeigte Touristen seine Heimat. Er konnte stundenlang über die Geschichte von Rimsting erzählen. Da er bei seiner Arbeit als Postbote weit herumkam, war er auch über aktuelle Ereignisse stets bestens informiert. Er reichte Daniela die Post und zwinkerte ihr zu.
»Hast du wieder Bücher bestellt?«
»Diesmal net.« Daniela warf einen Blick auf den Absender. »Das ist eine Auswahl schöner Knöpfe. Sie sind als Verzierung für meine Filztaschen gedacht.«
»Hört sich gut an. Meiner Mutter hat das Tascherl von dir gefallen, das ich ihr zum Geburtstag geschenkt habe. Sie trägt es nur sonntags, wenn sie in die Kirche geht. Für den Alltag ist es ihr zu schade.«
»Das freut mich sehr. Grüß sie bitte von mir, wenn du sie das nächste Mal siehst, ja?«
»Das mache ich gern. Hast du heute wieder Pakete hier, die ich mitnehmen soll?«
»Freilich.« Daniela deutete auf den Stapel neben der Haustür. Sie verkaufte ihre Filzprodukte und die selbst gemachte Schafsmilchseife nicht nur im Hofladen, sondern auch auf Bestellung. Abends verpackte sie die Waren, und morgens nahm Toni sie mit. Auch an diesem Morgen lud er die Pakete für sie ein.
»Am Wochenende richtet die Freiwillige Feuerwehr einen Tanzabend aus«, erzählte er. »Die ›Kampenwandler‹ spielen auf. Wollen wir zusammen hingehen?«
»Wir beide?« Überrascht sah Daniela den Postboten an. Toni und sie hielten gern einen Plausch, wenn er kam. Eingeladen hatte er sie noch nie. »Warum net?«, willigte sie ein.
»Du kommst also mit?« Seine blauen Augen leuchteten auf. »Du, ich freu mich!«
»Ja, ich mich auch.«
»Dann hole ich dich am Samstagabend ab. Die Zeit können wir noch ausmachen. Bis dahin sehen wir uns ja noch.«
»Ist gut.« Daniela kam nicht dazu, noch etwas zu sagen, weil ihr Nachbar die Auffahrt heraufkam.
Lukas Kofler bewohnte das Haus am Waldrand. Mit seinen dunklen Haaren, dem markanten Gesicht und der sportlichen Statur war er ein attraktiver Mann. Schon so manche Urlauberin hatte ihn mit einem Filmschauspieler verwechselt. Sein finsterer Blick verbot jedoch jeden Versuch, ihm näherzukommen.
»Daniela?«, rief er grimmig. »Ich muss mit dir reden!«
Es kam nicht oft vor, dass sich Lukas Kofler im Dorf sehen ließ. Er lebte allein und ging seinen Mitmenschen aus dem Weg. Man traf ihn weder im Laden noch in der Kirche an. Natürlich kursierten Gerüchte über ihn in Rimsting. Spekulationen darüber, ob er etwas zu verbergen hatte – und wenn ja, was das wohl war. Etwas Genaues wusste jedoch niemand.
»Na, der schaut aber geladen aus«, stellte Toni halblaut fest und warf Daniela einen Blick zu. »Was hat er denn?«
»Das weiß ich noch net.«
»Soll ich hierbleiben und dir Schützenhilfe leisten?«
»Das musst du net. Er wird mich schon net beißen – und wenn doch, dann beiße ich auf jeden Fall zurück.« Sie zwinkerte dem Postboten zu.
Toni lachte leise. »Wenigstens hast du einen Plan. Bis morgen also.«
»Ja, bis morgen, Toni.« Daniela sah ihm kurz nach, als er wieder in sein Auto stieg und davonfuhr. Dann wandte sie sich ihrem Nachbarn zu. Sein Blick war noch finsterer geworden, aber davon ließ sie sich nicht abschrecken. Stattdessen lächelte sie ihm zu. »Guten Morgen, Lukas.«
»Gut ist an diesem Morgen leider gar nix«, grollte er. »Euer Hund hat einen Hasen in meinem Wald gewildert. Einfach totgebissen. So geht das net, Daniela.«
»Die Rika soll einen Hasen getötet haben?« Verwundert schüttelte Daniela den Kopf. »Das kann net sein.«
»Leider doch. Ich habe sie erkannt. So viele Setter gibt es in der Gegend net. Ihr wisst genau, dass es net gestattet ist, Hunde im Wald frei laufen zu lassen. Wenn so etwas noch mal vorkommt, werde ich es dem Förster melden. Dann wird er mit seinem Gewehr einschreiten.« Er funkelte sie finster an.
»Bloß das net! Großvater hängt sehr an Rika.« Daniela stieß ein Seufzen aus. »Hör zu, wenn unser Hund wirklich gewildert hat, tut es mir sehr leid. Ich werde der Sache auf den Grund gehen. So etwas wird nimmer vorkommen, das verspreche ich dir.«
»Das will ich hoffen.« Der Besucher nickte, ehe er sich auf dem Absatz umdrehte und davonstapfte.
Daniela beschloss, gleich mit ihrem Großvater zu sprechen, und ging ins Haus. Das Rattern der Kaffeemaschine führte sie durch den Flur in die gemütlich eingerichtete Bauernküche. Mit den karierten Vorhängen, dem Herrgottswinkel und der rustikalen Eckbank war der Raum Danielas liebstes Zimmer. Auf der Fensterbank zog sie Kräuter in Keramiktöpfen.
Ihr Großvater saß auf der Bank und schnitzte. Geschickt arbeitete Josef Meindl mit seinem Messer eine Schachfigur aus dem Holzstück heraus. Das Pferd war schon gut zu erkennen. Seine Hündin hatte sich zu seinen Füßen zusammengerollt und den Kopf auf den Vorderpfoten abgelegt. Sie döste und wirkte in diesem Augenblick völlig harmlos. Allerdings lag ihr die Jagd im Blut. Hatte sie womöglich doch den Hasen gewildert?
Daniela legte die Post auf dem Holztisch ab.
»Der Lukas war eben hier«, erzählte sie. »Er sagt, Rika hat sich einen Hasen aus seinem Wald geholt. Das kann net wahr sein, oder?«
Ihr Großvater ließ sein Messer sinken und schob die buschigen weißen Augenbrauen zusammen. »Na ja«, erwiderte er gedehnt. »Genau genommen könnt es schon sein.«
»Was sagst du da?«
»Rika läuft halt gern frei, das weißt du doch. Mit der Leine ist sie net glücklich. Und der Wald gehört Lukas net.«
»Doch, Großvater. Lukas hat ihn gekauft.«
»Der Forst sollte aber uns gehören. So war es mit dem Obermayer-Ferdl abgemacht. Lukas hat schamlos ausgenutzt, dass Ferdl allmählich vergesslich wird und nimmer daran gedacht hat, dass er den Wald schon vor Jahren mir versprochen hatte.«
»Das konnte Lukas net wissen, als er sein Angebot gemacht hat. Ferdl war einverstanden, ihm seinen Wald zu verkaufen. Woher hätte Lukas ahnen sollen, dass ihr schon eine mündliche Vereinbarung hattet?«
»Das hätte er sich denken können. Immerhin schließen meine Wiesen den Wald ein. Es war klar, dass ich ihn haben will, nun, da wo Ferdl endlich bereit war, ihn zu verkaufen.«
»Vielleicht weiß Lukas net, dass die Wiesen dir gehören.«
»Verteidigst du ihn etwa, Daniela?«
»Ich möchte nur net, dass du ihm unrecht tust.«
»Das mache ich bestimmt net. Dieser Bursche ist mir suspekt. Er nimmt sich, was er haben will, und lässt sich nie im Dorf sehen. Wer weiß, was er auf dem Kerbholz hat. Wovon lebt er eigentlich?«
»Er ist Fotograf, glaube ich. Jedenfalls sehe ich ihn manchmal mit einer Kamera.«
»Wer weiß. Vom Knipsen allein kann man net leben.«
»Das weiß ich net.« Daniela hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Bitte, lass Rika nimmer frei in seinem Wald laufen. Er hat gedroht, es zu melden, und du weißt, dass der Förster kurzen Prozess mit net angeleinten Hunden macht.«
»Ja, das weiß ich.« Die Miene ihres Großvaters umwölkte sich wie der Himmel vor einem Unwetter. Josef hielt seinen Nachbarn wie die meisten Dorfbewohner für unausstehlich. Tatsächlich schien Lukas mit niemandem gut auszukommen.
