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Seit Jahrzehnten erfreut sich das Genre des Heimat-Bergromans sehr großer Beliebtheit. Je hektischer unser Alltag ist, umso größer wird unsere Sehnsucht nach dem einfachen Leben, wo nur das Plätschern des Brunnens und der Gesang der Amsel die Feierabendstille unterbrechen.
Zwischenmenschliche Konflikte sind ebenso Thema wie Tradition, Bauernstolz und romantische heimliche Abenteuer. Ob es die schöne Magd ist oder der erfolgreiche Großbauer - die Liebe dieser Menschen wird von unseren beliebtesten und erfolgreichsten Autoren mit Gefühl und viel dramatischem Empfinden in Szene gesetzt.
Alle Geschichten werden mit solcher Intensität erzählt, dass sie niemanden unberührt lassen. Reisen Sie mit unseren Helden und Heldinnen in eine herrliche Bergwelt, die sich ihren Zauber bewahrt hat.
Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:
Alpengold 220: Ihr Herz war noch frei
Bergkristall 301: Eifersucht, die sie verzehrte
Der Bergdoktor 1797: Und plötzlich war sie nur noch Magd ...
Der Bergdoktor 1798: Es geht doch um unser Glück!
Das Berghotel 157: Mit dir will ich es noch einmal wagen
Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 594
BASTEI LÜBBE AG
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Für die Originalausgaben:
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Für diese Ausgabe:
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ISBN: 978-3-7517-6498-8
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Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Alpengold 220
Ihr Herz war noch frei
Bergkristall - Folge 301
Eifersucht, die sie verzehrte
Der Bergdoktor 1797
Und plötzlich war sie nur noch Magd ...
Der Bergdoktor 1798
Es geht doch um unser Glück!
Das Berghotel 157
Mit dir will ich es noch einmal wagen
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Contents
Ihr Herz war noch frei
Sie ist das schönste Madel im Dorf – und das einsamste
Von Carolin Thanneck
Das Leben der hübschen Brandner-Elena gerät von einem Tag auf den anderen aus den Fugen, als sie die Hiobsbotschaft erhält: Ihr Bruder liegt nach einem Sturz in seinem Haus am Walchensee mit schweren Kopfverletzungen im Koma! Und Elena droht, den einzigen Menschen, der ihr lieb und teuer ist, zu verlieren!
Während sie Tag für Tag an Eriks Krankenbett im Spital wacht und in seinem Haus am See übernachtet, wächst in ihr ein böser Verdacht: Kann es sein, dass in der Nacht, in der Erik die Treppe hinunterstürzte, noch jemand im Haus war? Und wo ist die goldene Taschenuhr, die Erik immer bei sich trug?
Seine Nachbarin Irmi will in der Schicksalsnacht etwas Mysteriöses beobachtet haben, dem der junge Dorfpolizist Patrick Schwarze nachzugehen verspricht. Doch in dieser dunkelsten Zeit ihres Lebens vertraut Elena dem Falschen! Und das Drama, das sich schon einmal in Erik Brandners kleinem Hause am See abspielte, scheint sich auf tragischste Weise zu wiederholen …
Bitte, bitte, lieber Gott, lass meinen Bruder wieder gesund werden! Er hat noch so viele Pläne für seine Zukunft, aber jetzt liegt er im Krankenhaus und kämpft um sein Leben. Seine Ärztin weiß nicht mehr weiter. Ich habe es in ihrem Gesicht gesehen. Sein Leben hängt am seidenen Faden. Was soll nur werden, wenn er es nicht schafft?
Elena Brandner faltete ihre Hände und flehte den Himmel an, den wichtigsten Menschen in ihrem Leben zu retten. Ihre Eltern hatte sie schon vor sechs Jahren hergeben müssen. Ein Autounfall hatte ihre Familie jäh auseinandergerissen. Seitdem gab es nur noch Erik und sie. Ihr großer Bruder hatte sich um sie gekümmert und ihr beigestanden. Immer. Wenn sie ihn verlor, stand sie ganz allein auf der Welt.
Elena öffnete die Augen und schaute zu dem Kreuz auf dem Altar der Dorfkirche hinauf. Sie sandte ein heißes Gebet zum Himmel und blieb noch eine Weile in der Kirchenbank, bis ihr die Beine einschliefen und die kühle Luft sie frösteln ließ. Draußen schien warm die Sonne, hier im Inneren der Kirche war es jedoch kühl und roch nach Staub und Kerzenwachs. Niemand außer ihr hielt sich hier auf.
Ein Strauß Sommerblumen schmückte den Altar. Doch er konnte den Kummer nicht aus dem Herzen der Dreiundzwanzigjährigen vertreiben. Ihr Bruder war schwer verletzt, und nur ein Wunder schien ihn noch retten zu können.
Das Unglück war an einem sonnigen Sommertag unerwartet über sie hereingebrochen wie eine Lawine. Sie wusste noch nicht genau, wie es hatte geschehen können, aber sie war fest entschlossen, es herauszufinden. Aus diesem Grund verließ sie nun die Kirche und trat hinaus in den warmen Sonnenschein.
Nachdenklich schaute sie sich um. Nur knapp zweihundert Meter entfernt glitzerte das Wasser des Walchensees in der Nachmittagssonne. Die Silhouetten der Voralpen zeichneten sich in der Ferne ab. Insekten summten, und Schmetterlinge tanzten in der milden Luft. Es war ein herrlicher Sommertag. Nichts deutete auf eine Gefahr hin, die irgendwo im Verborgenen lauerte. Doch Elena ahnte, dass der Unfall ihres Bruders kein Zufall gewesen war.
Eine Bäuerin kam die Dorfstraße herunter. Heu klebte an ihren Gummistiefeln, und sie hatte sich ein Kopftuch umgebunden. Sie musterte Elena abweisend.
»Du bist die Schwester von diesem Schmierfinken, nicht wahr?«
»Ich …« Elena stutzte. »Von welchem Schmierfinken?«
»Der Schreiberling, der unser Dorf in der Presse schlechtmacht. Pass bloß auf, dass dir nicht dasselbe passiert wie ihm!«
Erschrocken riss sie die Augen auf. »Wie meinen Sie das? Was soll mir passieren?«
»Wenn du das nicht weißt, kann ich dir auch nicht helfen. Und jetzt geh mir aus der Sonne! Ich hab zu tun!« Mit diesen Worten schob sich die Bäuerin an ihr vorbei und ließ sie stehen.
Bestürzt sah Elena ihr nach. Hatte die Frau ihr soeben gedroht? Oder wollte sie sie lediglich warnen?
Elena schlang die Arme um sich selbst, weil sie trotz der sommerlichen Hitze plötzlich fröstelte. Ratlos schaute sie sich um.
Zwei andere Frauen liefen an ihr vorbei und starrten sie an, wandten sich jedoch rasch ab, als sie merkten, dass Elena zu ihnen hinüberblickte. Es war nicht schwer zu erraten, dass sie kein Interesse daran hatten, sie in ihre Unterhaltung einzubeziehen. Seitdem Elena im Dorf angekommen war, war sie fast überall auf Ablehnung gestoßen.
Noch niemals zuvor hatte sie sich so verlassen gefühlt.
Wie hatte es nur so weit kommen können?
***
Einige Tage zuvor
So wird das nichts!
Irmi Lindner warf sich im Bett herum und seufzte leise. Durch einen Spalt in den Gardinen fiel silbriges Licht in das Schlafzimmer herein. Der Mond stand rund und voll über ihrem Heimatdorf.
Der Nachtwind strich durch das offene Fenster und blähte die Vorhänge, sodass der dunkle Flanellmantel der Nacht von Fetzen hellen Mondlichts durchbrochen wurde. Der stete Wechsel brachte Irmi um den Schlaf. Obendrein sägte ihr Mann im Bett neben ihr einen Wald um. Der Lärm erinnerte an ein Heer aus Forstarbeitern, die jedem Stamm in der näheren Umgebung den Garaus machten. Es grenzte an ein Wunder, dass Greenpeace noch nicht an ihrer Tür geklingelt hatte!
Irmi kniff die Augen zusammen und zählte Schafe. Eins … zwei … Bei zweihundertachtzehn gab sie es schließlich auf und schob ihre dünne Zudecke von sich. Es war zwecklos!
Barfuß tappte sie über den Dielenboden nach nebenan in das Arbeitszimmer, das ihr Mann und sie sich vor einigen Jahren eingerichtet hatten, als ihre Kinder ausgezogen waren und das Haus zu groß für sie geworden war. Das Schnarchen klang hier kaum leiser. Irmi hatte schon überlegt, in einem anderen Zimmer zu nächtigen als Vitus, aber sie mochte nicht allein schlafen. Nicht nach dreiunddreißig Ehejahren.
Sie schaltete den Computer ein. Wenn sie keine Ruhe fand, wollte sie wenigstens etwas Nützliches tun und eine Näh-Vorlage für ein Futteral suchen. Ihre Enkelin trug ständig ein Mobiltelefon mit sich herum, deshalb wollte Irmi ihr eine hübsche Hülle aus Filz schneidern und mit Stickereien verzieren.
Anfangs hatte sie von dem technischen Schnickschnack nichts wissen wollen, den ihr Mann heimgebracht hatte. Einen Computer! Drucker! Router! Wozu brauchten sie das denn bloß? Inzwischen hatte sie jedoch entdeckt, dass das Internet eine Fülle an Informationen bot, wenn man nur gründlich genug suchte. Schnittmuster, zum Beispiel.
