Heimkehr nach Irland - Cathy Kelly - E-Book
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Heimkehr nach Irland E-Book

Cathy Kelly

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Beschreibung

Drei Freundinnen und der Zauber der grünen Insel: Der berührende Feelgood-Roman »Heimkehr nach Irland« von Cathy Kelly jetzt als eBook bei dotbooks. Drei Frauen, eine Sommerreise – und der Beginn einer Freundschaft, die allen Stürmen trotzt … Nach ihrer zufälligen Urlaubsbekanntschaft beschließen Emma, Leonie und Hannah, einander jeden Monat zu besuchen, schließlich wohnen sie sternförmig verteilt in den Dörfchen rund um Dublin. Aber das Leben legt den drei so unterschiedlichen Frauen immer wieder Stolpersteine in den Weg: Während Emma frisch verheiratet ist und sich nichts sehnlicher als ein Kind wünscht, hat Single-Mutter Leonie bereits drei davon – und Romantik ist weit und breit nicht in Sicht. Hannah hat den Männern gleich ganz abgeschworen und steigt lieber kometenhaft im Job auf. Doch dann mischt das Schicksal die Karten für die drei Freundinnen neu – und sie müssen erkennen, dass sich das Glück auch genau hinter der falschen Abzweigung verbergen kann … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Wohlfühl-Roman »Heimkehr nach Irland« der irischen Bestsellerautorin Cathy Kelly. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 1049

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Über dieses Buch:

Drei Frauen, eine Sommerreise – und der Beginn einer Freundschaft, die allen Stürmen trotzt … Nach ihrer zufälligen Urlaubsbekanntschaft beschließen Emma, Leonie und Hannah, einander jeden Monat zu besuchen, schließlich wohnen sie sternförmig verteilt in den Dörfchen rund um Dublin. Aber das Leben legt den drei so unterschiedlichen Frauen immer wieder Stolpersteine in den Weg: Während Emma frisch verheiratet ist und sich nichts sehnlicher als ein Kind wünscht, hat Single-Mutter Leonie bereits drei davon – und Romantik ist weit und breit nicht in Sicht. Hannah hat den Männern gleich ganz abgeschworen und steigt lieber kometenhaft im Job auf. Doch dann mischt das Schicksal die Karten für die drei Freundinnen neu – und sie müssen erkennen, dass sich das Glück auch genau hinter der falschen Abzweigung verbergen kann …

Über die Autorin:

Cathy Kelly arbeitete als Redakteurin, Filmkritikerin und »Kummerkastentante« bei der Dubliner Sunday World, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden und regelmäßig die Bestsellerlisten erobern. Am liebsten schreibt sie warmherzige, einfühlsame Geschichten über ihre irische Heimat. Cathy Kelly lebt mit ihrer Familie und ihren drei Hunden in County Wicklow.

Die Website der Autorin: www.cathykelly.co.uk/

Bei dotbooks veröffentlichte Cathy Kelly auch ihre Romane:

»Der Duft von irischem Lavendel«

»Eine irische Hochzeit«

»Die irischen Freundinnen«

»Der Glanz von irischem Klee«

»Wie küsst man einen Iren«

»Wie angelt man sich einen Iren«

»Wie heiratet man einen Iren«

»Die Schwestern von Ballymoreen«

»Die Freundinnen von Cloud’s Hill«

»Die Frauen von Ardagh’s Crown«

***

eBook-Neuausgabe September 2022

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2000 unter dem Originaltitel »Someone Like You« bei Harper Collins UK. Die deutsche Erstausgabe erschien 2001 unter dem Titel »Der hat mir gerade noch gefehlt« bei Goldmann.

Copyright © der englischen Originalausgabe 2000 by Cathy Kelly

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2001 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Covergestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)

ISBN 978-3-98690-361-9

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Cathy Kelly

Heimkehr nach Irland

Roman

Aus dem Englischen von Inez Meyer

dotbooks.

Für John – mit all meiner Liebe

Kapitel 1

Hannah streckte ein schlankes, sonnengebräuntes Bein in Richtung Armatur aus, umklammerte mit ihren tropfenden Zehen geschickt den Heißwasserhahn und spürte, wie das heiße Wasser sich angenehm mit dem Badewasser vermischte.

»Das ist nicht das erste Mal, dass du das machst«, bemerkte Jeff amüsiert, als sie sich im Wasser gegen ihn zurücksinken ließ. Ihr Rücken schmiegte sich an seine nackte Brust, zwischen ihnen nichts als der nach Zitronenmelisse duftende Schaum.

»Ich lese gerne in der Badewanne, und im Winter finde ich es lästig, sich aufzusetzen, um heißes Wasser nachzulassen. Also bin ich darauf gekommen, es mit den Füßen zu tun«, murmelte Hannah, während das Wasser langsam die alte Badewanne füllte und die Wärme ihren Körper durchflutete. Sie fühlte sich angenehm müde und gleichzeitig glücklich. Obwohl sie während der letzten Nacht kaum eine halbe Stunde geschlafen hatte, schien jeder Quadratzentimeter ihres Körpers befriedigt zu sein. Nach solch einer wunderbaren Marathonliebesnacht war die Vorstellung eines gemeinsamen Bades einfach unwiderstehlich. Das Badewasser hatte die Schmerzen besänftigt, die Jeffs energiegeladene Liebeskünste hinterlassen hatten. In einem irrwitzigen Augenblick wären sie um ein Haar aus Hannahs Bett gefallen. Gerade noch hatte sie einen lauten Schrei unterdrücken können, als der Schmerz ihr den Rücken bis zum Nacken hochgefahren war. Diese Nachteile musste man bei Affären mit jüngeren Männern wohl in Kauf nehmen, denn Rückenprobleme waren ihnen fremd, und sie genossen gymnastische Nummern mit Spiegeln, Sesseln und dem Bademantelgürtel. Der arme Harry hatte seinerzeit den Gürtel seines Bademantels lediglich hinter sich her über den Küchenboden geschleift und dabei Staubflocken, heruntergefallene Cornflakes und Dreck aufgewirbelt.

Doch warum nannte sie ihn eigentlich »den armen Harry«? Ach, der Arme! Parasitärer, verlogener Mistkerl Harry traf seinen Charakter besser. Beim Stichwort Parasit hoffte sie insgeheim, sein zwölfmonatiger Treck durch Südamerika habe ihn vielleicht mit jenen berüchtigten, in tropischen Gewässern lebenden Parasiten in Kontakt gebracht, die sich den Urinstrahl eines Mannes hinaufschlängelten, der dumm genug war, in einen Fluss zu pinkeln. Hatte der Parasit es erst einmal bis in den Körper geschafft, waren die Folgen katastrophal. Hannah hoffte, die dann nötige Behandlung würde eine schmerzhafte Operation beinhalten, nach der Harry sich für eine Woche nur unter großen Schmerzen würde aufsetzen können. Ähnlich wie das an einen Entenschnabel erinnernde Spekulum, das Frauen für ihren Schmiertest ertragen mussten, nur eben noch um einiges schlimmer.

»Kannst du auch noch andere Dinge mit deinen Füßen anstellen?«, erkundigte sich Jeff verschmitzt und riss sie aus ihren Gedanken vom Amazonas und schmerzhaften medizinischen Experimenten, indem er zärtlich an ihrem Ohrläppchen knabberte.

»Nein«, erwiderte Hannah bestimmt. Das heiße Wasser beruhigte den pochenden Schmerz in ihrer rechten Hüfte. Mit geschlossenen Augen ließ sie die bevorstehende Stunde an ihrem geistigen Auge vorüberziehen: Ihr kleiner Koffer ruhte ordentlich auf einem Schrank im Gästezimmer, und die Kleidung, die sie nach Ägypten mitnehmen wollte, lag umsichtig sortiert auf dem Gästebett. Zum Packen würde sie eine halbe Stunde benötigen, wobei sie jedes Kleidungsstück und jeden Toilettenartikel von ihrer – stark reduzierten – Liste abhakte. Danach würde sie den Kühlschrank ausräumen. Schließlich war es höchst unangenehm, lediglich der eigenen Faulheit wegen in eine widerlich stinkende Küche zurückzukehren. Wenn die Küche dann auch noch durch eine nur schlecht schließende Tür mit dem Wohnzimmer verbunden war, war die Geruchsfrage besonders wichtig. Bei Licht betrachtet, dachte Hannah, während sie sich ihre Vorbereitungen mit der Präzision einer Schweizer Uhr durch den Kopf gehen ließ, blieben ihr nur noch wenige Minuten Zeit in der Badewanne.