Was mochte ihn so verbittert haben?
***
Diese Ohrenschmerzen treiben mich noch in den Wahnsinn! Unbehaglich rieb sich Lukas das rechte Ohr. Das Ziehen war unerträglich. Es fühlte sich an, als würde ihm eine Stricknadel ins Trommelfell getrieben. Dazu hatte er ständig ein Klingeln im Ohr, das ihm mittlerweile gehörig auf die Nerven ging – und zwar nicht erst seit der Auseinandersetzung mit seiner Nachbarin am vergangenen Morgen. Nein, die Beschwerden hielten schon drei Tage an. Es war zum Aus-der-Haut-Fahren!
Lukas schlug sich die Nacht auf der Kampenwand um die Ohren. Der Berg trug das größte Gipfelkreuz der Bayerischen Alpen. An der Südseite gab es zahlreiche beliebte Klettersteige, und von Norden aus bot sich ein traumhafter Ausblick auf den Chiemsee mit seinen drei Inseln. Die Schmerzen hielten den Fotografen jedoch davon ab, die Aussicht zu genießen. Er wollte nur seine Arbeit hinter sich bringen und dann heimfahren.
Ein Münchner Verlag wollte einen Naturführer für das Chiemgau herausbringen, und Lukas sollte Fotos von Steinböcken beisteuern. Seine Beobachtungsgänge hatten ihm Hoffnung gemacht, die scheuen Tiere an der Kampenwand vor die Kamera zu bekommen. Während die ersten Strahlen der Morgensonne den Himmel in sanftes Rosa tauchten und die Konturen der Berge und der Natur allmählich schärfer wurden, lag der Fotograf im Schutz rot blühender Alpenrosen-Büsche und wartete auf seine Chance – seinen Fotoapparat in den Händen und bereit für die Aufnahmen.
Lukas hatte auf dem Berg übernachtet, weil er im Dunkeln nicht aufsteigen konnte und unbedingt vor Sonnenaufgang auf dem Gipfel sein wollte. Sein Zelt stand in der Nähe. Er trug mehrere Kleidungsschichten übereinander. Trotzdem fror er. Die Juni-Nächte konnten hier oben verflixt kalt sein!
Ein Hase hoppelte über die Felsen. Sofort wurde Lukas an das arme Langohr erinnert, das der Hund seiner Nachbarn am vergangenen Tag in seinem Wald geholt hatte. Er hatte den Wald gekauft, um ein Stück Natur zu erhalten. In seinem Forst gab es keine Jagd und nur so viel Holzwirtschaft, um die Wege frei zu halten. Ansonsten sollte die Natur ungehindert gedeihen. Ein räubernder Hund war da nicht vorgesehen!
»Sakra«, murmelte er und ließ seinen Fotoapparat sinken, um die Ohrentropfen aus seiner Jackentasche zu holen.
Er hatte sie sich am vergangenen Abend in der Apotheke besorgt. Fünf Tropfen sollte er in sein Ohr träufeln, hatte die Apothekerin gesagt. Wie er das allein hinbekommen sollte, hatte sie nicht erwähnt. Er hatte an der Seite schließlich keine Augen!
So schob er die Öffnung in sein schmerzendes Ohr, presste die Flasche zwischen den Fingern zusammen und hoffte, dass er eine halbwegs vertretbare Dosis erwischte. Es gab niemanden, der ihm die Tropfen ins Ohr träufeln konnte. Solche Unannehmlichkeiten waren der Preis für seine Unabhängigkeit, und Lukas war bereit, ihn zu bezahlen.
Niemand von seinen Nachbarn wusste, dass er seit einer herben Enttäuschung nur noch für seine Arbeit als Naturfotograf lebte. Er ging allen Menschen aus dem Weg. Vor allem seinem Bruder.
Andreas hatte ihm vor sieben Jahren die Verlobte ausgespannt. Das hatte er nie verwunden. Inzwischen lebte das Paar in München. Sein Bruder war ein erfolgreicher Maler, und Gabriele leitete eine Galerie. Sie hatten eine Tochter zusammen. Die Kleine musste inzwischen fünf oder sechs Jahre alt sein.
Genau wusste Lukas es nicht, denn er hatte das Madel noch nie gesehen. Früher hatte sein Bruder ihm noch hin und wieder geschrieben und versucht, eine Versöhnung herbeizuführen, aber Lukas hatte es nicht über sich gebracht, das Eheglück seines Bruders vor Augen zu haben und an das erinnert zu werden, was er verloren hatte.
Sie hatten seit Jahren keinen Kontakt mehr.
Manchmal fragte sich Lukas, ob Gabriele mit seinem Bruder glücklicher geworden war, als sie es je mit ihm gewesen war. Doch solche Grübeleien führten nur dazu, dass seine Tage noch einsamer waren, deshalb vermied er sie, so gut er konnte.
Sein Nacken schmerzte vom langen Ausharren. In seinem Beruf brauchte man Geduld. Lukas ließ den Blick über die felsige Landschaft schweifen. Dabei entdeckte er endlich eine kleine Herde. Steinböcke! Sie kletterten im Morgenlicht über die Felsen und blieben hin und wieder stehen, um Gras oder Moos zu fressen. Perfekt!
Mit einem Mal breitete sich Ruhe in Lukas aus. Er hob seine Kamera und schoss konzentriert Foto um Foto. Links stand eine Mutter mit ihrem Jungen und säugte es. Ihr rotbraunes Fell schimmerte im Morgenlicht. Weiter rechts sprang eine junge Geiß über die Felsen. In der Ferne zeichneten sich die Umrisse eines Bocks ab, der der Herde zu folgen schien. Sein mächtiges Gehörn war imposant.
Nach einer Weile ließ Lukas seine Kamera sinken und nickte zufrieden vor sich hin. Ihm waren einige reizvolle Aufnahmen gelungen, daran zweifelte er nicht.
Als die Herde weiterzog, verließ er seine Deckung und kehrte zu seinem Zelt zurück. Er war steif vom langen Warten, trotzdem packte er seine Ausrüstung zusammen, verstaute sie in seinem Rucksack und machte sich auf den Weg hinunter nach Aschau. In gewundenen Serpentinen führte der Pfad bergab. Ein steiler Abstieg war das, der nicht in die Lunge, dafür aber in die Knie fuhr!
Sein Auto stand auf dem Parkplatz der Kabinenbahn. Die Bahn würde ihren Betrieb erst in zwei Stunden aufnehmen und Wanderer auf den Berg bringen. Noch war der asphaltierte Platz bis auf seinen Wagen leer.
Lukas verstaute seine Ausrüstung im Kofferraum, ehe er sich auf die Heimfahrt machte. Er sehnte sich nach einer heißen Dusche und einer Tasse Kaffee. Nicht das Zeug, das er in der Thermoskanne bei sich führte und das inzwischen nur noch lauwarm war. Später wollte er an die Arbeit gehen, Fotos für den Bildband aussuchen und so bearbeiten, dass sie druckfähig waren.
In Gedanken plante er bereits seinen Arbeitstag. Er wusste, dass viele seiner Nachbarn glaubten, er würde in den Tag hineinleben, weil er als Fotograf nicht fest angestellt war. Doch das stimmte nicht. Er organisierte jeden Tag gut durch und hielt sich diszipliniert an seine Pläne. Anders ging es nicht, wenn er von seiner Arbeit leben wollte.
Doch an diesem Tag sollte alles anders kommen.
Als Lukas daheim anlangte, stand bereits ein fremdes Fahrzeug vor seinem Haus. Es war ein blauer Kombi mit einem Münchner Kennzeichen. Eine Frau wartete vor seiner Haustür. Sie trug ein blaues Sommerkleid. Durch ihre dunklen Haare zogen sich vereinzelte graue Strähnen. Der Riemen ihrer Umhängetasche lag quer über ihrer Brust. Was mochte sie von ihm wollen? Eine Ferienwohnung vielleicht? Es kamen hin und wieder Fremde vorbei und fragten nach einem Quartier. Die idyllische Lage ließ Urlauber auf eine Unterkunft hoffen.