Irmi hatte schon zahlreiche Nähvorlagen gefunden: für Hemden, Röcke und Dirndl. Ihre Sachen waren auf den Leib geschneidert, und das war gut so, denn die Konfektionsgrößen im Kaufhaus stimmten meistens nicht mehr. Da konnte man sechs Hosen in der Größe 42 hernehmen und hatte am Ende ein halbes Dutzend verschiedene Weiten und Längen in der Hand. Meistens fielen die Sachen auch noch zu klein aus.
Kein Wunder, dass heutzutage viele junge Madeln an Essstörungen litten! Bei jedem Einkaufsbummel wurde ihnen ja suggeriert, sie seien zu dick!
Während der Computer summend zum Leben erwachte, öffnete Irmi die Balkontür und trat hinaus ins Freie. Sie stützte die Hände auf die Brüstung und sog tief den herb-süßen Duft der Geranien ein, die in den Blumenkästen blühten.
Es war eine milde Sommernacht. Der Walchensee glitzerte im Mondlicht. Das Schu-hu einer Eule wehte durch die Nacht. Irmi liebte ihre Heimat. Das Dorf Walchensee lag am Westufer des gleichnamigen Sees, eingebettet in das malerische Voralpenland. Gepflegte Bauernhäuser schmiegten sich an das Seeufer. Zu den rund sechshundert Einwohnern kamen zahlreiche Urlauber, die sich hier beim Wandern, Segeln oder Skifahren erholen wollten. Manche kamen auch wegen des Goldschatzes, der hier in den Wirren des Zweiten Weltkrieges verloren gegangen sein sollte. Gefunden hatte ihn allerdings noch niemand.
Für Irmi bestand der wahre Schatz des Sees ohnehin in der unberührten Natur. Viele Wildvögel und Fische waren hier beheimatet, die man in einer solchen Fülle nirgendwo anders fand.
Vom nahen Kirchturm wehten zwei einzelne Glockenschläge herüber. Zwei Uhr in der Nacht …
Versonnen ließ Irmi den Blick schweifen. Plötzlich erhaschte sie aus dem Augenwinkel etwas Helles und stutzte. Im Nachbarhaus war sekundenlang etwas aufgeblitzt. Eine Taschenlampe vielleicht? Alarmiert drehte sie den Kopf, aber das Licht war verschwunden. Hatte sie sich getäuscht?
Vermutlich hat mir das Mondlicht einen Streich gespielt, tat sie die Beobachtung ab. Um diese Uhrzeit ist der junge Mann von nebenan bestimmt nicht mehr wach. Als Journalist steht er meistens früh auf und joggt vor der Arbeit noch eine Runde.
Erik Brandner lebte seit fünf Jahren in dem Luftkurort Walchensee. Er hatte eine alte Fischerhütte gekauft, selbst renoviert und ein richtiges Schmuckstück daraus gemacht. Weiße Mauern, ein Holzbalkon sowie die großzügige Terrasse passten sich harmonisch in die Umgebung ein. Sogar ein Bootsanlegesteg gehörte zu dem Haus. Ein Ruderboot tanzte daran vertäut auf den Wellen.
Unvermittelt wurde nebenan die obere Etage hell.
Offenbar kann Erik auch nicht schlafen, ging es Irmi durch den Sinn. Sie zupfte eine welke Blüte von den Geranien ab und wollte gerade wieder hineingehen, als nebenan ein dunkler Aufschrei die nächtliche Stille zerriss.
»Aaaaah!«
Der Ruf erstarb jäh.
Irmis Blut schien sich in Eis zu verwandeln. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf. Und eine Gänsehaut rieselte ihren Rücken hinunter. Was um alles in der Welt war da soeben passiert? Der Schrei hatte nichts Gutes zu bedeuten. So klang ein Schrei in höchster Not!
Die Rentnerin war wie erstarrt vor Schreck, aber dann schüttelte sie die Lähmung ab, wirbelte herum und eilte zurück in das Schlafzimmer. Sie beugte sich über ihren Mann und rüttelte ihn an der Schulter.
»Wach auf, Vitus! Nebenan ist etwas passiert!«
»Wasislos?« Verschlafen regte sich ihr Mann unter der Zudecke und blinzelte.
»So hör doch! Unserem Nachbarn muss etwas zugestoßen sein. Ich habe ihn schreien gehört. Du, ich glaube, er wurde gerade umgebracht!«
»Was redest du denn da, Irmi?« Vitus setzte sich im Bett auf und schüttelte den Kopf, als hätte er Wasser in den Ohren. »Wer wurde umgebracht?«
»Der Erik! Ich habe es genau gehört!«
»Du wirst geträumt haben, Irmi. Vermutlich spukt dir der Fernsehkrimi von gestern Abend noch durch den Kopf. Komm wieder ins Bett! Alles ist gut. Bei uns wird niemand ermordet.«
»Vielleicht doch! Ich habe nicht geschlafen, Vitus. Glaub mir! Erik hat geschrien. Ihm muss etwas zugestoßen sein!«
Ihr Mann schwang die Beine aus dem Bett und zuckte augenblicklich zusammen. »Autsch!« Er rieb sich das rechte Knie. Er wartete seit zweieinhalb Monaten auf seine Operation. Das rechte Kniegelenk war von der Arthrose zerstört, aber es dauerte, bis er seine Prothese bekam. Bis dahin musste er sich mit Schmerzmitteln behelfen. Er klagte nie, aber Irmi wusste, dass ihn die Medikamente ständig müde machten – und dass er schon die Tage bis zu dem Eingriff zählte.
Vitus legte den ergrauten Kopf schief und lauschte. »Ich höre nichts«, brummte er.
»Jetzt ist es still, aber eben war das anders.« Irmi presste eine Hand auf ihre Brust. Ihr Herz klopfte wild und heftig. Sie ahnte, dass nebenan etwas Schlimmes geschehen sein musste. »Wir müssen nachsehen, Vitus.«
»Was, etwa jetzt gleich?«
»Ja, natürlich. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät!«
***
Am nächsten Nachmittag ahnte Elena noch nichts Schlimmes, als sie über ihrer Arbeit saß. Im knapp neunzig Kilometer vom Walchensee entfernten München brütete sie über einem griffigen Werbetext für ein Hotel. Flink tippte sie in ihren Computer: Urlaub am sonnenverwöhnten Walchensee – Erholung für alle Sinne!
Elena schrieb die Überschrift zu Ende, dann lehnte sie sich auf ihrem Bürostuhl zurück und ließ den Blick aus dem Fenster schweifen. Ein Urlaub wäre jetzt gar nicht schlecht, grübelte sie. Wir haben seit einem Monat Sommer, aber davon ist nicht viel zu merken. Das Wetter ist wirklich zum Fürchten!
Bleigraue Wolken ballten sich über ihrer Heimatstadt zusammen. Es regnete so heftig, dass die Straßen und Fußwege mit Pfützen übersät waren. Von den Bäumen im Englischen Garten tropfte der Regen. Die Hunde der Spaziergänger liefen als Fellbündel in den Park und kamen als Schlammkugeln wieder heraus.
Eine Sturmbö rüttelte an den Fenstern des Büros der Werbeagentur Zündstoff. Elena verzog unwillkürlich das Gesicht. Sie joggte gern nach ihrer Arbeit. Das war ihr Ausgleich zu den langen Stunden am Computer. Bei diesem Wetter würde jedoch wieder ihr Laufband herhalten müssen. Wenn sie sich überhaupt aufraffen konnte und ihr Magen endlich aufhörte, Salsa zu tanzen.
Ein säuerlicher Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus. Schon seit der vergangenen Nacht war ihr übel. Sie hatte Durchfall, fröstelte und konnte sich kaum dazu aufraffen, an die Arbeit zu gehen, aber das musste sie. Der Auftrag für das Sporthotel sollte noch in dieser Woche fertig werden – und sie setzte alles daran, pünktlich zu sein. Bei ihr gab es keine verschlampten Termine. Sie arbeitete stets zuverlässig. Damit hatte sie sich einen ausgezeichneten Ruf erarbeitet. Mit gerade mal dreiundzwanzig Jahren leitete sie zusammen mit ihrem Geschäftspartner sehr erfolgreich eine Werbeagentur.
Gerade war sie mit einer Kampagne für ein Sporthotel am Walchensee beschäftigt. Trotz der ausgezeichneten Lage am Seeufer war das Haus nur selten ausgebucht und schrieb rote Zahlen. Das sollte sich ändern! Elena hatte eine Strategie ausgeklügelt, um das Hotel bekannt zu machen. Sie setzte auf ein klares Motto und eine Kombination aus Werbung im Internet und in diversen Landzeitschriften. Schnörkellos brachte sie die Vorzüge des Hotels auf den Punkt.
Walchensee. Ihr schlechtes Gewissen verdrängte die Übelkeit. In dem idyllischen Kurort lebte ihr Bruder. Früher hatten Erik und sie fast täglich miteinander telefoniert und einander alles erzählt. Seit einem Jahr sprachen sie seltener miteinander. Sie waren sich fremd geworden, und Elena wusste, dass das ihre Schuld war. Sie hatte sich zurückgezogen, nachdem … Nein, nicht daran rühren, verbot sie sich hastig selbst, als eine Woge aus Trauer auf sie zurollte.
Rasch lenkte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Anzeigentext, mit dem sie auf das Hotel ihres Kunden aufmerksam machen wollte. Anders als sonst wollten ihr die richtigen Worte an diesem Tag nicht einfallen. Ihre Finger stockten über der Tastatur wie verletzte Vögel.
Sie nippte an dem Kräutertee und angelte kurzerhand die Magentropfen vom Schreibtisch. Sie träufelte gleich einen Schwung voll auf einen Löffel. Zwanzig Tropfen empfahl die Packungsbeilage, aber Elena maß die Menge großzügig ab und schluckte das Medikament hinunter. Dann schüttelte sie sich.