Jeff aber hatte ganz andere Vorstellungen. Seine Lippen wanderten von ihrem Hals bis zu den Schultern, während seine Hände im Wasser Hannahs Schenkel streichelten. Sie spürte, wie sich seine muskulöse Brust mit dem Waschbrettbauch vor Verlangen zusammenzog, als er sie berührte.

Abrupt setzte sie sich auf und stellte das heiße Wasser ab. Ihr dunkles Haar klebte ihr wie Seetang an der Haut.

»Dazu ist jetzt nicht mehr die Zeit, Jeff«, mahnte sie ihn streng. »Es ist bereits halb zehn. In zwei Stunden muss ich am Flughafen sein. Vorher muss ich noch ein paar Telefonate erledigen, und gepackt habe ich auch noch nicht.«

Mühelos presste Jeff sie wieder in die Wanne zurück, denn seine Arme waren es gewohnt, ihr doppeltes Körpergewicht zu heben. »Wenn ich mit dir käme, würdest du nicht viel packen müssen«, murmelte er dicht an ihrem Ohr. »Nur ein paar Tanga-Bikinis und so ein sexy Kleid, wie das von gestern Abend.«

Hannah musste lächeln. Das amethystfarbene Kleid war tatsächlich unglaublich gewagt und stach aus ihrer begrenzten und recht konservativen Garderobe heraus. Es hatte zwei zarte Spaghettiträger, und sie hatte es in einem Designershop im Ausverkauf erstanden. Es hatte ein volles Jahr in ihrem Schrank gehangen, ehe sie den Mut aufgebracht hatte, es zu tragen. Doch letzte Nacht wurde die Eröffnung des neuen Nachtklubs Jupiter im Hotel gefeiert, und sie hatte es gewagt.

»Es werden jede Menge Prominente da sein. Die Gästeliste liest sich wie das Who is Who«, hatte eine von Hannahs Kolleginnen an der Rezeption bereits Wochen vor der Eröffnung aufgeregt verkündet. »Wir müssen uns richtig ins Zeug legen. Wir dürfen das Hotel nicht im Stich lassen.«

Also hatte sich Hannah tatsächlich »ins Zeug gelegt«, hatte ihr langes dunkles Haar aufgedreht, dass es ihr in schimmernden großzügigen Locken den Rücken hinunterwallte. Dann hatte sie sich in das sündhaft teure Kleid gezwängt. Bereits mehrmals hatte sie es zurückgeben wollen, weil es ihr wie die pure Geldverschwendung vorkam. Den anderen Empfangsdamen des Triumph Hotels hatte es die Sprache verschlagen, als sie, die normalerweise so bodenständige Frau Campbell, in anderer Aufmachung als ihrer sonstigen Freizeitkluft – einer weißen Bluse und gebügelten Blue Jeans, Blazer und Laufschuhen – sahen. Verblüfft bestätigten sie ihr, wie sexy sie aussah. Wer hätte gedacht, dass sich die höfliche kühle Empfangsdame nur mittels eines Kleides in eine Sirene verwandeln konnte?

Jeff Williams, der dem neu errichteten Sportbereich des Hotels vorstand, wusste nichts von Hannahs Ruf eines unnahbaren Fräuleins. Als er ihren durchtrainierten, kurvenreichen Körper in dem dünnen, eng anliegenden Chiffon gesehen hatte, war ihm vor Bewunderung der Atem stehen geblieben.

Anders als die prominentengeilen anderen Angestellten, die mit großen Augen die Stars beim Schlucken ihres Moëts in einem eigens für sie abgetrennten Areal beobachteten, hatten Jeff und Hannah ihre Tanzleidenschaft entdeckt. Sie tranken mehr Mineralwasser als Alkohol, während sie sich sinnlich über den Tanzboden bewegten und Jive, Boogie, Salsa und sogar einen Walzer hinlegten, als der Discjockey einen langsamen, jazzigen Song spielte. Vom Vergnügen beflügelt fühlte sich Hannah bereits nach zwei Glas Weißwein beschwipst. Jeffs Küsse schienen ihr vollkommen selbstverständlich und nicht als peinlicher Fauxpas. »Ich bin zehn Jahre älter als du«, meinte sie, als sie sich beide in einen Sessel zwängten, er seine muskulösen Arme um sie legte und ihr seinen Blondschopf entgegenbeugte. Sie kam sich wie ein verliebter Teenager vor, aber es machte Spaß.

»Sechsunddreißig ist doch kein Alter«, murmelte Jeff und küsste die dunklen Locken, die an ihrer Wange klebten.

Da seine Junggesellenwohnung am anderen Ende der Stadt lag und sich eher wie eine Männerkatakombe anhörte, die er sich mit noch drei weiteren jungen Männern teilte, erschien es sinnvoll, die berühmte Tasse Kaffee in Hannahs aufgeräumter Wohnung einzunehmen, die gleich um die Ecke des Triumph Hotels lag.

Von dem kleinen, hart gepolsterten Sofabett aus hatte Jeff die ungewöhnlichen Brokatkissen bewundert, die Hannah eigenhändig mit goldener Stofffarbe verziert hatte. Danach hatte er seine Geschicklichkeit unter Beweis stellen wollen und hatte mit den Fingern auf sehr erotische Art und Weise Hannahs Arm gestreichelt. Dass er sie nicht sofort überrumpeln würde, hatte sie geahnt. Denn schließlich war er es gewohnt, dass ihm die Frauen angesichts seiner sportlich durchtrainierten Figur zu Füßen lagen. Jeff musste sich um attraktive, schöne Frauen nicht bemühen. Deshalb stellte er immer gleich klar, dass sie wussten, worauf sie sich einließen, wenn es etwas intimer wurde.

»Bist du dir auch sicher, dass du es möchtest?«, fragte er. Sein leuchtender, verlangender Blick ließ an seiner eigenen Motivation keinen Zweifel aufkommen.

Hannah hatte sich bereits entschieden, nach zwölf Monaten des Zölibats eine Affäre in vollen Zügen zu genießen, hatte die Frage also bejaht. Es war himmlisch gewesen, als ob man einen alten Tennisschläger wieder zur Hand nimmt, den man seit Ivan Lendls Eroberung von Wimbledon nicht mehr benutzt hatte und feststellte, dass man den Ball, auch ohne sich nach Strich und Faden zu blamieren, über das Netz bekam.

Jeff ahnte nicht, dass sie so viel Bewegung das letzte Mal bei einer Stepp-Aerobic-Stunde gehabt hatte, bei der alle mit schweißnassen T-Shirts und schmerzenden Schenkeln einem Supermodel gelauscht hatten, das sie anbrüllte, die Arme zu bewegen.

Sie jedenfalls würde ihm nicht erzählen, dass er außer ihrer Wenigkeit der Erste war, der in dem großen Doppelbett mit der gelben Brokatrückwand schlief, die Hannah selbst gefertigt hatte, da sie das pfirsichfarbene Original aus Dralon verabscheute. Ihrer Ansicht nach flößte Männern, insbesondere jüngeren Männern, die Vorstellung einer enthaltsamen Frau Angst ein. Dasselbe galt für eine Frau, die sich ganz bewusst für Sex entschied und ihr Verlangen nicht mit übermäßigem Alkoholkonsum entschuldigte. Eine solche bewusste Entscheidung drückte implizit ein anderes großes B aus: Bindung.

Wenn Jeff wüsste, dass sie sich ausgerechnet ihn ausgesucht hatte, um ihr Jahr der Enthaltsamkeit zu beenden, würde er sicher wie der geölte Blitz aus der Wohnung schießen. Aber er wusste es nicht.

Hannah hatte gelernt, Männer lediglich in einer Hinsicht als nützlich zu betrachten, und dabei hatte sie nicht das Geldverdienen im Visier. Diese Lektion hatte sie bereits in sehr jungen Jahren von ihrem verschwenderischen Vater gelernt. Hannah war in der wilden Landschaft von Connemara aufgewachsen, einem Landstrich, wo nur die zähesten Tiere überlebten. Dort arbeiteten Bauern wie ihr Vater entweder so lange, bis ihre Hände von Arthritis zerfressen und sie weit vor ihrer Zeit gealtert waren, oder aber sie wandten sich der Flasche zu und bürdeten es ihren Frauen auf, für die Kinder zu sorgen und die Elektrizitätsrechnung zu begleichen. Hannahs Vater hatte von letzterer Möglichkeit Gebrauch gemacht.