Lukas steuerte seinen Wagen in die Parkbucht und stieg aus.
»Guten Morgen«, wandte er sich an die Fremde. »Wenn Sie eine Ferienwohnung suchen, muss ich Sie enttäuschen. Ich vermiete net. Am besten fragen Sie bei meinen Nachbarn nach. Vielleicht finden Sie dort ein freies Quartier.«
»Deswegen bin ich net hier.« Sie zog einen Ausweis aus ihrer Tasche und zeigte ihn vor. »Mein Name ist Elisabeth Büchner. Ich komme vom Amt für Familie und Soziales. Ich habe leider keine guten Nachrichten für Sie, Herr Kofler.«
»Jugendamt?« Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Behörden bedeuteten seiner Erfahrung nach meistens Ärger, Schreibarbeiten oder Kosten. Manchmal auch alles zusammen. »Möchten Sie hereinkommen, Frau Büchner?«
»Gern. Vorher sollte ich Ihnen allerdings erst etwas sagen.« Sie biss sich auf die Unterlippe und schien nicht recht zu wissen, wo sie anfangen sollte. Schließlich stieß sie ein leises Seufzen aus. »Wir haben gestern versucht, Sie telefonisch zu erreichen, waren aber leider net erfolgreich.«
»Ich war fast den ganzen Tag über unterwegs. Warum wollten Sie mich erreichen? Was ist denn los?«
»Es tut mir sehr leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber es hat einen Unfall gegeben, Herr Kofler. Ihr Bruder und seine Frau sind ums Leben gekommen.«
»Was sagen Sie da?« Ungläubig sah er die Besucherin an. Sein Bruder sollte verunglückt sein? Und Gabi? Gabi auch? Das war undenkbar. »Das muss ein Irrtum sein«, stieß er hervor.
»Sie waren gestern Vormittag auf der Autobahn unterwegs. Ein Lkw-Fahrer muss während der Fahrt eingeschlafen sein. Sein Transporter ist mit dem Wagen Ihres Bruders kollidiert und …« Sie stockte. »Die Rettungskräfte konnten nichts mehr tun.«
Lukas schüttelte den Kopf. Er wollte, nein, er konnte das einfach nicht glauben. Sein Bruder sollte nicht mehr am Leben sein? Und Gabi, die Frau mit dem Lächeln, das selbst einen trüben Regentag erhellen konnte?
»Nein«, murmelte er rau.
»Ich verstehe, dass das ein Schock für Sie ist, Herr Kofler, und ich wünschte, ich könnte Ihnen Zeit geben, um sich zu fassen, aber es gibt ein Kind, das jetzt Ihre Hilfe braucht.«
»Ein Kind?« Er runzelte die Stirn, bis ihm dämmerte, von wem sie sprach. Seine Nichte! Sie stand jetzt mutterseelenallein auf der Welt.
»Nickis Eltern haben Sie zum Vormund bestimmt, Herr Kofler. Das bedeutet, Sie tragen ab jetzt die Verantwortung für das Madel.«
»Das geht net.« Lukas hob abwehrend die Hände. »Ich kenne die Kleine net, und ich bin auch net darauf eingerichtet, mich um ein Kind zu kümmern. Über Kinder weiß ich net das Geringste. Das wirklich geht net.«
»Es muss aber gehen«, erwiderte die Besucherin ernst. »Nicki hat sonst niemanden, der sich um sie kümmern könnte.«
»Ich kann das Madel net aufnehmen. Glauben Sie mir, wenn Sie mich kennen würden, wüssten Sie das.«
»Nickis Eltern waren anderer Ansicht. Es gibt eine Verfügung, die Sie zu Nickis Vormund macht.«
Lukas wurde flau. »Wo ist sie?«
»Sie wartet im Wagen.« Die Besucherin deutete zu ihrem Auto.
Auf dem Rücksitz saß ein Kind. Es hatte ein blasses, verweintes Gesicht und hellblonde Haare, die zu Zöpfen geflochten waren. Ihr Aussehen war ein weiterer Schock für den Fotografen, denn ihre großen, blauen Augen erinnerten ihn an ihre Mutter. Der Schmerz zerriss ihm fast das Herz.
»Sie kann net hierbleiben«, wehrte er ab und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nehmen Sie sie wieder mit, Frau Büchner. Hier ist kein Platz für ein Kind.«
***
»Das wird net funktionieren.« Lukas schaute zwischen seiner Nichte und der Besucherin hin und her, ehe er auf sein Haus deutete. »Wollen Sie erst einmal hereinkommen? Die Kleine wird erschöpft sein von der Fahrt.«
»Vielen Dank.« Elisabeth Büchner ging zu ihrem Auto und ließ seine Nichte aussteigen. Sie holte eine Reisetasche und einen grünen Plüschfrosch aus dem Kofferraum. Seine Arme wippten, als würde er darum bitten, gedrückt zu werden. Waren das Nickis gesamte Sachen? Viel war das ja nicht gerade.
Lukas runzelte die Stirn. Seine Tage waren verplant. Er hatte kein Kinderzimmer. Und auch nicht die geringste Ahnung von Kindern. Alles sprach dagegen, dass Nicki bei ihm wohnte. Das würde er der Sachbearbeiterin auch sagen.
Frau Büchner folgte ihm mit Nicki an der Hand in die Küche und drückte das Madel sanft auf die Eckbank nieder. Nicki hatte noch kein einziges Mal hochgeschaut. Unglücklich hielt sie den Kopf gesenkt. Von Zeit zu Zeit rieselte ein Beben durch ihren schmalen Körper. Es war ein Anblick, der einen Stein erweichen konnte.
»Nicki braucht nach der Fahrt etwas zu trinken«, bat die Besucherin. »Haben Sie vielleicht Kakao, Herr Kofler?«
»Sehe ich aus wie der Besitzer einer verdammten Milchbar?« Er sah, wie sie zusammenzuckte, und fügte verlegen hinzu: »Tut mir leid, aber ich hab nur Kaffee. Und Kamillentee. Glaube ich jedenfalls. Wie wäre es damit?«
»Ein Tee wäre schön.« Sie setzte sich neben Nicki und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Bleib schön hier sitzen, Schätzchen, ja? Dein Onkel und ich reden kurz.«
Nicki zeigte keine Reaktion. Sie starrte auf ihre Schuhspitzen und gab nicht zu erkennen, ob sie die Worte der Frau überhaupt gehört hatte.
Elisabeth Büchner kam zu Lukas herüber, der soeben den Wasserkocher füllte und sich fragte, wo um alles in der Welt er bei seiner letzten Magenverstimmung das Päckchen mit dem Kamillentee abgelegt hatte. Es fand es ganz hinten im Küchenschrank, hinter mehreren angebrochenen Packungen mit Nudeln, und gab einen Teebeutel in den Becher.
»Nicki ist todtraurig«, sagte die Besucherin. »Sie vermisst ihre Eltern und versteht noch net, dass die beiden nie wieder nach Hause kommen.«
»Kein Wunder«, brummte er. »Sie wurde aus ihrem Zuhause gerissen. So etwas verkraftet niemand leicht. Schon gar kein Madel von sechs Jahren.«
»Ich bin froh, dass Sie es verstehen. Sicherlich werden Sie Geduld mit ihr haben.«
»Das werde ich net. Haben Sie mir net zugehört? Ich kann das net übernehmen.«
»Sie werden es aber müssen. Nickis Zukunft liegt jetzt in ihren Händen. So haben ihre Eltern es bestimmt.«
»Das glaube ich kaum. Die beiden wollten gewiss net, dass ich ihr Kind großziehe. Wir hatten seit Jahren keinen Kontakt.«
»Trotzdem war es der Wunsch Ihres Bruders und Ihrer Schwägerin, dass Sie Nicki zu sich nehmen, wenn ihnen etwas zustößt.«
»Ausgerechnet ich.« Lukas schüttelte bedächtig den Kopf. Er hatte das Gefühl, einen Albtraum zu erleben. Nicht genug damit, dass ihm der Schock in allen Gliedern saß und die Trauer über den Tod seiner Familie in einem versteckten Winkel seines Bewusstsein lauerte – auf dem Sprung, jederzeit zuzuschlagen und ihn zu überrollen wie eine Lawine. Nein. Nun sollte er sich auch noch um ein kleines, tieftrauriges Madel kümmern, das gerade seine Eltern verloren hatte?