Schwere Schritte polterten im Flur. Ihr Geschäftspartner schaute zur Tür herein. Thomas Reuther überragte mit seinen ein Meter neunzig die meisten anderen Menschen. Er hatte kurze dunkle Haare und ein energisches Kinn, das einen festen Willen verriet. Sein Blick war ernst, aber nicht unfreundlich. Seine aufrechte Haltung verriet, dass er ein Mann war, der seine Ziele kannte und ohne Umwege darauf zusteuerte. Wie immer trug er einen dunklen Business-Anzug. Elena fragte sich manchmal, ob er auch daheim im Anzug herumlief.
»Elena?« Seine Stirn kräuselte sich verwundert. »Was machst du denn hier?«
»Ich arbeite hier, hast du das etwa vergessen?« Sie lächelte schief.
»Natürlich nicht. Ich meine, was machst du jetzt hier? Du bist krank. Ich habe dich schon vor Stunden heimgeschickt.«
»Ja, aber ich muss noch die Hotelkampagne beenden. Wie ist dein Termin mit dem Chef der Pharma-Werke verlaufen?«
»Ausgezeichnet.« Er nickte zufrieden. »Wir haben den Auftrag.«
»Das ist ja großartig!«
»In den nächsten Monaten dürfen wir uns die Werbung für neue Schmerzmittel und Vitaminpräparate ausdenken. Gratis-Proben werden uns übrigens zur Verfügung gestellt.«
»Das ist nett. Ich würde gern einmal eine Marketingaktion für eine Schokoladenfirma starten«, murmelte Elena.
»Mit kostenlosen Proben, nehme ich an?« Thomas grinste.
»Das versteht sich von selbst.« Elena zwinkerte ihm zu. Sie waren ein gutes Team. Thomas hatte Betriebswirtschaft studiert und kümmerte sich um den geschäftlichen Teil ihrer Agentur, während sie für den kreativen Teil der Arbeit zuständig war. Er konnte mit Zahlen umgehen, sie liebte es, mit Worten und Grafiken zu spielen. Dadurch ergänzten sie sich perfekt.
Er musterte die Medikamente, die auf ihrem Schreibtisch aufgereiht waren: drei Mittel gegen Magen-Darm-Grippe sowie Tee und eine Packung Zwieback, den sie noch nicht angerührt hatte. »Grün steht dir nicht«, stellte er fest.
»Grün?« Verwirrt schaute sie auf ihr blaues Sommerkleid.
»Ich rede von deinem Gesicht. Grün ist nicht deine Farbe.«
»Jetzt geht es mir gleich besser«, murmelte sie, zu matt für eines ihrer üblichen Wortgefechte. Außerdem hatte er recht. Sie hatte vorhin einen Blick in den Spiegel geworfen und wusste, dass sie so aussah, als hätte sie eine Woche nicht geschlafen.
»Ich meine es ernst. Geh heim und ruh dich aus, Elena, ehe du noch von deinem Schreibtischstuhl kippst!«
»Ich muss den Auftrag zu Ende bringen, damit wir pünktlich starten können. Außerdem gehe ich die Wände hoch, wenn ich nichts zu tun habe. Ich will noch nicht nach Hause fahren.«
»Aber du bist krank und solltest dich erholen.«
»Ich komme schon klar.« Elena winkte energisch ab. Die Vorstellung, allein in ihrer stillen Wohnung zu sitzen, behagte ihr nicht. Nein, da biss sie lieber die Zähne zusammen und arbeitete weiter. Sie verließ nicht ohne Grund abends meist als Letzte das Büro. Oft ließ sie sich noch etwas zu essen kommen und aß an ihrem Schreibtisch zu Abend, während sie arbeitete. Daheim wartete nichts als Stille auf sie, und das war oft mehr, als sie ertrug.
Bis vor einem Jahr hatten Lukas und sie sich die Dachgeschosswohnung in der Münchner Vorstadt geteilt. Es war ihr erstes gemeinsames Zuhause gewesen. Lukas war ihr Traummann gewesen. Der warmherzige Lehrer hatte ihr Herz im Sturm erobert. Sie wollten heiraten. Doch dann war ihr Glück in einer bitterkalten Winternacht jäh zerbrochen. Lukas war nach einem Elternabend erst spät von der Arbeit heimgefahren. Sein Auto war auf der eisglatten Straße ins Schleudern geraten und gegen einen Laternenpfahl geprallt. Die Rettungskräfte hatten ihm nicht mehr helfen können.
Damals war ein Teil von ihr mit ihm gestorben. Sie hatte sich von allem zurückgezogen. Der Verlust war eine Wunde, die noch immer keine Berührung vertrug. Nicht einmal den Trost ihres Bruders. Einzig mit Thomas kam sie zurecht. Vielleicht, weil er weder versuchte, sie zu trösten, noch ihr unaufgeforderte Berührungen zumutete. Er verhielt sich wohltuend normal und behandelte sie nicht anders als vorher. Für ihn war sie nur eine Geschäftspartnerin.
Das rettete sie. Nach und nach fand sie in ihre Arbeit zurück und lebte seitdem für ihre Karriere. Sie betäubte sich mit Arbeit. Der Einsatz brachte ihr beruflichen Erfolg, füllte die Leere in ihrem Herzen jedoch nicht aus. Elena ging seitdem jeder privaten Nähe aus dem Weg, denn noch einmal, das wusste sie, würde sie einen solchen Verlust nicht überstehen.
»Hör zu: Wir liegen mit dem Auftrag ausgezeichnet in der Zeit«, riss Thomas sie ins Hier und Jetzt zurück. »Es bringt nichts, wenn du schuftest, bis du umfällst. Ich brauche dich fit und einsatzbereit, also fahr heim und erhol dich!«
»Soll das heißen, ich falle dir zur Last?«
»Unsinn. Das soll nur heißen, dass du dich ausruhen sollst.«
»Ich möchte aber noch nicht heimfahren.«
»Und warum nicht? Nein, schon gut, ich weiß, warum.« Er sah sie sorgenvoll an. »Du solltest dich endlich nach einer anderen Wohnung umsehen. Das Appartement steckt voller Erinnerungen. Ich kann mir vorstellen, dass es hart ist, jeden Abend dorthin zurückzukehren, wo du mit Lukas glücklich warst. Warum ziehst du nicht endlich um?«
Ja, warum nicht? Diese Frage hatte sich Elena selbst schon oft gestellt. Sie sehnte sich danach, den Schmerz hinter sich zu lassen und neu anzufangen. Gleichzeitig hing sie aber auch an der Wohnung, die Lukas und sie liebevoll renoviert und eingerichtet hatten.
Zahlreiche Einrichtungsstücke hatten sie zusammen auf Flohmärkten erstanden. Elena wusste noch genau, wo sie den hübschen Garderobeständer entdeckt hatten. In Paris war es gewesen. Es hatte furchtbar geregnet, und Elena wollte bereits ins Hotel zurückkehren, aber Lukas hatte sie überredet, noch ein paar Minuten weiterzuschlendern – und dabei hatten sie das Schmuckstück an einem Stand entdeckt. Im strömenden Regen hatte Lukas sie vor Freude geküsst, woraufhin ihnen der Händler den Ständer zum halben Preis überlassen hatte.
Ihr junges Glück sei ihm eine Freude, hatte er gesagt. Elenas Haut erwärmte sich bei der Erinnerung. Die Wohnung aufzugeben bedeutete, sich endgültig von Lukas zu lösen, und dazu konnte sie sich noch nicht durchringen.
Ein leises Pling von ihrem Computer kündigte den Empfang einer neuen E-Mail an. Elena rief die Nachricht auf und überflog sie. Es war ein neuer Auftrag. Diesmal von einem Berliner Unternehmen. Offenbar sprach sich ihre Agentur allmählich auch über die Grenzen ihres Bundeslandes herum.
»Was gibt es?« Thomas lehnte sich an ihren Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Wir sollen einen Internetauftritt für eine Berliner Arztpraxis gestalten. Ich werde gleich morgen eine Liste mit allen nötigen Schritten anlegen.«
»Du und deine Listen!« Er verdrehte die Augen.
»Hey, sag nichts gegen mein System! Das hat uns schon so manchen Erfolg beschert.«
»Ich beschwere mich ja gar nicht. Für heute sollten wir es aber gut sein lassen. Wir haben viel geschafft und können Feierabend machen. Außerdem bin ich am Verhungern. Was hältst du davon, wenn ich uns eine Pizza kommen lasse?«
Elenas Magen schlug einen Purzelbaum. »Sprich bloß nicht vom Essen! Ich bringe heute keinen Bissen hinunter.«
»Normal ist das aber nicht. Willst du nicht vorsichtshalber zum Arzt gehen?«
»Wegen ein bisschen Durchfall und Übelkeit?«
»Zurzeit geht ein Virus um. Es würde mich nicht wundern, wenn du dich angesteckt hättest.«
»Mal sehen. Wenn es morgen noch nicht besser ist …« Elena unterbrach sich, als das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte. Sie nahm den Hörer ab. »Brandner hier.«
»Frau Elena Brandner?«, vergewisserte sich eine helle Stimme am anderen Ende der Verbindung.
»Ja, das bin ich. Wer spricht da, bitte?«
»Ich … also, ich bin die Lindner-Irmi, und ich hab leider schlechte Nachrichten für Sie …« Zögernd sprach die Anruferin weiter. Schlagartig wich alles Blut aus Elenas Kopf. Der Hörer entglitt ihren Fingern und fiel polternd auf die Schreibtischplatte.