Ihre Mutter war es gewesen, die vor ihrer Zeit gealtert war. Ihr hageres Gesicht war bereits Anfang vierzig von Falten und Unglück gezeichnet gewesen. Anna Campbell dabei zu beobachten, wie sie blass und erschöpft aus der Küche des Dorfhotels nach Hause kam und sich dann hinsetzte, um für einen jämmerlichen Lohn noch einen weiteren Pullover zu stricken, hatte Hannah in ihrem Wunsch bestärkt, niemals selbst in diese Sackgasse zu geraten. Kein Mann würde sie in einer solch unheiligen Ehe versklaven, noch würde er betrunken nach Hause torkeln und nach einem Abendessen verlangen, zu dem er nicht einen Pfennig beigesteuert hatte. Auf gar keinen Fall.

Sie würde ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten und ganz und gar unabhängig sein, eine Karrierefrau, die sich niemals unter schwachem Licht die Augen wegen ein paar extra Pfund würde verderben müssen, nur um ihre Kinder für die Sonntagsmesse ordentlich einzukleiden.

Dass sie in der Schule die Abschlussprüfung nicht bestanden hatte und unmittelbar darauf Harry auf der Bildfläche erschien, waren die beiden folgenschweren Ausrutscher ihres sonst so makellosen Plans. Zähneknirschend – eine Angewohnheit, vor deren Folgen sie ihr Zahnarzt wiederholt gewarnt hatte – stellte sie fest, jetzt wieder ganz auf Linie zu sein. Oder doch fast. Ein neuer Job, eine Bildungsreise zum Auffüllen ihrer Wissenslücken, und ein neues Leben. Jeff, so nett er auch war, würde in diesem neuen Leben keinen Platz finden. Er würde ihr lediglich im Weg stehen und sie von Liebe und anderen Dinge träumen lassen. Und von der Liebe hatte sie für ihr ganzes Leben genug.

Das Wasser kühlte sich unangenehm ab. Wenn sie sich nicht bald auf die Socken machte, würde sie sich verspäten. Grazil richtete sich Hannah auf und stieg aus der Wanne.

»Du bist ausgesprochen gut in Form«, bemerkte Jeff, der ihre trainierten Arme und ihre schlanke Taille bewunderte.

»Für mein Alter, willst du sagen«, neckte sie ihn, schlang ein Handtuch um ihren Körper und rieb sich den Wangenknochen an der Stelle, wo er vom ständigen Zähneknirschen am meisten schmerzte.

»Für jedes Alter«, bekräftigte er. »Du treibst sicher viel Sport. Ich begegne so vielen Frauen, die sich gehen lassen. Sie scheinen zu glauben, wenn man von Natur aus keinen athletischen Körperbau hat, ist es die Mühe nicht wert. Du aber hast richtig dafür gearbeitet.«

Hannah hielt beim Trockenrubbeln ihrer Haare inne und dachte an die vielen Stunden, die sie im vergangenen Jahr mit verbissenem Gesicht auf dem Stepper verbracht und versucht hatte, sich Harry aus dem Kopf zu schlagen. Ihn aus ihrem Leben zu streichen, war schwer genug gewesen; ihn jedoch aus ihren Gedanken zu löschen, war eine gänzlich andere Angelegenheit.

Vor Harry (oder v. H., wie sie es gerne formulierte) war sie für eine siebenundzwanzigjährige Kettenraucherin in einem passablen Fitnesszustand gewesen. Mittelgroß und mit der erblichen Tendenz leicht zuzunehmen, war sie noch jung genug, um ohne viel körperliche Ertüchtigung auszukommen. Stattdessen zog sie den Fitnessplan »Marlboro Light« vor und zündete sich beim ersten Anzeichen von Hunger eine an.

Während ihrer Jahre mit Harry hatte sie sich viel zu häufig auf ihr altes Sofa gekuschelt und sich während eines Videos üppige Abendessen und ganze Pralinenschachteln hineingefuttert. Das Leben war eine einzige endlose Fantasie schmackhafter Mahlzeiten und Faulenzerabende, während denen sie sich fast die Zehenspitzen vor dem Feuer verbrannten. Harry monologisierte derweil über den Roman, den er noch schreiben würde. Hannah ihrerseits wollte den perspektivlosen Job in einem Bekleidungsgeschäft nicht mehr an den Nagel hängen, um ihren Traum von Wohlstand und vollkommener Unabhängigkeit wahr zu machen. Um ihre Figur kümmerte sie sich nicht. Sogar mit dem Rauchen hatte sie aufgehört, als Harry während der Arbeit an einem Artikel über Nikotintabletten den Zigaretten abschwor. Keine Zigaretten jedoch bedeutete mehr Schokolade und Tee mit viel Zucker, um das Verlangen nach einer Zigarette zu unterdrücken. Harry hatte nicht ein einziges Pfund zugenommen, Hannah dagegen zwölf.

Das traute Zusammenleben zu zweit hatte sowohl ihren Ehrgeiz als auch ihre Taille schwinden lassen. Bis zu jenem schrecklichen Tag im August, als sie ihn vor die Tür gesetzt hatte und ihr altes Leben – und ihre alte Figur – wieder für sich beansprucht hatte.

»Ich gehe dreimal wöchentlich zum Aerobic und einmal zum Stretching. Zusätzlich laufe ich etwa fünfzehn Kilometer pro Woche«, wandte sie sich an Jeff.

»Das sieht man«, meinte er ernst. »Man muss etwas Anstrengung aufbringen, um die angepeilten Körpermaße zu erreichen.«

Hannah nickte zustimmend. Es war ein Jammer, dass sie das Hotel verließ. Sicher hätte es Spaß gemacht, mit Jeff zusammen im Fitness-Studio zu trainieren, selbst wenn ihre Affäre vermutlich nicht von langer Dauer gewesen wäre.

Männer wie Jeff blickten einem immer über die Schulter, um zu sehen, wer sich als Nächste in die Schlange eingereiht hatte. Eine hübsche Zwanzigjährige mit Schmollmund in einem eng anliegenden Gymnastikanzug, die sich bei ihm danach erkundigte, wie sie die Latissimusmaschine zu bedienen habe – und das wäre das Ende ihrer Affäre gewesen.

Wenn sie weiterhin im Hotel gearbeitet hätte, hätte sie sich mit Jeff gar nicht erst eingelassen. Die Buschtrommel des Klatsches im Hotel übertraf alle anderen Dienstleistungen um einiges an Effizienz. Ein Omelett brauchte mehr als eine halbe Stunde, um den Weg von der Küche in ein Zimmer zu finden. Doch dauerte es nur zehn Minuten, damit ein süffisanter Klatsch den gesamten Weg von den Küchen über den Portier bis hin zum Geschäftszentrum und dem Restaurant geschafft hatte. Wenn Hannah mit dem neuen Leiter des Fitness-Studios in Zusammenhang gebracht worden wäre, hätte der Klatsch Olympiareife gewonnen.

Nachdem sie ein Jahr lang mit niemandem über persönliche Dinge geredet hatte, keine Verabredung mit einem Mann getroffen und nichts über ihr Privatleben hatte durchsickern lassen, hätte Hannah es nicht ertragen, wenn die Schleusen der Neugierde sich plötzlich geöffnet hätten. Doch mit dem Zeugnis bereits in der Tasche und einer neuen Arbeitsstelle im Anschluss an ihre Reise, konnte ihr niemand etwas anhaben, wenn sie sich einer flüchtigen Affäre hingab. »Verwöhnen Sie sich selbst« war der Ratschlag aller Frauenzeitschriften zum Thema unglücklicher Liebschaften. »Gönnen Sie sich eine Massage, verwöhnen Sie sich mit einer Aromatherapie.« Jeff war ihr erster Verwöhnbonus n. H. (nach Harry). Lustiger als Aromatherapie und weniger schmerzhaft als eine Gesichtsbehandlung, doch mit der Garantie eines inneren Glühens, das kein Oil of Olaz jemals hervorzaubern konnte.

Glücklicherweise war Jeff sich seines Belohnungsstatus für ein Jahr Enthaltsamkeit nicht bewusst. Er ließ erneut heißes Wasser in die Badewanne nachlaufen und lehnte sich in den Schaum zurück. Hannah bemühte sich, sich ihre Ungehaltenheit nicht anmerken zu lassen. Konzentriert verteilte sie etwas Feuchtigkeitsemulsion auf ihrem Gesicht.

Ihrem Körper hatte sie durch endlose Stunden der Gymnastik eine Form geben können, doch ihr Gesicht verharrte stur in seinem alten Ausdruck: Es war rund mit einem spitzen Kinn, einer etwas zu gebogenen Nase und leuchtenden, mandelförmigen, kaffeebraunen Augen. Die hellen Sommersprossen auf Nase und Wangen, die leuchtenden Augen und das dichte, gelockte, dunkelbraune Haar hätten eigentlich eine hübsche Frau erwarten lassen. Attraktiv, doch keine Schönheit – so hätte man Hannah einem Fremden gegenüber beschrieben.