Wie, um alles in der Welt, sollte er das anstellen?
»Geht sie schon zur Schule?« Er kratzte sich am Kinn.
»Noch net. Sie soll nach dem Sommer eingeschult werden.«
»Das heißt, sie braucht jemanden, der tagsüber ständig auf sie aufpasst?«
»Das ist richtig. Allerdings ist sie schon sehr selbstständig. Sie wird Ihnen net zur Last fallen, Herr Kofler, davon bin ich überzeugt.«
Lukas runzelte zweifelnd die Stirn. Er vermutete, dass seine Besucherin das nur sagte, um ihn zu überreden, die Kleine bei sich wohnen zu lassen. Nach den wenigen Stunden, die sie mit dem Madel verbracht hatte, konnte sie unmöglich wissen, wie sich die Sechsjährige bei ihm einleben würde. Ratlos hob er die Schultern und schaute zu Nicki hinüber. Dabei stutzte er.
»Wo ist sie eigentlich?«
»Was?« Die Besucherin wirbelte herum und wurde blass. Nicki saß nicht mehr auf der Eckbank. Sie musste sich lautlos aus der Küche geschlichen haben und war verschwunden!
»Nicki?« Lukas ging in den Flur, aber von seiner Nichte war nichts zu sehen. Wenigstens war die Haustür geschlossen. Das Zufallen hätte er sicherlich gehört. Das bedeutete wohl, dass die Kleine noch im Haus war. Aber wo? Er spähte ins Bad, in das Wohnzimmer und seine Schlafkammer, aber sie war nirgendwo zu sehen.
Er wollte gerade in die erste Etage hinaufsteigen und in seinem Büro und der Gästekammer nachsehen, als ihm etwas auffiel: Die Tür seines Kleiderschranks stand einen Spaltbreit offen. Dabei war er sich sicher, sie nach dem Anziehen wie immer zugedrückt zu haben. Er kehrte noch einmal in sein Schlafzimmer zurück, zog die Schranktür auf und spähte hinein.
Nicki kauerte im hintersten Winkel des Schranks. Sie hatte die Knie angezogen, die Arme darum geschlungen und machte sich so klein wie möglich. Seine Hemden hingen auf Bügeln über ihr und verbargen sie halb, trotzdem bemerkte er die dicken Tränen, die lautlos über ihre linke Wangen kullerten.
»Was machst du denn da?«, fragte er verblüfft.
Nicki schmiegte sich noch fester an die Wand des Schranks und hielt den Kopf gesenkt, als machte sie sich am liebsten unsichtbar.
»Komm da raus«, brummte er. Doch sie schüttelte den Kopf. Herrschaftszeiten! Was sollte er jetzt machen? Er konnte sie doch nicht mit Gewalt aus dem Schrank zerren! Das heißt, das konnte er schon, aber er hatte keineswegs die Absicht, das zu tun.
Elisabeth Büchner war ihm in die Schlafkammer gefolgt und reichte ihm Nickis Plüschfrosch, doch nicht einmal der Spielgefährte konnte das kleine Madel aus seinem Versteck locken. Lukas bat und drängte, aber Nicki blieb, wo sie war.
Schließlich richtete er sich wieder auf. »Und was jetzt?«
»Ihnen wird sicherlich etwas einfallen«, versicherte die Besucherin. »Geben Sie Nicki einfach etwas Zeit, dann wird sie sich schon ein Herz fassen und aus dem Schrank kommen.«
»Und wenn net?«
»Das klappt schon.«
»Finden Sie net, dass ihr Verhalten ein Alarmsignal ist? Die Kleine braucht jemanden, der sich mit Kindern auskennt. Und das bin ganz bestimmt net ich«, warnte Lukas, aber genauso gut hätte er mit den gerahmten Fotografien an den Wänden reden können. Die Besucherin ließ sich von seinen Worten jedenfalls nicht beeindrucken, sondern deutete nach draußen.
»Ich muss leider zurück nach München. Ein Berg Arbeit wartet dort auf mich. Bevor ich fahre, werde ich noch Nickis restliche Sachen aus dem Auto hereinbringen. Es ist noch ein Koffer. Dann muss ich wieder fahren.«
»Warten Sie! Sie können doch net einfach abfahren und die Kleine hierlassen.«
»Sie tragen jetzt die Verantwortung für Nicki. Alles Weitere liegt bei Ihnen.« Elisabeth Büchner lenkte ihre Schritte aus dem Haus.
Lukas folgte ihr und holte sie an ihrem Auto ein. »Was soll ich denn jetzt machen?«
»Ihnen wird schon etwas einfallen. Aus meiner Erfahrung kann ich Ihnen sagen, dass Sie in Ihre neue Rolle hineinwachsen werden. Glauben Sie mir.«
»Aber das geht net. Ich habe einen Beruf und keine Zeit für ein Kind.«
»So geht es vielen alleinerziehenden Eltern.«
»Ach ja? Sie machen es sich verflixt einfach«, grollte er.
»Nickis Eltern wollten, dass ihr Kind bei Ihnen leben soll, wenn ihnen etwas zustößt. Diese Bestimmung ist verbindlich. Dagegen kann und werde ich nichts machen.« Die Besucherin öffnete die Klappe des Kofferraums, bevor sie sich noch einmal zu Lukas umwandte. »Es liegt jetzt in Ihrer Hand, was aus Nicki wird, Herr Kofler. Sie entscheiden, wo Nicki künftig leben wird. Niemand kann Ihnen da reinreden. Net einmal das Vormundschaftsgericht. Sie können und sollten Nicki zu sich nehmen. Rechtlich sind Sie dazu allerdings net verpflichtet.«
»Bin ich net?« Lukas schöpfte neue Hoffnung. »Wenn ich also jemanden finde, der geeigneter für die Erziehung ist, kann ich festlegen, dass Nicki dort aufwächst?«
»Das ist möglich, ja. Allerdings haben sich Nickis Eltern gewünscht, dass Sie die Kleine großziehen. Und sie haben diese Entscheidung bestimmt net leichtfertig getroffen. Das sollten Sie bedenken, Herr Kofler.«
Lukas schwieg verbissen. Was hatten sich sein Bruder und Gabi nur gedacht, als sie ihn zum Vormund ihrer Tochter bestimmt hatten? Groß war die Auswahl an Verwandten zwar nicht gewesen, die infrage kamen, aber dennoch …
»Ich muss jetzt wirklich zurückfahren«, sagte die Besucherin seufzend. »Leider erlaubt meine Zeit es mir net, mich länger mit Nicki zu befassen. Es gibt noch mehr Kinder, die ebenfalls Hilfe brauchen. Viel Glück, Herr Kofler.«
Lukas verschränkte die Arme vor der Brust und schwieg, denn er hatte das sichere Gefühl, dass Glück allein ihm nicht helfen würde, seine Nichte zu versorgen …
***
Feigl war ein geduldiges Schaf. Daniela konnte es stehen lassen, während sie seine Füße einen nach dem anderen anhob und die Klauen zurückschnitt. Das musste sie regelmäßig bei ihren Tieren machen. Ungepflegte Klauen waren eine Brutstätte für Krankheitserreger. Sobald Keime eindrangen, konnten gefährliche Entzündungen entstehen. Dann begannen die Tiere zu lahmen und wurden schwer krank.
Bei Feigl waren die Klauenspitzen gebrochen. Dadurch drohten sich die Klauen abzulösen. Behutsam schnitt Daniela mit einer Klauenschere die losen Teile ab. Dann hobelte sie mit einem scharfen Messer Span um Span ab, bis die weiße Linie zwischen Klaue und Klauenwand sauber sichtbar wurde. Zum Schluss schnitt sie die lose Spitze ab. Sie ging behutsam zu Werke, weil sie ihren Schützling nicht verschrecken wollte. Feigl sollte sich auch in Zukunft bereitwillig die Klauen pflegen lassen. Schafe, die sich sträubten, machten die Prozedur zu einer schweißtreibenden Angelegenheit.