»Elena?« Alarmiert sah ihr Kollege sie an. »Was ist denn passiert? Um Himmels willen, du zitterst ja!«
»Mein Bruder … Er ist letzte Nacht in seinem Haus am Walchensee verunglückt.«
»Verunglückt? Ist es schlimm?«
»Ich fürchte, ja. Erik liegt im Koma.« Elena erzitterte. »Die Ärzte wissen noch nicht, ob er durchkommt!«
***
Elena fühlte sich wie betäubt.
Seit dem Anruf war ihr Kopf wie in Watte gehüllt. Sie wusste nicht, was sie denken oder fühlen sollte. Ihr Bruder lag schwer verletzt im Krankenhaus. Das war ein Schlag, der ihr buchstäblich die Beine unter dem Körper weggefegt hatte.
Wie konnte das nur geschehen?
Erik war ein Mann, der mit beiden Beinen im Leben stand. Stark und selbstsicher hatte er sich immer um sie gekümmert. Und jetzt lag er im Krankenhaus, und seine Chancen standen mehr als schlecht!
Ich hätte unseren Kontakt nicht so vernachlässigen dürfen, warf sich Elena vor. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich … Sie stockte. Ja, was eigentlich?
Sie war sofort nach der Nachricht losgefahren, um ihren Bruder im Krankenhaus zu besuchen. Während der Fahrt verschleierten Tränen ihren Blick. So kam es, wie es kommen musste: Elena übersah den Abzweig und bemerkte ihren Fehler erst, als sie bereits an der Klinik vorbeigefahren war.
Hastig blinzelte sie, trat auf die Bremse und wendete an einer Bushaltestelle.
Wieder und wieder wirbelte die verstörende Nachricht vom Unfall ihres Bruders durch ihren Kopf. Ihr Magen rebellierte immer noch, aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Sie musste unbedingt ihren Bruder sehen!
Hier im Voralpenland regnete es nicht. Allerdings zogen graue Wolken über den Himmel. Elena bemerkte es kaum. Sie war so unkonzentriert, dass sie sich unterwegs mehrmals verfahren hatte. Ihr Routenplaner hatte für die neunzig Kilometer lange Strecke eine Fahrzeit von einer Stunde vorgesehen, aber Elena war gut doppelt so lange unterwegs gewesen. Sie atmete auf, als sie endlich auf den Parkplatz des Krankenhauses rollte.
»Hey!« Ein sehniger Mann in schwarzer Hose und einem dunkelblauen Hemd sprang zur Seite, als sie ihn beinahe mit dem Kotflügel streifte. Seine dunkelblonden Haare waren leicht gewellt und streiften seinen Kragen. Er sah gut aus, wie einer der Männer auf den Buchumschlägen der historischen Liebesromane, die Elena so gern las. Allerdings schaute er grimmig drein, was kein Wunder war, nachdem sie ihn beinahe überfahren hätte.
Erschrocken schaltete Elena den Motor aus und stieg aus ihrem Auto. »Entschuldigen Sie bitte! Ich habe Sie übersehen.«
»Das ist mir aufgefallen. Herrschaftszeiten, Frauen am Steuer!«, brummte er. Dann musterte er sie genauer. Sein Blick blieb auf ihrem verweinten Gesicht hängen, und seine Miene wurde ein wenig freundlicher. »Ist wohl kein guter Tag für Sie?«
»Das stimmt.« Elena schluckte, aber der Kloß in ihrer Kehle ließ sich nicht vertreiben. »Mein Bruder ist verunglückt. Ich … ich mache mir furchtbare Sorgen um Erik.«
»Erik? Meinen Sie etwa den Brandner-Erik?«
»Ja, das stimmt. Kennen Sie ihn?«
»Natürlich. Ich komme auch aus Walchensee. Ich habe ihn gerade besucht, aber die Mühe hätte ich mir sparen können. Er hat nicht einmal bemerkt, dass ich da war.« Er seufzte hörbar. »Patrick Schwarze ist mein Name.«
»Elena Brandner. Sind Sie mit Erik befreundet?«
»Nicht direkt. In einem kleinen Dorf wie unserem kennt jeder jeden. Ich dachte mir, ich schaue mal nach ihm. Er bekommt ja nicht oft Besuch.«
Nun fühlte sich Elena noch elender. Das schien auch ihrem Gegenüber aufzufallen, denn er hob begütigend die Hände. »Das war nicht als Vorwurf gemeint. Wirklich nicht.«
»Aber ich habe ihn im Stich gelassen.« Tränen brannten in Elenas Augen. »Wissen Sie, was mit ihm passiert ist?«
»In groben Zügen schon. Es war wohl ein Unfall. Erik wurde am Fuß seiner Treppe gefunden. Er muss im Dunkeln unglücklich gestürzt sein. Dabei hat er sich verletzt.«
»Er ist also die Treppe hinuntergefallen?« Elena schlang die Arme um sich selbst. So war es also passiert. Ein Sturz die Treppe hinunter. So schnell konnte es gehen. Ein Wimpernschlag nur, in dem man achtlos war, und das gewohnte Leben war vorbei. Sie konnte es nicht fassen.
Ihr Gegenüber sah sie mitfühlend an. »Sind Sie allein hier? Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen Eriks Zimmer zeige? Dann müssen Sie sich nicht erst mühsam durchfragen wie ich.«
»Wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht?«
»Ach wo. Ich habe heute keinen Dienst mehr. Sämtliche Parksünder und Einbrecher in meinem Heimatdorf sollten ihre Chance nutzen, denn morgen bin ich wieder da.«
»Wie bitte?« Elena blinzelte verblüfft. »Parksünder und …«
»Einbrecher.« Er grinste. »Ich bin Polizist. Der lange Arm des Gesetzes, wenn Sie so wollen.«
»Ach so. Ich verstehe.« Elena stieß den Atem aus und folgte ihm ins Innere des Krankenhauses. In der Hand drehte sie eine einzelne Sonnenblume. Das waren Eriks Lieblingsblumen, deshalb hatte sie ihm eine mitgebracht. In der Hoffnung, ihr Bruder könnte sich daran erfreuen. Doch dafür musste er erst einmal aufwachen … Das Herz flatterte ihr in der Brust wie ein gefangener Vogel, als sie das Krankenzimmer erreichten. Erik lag auf der Intensivstation. Elena musste sich einen Kittel anziehen und einen Mundschutz anlegen, ehe sie zu ihm hineindurfte. Der allgegenwärtige Geruch von Desinfektionsmitteln ließ ihre Übelkeit zurückkehren. Ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Sie schluckte hastig.
Patrick blieb im Flur zurück und gab ihr zu verstehen, dass er auf sie warten würde.
Elenas Herz klopfte bis zum Hals, als sie eintrat. Ihr Bruder lag im Bett und war kaum wiederzuerkennen. Sein Kopf war dick verbunden, und die wenige freiliegende Haut war blau verfärbt und angeschwollen. Ein Monitor zeichnete seine Herztätigkeit auf. Mehrere Schläuche und Drähte führten unter die Zudecke, über deren Funktion Elena lieber nicht so genau nachdenken wollte. Sie drehte die Blume zwischen den Fingern, während ihre Augen überliefen.
»Ach, Erik, was machst du nur für Sachen?« Ein leises Schluchzen entfuhr ihr. »Wie konnte das nur geschehen? Wir wollen doch irgendwann den Jakobsweg erwandern. Das haben wir schon viel zu lange aufgeschoben. Bitte, wach auf! Komm zu mir zurück! Bitte!«
Sie schloss die Augen und sah ihren großen Bruder vor sich. Erik … mit seinen dunklen Locken, die meist zerzaust waren, und dem ansteckenden Lachen. Mit seiner Vorliebe für Speisen mit Knoblauch und seinem großen Herz für alle Tiere. Er war ihr Bruder und ihr bester Freund.
Ihre Gedanken wanderten viele Jahre zurück zu jenem Tag, an dem sie ihren ersten Liebeskummer gehabt hatte. Erik war mit einem Stapel DVDs und einer großen Packung Eiscreme zu ihr gekommen, hatte sie getröstet und die ganze Nacht lang mit ihr Filme angeschaut, bis ihr Kummer seiner geballten Zuneigung nicht mehr standgehalten hatte und ihre Tränen versiegt waren.
Eine Träne rollte über ihre Wange.
»Ach, Erik, bitte, du musst aufwachen, hörst du?« Sie griff nach seiner Hand.
Hinter ihr klappte die Tür.
»Ist alles in Ordnung?« Patrick Schwarze kam herein. Der Polizist zog ein Taschentuch hervor und reichte es ihr. Dankbar nahm sie es und wischte sich über die Augen. »Brauchen Sie etwas, Elena?«
»Nur eines: dass mein Bruder wieder aufwacht.«
»Er ist stark. Er wird es schon schaffen.«
»Hoffentlich!« Elena fragte sich, ob ihr Bruder und der Polizist befreundet waren. Immerhin hatte er den Weg von Walchensee hierher auf sich genommen, um ihn zu besuchen.
»Ihr Bruder hat eine wundervolle Fotoreportage über unseren See gemacht. Die Bilder sind so idyllisch, dass man sie sich an die Wand hängen kann. Er ist ein guter Journalist.«
»Das war auch schon immer sein Traumberuf. Als Kind hat er für die Schülerzeitung geschrieben. Und noch früher hat er eine Familienzeitung gestaltet, mit Artikeln über unseren Alltag.« Elena lächelte bei der Erinnerung. »Er hat sie am Computer gestaltet. Und sogar Fotos eingebaut.«
»Sagen Sie bloß!«
»Er hat sogar Geld für jede Ausgabe verlangt.«
»Ah, ein Geschäftsmann.«
»Zu meinem Schulabschluss hat er eine Extraausgabe gestaltet.« Elenas Augen liefen über. Hastig tupfte sie die Tränen fort. In diesem Augenblick kam eine weiß gekleidete Ärztin herein. Sie trug ein Namensschild an ihrem Kittel. Dr. L. Foerster, FÄ für Neurologie, stand darauf.