Eine solch einfache Beschreibung würde jedoch ihr wichtigstes Merkmal unterschlagen. Hannah glühte auf eine flüchtige, nicht fassbare Art und Weise, für die andere alles gegeben hätten: Sie hatte Sex-Appeal. Angefangen von der Art, wie sie ihre kurvenreichen Hüften hin und her schwang, wie sie an ihrem Tee nippte, wie sich die vollen Lippen leicht nach oben verzogen, ehe sie den ersten Schluck trank, verströmten Sinnlichkeit. All dies tat sie nicht bewusst, ganz im Gegenteil. Hannah Campbell, die 36-jährige Hotelempfangsdame und abweisendste Frau weit und breit, war damit auf die Welt gekommen. Und es machte sie verrückt.

Wenn ihre langen, dichten Locken während der Arbeit zu einem glänzenden Knoten gezähmt waren und ihre nüchterne Hornbrille auf der Nase saß, konnte Hannah die Strenge einer Schuldirektorin für jugendliche Straftäter ausstrahlen. Aus genau diesem Grund hatte sie sich niemals Kontaktlinsen angeschafft. Ihre natürliche Sinnlichkeit wollte sie mit zurückhaltender Kleidung, abwehrenden Blicken und hinter einer altjüngferlichen Brille verstecken.

Sex-Appeal mochte mancherorts am Platze sein, doch Hannah hatte er nichts als Ärger eingebracht. Von Natur aus eine sinnliche Ausstrahlung zu besitzen, bedeutete in ihrem ländlichen Heimatdorf, entweder den unverdienten Ruf einer aufgetakelten Hure zu ernten oder aber sich die Wut der jungen Männer einzuhandeln, die ihre ständige Abweisung nicht hinzunehmen gewillt waren.

Sex-Appeal mochte Hollywoodstars gut zu Gesicht stehen, dachte Hannah, doch für normale Frauen bedeutete er lediglich Ärger. Halb amüsiert und halb schuldbewusst gestand sie sich dennoch ein, dass ihre sinnliche Ausstrahlung ihr den wunderbaren Jeff beschert hatte. Da er jedoch ihre Gastlichkeit zu überschätzen schien, war der Zeitpunkt gekommen, dass sich die sexy Hannah in eine knallharte Frau verwandelte.

Gekonnt schlang sie ihre nassen Haare zu einem Knoten und fixierte ihren Besucher mit jenem stählernen Blick, den sie abreisenden Hotelgästen zuwarf, wenn diese darauf bestanden, lediglich zwei Getränke der Hotelbar entnommen zu haben, und nicht die zehn Flaschen, die auf der Rechnung aufgeführt waren.

»Jeff, du musst jetzt gehen. In einer Dreiviertelstunde muss ich aus der Tür sein, und ich brauche noch etwas Zeit für mich selbst. Komm schon.«

Auf ihre strenge Stimme reagierte Jeff ganz anders als auf ihr vorheriges sanftes Bitten. Er kletterte aus der Badewanne, stellte sich vor sie und streckte sich, wobei das Wasser von seinem imposanten nackten Körper auf das schwarzweiß karierte Linoleum tropfte.

Hannah konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Himmel, was war er attraktiv: von den kurzen blonden Haaren bis hinunter zu den großen Füßen. Ein Meter achtzig makellose, durchtrainierte Muskeln. Der arme Michelangelo hätte viel darum gegeben, um jemanden vom Schlage Jeff Williams modellieren zu dürfen.

Hannah schluckte und versuchte sich auf die Erledigungen der nächsten Stunde zu konzentrieren. Sie musste packen und ihre Reiseführer durchforsten. Sie wollte auf dieser Reise etwas lernen. Sie hatte gehofft, einen der Reiseführer bereits vorab gelesen zu haben, um sich nicht vor versammelter Mannschaft zu blamieren. Die anderen Mitreisenden würden vermutlich alles über Geschichte und Mythologie ... Jeff lächelte breit und fuhr ihr mit einem Finger über das Dekolletee, dann wanderte sein Finger unter das Handtuch und zupfte daran, wobei sich sowohl das Handtuch als auch ihr eben gefasster Zeitplan in Luft auflösten.

Was soll’s, dachte Hannah und gab der Versuchung nach. Nach all den endlosen Abenden, an denen sie das Gefühl körperlicher Leidenschaft zu vergessen versucht und sich endlose Wiederholungen von Krimiserien angesehen hatte, hatte sie sich puren, wunderschönen Sex verdient. Das Packen würde nicht so lange dauern. Und den Reiseführer konnte sie noch im Flugzeug lesen.

Kapitel 2

»Himmel, nun sieh dir bloß mal diese Wirtschaft hier an. Salate sind ja gut und schön, aber man muss sie nach dem Einkaufen gleich aus den widerlichen Plastikdosen herausnehmen. Die lecken einfach überall. Was ist das denn?« Anne-Marie O’Brian blickte über den Rand ihrer Brille auf das Etikett einer Plastikschale mit Couscous, unter der sich in dem ansonsten keimfrei sauberen Kühlschrank eine ölige Pfütze gebildet hatte. »Couscous? Ekelhaft, das ist es.«

Emma Sheridan schwieg, während ihre Mutter sich nach einem sauberen Lappen umsah, ihn mit heißem Wasser ausspülte und dann fieberhaft mit antiseptischem Küchenreiniger zu schrubben anfing. Emma hatte seine Existenz ganz vergessen und hatte ihn eigentlich entsorgen wollen. Der überwältigende Geruch eines angeblich nach Fichtennadel duftenden Desinfektionsmittels erfüllte das Zimmer. Er erinnerte so gar nicht an die Emma bekannten Fichten, es sei denn, Fichten gingen heutzutage Verbindungen mit ätzenden Bleichmittelherstellern ein.

»Jetzt sieht es schon viel besser aus.« Frau O’Brian richtete sich auf. Energisch spülte sie den Lappen aus, inspizierte mit zusammengekniffenen Augen die Küche und verteilte anschließend ein paar Spritzer des Reinigungsmittels auf sämtlichen Arbeitsflächen. Jede ihrer Bewegungen war die einer Expertin mit Doktortitel in Hausputz. Nun erst nahm sie die von ihr mitgebrachten edlen Tupperwaredosen und die mit Aluminiumfolie sorgfältig verschlossenen Päckchen und stellte sie behutsam in den Kühlschrank, wobei sie ihrer Tochter gegenüber jede ihrer Bewegungen kommentierte.

»Der arme Pete kann doch nicht dieses Zeug aus dem Supermarkt essen. Er muss ordentliche Mahlzeiten haben. Dein Vater würde zwar nichts aus der Mikrowelle akzeptieren, doch wenn ich eine Woche nicht im Haus wäre, würde er seine Meinung schon ändern. Männer! Die Lasagne reicht für mindestens zwei Tage, der Shepherd’s Pie ist für heute Abend und diese beiden Hühnchen- und Pilzpies stelle ich ins Eisfach. Emma, meine Liebe! Taust du das Ding denn nie ab? Das geschieht doch nicht von alleine! Ach, lass nur, ich kümmere mich gleich drum ...«

Emma schaltete ab. Während ihrer 31 Lebensjahre hatte sie gelernt, dass der Monolog »Niemand macht die Dinge richtig, ergo muss ich sie persönlich machen« sie verrückt machen würde, wenn sie nicht einfach auf Durchzug schaltete. Besonders dann, wenn der Monolog einem weismachen wollte, man sei eine verwöhnte Hausfrau und der arme Ehemann würde an Salmonellen sterben, wenn man nicht sofort die Abwaschlappen, die Küchentücher und seine Unterhosen im Kochgang waschen würde.

Dass Emma den gestrigen Tag fast ausschließlich mit der Reinigung des Hauses The Beeches 27 verbracht hatte, tat hier nichts zur Sache. Ebenso tat es nichts zur Sache, dass sie den wertvollen freien Tag mit Hausarbeiten verbracht hatte, anstatt durch die Geschäfte zu bummeln und die allerletzten Kleinigkeiten für ihre Reise zu besorgen. Sie hatte vorgehabt, bei Debenham’s vorbeizuschauen und zu sehen, ob sie dort einen jener schwarzen Push-up-Bikinis bekommen konnte, den sie in einer Zeitschrift gesehen hatte. Selbst wenn man flach wie eine Flunder war, konnte einem dieser Bikini einen Busen verschaffen, bei dem die Leute Stielaugen bekommen würden. So jedenfalls wurde es in der Zeitschrift behauptet.