Daniela war fast fertig, als hinter ihr eine dunkle Stimme dröhnte: »Kann ich dich kurz sprechen, Daniela?«
Sie zuckte zusammen. Auch Feigl erschrak und keilte aus. Sein Fuß traf sie mit voller Kraft vor die Brust. »Autsch!« Sie richtete sich auf und rieb sich den Brustkorb.
Lukas kam die Auffahrt herauf. »Stimmt etwas net?«
»Das kann man wohl sagen.« Seufzend schaute Daniela ihrem Schaf nach, das über die Wiese zu seinen Gefährten flüchtete. Wenigstens war sie fertig gewesen mit der Arbeit. Von dem Tritt würde sie allerdings einige Tage noch etwas haben. »Was gibt es denn? Hat Rika etwa wieder gewildert?«
»Net, dass ich wüsste. Es tut mir leid, wenn ich dich bei der Arbeit störe, aber ich brauche einen Rat von dir.«
»Einen Rat?« Überrascht sah sie ihren Nachbarn an. Wenn sie sich begegneten, machte Lukas ihr meistens Vorwürfe oder ging ihr gleich ganz aus dem Weg. Um ihre Hilfe hatte er sie noch nie gebeten. »Worum geht es denn?«
Ein Schatten schien auf sein markantes Gesicht zu fallen. »Mein Bruder und meine Schwägerin sind gestern in München verunglückt. Ein Lkw ist mit ihrem Auto kollidiert, und sie … sie haben es net geschafft.«
»Mei, Lukas!« Bestürzt sah Daniela ihren Nachbarn an. »Das ist ja furchtbar! Ich habe von dem Unglück im Radio gehört. Der Fahrer des Lkw soll am Steuer eingeschlafen sein, nicht wahr? Ich wusste allerdings net, dass dein Bruder und seine Frau in dem anderen Fahrzeug saßen. Es tut mir furchtbar leid. Was kann ich für dich tun? Brauchst du etwas?«
»Net wirklich.« Er rieb sich das Kinn, und sein Blick verriet, dass ihm etwas auf der Seele brannte. »Das waren noch net alle Neuigkeiten, weißt du. Ich soll mich ab jetzt um meine Nichte kümmern.«
»Um wen?« Verblüfft neigte Daniela den Kopf, sodass ihre blonden Haare über ihre Schultern zurückfielen. »Ich wusste gar net, dass du eine Nichte hast.«
»Ich kannte sie bis heute auch net. Mein Bruder und ich hatten net unbedingt das beste Verhältnis zueinander. Ich bin ein Fremder für die Kleine, und umgekehrt gilt dasselbe. Und jetzt weiß ich net, was ich tun soll. Eine Frau vom Jugendamt hat Nicki bei mir abgeladen und ist verschwunden. Angeblich haben Nickis Eltern mich zum Vormund für sie bestimmt, falls ihnen etwas zustößt. Kannst du dir das vorstellen?«
Daniela zögerte, aber er schien auch keine Antwort zu erwarten, denn er starrte nachdenklich zur Kampenwand hinüber und stemmte die Fäuste in die Hosentaschen.
»Als Ersatzvater bin ich absolut ungeeignet«, fuhr er fort. »Ich lebe allein und bin net auf ein Kind eingerichtet. Ich weiß nix über Kinder. Schon gar net über kleine Madeln. Das kann net gut gehen, Daniela.«
»Du sprichst die ganze Zeit von dir, Lukas. Wie geht es Nicki denn damit?«
»Was glaubst du wohl? Sie ist traurig und verstört. Ich weiß net, wie ich ihr helfen kann, deshalb habe ich beschlossen, Verwandte zu finden, die sie bei sich aufnehmen können.«
»Was?« Daniela hob den Kopf. »Aber das darfst du net, Lukas! Dein Bruder hat dir sein Kind anvertraut. Das hat er gewiss net leichtfertig gemacht. Kein Vater tut so etwas, ohne gründlich darüber nachzudenken und sich sicher zu sein, dass er das Richtige entscheidet. Dein Bruder wollte, dass du sein Kind aufziehst und niemand anderes.«
»Es fällt mir schwer, das zu glauben. Andreas und ich waren seit Jahren zerstritten.«
»Trotzdem muss er geglaubt haben, dass du seinem Madel ein Zuhause bieten kannst. Du darfst Nicki net wegschicken.«
»Aber das wäre das Beste für sie.«
»Das ist net richtig, Lukas.«
»Es würde net funktionieren!«
»Woher willst du das wissen? Du hast es doch noch net mal probiert!«
»Ich muss auch net von der Kampenwand in die Tiefe springen, um zu wissen, dass es net gut geht.« Sein Blick verdunkelte sich. »Nicki braucht ein besseres Zuhause als das, was ich ihr bieten kann.«
Daniela sah sich um. »Wo ist sie eigentlich?«
»Das ist das Problem, das mich hergeführt hat. Nicki sitzt in meinem Schrank.«
»Wie bitte?«
»Sie versteckt sich seit ihrer Ankunft in meinem Kleiderschrank. Ich habe schon alles versucht, um sie da herauszuholen. Ich habe sie angefleht, sie mit Pudding gelockt und ihr sogar ein Pony versprochen, aber sie rührt sich net vom Fleck. Schließlich wollte ich sie herausheben, da hat sie so gebrüllt, sodass ich sie wieder hineingesetzt habe.« Er fuhr sich durch die Haare, deren zerzauster Zustand verriet, dass er das nicht zum ersten Mal an diesem Tag tat. »Was soll ich bloß machen? Die Kleine kann doch net ewig im Schrank bleiben.«
»Vermutlich fühlt sie sich sicher da drin.«
»Das hilft mir aber net.«
»Warum gehst du net zu ihr rein?«
»Wie bitte?« Der Fotograf krauste die Stirn.
»Wenn Nicki net rauskommt, solltest du zu ihr in den Schrank kriechen. Rede mit ihr. Gib ihr das Gefühl, dass sie bei dir sicher ist. Sie hat bestimmt furchtbare Angst. Ihre Eltern sind fort, sie kennt hier niemanden und weiß net, wo sie ist. Das muss beängstigend sein. Geh zu ihr in den Schrank.«
»Also schön«, gab er nach. »Ich kann es probieren. Schlimmer als jetzt kann es kaum werden. Würdest du mitkommen? Vielleicht hilft es ihr, wenn sie eine Frau sieht.«
Daniela nickte bereitwillig und folgte dem Fotografen zu seinem Haus. Sie war noch nie bei ihm gewesen und dementsprechend überrascht, wie aufgeräumt, ja beinahe penibel ordentlich es bei ihm war. Kein Stäubchen lag herum. Die Schuhe standen in der Diele in Reih und Glied. Die Fenster waren blitzsauber, und Kakteen grünten auf der Fensterbank. Lukas schien es gern gemütlich zu haben. Das erstaunte Daniela. Sie hatte sich sein Zuhause kühl und abweisend vorgestellt – so, wie er sich immer verhielt.
Lukas steuerte ein Zimmer am Ende des Flurs an. Die Tür des Kleiderschranks stand offen. Ein blasses Madel in einem grünen Sommerkleid saß darin. Der Anblick ihres verweinten Gesichts gab der jungen Bäuerin einen Stich. Armes Hascherl!, dachte sie. Du hast alles verloren, deine Eltern und dein Zuhause, und jetzt sollst du bei einem Mann wohnen, den du net einmal kennst und der für seine grantige Art berüchtigt ist. Ich kann mir kaum vorstellen, wie es jetzt in dir aussehen muss.
Lukas setzte sich auf den Rand des Schrankbodens, zog die Beine an und tauchte in das Möbelstück ein. Dazu musste er sich praktisch zusammenfalten, weil er kaum Platz fand. »Und ich dachte, es wäre unbequem«, brummte er. »Rutsch mal, Kleine. Ich bin dein Onkel Lukas. Und das da drüben ist Daniela. Sie wohnt im Haus nebenan.«
»Dani?«, piepste die Sechsjährige und blickte scheu auf.