»Ah, Besuch«, sagte sie freundlich.
»Frau Doktor?« Elena richtete sich auf. »Wie geht es Erik?«
»Sind Sie eine Verwandte?«
»Ich bin seine Schwester.«
»Ich verstehe. Nun, ich wünschte, ich hätte bessere Nachrichten für Sie.« Ein Schatten schien auf das Gesicht der Ärztin zu fallen. »Ihr Bruder hat sich bei seinem Sturz mehrere Rippen gebrochen und etliche Prellungen davongetragen. Das wird bald verheilen, allerdings hat er sich außerdem Kopfverletzungen zugezogen. Eine Fraktur hat eine Schwellung in seinem Gehirn verursacht. Wir mussten Hirnflüssigkeit abführen, um den Druck zu mildern, trotzdem besteht die Gefahr, dass sein Gehirn bereits geschädigt wurde. Das Ausmaß ist noch nicht abzuschätzen.«
»Was …« Elena räusperte sich, weil ihre Kehle mit einem Mal staubtrocken war. »Was bedeutet das?«
»Es ist ungewiss, wann Ihr Bruder aus dem Koma aufwachen wird. Und ob er dann noch der Mann sein wird, der er vor dem Unglück war. Es tut mir sehr leid, Frau Brandner. Im Augenblick können wir nicht viel mehr für ihn tun. Wir müssen abwarten.«
Elena wurde es sekundenlang schwarz vor Augen. Sie streckte den Arm aus und klammerte sich Halt suchend an einen Stuhl.
»Vorsicht!« Die Ärztin trat neben sie. »Brauchen Sie Hilfe?«
»Danke, es … es geht schon wieder.« Elena blinzelte, bis sich ihre Sicht klärte.
Die Ärztin schaute prüfend auf den Monitor, dann verließ sie das Zimmer wieder. Nicht ohne vorher zu versprechen, später noch einmal hereinzuschauen.
Elena zog sich einen Stuhl heran und sank darauf nieder. Dann ergriff sie vorsichtig die Hand ihres Bruders und erschauerte. Wie kalt er war!
»Hier, trinken Sie etwas!« Patrick reichte ihr eine Flasche Mineralwasser.
Elena hatte seine Gegenwart beinahe vergessen. Sie schraubte die Flasche auf und nahm ein paar Schlucke. Das Wasser war kalt und vertrieb das Schwächegefühl aus ihren Gliedern. »Danke schön.«
»Keine Ursache. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
»Nein. Ich werde noch eine Weile bleiben. Sie müssen nicht auf mich warten.«
»Wie Sie wollen. Fahren Sie nachher zurück nach München?«
»Nein, ich werde in Eriks Haus übernachten. Es gibt einiges, um das ich mich kümmern muss, solange er nicht da ist. Ich muss schauen, wer seinen Briefkasten leert, sich um seinen Garten kümmert … Solche Dinge eben. Oh, und dann ist da auch noch Eriks Kater.«
»Ach, richtig. Passen Sie bloß auf. Das Biest kratzt gern.«
»Kasimir?«
»Kasimir. Mephisto. Wie auch immer Sie ihn nennen wollen.« Der Polizist verzog das Gesicht und rieb sich die linke Hand, die sichtbare Kratzspuren zeigte.
»Schlechte Erfahrungen mit ihm gemacht?«
»Das können Sie laut sagen.«
»Ich muss trotzdem nach ihm sehen. Erik hängt an ihm.«
»Wie Sie meinen.« Der Polizist wirkte nicht erfreut über ihren Plan, im Haus ihres Bruders zu übernachten. Warum eigentlich nicht? Bevor sie dazu kam, diese Überlegung weiter zu verfolgen, reichte er ihr die Hand und verabschiedete sich.
Elena blieb allein am Krankenbett ihres Bruders zurück.
»Wach auf, Erik!«, flehte sie und drückte die kalten Finger ihres Bruders, aber der Verletzte zeigte keine Reaktion. Er lag in einem tiefen Schlaf, aus dem nichts und niemand ihn aufwecken konnte.
Er braucht Zeit, versuchte Elena, sich selbst Mut zu machen. Sein Körper wird sich erholen. Das muss er einfach.
Die Worte der Ärztin wirbelten noch durch ihren Kopf wie ein Tornado: Ob er dann noch der Mann sein wird, der er vor dem Unglück war … Wie sollte es weitergehen? Elena tat das Herz weh, als sie sich vorstellte, was die Zukunft ihrem Bruder bringen mochte. Sie hatte entsetzliche Angst um ihn. Dabei ahnte sie noch nicht einmal, dass die Aufregungen gerade erst begonnen hatten.
***
Die Stille im Haus dröhnte in Elenas Ohren.
Bei ihrem letzten Besuch hatte das Zuhause ihres Bruders völlig anders gewirkt: Erik hatte an seinem Auto gewerkelt, das Radio hatte gespielt, und der Duft von frischer Pizza hatte in der Luft gelegen.
Jetzt war sein Haus verwaist. Die Zimmer rochen abgestanden. Und die Grünpflanzen verloren welke Blätter. Dazu war es so still, dass Elena ihren eigenen Herzschlag hören konnte. Verloren stand sie im Flur und kämpfte gegen den Drang an, herumzuwirbeln und davonzufahren. Doch es wäre ein vergeblicher Versuch, dem Kummer zu entfliehen. Sie wusste, dass sie ihren Sorgen nicht so einfach entkommen konnte. Darum blieb sie.
In der Küche stand ein Becher in der Kaffeemaschine bereit. Offenbar hatte ihr Bruder den Morgenkaffee vorbereitet, war aber nicht mehr dazu gekommen, ihn zu trinken. Der Becher wirkte, als wäre Erik nur kurz weggegangen und würde gleich wiederkommen.
Hoffnung fiel wie warmer Sonnenschein in Elenas Herz. Wo Leben ist, ist Hoffnung, hatte ihre Großmutter oft gesagt. Sie durfte Erik noch nicht aufgeben. Ganz egal, was seine Ärztin gesagt hatte. Ärzte wussten auch nicht alles. Ihr Bruder konnte jederzeit aufwachen und wieder gesund werden. Er war stark. Und vor allem war er stur. Darauf durfte sie vertrauen.
Eriks Haus lag am Ufer des Walchensees. Elena stieß das Küchenfenster auf und hatte mit einem Mal einen wunderbaren Ausblick über den See.
Als sie sich abwandte, huschte gerade ein orangefarbener Kater herein. Kasimir. Ihr Bruder hatte ihn aus dem Tierheim gerettet. Kasimir konnte über eine Katzenklappe kommen und gehen, wie es ihm gefiel. Maunzend blieb er auf der Schwelle stehen und schaute sie aus grünen Augen misstrauisch an.
»Na, du? Hast du Hunger? Dein Herrchen ist nicht da, deshalb kümmere ich mich vorerst um dich.« Elena holte eine Untertasse und füllte sie mit Wasser, ehe sie sie vor den Kater auf den Boden stellte. Sie wollte ihn streicheln, aber er streckte blitzschnell die Pfote aus und verpasste ihr einen blutigen Striemen auf der Hand. »Autsch!«
Offenbar mochte er keine Fremden!
Sie zog ein Taschentuch hervor und presste es auf die Striemen. Ihre Hand brannte. Mit einem Mal fühlte sie sich so verloren, dass sie nicht weiterwusste.
Ihr Magen krampfte sich zusammen, und so konzentrierte sie sich auf das Nächstliegende: Sie nahm einen weiteren Löffel Magentropfen ein. Dann trat sie vor die Pinnwand, die über dem Küchentisch angebracht war. Mehrere Postkarten waren hier angepinnt. Daneben hingen zwei Terminkärtchen: eines von einem Zahnarzt, das andere von einem Augenarzt. Erik war für den kommenden Monat bestellt.
Ob er die Termine wahrnehmen konnte, stand allerdings noch in den Sternen. Außerdem hingen mehrere Fotografien an der Wand. Eines zeigte Elena als Erstklässlerin neben ihrem Bruder. Sie lachten beide vergnügt in die Kamera. Elena zeigte ihre Zahnlücken.
Erik hatte immer auf sie aufgepasst. Dabei hätte es kaum Geschwister geben können, die unterschiedlicher waren als sie beide. Erik war abenteuerlustig, chaotisch und Neuem gegenüber aufgeschlossen, während sie selbst auf Vertrautes setzte und Listen schrieb, die sie fein säuberlich abhakte. Womöglich waren es gerade ihre Unterschiede, die sie zusammengeschweißt hatten.
Was, wenn Erik nicht wieder gesund wurde?
Der Gedanke traf sie wie ein Schlag mit dem Vorschlaghammer. Dieser Tag kam ihr so unwirklich vor, aber das leere Haus schlug ihr die Wahrheit buchstäblich um die Ohren: Ihr Bruder war schwer verletzt – und es war fraglich, ob er je hierher zurückkehren würde.
Wie betäubt sank sie auf die Eckbank nieder. Sie bemerkte kaum, wie die Zeit dahintröpfelte, wie sich die Sekunden zu Minuten dehnten. Und es draußen dunkel wurde.
Erst das Klingeln des Telefons riss sie aus ihrer Versunkenheit.
»Hallo?« Müde hielt sie ihr Handy ans Ohr.