Da Emmas Busen Stielaugen nur dann provozieren würde, wenn von ihren A-Cups einer der Drähte sich löste und jemanden ins Auge stach, benötigte sie dringend einen solchen neuen Push-up-Bikini.

Doch wie üblich hatte der einzig überentwickelte Teil ihrer Persönlichkeit, Schuldgefühle nämlich, die Oberhand gewonnen und ihr den Einkaufsbummel untersagt. Emmas Schuldgefühle entsprachen der Beschreibung des menschlichen Herzens in einem medizinischen Lehrbuch: ein großer Muskel, der sich unwillkürlich zusammenzog. Das Schuldgefühl, Pete für eine ganze Woche alleine zu Hause zu lassen, während sie mit ihren Eltern den Nil hinuntersegelte, überlagerte ihr Verlangen nach einem eleganten Bikini. Also hatte sie den Besuch bei Debenham’s gestrichen und stattdessen das Haus auf Vordermann gebracht. Pete, dem es noch nicht mal auffallen würde, wenn sie ihre Mahlzeiten direkt vom Tisch anstatt von Tellern essen würden, würden ihre fieberhaften Bemühungen gar nicht auffallen. Doch Emmas Schuldbarometer signalisierte ihr, dass ein ganzer Tag Hausarbeit bereits recht viel (also ungefähr fünfzig Prozent) wettmachen würde, dass sie ihre Reise ohne ihren geliebten Ehemann unternahm. Ihm ein riesiges Geschenk zu kaufen, das sie sich eigentlich nicht leisten konnte, und ihm nach ihrer Rückkehr eine Woche lang seine Lieblingsessen jeden Abend auf den Tisch zu stellen, würde die restlichen vierzig Prozent fast wettmachen.

Leider hatte sie keine neuen Gummihandschuhe gekauft, sodass ihre Hände jetzt so trocken wie überkochte Hühnchen waren, da sie die Toilettenschüsseln mit Bleichmittel gereinigt hatte. Doch das Haus glich einem Palast, mit sauberen Teppichen, sauberen Toiletten und nicht einem einzigen ungebügelten Kleidungsstück.

Nichtsdestotrotz fand ihre Mutter selbstverständlich den einzigen womöglichen Makel im gesamten Haushalt. Emma konnte sich gut vorstellen, wie Pete das Couscous aufriss und es morgens gleich neben dem Kühlschrank mit den Fingern verspeiste, anschließend den öligen Karton achtlos zurückstellte und nach dem Orangensaft griff. Er liebte Couscous – Shepherd’s Pie dagegen konnte er auf den Tod nicht ausstehen. Doch wie hätte sie das ihrer Mutter beibringen können? Anne-Marie O’Brian würde ihr ohnehin nicht zuhören: Sie hatte noch nie jemandem zugehört. Abgesehen von ihrem Ehemann, James (Jimmy) P. O’Brian, Chef des O’Brian Installationsunternehmens, Beherrscher seiner Umwelt und ein Mensch, der einfach immer und zu jedem Thema das allerletzte Wort behalten musste.

Ermattet ließ sich Emma auf einen der Küchenstühle sinken und betrachtete ihre frisch lackierten Nägel. Das helle Rosa, das sie für die Reise gekauft hatte, war zwar hübsch, doch überdeckte es weder den Schaden der Reinigungsmittel noch die abgekauten Stellen. Den Nagel ihres Zeigefingers hatte sie sich während eines langen Telefongesprächs mit ihrer Mutter am vorhergehenden Abend abgenagt. Derweil hatte sich ihre Mutter Sorgen wegen der Hitze in Ägypten, dem Essen, den Einheimischen und der Vorstellung gemacht, sich ihre Schultern bei den Touristenattraktionen bedecken zu müssen. Eine weitere ihrer Sorgen war »... ob wohl dein Vater auch richtige Milch für seinen Tee bekommen wird?« Dieser Gedanke hatte die merkwürdige Vorstellung in Emma heraufbeschworen, wie ihr Vater ein Kamel zu melken versuchte, mit hochrotem Gesicht und schwitzend, die Teetasse in der einen Hand und die Zitze des Kamels in der anderen.

Sie knabberte an einem hervorstehenden Stückchen ihres Fingernagels. Ihre Nägel würde sich ohnehin niemand ansehen. Sie war zu apathisch, als dass es ihr etwas ausgemacht hätte. Hoffentlich konnte sie auf dem Flug nach Ägypten schlafen. Wenn sie ihrer Mutter eine Valiumtablette mopsen konnte, würde sie die gesamte Hinreise einfach ausblenden können.

Während ihre Mutter mit dem Kühlschrank beschäftigt war, tastete sich Emma unter dem weichen Stoff ihrer Jeanslatzhose nach ihren Brüsten vor. Das hatte sie bereits den ganzen Tag über getan. Es bereitete ihr ein Vergnügen, das mit Sex nichts zu tun hatte. Ihre biologische Uhr stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Etwas nervös ließ sie eine Hand unter das T-Shirt gleiten und berührte vorsichtig die nackte Brust. Sie war ausgesprochen empfindlich.

Vorhin im Spiegel hatten sie eindeutig größer als sonst ausgesehen, dessen war sie sich sicher. Die Brustwarzen waren größer, nicht wahr? Ja, ja, ja, grinste sie. Sie war schwanger. Es war wirklich unglaublich, wie glücklich sie die Vorstellung eines Babys, ihres Babys, machte. Ein Glühen erfüllte ihren Körper, wie in jenem Werbespot für Frühstücksflocken, in dem der Junge auf dem Fahrrad zur Schule fuhr und innerlich leuchtete, weil er zum Frühstück eine bestimmte Sorte Cornflakes gegessen hatte. Emma glühte aus einer Mischung von ungetrübter Freude und Erleichterung. Erleichterung darüber, dass es nach so langem Warten endlich passiert war. Am liebsten wäre sie vor Freude im Zimmer herumgetanzt, doch ihre natürliche Vorsicht riet ihr zur Zurückhaltung. Sie wollte warten, bis sie sich ganz sicher war, und dann würde sie ihrem wunderbaren Pete die großartige Nachricht überbringen. Jetzt musste sie nur noch diese grauenhafte Woche mit ihren Eltern überleben, danach würde alles himmlisch werden. Ihr Geheimnis würde sie die ganze Woche beflügeln. Schließlich war es tatsächlich nur eine Woche.

Sie ignorierte den »Diese-Wohnung-ist-das-reine-Chaos«-Monolog, nahm einen Notizblock vom Tisch und begann, Pete zu schreiben, wie sehr sie ihn liebte und dass sie ihn schrecklich vermissen würde.

»Nun, gnädige Frau, ruhen wir uns aus, während deine arme Mutter wie üblich die Arbeit erledigt?«

Die Stimme ihres Vaters ließ Emma schuldbewusst aufspringen. Sie hatte das Gefühl, tatsächlich etwas falsch gemacht zu haben. Es war das gleiche Gefühl, als ob ein Polizeiwagen mit Radarkontrolle neben ihr fuhr, selbst wenn sie nur knappe fünfzig fuhr. Allein seine Gegenwart versetzte sie in einen Zustand nervöser Anspannung, sogar jetzt, wo die Hoffnung auf ein geliebtes Baby sie erfüllte.

»Anne-Marie, es geht wirklich nicht an, dass du für Emma die Drecksarbeit erledigst«, brauste Jimmy O’Brian auf und warf seiner älteren Tochter einen missbilligenden Blick zu. »Sie ist sowohl alt als auch hässlich genug, um ihre eigene Hausarbeit zu schultern. Ich dulde es nicht, dass du den Sklaven für sie spielst.«

»Das tue ich doch gar nicht«, entgegnete ihre Mutter mit plötzlich lebloser und ermatteter Stimme.

»Mama hat lediglich etwas aufgewischt, was verschüttet worden war«, protestierte Emma. Ihre gute Laune verflüchtigte sich schlagartig. Das war unweigerlich so, sobald ihr Vater mit von der Partie war. »Den Kühlschrank habe ich erst gestern ...«

Doch ihr Vater hörte ihr nicht mehr zu. Er ging zur Mülltonne, klopfte den verbrauchten Tabak seiner Pfeife heraus und begann, seiner Frau seine neuesten Erledigungen mitzuteilen.

»Ich habe das Auto voll getankt, die Luft in den Reifen überprüft und einen halben Liter Öl nachgefüllt«, verkündete er. »Wir sind startklar, sobald du so weit bist, Anne-Marie.«

Man könnte glatt meinen, wir führen mit dem Auto nach Ägypten, dachte Emma irritiert.