Daniela nickte. »Du kannst gern Dani zu mir sagen, wenn du möchtest, Nicki.«
Lukas legte unbeholfen seinen rechten Arm um die Schulter seiner Nichte. »Du hast Angst, das weiß ich. Diese Situation ist neu für uns beide, aber eines musst du wissen: Ich werde alles tun, damit es dir gut geht. Das verspreche ich dir.«
Nicki schniefte leise.
Da nahm er den grünen und schon reichlich mitgenommenen Plüschfrosch und strich ihr damit über die Wange. »Wie heißt denn dein grüner Freund?«
»Kermit«, wisperte sie.
»Freut mich, dich kennenzulernen, Kermit. Was sagst du da?« Lukas beugte sich über den Frosch und neigte ihm sein rechtes Ohr zu. »Du würdest gern etwas essen? Wirklich? Weißt du, ich könnte auch einen Happen vertragen.« Er sah Nicki an. »Kermit hat Hunger. Meinst du, er mag Pizza?«
»Mit Ananas darauf?«, piepste sie.
»Na klar. Ohne Ananas schmeckt es doch net.«
»Das mag er bestimmt. Und ich auch.«
»Zufällig ist Pizza mit Ananas auch mein Lieblingsessen.« Lukas lächelte seine Nichte an. »Wollen wir zusammen in die Küche gehen und schauen, ob im Tiefkühlschrank noch welche ist?« Er streckte seiner Nichte eine Hand hin.
Nicki legte ihre kleinen Finger in seine. Dann kletterte sie nach ihm aus dem Schrank. Daniela schluckte trocken. Sie hätte dem sonst so ruppigen Fotografen niemals zugetraut, so einfühlsam mit einem Kind umzugehen. Trotzdem schien er fest entschlossen zu sein, seine Nichte wegzugeben.
Würde das wirklich gut ausgehen?
***
»Was? Der Bursche hat ein Kind?« Josef Meindl schob die Halterung des Elektrozauns in die Erde und richtete sich wieder auf.
»Net ganz. Nicki ist seine Nichte«, erklärte Daniela. »Sie soll ab jetzt bei ihm wohnen.«
»Das arme Hascherl! Es wäre besser für sie, von Wölfen aufgezogen zu werden. Die wären vermutlich freundlicher.« Der Großvater rieb sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn. Er war dabei, den Weidezaun seiner Schafe zu versetzen. Wenn die Tiere zu lange an ein und derselben Stelle weideten, wurde das Gras von Kot und Parasiten verunreinigt. Das war nicht gut. Außerdem sollte das Gras beim Weiden die richtige Höhe haben. War es zu jung, enthielt es zu viel Eiweiß und zu wenig Rohfaser. Davon bekamen die Schafe Durchfall. Zu altes Gras hatte zu wenig Eiweiß und zu viele schwer verdauliche Kohlenhydrate. Dadurch ging die Milchleistung zurück, und die Lämmer hörten auf zu wachsen. Es war eine Wissenschaft für sich, die Weiden so zu pflegen, dass sie der Herde das beste Futter boten.
Daniela seufzte leise. »Der Unfall seiner Familie war ein schwerer Schlag für Lukas. Er hat seinen Bruder und seine Schwägerin verloren, und nun fühlt er sich mit der Sorge um seine Nichte überfordert.«
»Das kann ich mir vorstellen. Er wirkt net gerade wie ein Familienmensch. Hat die Kleine keine anderen Angehörigen, die sie aufnehmen könnten?«
»Das weiß ich net, aber ihre Eltern werden sich schon etwas dabei gedacht haben, ihm die Vormundschaft zu übertragen.«
»Verzweifelt müssen sie gewesen sein. Lukas besitzt wohl kaum die Fähigkeiten, sich um ein Kind zu kümmern.«
»Das glaubt er von sich auch, aber ich bin mir da net so sicher. Weißt du, ich habe ihn vorhin mit Nicki zusammen gesehen. Er war unbeholfen, aber er hat sich wirklich um sie bemüht und war dabei sehr einfühlsam. Ich glaube, er könnte das schaffen, wenn er net voreilig das Handtuch wirft.«
»Du siehst in allen Menschen immer das Gute, aber ich kann mir net vorstellen, dass ein kleines Madel bei einem Eigenbrötler wie dem Lukas glücklich aufwachsen kann.«
»Er ist ihr Onkel. Sie gehört zu ihm.«
»Dann tut sie mir leid. Er ist mir net geheuer.«
»Vielleicht unterschätzen wir Lukas. Er lebt zwar sehr zurückgezogen, aber …« Weiter kam Daniela nicht, denn ein heller Aufschrei ließ sie erschrocken herumwirbeln. In der nächsten Sekunde bemerkte sie zweierlei: Nicki hatte das Haus ihres Onkels verlassen und war auf die Schafweide geraten. Und ein Schafbock raste mit gesenktem Kopf auf sie zu!
»Cäsar, net!« Daniela rannte los. Der Bock schien in dem kleinen Madel einen Eindringling zu sehen, der sein Revier bedrohte, deshalb ging er zum Angriff über. Es war zu spät, um Nicki von der Weide zu schaffen, deshalb tat die junge Bäuerin das Einzige, was ihr noch blieb: Sie stellte sich schützend vor Nicki und breitete die Arme aus. »Bleib stehen, Cäsar!«
Doch der Schafbock dachte gar nicht daran. Er verlangsamte zwar sein Tempo, als plötzlich zwei Menschen auf seiner Wiese standen, prallte aber gegen Daniela und stieß sie um. Mit einem Stöhnen stürzte sie ins Gras. Sie hatte sich seitlich gewandt, um dem Tier so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Nun raste ein scharfer Schmerz durch sie, und sie rappelte sich mühsam wieder auf.
Ihr Großvater kam heran und band dem Schafbock einen Strick um den Hals. Er machte das Tier am Stamm einer Kiefer fest, ehe er sich zu Daniela umwandte. »Alles in Ordnung?«
»Ja, halbwegs.« Sie nickte keuchend. Der Schmerz pochte in ihrer Seite, ließ aber allmählich nach. Sie wischte sich ein paar Grashalme von ihrem Kleid und beugte sich über Nicki, die erschrocken schluchzte. »Alles in Ordnung, Spätzchen«, tröstete sie. »Cäsar wird dir nichts tun. Er wollte sich nur aufspielen. Das hier ist nämlich seine Weide, und die verteidigt er. Wieso bist du denn allein unterwegs?«
»Onkel Lukas telefoniert.«
»Aha.« Daniela hob das Kind auf den Arm, zog ein Taschentuch hervor und tupfte Nickis Tränen fort. »Ist schon gut. Du bist in Sicherheit. Dir kann nichts mehr passieren.«
»Meine Mami soll kommen«, wisperte Nicki.
»Das geht leider net. Sie ist jetzt im Himmel. Der liebe Gott hat sie zu sich gerufen und deinen Papa auch.«
»Und warum hat er mich net auch geholt?«
»Das weiß ich net. Vielleicht will er, dass du dir die Welt anschaust, die er geschaffen hat. Du hast noch so viel vor dir.«
»Ich möchte lieber bei Mami und Papa sein.«
»Dein Onkel Lukas wird ab jetzt für dich sorgen. Er wird gut auf dich aufpassen. Versprochen.« Daniela tauschte einen Blick mit ihrem Großvater. Er schnaubte kurz, ehe er wieder an seine Arbeit ging.