»Elena? Ich bin es, Thomas. Ich wollte nur mal hören, wie es deinem Bruder geht und ob du irgendetwas brauchst.«
»Danke, es ist lieb, dass du anrufst, aber ich …« Sie stockte, weil die Worte auf dem Weg zu ihrem Mund irgendwo verloren gingen und sie nicht mehr wusste, was sie sagen wollte.
»Ist es so schlimm?«, hakte er nach.
Da brachen plötzlich alle Dämme. Verzweifelte Schluchzer schüttelten Elena. Sie konnte nichts sagen. Verzweifelt kämpfte sie um Fassung und schluckte und schniefte.
»Soll ich zu dir kommen, Elena? Wenn ich gleich losfahre, bin ich in einer Stunde da.«
»N-nein, das …« Sie schluckte. »Das musst du nicht. Wenigstens einer von uns sollte im Büro die Stellung halten. Wir können es uns nicht leisten, an einem Werktag zu schließen und unsere Kunden zu verprellen.«
»Es würde schon gehen.«
»Danke, Tom, doch es ist besser, wenn du in München bleibst.«
»Also schön, aber schreib es dir auf: Ich komme sofort zu dir, wenn du mich brauchst. Ein Anruf oder eine SMS genügt.«
»Das ist lieb von dir.«
»Wie geht es Erik denn?«
»Er liegt im Koma. Er ist die Treppe hinuntergefallen und hat sich schwer am Kopf verletzt. Die Ärzte können noch nichts weiter sagen. Sie wissen nicht, wann er aufwachen wird und ob das überhaupt geschieht. Und selbst wenn, könnte es sein, dass Erik für den Rest seines Lebens beeinträchtigt sein wird.« Elenas Stimme erstarb.
Im Hörer blieb es sekundenlang still. Offenbar musste ihr Geschäftspartner das Gehörte erst einmal verdauen.
Schließlich war ein tiefer Atemzug zu hören.
»Ach, Elli, das tut mir furchtbar leid. Was wirst du nun tun?«
»Ich muss ein paar Tage in Walchensee bleiben und ein paar Dinge für Erik regeln.«
»Natürlich. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Ich komme hier schon klar.«
»Was ist mit dem Auftrag für den Internetauftritt der Roswitha-Apotheke? Und mit den Grafiken für den neuen Schnell-Imbiss?«
»Den Internetauftritt habe ich im Griff. Die Grafiken sind allerdings dein Gebiet. Daran pfusche ich besser nicht herum.«
»Schick mir die Unterlagen per E-Mail zu, ja? Ich werde mich hier daransetzen. Ich glaube ohnehin nicht, dass ich heute Nacht viel Schlaf finden werde.«
»Alles klar. Und du … Ruf mich an, wenn du reden möchtest, ja? Ich bin für dich da, das weißt du.«
»Danke, Tom. Das weiß ich wirklich zu schätzen.«
»Ist doch selbstverständlich. Ach ja, Elli?« Seine Stimme wurde wärmer. »Pass auf dich auf!«
»Das mache ich. Bis bald …« Elena wollte noch etwas hinzufügen, aber in diesem Augenblick hörte sie vor dem Fenster aufgeregtes Gackern. Nanu? Was war denn da los? Rupfte jemand Hühner vor ihrem Haus? Sie verabschiedete sich, legte ihr Telefon zur Seite und eilte zur Haustür.
Als sie ins Freie trat, stolperte sie beinahe über eine Henne, die es sich auf der Schwelle gemütlich gemacht hatte, nun jedoch gackernd davoneilte, sodass die Federn stoben.
»Vorsicht!« Eine Frau mit dunklen Haaren und einem faltigen Gesicht bückte sich und fing blitzschnell ein Huhn ein, das auf der Motorhaube von Elenas Wagen saß. »Das wäre Nummer eins. Bleiben noch acht weitere!«
»Was ist denn hier los?« Elena schaute ratlos auf die Hühner, die im Vorgarten pickten und gackerten.
»Unsere Hühner sind mir entwischt. Es tut mir wirklich leid. Das verflixte Stalltor schließt nicht mehr richtig, ich habe meinem Mann schon hundert Mal gesagt, er soll es reparieren.« Die Fremde winkte ab, ehe sie Elena anlächelte. »Ich bin übrigens Irmi. Mein Mann und ich wohnen nebenan.« Sie deutete über den Gartenzaun auf ein hübsches Alpenhaus.
»Elena Brandner. Ich glaube, Sie haben mich angerufen.«
»Natürlich! Sie sind Eriks Schwester!« In den grauen Augen der Rentnerin blitzte Erkennen auf. »Ich habe Sie schon einmal hier gesehen. Entschuldigen Sie bitte den Aufruhr! Ich werde die Hühner so schnell wie möglich wieder einfangen.«
»Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen helfe?«
»Das wäre mir sehr lieb. Die Viecher sind verflixt schnell.«
Elena erspähte eine Henne, die sich zwischen den Rosen im Vorgarten niedergelassen hatte. Langsam näherte sie sich dem Tier, bückte sich und … griff daneben, denn das Huhn sauste gackernd davon. Erst bei ihrem zweiten Versuch gelang es Elena, das Tier zu erwischen. Sie folgte der Nachbarin zum Hühnerstall und setzte ihren Findling darin ab.
Gemeinsam jagten sie den Hühnern nach, bis alle neun Tiere wieder sicher in ihrem Gehege untergebracht waren.
»Vielen Dank!« Irmi zupfte sich eine Feder aus den Haaren. »Mein Mann hat es am Knie, deshalb kann er keine Hühner mehr einfangen. Ohne Ihre Hilfe müsste ich sicherlich noch eine ganze Weile hinter den Biestern herjagen.« Ihr Blick blieb auf Elenas zerkratzter Hand hängen. »O je! War das Kasimir?«
»Ja, er hat mich mit seinen Krallen begrüßt.«
»Das ist bestimmt schmerzhaft. Passen Sie nur auf, dass er Sie nicht beißt. Er ist unberechenbar. Ihr Bruder hatte anfangs jeden Tag blutige Striemen.«
»Ich werde vorsichtig sein. Vermutlich vermisst er Erik.«
»Schon möglich. Tiere schließen uns Menschen genauso ins Herz wie wir sie.« Irmi nickte. »Bleiben Sie länger hier?«
»Genau weiß ich es noch nicht, aber ein paar Tage sicherlich.«
»Ich verstehe. Dann passen Sie bitte auf sich auf, ja? Vor allem, wenn Sie allein im Haus sind!« Die Rentnerin zögerte. »Ich sollte vielleicht gar nichts sagen. Mein Mann behauptet, es hätte nix zu bedeuten, aber es lässt mir keine Ruhe. Ich muss Sie warnen.«
»Warnen? Wovor denn?«
»Ich war wach in der Nacht, als Ihr Bruder verunglückt ist. Ich konnte nicht schlafen und war auf dem Balkon. Da habe ich seinen Schrei gehört. Außerdem habe ich Licht in der oberen Etage gesehen. Aber als die Polizei gekommen ist, lag das Haus im Dunkeln.«
Elena stutzte. »Was wollen Sie damit andeuten?«
»Es war merkwürdig. Das Licht oben ist ausgegangen, nachdem Erik gestürzt ist. Das kommt mir seltsam vor. Es muss also noch jemand im Haus gewesen sein, der das Licht ausgemacht hat. Und ich wüsste gern, wer das war!«
»Vermutlich war es Erik selbst.«
»Das glaube ich nicht. Dafür war er zu schwer verletzt.«
»Vielleicht hatte er Besuch?«
»Was ist denn das für ein Freund, der ihn schwer verletzt liegen lässt? Als wir ihn gefunden haben, war niemand mehr im Haus. Es hat auch niemand den Notruf gewählt. Oder irgendwie anders geholfen.«
Das war in der Tat merkwürdig. Ein Frösteln rieselte Elena den Rücken hinunter. Jemand hatte also das Licht gelöscht, nachdem ihr Bruder die Treppe hinuntergefallen war? Aber wer? Und warum war derjenige einfach verschwunden? »Haben Sie der Polizei von Ihrer Beobachtung erzählt, Irmi?«
»Ja, aber Patrick hat keinen Hinweis auf Fremdverschulden gefunden. Oder auf unbefugtes Eindringen. Auch nicht darauf, dass sich jemand außer Erik im Haus aufgehalten hat. Seiner Meinung nach war es ein Unfall. Er glaubt, dass der Strom kurzzeitig ausgefallen ist und dass die Lampe deshalb ausgegangen ist.«
»Das wäre doch möglich, glauben Sie nicht?«
»Ausgeschlossen! Dann wäre auch bei uns der Strom ausgefallen. So war es aber nicht.«
»Und wenn eine Glühbirne durchgebrannt ist?«
»Hm, hm.« Irmi wirkte nicht überzeugt.
Elena wusste nicht, was sie davon halten sollte. Hatte die Nachbarin zu viele Krimis im Fernsehen gesehen? Oder steckte mehr hinter ihren Beobachtungen? War der Sturz ihres Bruders ein Unfall gewesen? Oder hatte jemand nachgeholfen?
Elena hatte nicht genügend Informationen, um das sicher sagen zu können. Und so blieb das Rätsel vorerst ungelöst.
***
Es wurde schon dunkel draußen, als Elenas Magen mit einem vernehmlichen Knurren seine Rechte anmeldete. Sie hatte seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen, weil ihr übel gewesen war. Das rächte sich jetzt. Sie fühlte sich matt und abgeschlagen und spürte, dass sie etwas essen musste.
Im Kühlschrank ihres Bruders fanden sich nur Eier und Joghurt, deshalb verließ Elena das Haus und lief auf der Suche nach einem Supermarkt durch Walchensee. Sie wusste nicht, wo der nächste Laden war, hoffte jedoch, dass das Dorf wenigstens über einen Gemischtwarenladen verfügte.