Zum hundertsten Mal seit der Buchung der Reise fragte sie sich, weswegen sie überhaupt mitfuhr. Es war der Vorschlag ihres Vaters gewesen: die schönste Reise ihres Lebens, um ihren fünfunddreißigsten Hochzeitstag zu feiern.

Emma hatte keine Ahnung, weswegen er ein exotisches Reiseziel wie Ägypten gewählt hatte. Während der letzten fünfzehn Jahre war ihr Vater mit Portugal vollkommen zufrieden gewesen. Dort hatte er in den Bars auf einem Fernsehmonitor die Rennsportergebnisse verfolgen können. Natürlich hatte er bemängelt, dass durch die Fußballhooligans und die offenherzigen jungen Mädchen, die Taschen voller Kondome und auf Männersuche, viele Orte doch arg heruntergekommen seien.

»Aufgetakelte Flittchen«, hatte er jedes Mal bemerkt, wenn eine Gruppe fröhlicher, sonnengebräunter Mädchen in engen T-Shirts und figurbetonten Shorts aufgetaucht war.

Emma hatte diese modernen jungen Frauen sehnsüchtig angesehen: Sie war sich ziemlich sicher, dass die mit Anfang zwanzig nicht mehr mit ihren Eltern gemeinsam in den Urlaub fahren würden. Auch würden sie nicht davor zurückschrecken, ihren Eltern mitzuteilen, dass sie mit ihrem Freund verreisten. Bis zu ihrer Hochzeit waren Pete und sie lediglich ein einziges Mal in den Süden gereist, und da hatte sie vorgegeben, mit einigen ihrer Freundinnen unterwegs zu sein.

Trotz seiner Kommentare über die Verwahrlosung junger Menschen schien ihrem Vater Portugal sehr zu gefallen. Doch eine Sendung in einem Reisemagazin über eine Fahrt auf dem Nil hatte alles umgestoßen. Jimmy hatte sich eine Unmenge Broschüren schicken lassen und hatte diese in bester Stimmung während des sonntäglichen Mittagessens vorgelesen.

»Hört euch das an«, hatte er gesagt und dabei mit der gewohnten Rücksichtslosigkeit eines Despoten die Unterhaltungen anderer unterbrochen. »›Genießen Sie das Spektakel von Luxor und den Karnak-Tempeln. Beide Monumente sind perfekte Beispiele altertümlicher ägyptischer Architektur. Teile des Karnak-Tempels sind bereits im Jahre 1375 vor Christus erbaut worden.‹ Das ist ja einfach unglaublich, da müssen wir hin.«

Fatalerweise schloss das »Wir« Pete und Emma mit ein.

»Auf gar keinen Fall, Emma. Warum reisen sie nicht alleine und gehen einander auf die Nerven, anstatt uns allen den letzten Nerv zu rauben?«, beschwerte sich Pete. Für einen Menschen seines Charakters war das eine durchaus befremdliche Bemerkung. Von Natur aus freundlich und warmherzig, konnte Pete noch nicht einmal dann gemein sein, wenn er sich Mühe gab. Doch auch seine unendliche Geduld wurde durch ihre Eltern überstrapaziert. Durch ihren Vater, um genauer zu sein. Jimmy O’Brian konnte die Geduld eines Heiligen torpedieren.

»Ich weiß, Liebling«, erwiderte Emma matt. Sie fühlte sich so zerrissen. Zerrissen zwischen dem, was ihr herzensguter Pete wollte und dem, was ihr dominierender Vater von ihr erwartete. »Er spricht ständig davon und geht davon aus, dass wir freudig mitkommen. Er wird uns Undankbarkeit vorwerfen, wenn wir hier blieben.« Mehr brauchte Emma dazu nicht sagen. Denn seit ihr Vater ihnen Geld für den Hauskauf geborgt hatte, führte er sich auf, als ob er ihre Seelen gekauft hätte.

Sich am Sonntag mit Freunden zu treffen und nicht bei den O’Brians zum Mittagessen aufzutauchen, wurde als sicheres Zeichen der Undankbarkeit gewertet. Ebenso durfte man nicht zu beschäftigt sein, um Jimmys neue Zweischärfenbrille in der Stadt abzuholen oder Anne-Marie zum Einkaufen zu chauffieren, nur weil sie aus unerfindlichem Grund selbst nicht mehr fahren wollte.

Pete verlor kein weiteres Wort über die Reise. Emma wusste, dass sie seiner Meinung nach ihrem Vater endlich einmal die Stirn hätte bieten und die Mitreise verweigern sollen, damit sie das Geld für eine spätere gemeinsame Reise hätten verwenden können. Natürlich würde Emma Pete gegenüber Schuldgefühle hegen, doch zehnmal schlimmer würde sie leiden müssen, wenn sie Jimmy O’Brian etwas abschlug. Schließlich hatte sie eine Lösung gefunden.

»Pete kann in der entsprechenden Woche nicht nach Ägypten reisen, Papa«, log sie. »Er muss für zwei Tage zu einer Konferenz nach Belfast. Aber ich komme mit – das wäre doch schön, nur wir drei, wie in alten Zeiten.«

Das Wiederauflebenlassen alter Zeiten hatte die gewünschte Wirkung. Was wiederum ironisch war, dachte Emma. Ihre Erinnerungen an vergangene gemeinsame Reisen reduzierten sich auf das Gefühl, sie hätten lediglich die Kulisse für die täglichen zynischen Bemerkungen ihres Vaters gewechselt. Jimmy schien jedoch von dieser Reduzierung der Reiseteilnehmer begeistert.

Pete blieb also zu Hause und versicherte Emma, dass alles in Ordnung war. Er würde später im Jahr mit seinen Freunden ein Wochenende zu einem Fußballspiel wegfahren, sie musste sich also keine Sorgen machen. Jetzt hieß es nur noch, die verdammte Reise hinter sich zu bringen.

»Vor unserer Abfahrt hätte ich gerne noch eine Tasse Tee.« Ihre Mutter ließ den Lappen fallen und lehnte sich gegen Emmas Spülbecken. Sie bot die perfekte Personifizierung der Erschöpfung. Für Jimmy wiederum waren die schauspielerischen Leistungen ihrer Mutter wie ein rotes Tuch. Irgendjemand musste für die Erschöpfung seiner Frau verantwortlich gemacht werden.

Emma wusste genau, was jetzt kommen würde: Sie würde den Tee aufbrühen und sich beschimpfen lassen müssen, dass ihre geplagte arme Mutter die Hausarbeit für sie erledigte. Es hatte überhaupt keinen Sinn, den eigentlichen Hergang zu erklären. Diese Art von Szene hatte sich über die Jahre derart häufig abgespielt, dass es jetzt wie eine Pantomime von Menschen erschien, die dreißig Jahre lang immer dasselbe Stück gespielt hatten.

Du bist ein faules, dummes Mädchen, Emma.

Aber nein, das bin ich nicht!

Und ob du das bist!

Emma betrachtete ihre Eltern leidenschaftslos und beobachtete, wie sie ihren Haushalt übernahmen, als ob es der ihre wäre. Sie war wirklich nicht in der Stimmung, die alten Machtspielchen der Familie erneut aufleben zu lassen.

Seit sie sich ein paar Ratgeberbücher gekauft hatte, konnte sie das Muster erkennen. Ihr Vater war ständig auf Kontrolle bedacht, ihre Mutter dagegen war passiv aggressiv. Sowie ihr Mann auftauchte, schlüpfte sie in die Rolle der Gebeutelten, damit er sich um sie kümmerte. In den Büchern wurden verschiedene Variationen dieser Art von Beziehung beschrieben, doch Emma konnte in jeder Beschreibung ihre Eltern wiedererkennen.

Doch Menschen zu analysieren war eine Sache, was man dagegen unternehmen konnte stand auf einem ganz anderen Blatt. Schon lange war Emma bewusst, dass sie ganz einfach zu passiv war und es ihr, was ihre Familie betraf, an Selbstvertrauen mangelte. Sie sah sich außer Stande, ihr Verhalten in irgendeiner Weise zu beeinflussen.

Als sie das siebte Kapitel des Buches »Übernehmen Sie die Verantwortung für Ihre eigenen Fehler« gelesen hatte, war ihr klar geworden, dass sie selbst das Problem darstellte. Es hatte keinen Sinn, sich stundenlang verbittert über das Verhalten der Familie zu beschweren, ohne dabei das eigene Verhalten zu ändern. Sie ließ es ihnen durchgehen. Nur sie selbst konnte die Dinge verändern.