Daniela strich dem Madel über die Wange und trug es hinüber zum Nachbarhaus. Lukas kam ihr schon im Hof entgegen. »Da bist du ja, Nicki! Ich habe dich schon gesucht!« Sein Blick streifte Danielas mit Gras beschmutztes Kleid. »Was ist denn passiert?«
»Nicki ist auf die Weide unseres Schafbocks geraten. Er wollte auf sie losgehen, ich konnte es gerade noch verhindern.« Daniela setzte Nicki ab. Als sie sich wieder aufrichtete, schoss ein scharfer Schmerz durch ihre verletzte Seite. Sie biss sich auf die Lippen, um ein Aufstöhnen zu unterdrücken. Vermutlich würde sie morgen grün und blau sein …
»Der Bock ist auf meine Nichte losgegangen?« Lukas funkelte sie an. »Eure Viecher sind ja gemeingefährlich! Wieso war der Bock net hinter dem Zaun?«
»Weil mein Großvater den Zaun gerade umsetzt. Nicki hatte auf der Weide nix zu suchen. Warum hast du net auf sie aufgepasst?«
»Weil ich telefoniert habe. Ich komme im Augenblick zu nix und musste meinem Auftraggeber sagen, dass sich die nächsten Fotos verzögern. Das ist alles zu viel. Ich kann das net. Ich bin als Vormund absolut ungeeignet.«
»Dir fehlt nur die Übung. Mit der Zeit wirst du das hinbekommen.«
»Und wenn net? Nicki ist kein Versuchskaninchen. Wenn ich scheitere, wird sie darunter leiden. Das darf ich net riskieren.«
»Warum glaubst du, dass du scheitern wirst?«
»Weil es auf der Hand liegt. Glaubst du das etwa net? Dann nimm deine rosarote Brille ab. Das hier ist kein Fernsehfilm, wo am Ende alles gut ausgeht. Im wahren Leben scheitern Menschen, wenn sie sich zu viel zumuten. Und ich werde scheitern.«
»Hör auf, dich im Selbstmitleid zu suhlen, Lukas! Das kann und wird dich net weiterbringen.«
»Was soll ich denn deiner Ansicht nach tun?«
»Zeig Nicki, worauf sie achten muss. Sie ist ein Stadtkind. Sie weiß noch nichts vom Leben auf dem Land und seinen Gefahren. Es ist deine Aufgabe, ihr beizubringen, was sie wissen muss, um hier zurechtzukommen.«
»Klar, und wenn ich damit fertig bin, kümmere ich mich um das Ozonloch und sorge für Regen in der Wüste. Alles kein Problem«, grollte er.
Daniela musste lächeln. »Das Ozonloch und die Wüste kannst du getrost den Experten überlassen, aber um deine Nichte musst du dich selbst kümmern. Ich weiß, dass du das kannst.«
»Meinst du?« Verbissen stemmte er die Fäuste in die Hosentaschen. »Da bist du aber die Einzige!«
***
Mei, die Ohrenschmerzen treiben mich noch die Wände hoch!
Lukas streckte den Arm im Dunkeln aus und tastete nach den Ohrentropfen, die auf seinem Nachttisch standen. Er fand sie jedoch nicht gleich und stieß stattdessen an die Flasche Mineralwasser, die griffbereit neben seinem Bett stand. Sie fiel auf den Boden und kullerte unter sein Bett.
Lukas zerbiss einen Fluch auf den Lippen und drückte auf den Schalter der Nachttischleuchte. Das Licht ging an und blendete ihn, sodass er die Augen zusammenkniff. Endlich fand er die Arznei und träufelte sich einige Tropfen ins Ohr, ohne genau zu wissen, wie viele es waren. Die Entzündung wurde schlimmer. Sein Trommelfell fühlte sich an, als stünde es in Flammen. Das Medikament linderte den Schmerz zwar, aber wenn die Beschwerden nicht bald verschwanden, würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als zum Arzt zu gehen.
Ich habe ja auch sonst nichts weiter zu tun, dachte er und wälzte sich in seinem Bett herum. An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken. Das lag nicht nur an seinen Schmerzen, sondern auch an den Gedanken, die durch seinen Kopf wirbelten wie Blätter im Sturm. Er machte sich Sorgen um seine Nichte. Dazu kam der Verlust, der ihm die Brust zuschnürte. Sein Bruder und Gabi lebten nicht mehr. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass die beiden für immer fort sein sollten.
Seine Trauer trieb ihn um. Er stand auf und holte eine Schachtel Ibuprofen aus dem Badezimmer. Er nahm zwei Schmerztabletten ein und schluckte nach kurzem Zögern noch eine dritte. Dann setzte er sich auf den Balkon und sah zu den Sternen hinauf. Die Nachtluft war kühl, und von den Bergen fauchte ein kräftiger Wind heran. Lukas legte den Kopf in den Nacken und blickte zum Himmel hinauf.
War Andreas jetzt irgendwo da oben? Und Gabi? Warum hatte das Schicksal sie so früh aus dem Leben gerissen? Sie waren fort, und ihre Tochter musste allein aufwachsen. Ohne ihre Liebe, ihre Unterstützung und ihren Rat. Das war nicht fair! Warum hatte das geschehen müssen? Diese Frage kreiste unaufhörlich durch seinen Kopf. Lukas hatte zuerst nicht glauben können, dass es wirklich wahr war. Jetzt traf ihn die Gewissheit mit der Wucht eines Vorschlaghammers:
Sein Bruder und seine Schwägerin waren tot. Sie würden sich nie mehr sehen. Und auch an eine Versöhnung war nicht mehr zu denken. Die Zukunft war um all ihre Möglichkeiten beraubt worden. Und Nicki? Sie würde am meisten zu leiden haben. Ohne ihre Eltern war sie einem ungewissen Schicksal ausgeliefert.
Sie kann net hierbleiben, sann Lukas. Das geht einfach net. Heute Abend hat sie kaum einen Bissen angerührt. Sie hat gegessen wie ein Spatz, und danach hatte sie Bauchweh. Ich habe ihr Kamillentee gekocht und sie zu Bett gebracht, aber das allein wird ihr net helfen. Sie braucht jemanden, der sich mit Kindern auskennt und weiß, wie er sie aufrichten kann.
So weit war der Fotograf gerade mit seinen Gedanken gekommen, als er Schritte vor seinem Schlafzimmer hörte. Leise tappte jemand über den Dielenboden. Er fluchte unterdrückt, denn das konnte nur eins bedeuten: Nicki geisterte durchs Haus!
Er stand auf und ging nachsehen. Wie er es befürchtet hatte, huschte seine Nichte durch den Flur. Sie hatte ihr weißes Nachthemd an und war barfuß. Ihre blonden Zöpfe baumelten über ihren Rücken. Sie blickte seltsam starr geradeaus, als sähe sie durch ihn hindurch.
»Was machst du denn hier?«, rief er.
Daraufhin zuckte sie zusammen und riss erschrocken die Augen auf. »Was?«, wisperte sie und sah ihn verwirrt an.
Lukas runzelte die Stirn. War sie etwa geschlafwandelt? Grundgütiger! Das hatte ihm noch gefehlt! Ein Kind, das nachts umherwandelte und im Schlaf sonst was anstellte! Er bückte sich und hob sie auf seine Arme. Der Schreck schien ihr in allen Gliedern zu sitzen, denn sie zitterte am ganzen Leib.
Er trug sie zurück ins Gästezimmer und wünschte sich, der Raum wäre etwas weniger unpersönlich. Lukas hatte das Zimmer nur für Notfälle eingerichtet und so gut wie gar nicht dekoriert. Ein Bett, ein Schrank und ein Stuhl, das war im Großen und Ganzen die gesamte Einrichtung des Zimmers. Die Vorhänge waren dunkelbraun und ließen den Raum noch trister wirken.
Das ist alles andere als ein perfektes Kinderzimmer, dachte Lukas, während er Nicki wieder ins Bett legte und sorgsam zudeckte. Das Beste, das sich über das Zimmer sagen lässt, ist, dass das Bett frisch bezogen ist.
Er sah seine Nichte ratlos an. Sie wirkte so verloren, dass es ihm ins Herz schnitt. Er hätte sie gern getröstet, aber wie sollte er das anstellen?
Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Er eilte ins Wohnzimmer, holte ein Fotoalbum aus dem Schrank und kehrte zu Nicki zurück. Dann setzte er sich neben sie und legte einen Arm um sie. »Schau mal, was ich hier habe!«
Teilnahmslos starrte die Sechsjährige auf das Album. Er schlug es auf und tippte auf eine alte Schwarz-Weiß-Fotografie. Darauf waren zwei Buben zu sehen, die mit Keschern in einem Weiher fischten. Sie trugen kurze Hosen und grinsten fröhlich. »Kennst du den Bub hier, Nicki?«
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Das ist dein Papa, als er so alt war wie du jetzt. Und der Bub neben ihm, das bin ich.«
»Papa?« Nicki setzte sich auf und schaute auf das Foto nieder. Scheu legte sie einen Finger auf das Bild, genau auf die Stelle, an der ihr Vater zu sehen war.