Es sah allerdings nicht danach aus.
Sie lief am Segelclub vorbei und passierte ein Strandcafé, das sie hoffen ließ, bald eine Einkaufsstraße zu erreichen, aber als sie weiterging, kamen nur weitere Wohnhäuser und Pensionen. Sie erreichte ein Waldstück, bog ab und gelangte wieder ans Seeufer. Doch auch hier fand sich kein Laden. Restaurants gab es, aber ihr war nicht danach, sich in ein Lokal zu setzen. Nicht an diesem Abend.
Elena gelangte zu einer Kirche. Hier kam ihr ein grauhaariger Mann entgegen, dessen Kleidung ihn schon von Weitem als Landwirt auswies: Er trug ein kariertes Hemd, eine Arbeitshose und Gummistiefel. Dazu hatte er einen Filzhut auf dem Kopf, unter dem graue Haarbüschel hervorblitzten.
»Entschuldigen Sie, bitte.« Elena trat auf ihn zu. »Können Sie mir sagen, ob es hier im Dorf einen Supermarkt gibt?«
»Na, da musst schon nach Wallgau fahren?«
»Ist das weit von hier?«
»Zu Fuß schon.« Er rieb sich das stoppelige Kinn und musterte sie. »Bist wohl heut erst angekommen.«
»Das stimmt.«
»Machst Urlaub hier?«
Elena neigte den Kopf. »Nicht direkt. Mein Bruder ist letzte Nacht verunglückt. Ich kümmere mich um sein Haus …«
»Redest du etwa vom Brandner-Erik?« Das Gesicht des Landwirts lief dunkelrot an, und seine Augen blitzten. »Der Schmierfink, der elende! Er hat bekommen, was er verdient hat!«
»Wie bitte?!« Entsetzt sah Elena ihr Gegenüber an.
Doch der Landwirt würdigte sie keines Blickes mehr. Stattdessen schob er sich demonstrativ an ihr vorbei und stapfte davon. Seine Hände vergrub er in den Hosentaschen.
Elena starrte ihm hinterher.
»Sie dürfen es dem Blattner-Franz nicht übelnehmen«, erklang eine freundliche Männerstimme. Ein Mann in einer schwarzen Soutane kam die Kirchentreppe herunter. »Er meint es nicht so. Sein Temperament geht hin und wieder mit ihm durch.«
»Aber er … er hasst meinen Bruder regelrecht.«
»Ihren Bruder?«
»Ja, ich heiße Elena Brandner und bin die Schwester von Erik Brandner.«
»Ich bin Pfarrer Reinholdt.«
»Wissen Sie, was der Bauer gegen meinen Bruder hat?«
»Sie sind im Rahmen einer Reportage aneinandergeraten, die Ihr Bruder geschrieben hat. Oder noch schreiben will. So genau weiß ich das leider nicht.«
»Aber das ist seine Arbeit und noch lange kein Grund, ihm einen furchtbaren Unfall zu wünschen.« Elena schlang die Arme um sich selbst. »Wie kann er so grausam sein?«
»Franz braust rasch auf, aber er beruhigt sich auch wieder. Sie sollten seinen Worten nicht zu viel Gewicht beimessen.«
Elena hätte den Rat gern beherzigt, aber die Worte des Landwirts gellten noch in ihren Ohren. Sehr nachdenklich kehrte sie zum Haus ihres Bruders zurück. Die Einkaufspläne verschob sie auf den nächsten Tag.
Der Appetit war ihr gründlich vergangen!
Wieder im Haus füllte sie den Fressnapf des Katers mit Futter, das sie im Küchenschrank fand. Auch die Wasserschale füllte sie auf. Dann drehte sie sich einmal um die eigene Achse und hörte ihren eigenen Atem, so still war es im Haus. Die Einsamkeit überfiel sie mit Macht. Hastig blinzelte sie und machte sich daran, die Blumen im Haus zu gießen. Ihr Bruder besaß zahlreiche Pflanzen – Orchideen, Azaleen und Grünes, dessen Namen sie nicht einmal kannte.
Hoffentlich gehen die Blumen nicht ein, solange er fort ist!, bangte sie. Aber wer weiß, wann er wieder heimkommen darf? Elena schluckte trocken.
Das Tappen von Pfoten kündigte Kasimir an. Der Kater huschte zu seinem Napf und begann zu fressen. Dabei ließ er Elena kaum eine Sekunde aus den Augen. Als sie einen Schritt auf ihn zumachte, hielt er inne, machte einen Buckel und fauchte. Unwillkürlich fuhr sie zurück und berührte die Kratzer auf ihrer Hand. »Du vertraust wohl niemandem, was, Kleiner?«
Der Kater maunzte. Es klang traurig.
Elena suchte nach einem Trost für ihn und entdeckte seinen Korb unter dem Fensterbrett. Kurz entschlossen ging sie ins Schlafzimmer ihres Bruders, nahm ein Shirt vom Stuhl und brachte es in die Küche. Erik würde ihr hoffentlich verzeihen, dass sie sein Shirt geopfert hatte, um den Kater zu trösten. Sie legte es in seinem Korb aus.
Kasimir neigte den Kopf, als wollte er ihre Absichten ergründen. Dann fraß er weiter. Als sein Napf leer war, trollte er sich in seinen Korb und rollte sich zusammen. Er stieß ein Maunzen aus. Offenbar mochte er den vertrauten Geruch.
»Erik wird zu uns zurückkommen. Versprochen.« Elena wusste nicht genau, ob sie mit diesen Worten den Kater oder sich selbst trösten wollte. Sie kniete sich hin und streckte vorsichtig die Hand aus. Diesmal ließ sich Kasimir von ihr streicheln. Er schnurrte wie ein kleiner Motor, als sie ihn kraulte.
Seine Wärme tat ihr gut und vertrieb etwas von der Einsamkeit aus ihrem Herzen. Elena beschloss, sich Rührei mit Kräutern aus dem Garten zum Abendessen zu machen. Sie holte eine Handvoll Grün von draußen herein, schnitt es klein und setzte das Rührei in einer Pfanne auf. Wenig später zog der würzige Duft der Eierspeise durch das Haus.
Elena aß allein am Küchentisch. Kasimir döste. Vor dem Fenster war es inzwischen dunkel. Die Lichter der Kabinenbahn schimmerten herüber, die auf den Herzogstand führte – den Hausberg von Walchensee.
Nach dem Essen klappte Elena ihren Laptop auf. Sie war erschöpft, aber ihre Gedanken kreiselten durch ihren Kopf, sodass sie bezweifelte, schlafen zu können.
Thomas hatte ihr inzwischen die Unterlagen für den Auftrag des neuen Imbiss-Betreibers geschickt. Elena sollte die Grafiken für die Werbekampagne entwerfen. Sie vertiefte sich in ihre Arbeit, aber es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren.
Immer wieder gingen ihr die Worte des Landwirts durch den Kopf.
Er hat bekommen, was er verdient hat!
Was wollte er damit sagen? Dass Erik der Unfall recht geschehen war? Oder, dass es überhaupt kein Unfall gewesen war? Hatte der Bauer womöglich nachgeholfen? Er war offenkundig nicht gut auf Erik zu sprechen. Wozu hatte er sich in seinem Groll hinreißen lassen?
Elena beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Was hatte die Nachbarin gesagt? Vor dem Unfall hatte in der oberen Etage Licht gebrannt. Danach aber nicht mehr?
Möglicherweise war eine Glühbirne durchgebrannt!
Elena räumte ihr Geschirr in die Spüle und eilte nach oben, um ihre Theorie zu überprüfen. Sie knipste jede Lampe in der ersten Etage an. Eine nach der anderen ließ sich einschalten. Alle funktionierten tadellos.
Also keine kaputte Glühbirne.
Auch kein Stromausfall.
Warum war das Haus dunkel gewesen?
Oder hatte sich die Nachbarin getäuscht, und in jener Nacht hatte überhaupt kein Licht gebrannt? Elena wollte es jetzt genau wissen! Sie knipste alle Lampen aus und stand unvermittelt im Dunkeln. Es war so finster, dass sie nicht einmal die Hand vor Augen sehen konnte. Unmöglich, die Treppe zu finden oder gar nach unten zu steigen! Das hätte Erik nicht riskiert. Er musste also in der Unglücksnacht das Licht eingeschaltet haben, um nach unten zu gelangen. Sein Haus war jedoch dunkel gewesen, als die Rettungskräfte eingetroffen waren.
Das ließ nur einen Schluss zu: Außer Erik war noch jemand hier gewesen, der das Licht nach seinem Sturz ausgeschaltet hatte. Die Frage war nur: Wer? Und warum hatte er ihm nicht geholfen, als er am Fuß der Treppe gelegen hatte?
Am nächsten Morgen fühlte sich Elena wie gerädert. Sie hatte bis in die Nacht hinein wachgelegen und gegrübelt, aber eine Erklärung für den Unfall ihres Bruders hatte sie nicht gefunden.
Sie spürte, dass mehr hinter seinem unglücklichen Sturz steckte, und suchte in seinem Computer nach Antworten. Ihr Bruder hatte zahlreiche Ordner auf seinem PC gespeichert. Einer war mit dem Stichwort »Aktuelle Recherche« versehen. Darin fanden sich zahlreiche Artikel und Dokumente zum Thema Naturschutz und Biogasanlagen. Anscheinend hatte sich ihr Bruder gründlich in die Materie eingearbeitet.
Und sich damit Feinde gemacht?