»Das Schicksal liegt in Ihren Händen«, behauptete Guru Cheyenne Kawada, Autorin des Buchs Sie haben nur ein einziges Leben, verschwenden Sie es nicht.

Das Problem war, eigentlich aus zwei Persönlichkeiten zu bestehen. Bei ihren Eltern war sie die ungeschickte Emma, die ältere, weniger erfolgreiche Tochter (Kirsten dagegen war die verschwenderische) und diejenige, die einen Arbeitsplatz in der Firma ihres Vaters abgelehnt hatte (das einzige Mal, dass sie sich ihm widersetzt hatte). Im Büro jedoch war sie Emma Sheridan, die hoch geschätzte Leiterin für Sonderprojekte der Wohltätigkeitsorganisation Kinder in Not. Mehrere Menschen arbeiteten unter ihrer Leitung. Die vertraulich zu behandelnde Kindertelefonseelsorge sowie die Organisation zweier Konferenzen im Jahr oblagen ihrer Verantwortung.

Ihre Eltern hatten keine Vorstellung von der Existenz dieser geschäftsmäßigen, gut organisierten Emma. Und bei Kinder in Not hätte niemand die überforderte Emma als ihre tüchtige Chefin wiedererkannt.

»Setz du dich nur, Liebling, ich mache den Tee«, wandte sich Jimmy O’Brian heldenhaft an seine Frau, während er durch Emmas ordentlich aufgeräumte Vorratsschränke wühlte und dabei ein paar Päckchen Soßenmix und eine Flasche Sojasoße umstieß.

Ihre Mutter winkte ab. Dabei erweckte sie den Eindruck, als ob sie zwar unbedingt eine Tasse Tee trinken wolle, sich jedoch aus humanitären Gründen zur Ablehnung entschieden hatte. Ganz wie jemand, der an Bord der Titanic eine Schwimmweste ablehnte. »Die Zeit drängt, Jimmy.«

»Wir hätten genügend Zeit gehabt, wenn du dich nicht so abgerackert und dieser faulen gnädigen Dame hinterhergeräumt hättest.« Jimmy schlug den Schrank zu und räusperte sich, wobei sein gesamter Körper sich bei diesem lauten Geräusch schüttelte. Neben seinem massigen Körper in dem cremefarbenen Pullover wirkte alles andere in dem kleinen Zimmer vergleichsweise winzig. Er war genauso groß wie der Küchenschrank aus Kiefernholz und ebenso breit, durch seine breiten Schultern und den langen weißen Bart wirkte er wie ein Doppelgänger des Weihnachtsmanns.

Anne-Marie O’Brian bildete glücklicherweise nicht das Gegenstück zu ihrem Weihnachts-Mann. Groß gewachsen, doch bohnenstangendünn, trug sie ihr sorgfältig blond gefärbtes Haar zwar lang, doch hatte sie es mit einer breiten Haarspange zurückgekämmt, die wie ein versteinerter Käfer anmutete. In ihrem geblümten und gegürteten Sommerkleid ähnelte sie einer properen Hausfrau aus den Fünfzigerjahren und wirkte erstaunlich jung. Anne-Marie war fünfzehn Jahre jünger als ihr Ehemann und hatte die klare, faltenlose Haut eines Menschen, der überzeugt davon war, nach seinem Tod aufgrund seiner Güte und seiner hingebungsvollen Gebete in den Himmel zu kommen. Es war ihr noch nie in den Sinn gekommen, ob ihre Klatschsucht den direkten Zugang zum Paradies nicht eventuell behindern würde.

Emma war ebenso groß und schlank wie ihre Mutter, doch besaß sie seidiges, hellbraunes Haar und ein freundliches, geduldiges Gesicht statt eines selbstzufriedenen. Angespannt beobachtete sie, wie ihre Mutter den Chromtoaster und den Wasserkessel abwischte. Offenbar wusste sie nicht, dass beides mit einem trockenen Tuch abgerieben werden musste, damit sich keine fettigen Streifen bildeten.

Die beiden Chromgegenstände waren Petes Lieblingsgeschenk zu ihrer Hochzeit vor drei Jahren gewesen und stellten bei weitem die besten Stücke in der Küche dar. Der gute Pete. Er riet ihr ständig, die andere Wange auch noch hinzuhalten, wenn ihr Vater sie irritierte. Petes religiöse Erziehung hatte ihm für jede Lebenssituation einen Bibelspruch mit auf den Weg gegeben. Diesmal aber hatte er Recht. Ganz gleich, wie schwer es auch fallen mochte, nicht aufzumucken, wenn Jimmy O’Brians berüchtigt scharfe Zunge einem zu schaffen machte, so wusste Emma, dass dies die einzig richtige Strategie war. Mit ihrem Vater zu argumentieren, bedeutete lediglich, dass er sie anbrüllte, er würde doch nur ihr Bestes wollen.

»Halt ihm die andere Wange hin«, wiederholte sie wie ein Mantra und schlüpfte aus der Küche nach oben ins Schlafzimmer. Sie hatten es in Kiefernholztönen und einem warmen Olivton gestrichen. Es war das männlichste Zimmer des Hauses. Emma hatte allerdings die Farben gewählt. Sie hatte sich aber in den Kopf gesetzt, dass das erste Schlafzimmer als verheiratete Frau in keinster Weise den mit rosa Rüschenchintz ausgestatteten Mädchenzimmern im Hause ihrer Eltern ähneln durfte. Nachdem sie ihr ganzes Leben mit mehr Rüschen verbracht hatte, als man auf Scarlett O’Haras Hochzeitskleid zählen konnte, hatte Emma sich nach einem Zimmer von beruhigender Schlichtheit gesehnt. Pete war in Geschmacksfragen ganz und gar nicht eigen. Er hätte wohl auch in einem Zuckerhäuschen geschlafen. Deshalb hatte er Emma die Wahl überlassen. Sie hatte sich einfarbige olivgrüne Gardinen ausgesucht, ein modernes Bett aus hellem Holz mit einer dunkelgrünen Tagesdecke, und den Einbauschrank hatte sie in einem gedeckten cremefarbenen Ton gestrichen. Nicht eine Rüsche, nicht ein Schleifchen und nicht ein Bild einer Ballerina fand sich im Zimmer. Die Blumenzeichnungen, die ihre Mutter beigesteuert hatte, um »das Haus etwas aufzuheitern«, hatte sie in der Gästetoilette aufgehängt, die sie nur selten benutzten.

»Kommst du, Emma?«, rief ihr Vater von unten.

Sie nahm ihre Handtasche und ihren Koffer und trat in die kleine Diele. Von dort aus warf sie einen letzten, liebevollen Blick zurück ins Schlafzimmer. Sie würde es vermissen. Und Pete. Sie würde es vermissen, mit ihm zusammen im Bett zu kuscheln und seinen festen Körper an sich geschmiegt zu spüren. Sie würde seinen Humor vermissen und die Art, wie er ihr seine Liebe zeigte. Aus Pete Sheridans Sicht konnte Emma nichts falsch machen. Somit bildete er das exakte Gegenteil zu der Art und Weise, wie ihre Eltern sie behandelten.

Die beiden standen am Fuß der Treppe, Vater ungeduldig, Mutter aufgekratzt.

»Das willst du doch nicht etwa anziehen, Emma?«, rief ihre Mutter schrill aus, als Emma mit dem Koffer in der Hand auf dem Treppenabsatz auftauchte.

Unwillkürlich fuhr eine Hand zu ihrer Brust und zum robusten Jeansstoff ihrer Latzhose. Kühl und sehr bequem waren sie die ideale Reisekleidung. »Aber ich hatte sie eben auch schon an«, murmelte Emma. Wenn sie sich doch nur nicht wie ein unartiger Teenager vorkommen würde!

Sie war einunddreißig und verheiratet, verdammt noch mal! Man würde ihr keine Vorschriften machen können.

»Ich dachte, du wärst zum Umziehen nach oben gegangen«, seufzte ihre Mutter gequält. »Auf Reisen trete ich gerne respektabel auf. Ich habe gelesen, dass gut gekleidete Menschen eher eine Klasse höher gruppiert werden«, fügte sie hinzu und stellte sich vor, wie sie an all dem Pöbel vorbei in den luxuriösen Teil des Flugzeugs geführt wurde, der einer O’Brian würdig war.

»Nun mach schon und zieh dich um. Sonst kommen wir noch zu spät«, mischte sich Jimmy ungeduldig ein.