»Dein Vater war mein großer Bruder. Wir waren als Kinder unzertrennlich. Er war älter als ich, und das hat er mich manchmal spüren lassen. Keine fünf Minuten, nachdem diese Aufnahme hier gemacht wurde, hat er mich ins Wasser geschubst. In voller Montur.« Lukas lächelte bei der Erinnerung wehmütig. Himmel, wie lange hatte er die Fotos nicht mehr angeschaut? So vieles aus der Vergangenheit war vergessen!
»Was ist dann passiert?«, piepste Nicki.
»Na ja, nachdem ich wieder aufgetaucht war, habe ich mich mit einer Wasserschlacht revanchiert. Am Ende waren wir beide so nass, dass man nimmer erkennen konnte, welcher von uns beiden ins Wasser gefallen war und welcher net.«
»Auweia!« Nicki machte große Augen.
»Das war net schlimm. Es war ein heißer Tag, und wir waren im Nu wieder trocken. Außerdem entdeckten wir Kaulquappen im Wasser und fischten welche heraus, die wir daheim in der Badewanne aussetzten.«
»Kaulquappen?«
»Genau. Sie sollten bei uns zu Fröschen heranwachsen, aber unsere Eltern waren net begeistert davon, wochenlang auf ihre Badewanne zu verzichten. Wir hätten freilich nix dagegen gehabt, aber wir mussten unseren Fund zurück zum Weiher bringen.« Lukas drückte seine Nichte an sich.
Sie weinte nicht mehr. Stattdessen kuschelte sie sich vertrauensvoll an ihn und ließ eine Hand auf dem Foto, als wäre es ein Draht in die Vergangenheit. Ihre Augen fielen zu. Lukas wagte kaum, sich zu rühren. Vorsichtig zog er ihre Zudecke noch ein wenig höher und spürte, wie sie den Kopf an seine Schulter schmiegte. Dabei wurde ihm ganz eigentümlich ums Herz. Er wünschte sich plötzlich, sie vor weiterem Leid zu beschützen.
In diesem Augenblick schlug draußen eine Autotür zu. Lukas reckte den Hals und spähte aus dem Fenster. Dabei sah er, wie seine junge Nachbarin von einem Mann zur Haustür gebracht wurde. Daniela hatte ein hellblaues Dirndl an, das ihr ausgezeichnet stand. Ihr Rock wippte bei jedem Schritt und betonte ihre langen, schlanken Beine. Ihre blonden Haare waren zu einer kunstvollen Flechtfrisur aufgesteckt. War sie tanzen gewesen? Und wer war der Mann, der sie nach Hause brachte?
Lukas kniff die Augen zusammen und sah genauer hin. War das nicht der Postbote? Im Trachtenanzug hätte er ihn beinahe nicht erkannt, aber es war tatsächlich Toni, der sich nun zu Daniela beugte und ihr ein Busserl gab.
Ich wusste gar net, dass sie zusammen sind, ging es ihm durch den Kopf, aber das ist kein Wunder. Ich weiß so gut wie nix über die Dorfbewohner, weil ich ihnen meistens aus dem Weg gehe … Nachdenklich schaute er auf seine Nichte nieder.
Das Schicksal hat dir übel mitgespielt, du arme Maus. Du hast deine Eltern verloren, dein Zuhause, und jetzt bist du bei einem Mann, der von Kindern kaum mehr weiß als von chinesischer Grammatik. Was soll nur aus dir werden?
***
»Guten Morgen, Feigl! Net so stürmisch, Lilo!« Daniela zählte ihre Schafe durch und atmete auf. Alle standen heil und gesund auf der Weide und drängten sich um sie. Sie wussten, dass es gleich einen Leckerbissen geben würde.
Die Bäuerin füllte die Salzlecke frisch auf und kontrollierte anschließend die Tränke. Am Wasser konnten sich die Schafe selbst bedienen und mit der Nase einen Riegel betätigen, der eine Portion Frischwasser in die Trinkschale strömen ließ.
Schließlich nickte sie zufrieden. Alles war in Ordnung.
Am vergangenen Abend war Daniela mit Toni tanzen gewesen. Es war ein angenehmer Abend gewesen. Sie hatten sich gut verstanden. Sie war viel später, als sie vorgehabt hatte, wieder daheim gewesen. Ihr Großvater hatte längst geschlafen. An diesem Morgen war es ihr dementsprechend schwergefallen, wie gewohnt um halb sechs aufzustehen. Daniela wollte noch ihre Hühner füttern, und sich anschließend eine Tasse Kaffee holen. Hoffentlich würde ihr der Muntermacher helfen, richtig wach zu werden!
Zu ihrem Kaffee kam sie vorerst jedoch nicht, weil jemand nach ihr rief. »Daniela!« Ihr Nachbar stand vor seinem Haus und winkte hektisch. »Kannst du kurz rüberkommen?«
Lukas war ebenfalls früh auf den Beinen. Daniela wunderte sich über sein zerknittertes Hemd. Es sah aus, als hätte er darin geschlafen! Sie setzte sich in Bewegung und ging zu ihm hinüber, aber offenbar nicht schnell genug, denn er drängte: »Beeil dich bitte. Rasch!« Also schritt sie schneller aus.
»Was gibt es denn? Brennt es irgendwo?«
»Wenn’s nur das wäre! Nicki ist oben, und irgendetwas stimmt mit ihr net. Kannst du nach ihr schauen?«
»Natürlich. Was fehlt ihr denn?«
»Wenn ich das wüsste! Sie hat einen Stich über der Augenbraue. Sieht nach einem Insektenstich aus. Das Auge ist zugeschwollen, und sie bekommt schlecht Luft.«
»Das hört sich nach einer Allergie an. Warte kurz. Ich bin gleich wieder da!« Daniela rannte zurück zu ihrem Haus, stürmte ins Badezimmer und holte das Notfallset aus dem Medizinschrank. Sie kannte die Symptome nur zu gut, denn ihr Großvater litt ebenfalls an einer Insektengift-Allergie. Schon mehr als einmal hatte sie ihm im Notfall helfen müssen, wenn er nach einem Insektenstich einen anaphylaktischen Schock erlitten hatte – die heftigste Reaktion auf ein Allergen.
In solchen Fällen sackte der Blutdruck rapide ab, und lebenswichtige Organe wurden nicht mehr genügend durchblutet. Dazu kamen Ödeme und Atemnot.
Mit fliegenden Schritten kehrte Daniela zu ihrem Nachbarn zurück. Lukas wartete an der Haustür auf sie und führte sie nach oben zu einer Gästekammer. Nicki krümmte sich auf dem Bett. Sie keuchte und blickte ängstlich auf. Ihr rechtes Auge war tatsächlich zugeschwollen, und ihr Puls raste.
»Ruf den Notarzt!«, wandte sich Daniela an Lukas, ehe sie sich über das Kind beugte. »Es wird alles wieder gut, Nicki. Ich werde dir jetzt eine Spritze geben. Das wird kurz piken. Danach wirst du leichter atmen können.«
Nicki stieß einen erstickten Laut hervor.
Daniela spritzte ihr Adrenalin und gab ihr zusätzlich Kortison und ein schnell wirksames Antihistaminikum. Das Adrenalin war ein Stresshormon, das die Herz-Kreislauf-Funktion ankurbelte und die Atmung erleichtern sollte.
Tatsächlich wurde Nicki schon nach wenigen Minuten ruhiger. Ihre Atmung kam leichter, und sie entkrampfte sich. Matt sank sie auf ihr Bett zurück und schloss die Augen.
»Nicki?« Erschrocken trat ihr Onkel näher.
»Ist schon gut. Sie ist nur erschöpft«, beruhigte Daniela ihn. »Sie muss sich ausruhen, dann wird es ihr bald besser gehen.«
»Mei, ich danke dir. Woher wusstest du, was zu tun ist?«
»Mein Großvater ist auch allergisch gegen Insektenstiche. Ich musste ihm im Sommer öfters helfen, wenn er von einer Biene oder einer Wespe gestochen wurde. Das Notfallset habe ich immer griffbereit.«