Während sie las, trottete Kasimir zur Tür herein und rollte sich neben ihren Füßen zusammen. Die Hitze schien ihn träge zu machen, denn er schloss die Augen und schien nicht daran interessiert zu sein, an diesem Tag eine Pfote zu rühren.
Eine Datei mit der Überschrift »Kontakte« erregte Elenas Aufmerksamkeit. Darin fand sie Namen und Adressen von mehreren Landwirten aus der näheren Umgebung. Hatte sich Erik nicht nur mit Franz Blattner angelegt, sondern auch noch mit anderen Landwirten? Aber mit wem genau?
Elena durchforstete den Computer nach Hinweisen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, als sie den E-Mail-Eingang ihres Bruders durchstöberte, aber sie hoffte, eine Nachricht zu finden, die Licht in die Ereignisse bringen konnte. Zum Glück hatte Erik noch dasselbe Passwort für sein E-Mail-Programm!
Sie fand zahlreiche berufliche Nachrichten und einige private Mails. Jedoch nichts, das den verhängnisvollen nächtlichen Überfall erklären würde. Seufzend starrte Elena auf den Bildschirm, als könnte sie ihn mit purer Willenskraft dazu bringen, ihr zu verraten, was mit ihrem Bruder passiert war.
Doch das brachte sie nicht weiter. Sie steckte in einer Sackgasse fest.
Ich werde ein paar Tage hierbleiben und Nachforschungen anstellen, entschied sie. Arbeiten kann ich auch von hier aus. Solange Erik im Koma liegt, gibt es niemanden, der für ihn nach der Wahrheit suchen könnte. Nur mich. Und ich werde ihn nicht hängenlassen.
Elena hatte im Gästezimmer übernachtet. Das Bett war frisch bezogen, als hätte ihr Bruder mit ihrem Besuch gerechnet. Dabei wäre sie gar nicht hier, wenn er nicht verunglückt wäre. Wieder spürte Elena einen Stich ihres schlechten Gewissens. Warum war sie nicht früher gekommen? Vielleicht hätte sie Erik helfen können?
Ihr Blick schweifte aus dem Fenster. Das Dorf lag noch im Morgendunst, aber der strahlend blaue Himmel kündigte einen schönen Sommertag an. Die Regenwolken waren über Nacht ebenso verschwunden wie ihr Unwohlsein. Das Wasser des Walchensees schimmerte grünlich, und ein paar Enten quakten im Schilf. Ein Ruderboot tanzte am Anlegesteg auf dem Wasser. Elena wurde das Herz weit, als sie einen Reiher am Ufer landen sah.
Ich verstehe, warum Erik das Dorf liebt. Es ist so idyllisch. Die Hektik der Großstadt hat hier noch keinen Einzug gehalten.
Sie betrachtete eine gerahmte Fotografie, die über dem Lesesessel am Fenster hing. Darauf war Erik zu sehen, der mit Freunden am Strand um ein Lagerfeuer herumsaß. Das Bild verströmte so viel Wärme, dass Elena die Brust eng wurde. So ist Erik, dachte sie. Immer für seine Freunde da.
Auf dem Schoß hielt ihr Bruder ein Buch, das in Leder gebunden war. Er schien gerade daraus vorzulesen. Elena erkannte das Buch. Es war »Die Schatzinsel«. Aus seiner Hemdtasche blitzte die goldene Kette einer Taschenuhr. Sie war seit Generationen im Familienbesitz und hatte am Ende des 19. Jahrhunderts ihren Urgroßvater nach Amerika begleitet, als er ausgewandert war. Auf verschlungenen Wegen war die Uhr zurück nach Deutschland gekommen, bis sein Großvater sie Erik geschenkt hatte. Erik liebte sie sehr.
Elena strich über das Foto und spürte einen Stich. Ein stummes Gebet stieg aus ihrem Herzen zum Himmel auf. Sie flehte darum, dass ihr Bruder bald aufwachen würde.
Draußen zwitscherten die Vögel ein munteres Morgenlied.
Elena beschloss, nach dem Frühstück zur Polizei zu fahren und mit Patrick Schwarze über ihre Beobachtungen zu sprechen. Ihrer Ansicht nach war es ausgeschlossen, dass ihr Bruder in der Unglücksnacht ohne Licht die Treppe hinuntergestiegen war. Wer also hatte es ausgeschaltet? Vorerst konnte ihr Bruder ihnen nichts dazu sagen, deshalb mussten sie dieser Frage unbedingt selbst nachgehen!
Und wenn Erik wirklich jemand schaden wollte? Absichtlich? Ein Schauer rieselte ihr den Rücken hinunter. Wieder einmal wünschte sie sich, nicht allein zu sein, sondern einen Partner zu haben, dem sie ihre Sorgen anvertrauen könnte.
Jemanden wie Thomas.
Der Gedanke war so plötzlich da, dass sie unwillkürlich nach Luft schnappte. Ihm konnte sie vertrauen. Blind. Doch ihr Kontakt beschränkte sich auf das Geschäftliche. So hatten sie es schon immer gehalten. Thomas sprach nie über private Dinge mit ihr. Sie wusste nicht einmal, ob es eine Frau in seinem Leben gab oder ob er ganz für seinen Beruf lebte. Wie ihr Bruder. Nein, es war besser, Thomas da herauszuhalten. Er mochte ganz sicher nichts über ihre privaten Sorgen hören.
Nachdenklich fütterte Elena den Kater ihres Bruders. Für sich selbst fand sie Toastbrot und Honig im Küchenschrank und kochte sich einen Kaffee. Während sie aß, googelte sie die nächste Polizeistation. Der Posten befand sich in Kochel, rund fünf Kilometer nördlich von Walchensee.
Nach dem Frühstück setzte sich Elena in ihr Auto und fuhr nach Kochel. Die Polizeistation war in einem weißen Gebäude in der Ortsmitte untergebracht. Elena parkte in der Nähe und fragte sich zu Patrick Schwarze durch.
Sie hatte Glück: Der Polizist war in seinem Büro und nahm sich Zeit für sie. Er hatte seine Uniformjacke an einen Haken gehängt und die Hemdsärmel hochgekrempelt, denn es war bereits jetzt sommerlich warm, und die Temperaturen würden im Tagesverlauf sicherlich noch steigen.
»Frau Brandner?« Er bot ihr einen Platz vor seinem Schreibtisch an. »Was führt Sie zu mir? Möchten Sie einen Kaffee?«
»Danke, im Augenblick nicht. Ich würde Ihnen gern etwas erzählen.« Elena verschränkte ihre Hände im Schoß und berichtete von ihrem Experiment am vergangenen Abend. »Die Nachbarin hat Licht bei Erik gesehen, aber es war aus, als die Rettung eintraf. Jemand muss also im Haus gewesen sein und es ausgeschaltet haben. Eine andere Erklärung gibt es nicht.«
»Nicht notwendigerweise. Vielleicht hat sich Irmi getäuscht und Ihr Bruder hatte überhaupt kein Licht eingeschaltet.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Nachts wird es im Haus so dunkel, dass man nicht weiter als bis zur eigenen Nasenspitze schauen kann.«
»Eben das könnte der Grund für den Sturz Ihres Bruders gewesen sein.«
Elena schüttelte skeptisch den Kopf. »Es gibt noch etwas, das mir Sorgen macht. Ein Landwirt aus dem Dorf ist nicht gut auf Erik zu sprechen. Vielleicht hat er ihm etwas getan?«
»Lassen Sie mich raten: Sie sprechen von Franz Blattner.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil er sich mit jedem anlegt. Das hat aber nichts zu bedeuten, glauben Sie mir!«
Elena sah den Polizisten bestürzt an. »Also werden Sie nicht weiter nachforschen?«
»Doch, natürlich. Ich möchte Sie nur bitten, keine Geheimnisse zu vermuten, wo keine sind. Schlimme Dinge geschehen leider im Leben. Und nicht immer steckt eine böse Absicht dahinter. Oft sind es einfach Unfälle.«
»Ich muss einfach sicher sein, dass niemand meinem Bruder ein Leid zufügen wollte.«
»Das verstehe ich.« Patrick Schwarze beugte sich nach vorn und sah Elena ernst an. »Trotzdem muss ich Sie bitten, sich nicht weiter in meine Arbeit einzumischen. Wenn es ein Geheimnis hinter dem Unfall gibt, werde ich es aufdecken. Das verspreche ich Ihnen.«
»Also glauben Sie auch, dass Eriks Sturz mehr als ein Unfall war?«
»Nein, ehrlich gesagt, glaube ich das nicht. Ich denke, er ist unglücklich gestürzt. Es ist jedoch meine Aufgabe, die Wahrheit herauszufinden, und das werde ich auch tun.«
Elena schwieg. Je länger sie darüber nachdachte, desto überzeugter war sie davon, dass mehr hinter dem Sturz ihres Bruders steckte. Und sie beschloss, alles zu tun, um herauszufinden, was ihrem Bruder zugestoßen war!
***
»Guten Morgen!« Bei ihrer Rückkehr zum Haus ihres Bruders stand Irmi im Garten und winkte über den Zaun. Die Rentnerin hatte einen Korb mit frisch gewaschener Wäsche neben sich und klammerte gerade ein hellblaues Hemd an der Leine fest, die zwischen zwei Apfelbäumen aufgespannt war.
»Guten Morgen!« Elena ging zu ihr hinüber.
»Wo waren Sie denn so früh am Tag?«
»Auf der Polizeiwache. Ich habe mit Patrick Schwarze gesprochen, weil ich glaube, dass jemand Eriks Sturz zu verantworten hat. Das wollte ich ihm sagen.«
»Und Patrick wollte nichts davon hören, habe ich recht?«
»Woher wissen Sie das?«