Emma erwähnte nicht, dass ihre Aussichten auf eine Höhergruppierung gegen Null tendierten, denn auf Charterflügen gab es keine erste Klasse. Die Fantasien ihrer Mutter von einem eleganten Lebensstil waren total wirklichkeitsfremd. Weshalb also sollte sie es erwähnen? Eine Minute lang spielte sie mit dem Gedanken, sich nicht umzuziehen. Doch beim Anblick des ungehaltenen Gesichtsausdrucks ihres Vaters änderte sie ihre Meinung. Während der achtundzwanzig Jahre, die sie unter ihres Vaters Dach gelebt hatte, hatte sie gelernt, wie sehr ihm »männliche« Kleidung, also Frauen in Hosen, verhasst waren.

»Es dauert nicht lange«, zwitscherte sie gespielt fröhlich und rannte die Treppe wieder nach oben.

Im Schlafzimmer ließ sie sich auf die Knie fallen und schlug mit ihrem Kopf mehrmals gegen das Bett. Feigling! Gestern hast du Latzhosen als ideale Reisekleidung ausgesucht. Du hättest dich wehren sollen!

Sich weiterhin selbst verwünschend, fischte Emma das kleine rote Büchlein unter ihrem Bett hervor und öffnete es auf der aufgeknickten Seite: »Ich bin ein positiv denkender Mensch. Ich bin ein guter Mensch. Meine Gedanken und meine Gefühle sind berechtigt.«

Während Emma diese drei Sätze wieder und wieder vor sich hin murmelte, riss sie sich die Latzhose und das T-Shirt vom Leib und zog sich einen cremefarbenen langen Strickrock und eine Tunika über, die sie gelegentlich im Sommer trug, wenn sich alle anderen Sachen in der Wäsche befanden.

Heute befand sich all ihre schöne Sommerkleidung in dem Koffer am Fuße der Treppe. Das Strickensemble hatte sie während eines verhassten gemeinsamen Einkaufsbummels mit ihrer Mutter erstanden. Sie wirkte darin wie ein anämischer Café Latte – groß, steif wie ein Schulmädchen und farblos.

Während die hellen Blautöne ihrer Jeanskleidung ihre blassblauen Augen mit den hellbraunen Sprenkeln betonte, ließen Beige- und Brauntöne ihr Gesicht verschwinden: blasse Haut, blasses Haar, alles nur blass, blass, blass. Sie seufzte. Sie fühlte sich so langweilig und absolut unattraktiv.

Mit Make-up hatte sie schon immer auf Kriegsfuß gestanden, und Lippenstift ließ ihre ohnehin schmalen Lippen noch schmaler wirken. Wenn sie doch nur den Mut für eine Nasenkorrektur aufbringen würde, dachte Emma. Länglich und viel zu groß für ihr Gesicht, sah sie damit schrecklich aus. Pinocchios Nase hätte man im Vergleich zu ihrer durchaus als niedlich bezeichnen können. Um sie zu verstecken, trug sie einen überlangen Pony. Ihre Schwester Kirsten hatte in ihrer Familie das gute Aussehen geerbt. Sie war lebhaft, sexy und bei den Männern sehr erfolgreich, denn sie liebten ihren ausgefallenen Stil und ihre Lebensfreude. Das einzig Außergewöhnliche bei Emma war ihre Stimme. Es war eine tiefe, rauchige Stimme, die so gar nicht zu ihrem konservativen, schüchternen Image passen wollte. Pete hatte ihr dauernd versichert, dass sie mit ihrer Stimme beim Radio hätte Karriere machen können.

»Eigentlich willst du damit nur sagen, dass ich mich zwar wie eine Sirene anhöre und mich deshalb perfekt für den Hörfunk eigne – denn dort können mich die Leute lediglich hören, aber nicht sehen –, dass ich also das Versprechen meiner Stimme so gar nicht einlöse«, hatte sie ihn geneckt.

»In meinen Augen bist du eine Sirene«, hatte er liebevoll gemeint.

»Beeil dich«, krakeelte ihr Vater von unten. »Wir werden uns verspäten.«

Einen kurzen Moment schloss Emma die Augen. Bei der Vorstellung einer ganzen Woche zusammen mit ihren Eltern wurde ihr schwindelig. Sie musste verrückt gewesen sein, dieser Reise zuzustimmen.

Sie hatte immer schon nach Ägypten reisen und eine Fahrt auf dem Nil machen wollen. Danach hatte sie sich bereits gesehnt, als sie als Kind über die bezaubernde Königin Nefertiti und die Schönheit des Karnak-Tempels gelesen hatte. Doch hatte sie davon geträumt, diese Reise gemeinsam mit Pete zu machen. Unglücklich warf Emma ihr Ratgeberbuch in die kleine Handtasche.

Ursprünglich hatte sie nicht vorgehabt, das Buch Das Leben positiv gesehen – Ihr Weg zu Selbstachtung und Selbstbewusstsein von Dr. Barbara Rose mitzunehmen. Auf dieser Reise würde dieses Buch jedoch lebensnotwendig sein – eigentlich würde sie Dr. Rose persönlich zusammen mit einem voll gepackten Arzneimittelkasten mit Betäubungsmitteln gebrauchen können, um ihren Vater damit in ein Koma zu versetzen. Dann wäre es tatsächlich die Reise ihres Lebens.

Zufrieden über ihre nunmehr angemessen gekleidete Tochter und sicher, dass sie die Familie auf dem Weg zum Nil nicht blamieren würde, hielt Anne-Marie O’Brian auf dem Weg zum Flughafen einen Monolog. »Ihr glaubt nicht, wem ich heute Morgen begegnet bin«, zwitscherte sie, ohne die leiseste Absicht, eine Atempause einzulegen, damit entweder Emma oder ihr Vater es erraten könnten. »Frau Page. Himmel noch mal, ihren Aufzug hättet ihr sehen sollen. Jeans. Und das in ihrem Alter! Ich hätte sie natürlich gar nicht erst angesprochen, doch stand sie direkt neben der Zahnpasta. Ich wollte ebenfalls noch eine Tube kaufen, falls wir dort unten keine bekommen können. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Ägypter sich allzu viel aus Körperhygieneprodukten machen«, fügte sie noch hinzu.

Emma saß eingeklemmt auf dem Rücksitz des Opels. Bei jeder Kurve drohte das Gepäck auf sie herunterzufallen. Erschöpft schloss sie die Augen. Sicher hatte es keinerlei Sinn zu erklären, dass die Ägypter in einer gebildeten, hoch zivilisierten Gesellschaft lebten, dass sie die Pyramiden erbaut und Astronomie studiert hatten, als die Vorfahren der O’Brians noch Steine gegeneinander geschlagen und sich den Kopf darüber zerbrochen hatten, woher die Funken kamen.

»... wenn ihr gehört hättet, was sie alles über ihre Antoinette erzählt hat.« Frau O’Brians Stimme spiegelte tiefste Abneigung wider. »Skandalös, das ist es. Sie lebt mit einem Mann und zwei Kindern zusammen und hat noch nicht einmal einen Ring am Finger. Glaubt sie denn nicht, dass diese unschuldigen Kinder die heilige Ehe verdient haben, anstatt ...«, ihre Stimme war nunmehr nur noch ein Flüstern, »statt der Unehelichkeit!«

»Unehelichkeit gibt es nicht mehr.« Emma musste einfach etwas sagen, denn sie war mit Antoinette befreundet.

»Du hast gut reden«, konterte ihre Mutter. »Aber es ist weder richtig noch anständig. Es verhöhnt die Kirche und die kirchlichen Rituale. Das Mädchen schaufelt sich ihr eigenes Grab, lass dir das gesagt sein. Der Mann wird sie eines Tages verlassen. Wie alle anderen hätte sie einfach heiraten sollen.«

»Er lebt getrennt, Mama. Bevor seine Scheidung nicht durch ist, kann er nicht heiraten.«

»Das ist es ja, was ich sage, Emma. Ich kann die jungen Leute heutzutage einfach nicht begreifen. Bedeutet der Katechismus ihnen denn gar nichts? Gott sei Dank hatten dein Vater und ich mit euch nicht diese Probleme. Ich habe Frau Page erzählt, dass du mit Pete glücklich zusammenlebst und dein Mann Vize-Verkaufsdirektor beim Dewine-Bürovertrieb ist. Und dass du als Projektleiterin für Sonderaufgaben arbeitest.« Bei der Erinnerung an dieses angenehme Detail ihrer Angeberei musste Frau O’Brian lächeln.

»Er ist einer der stellvertretenden Verkaufsdirektoren, Mama«, konterte Emma ungehalten. »Wie du weißt, gibt es davon sechs.«

»Gelogen jedenfalls habe ich nicht«, beharrte ihre Mutter, die sich nur ungern verbessern ließ. »Und du bist Projektkoordinatorin für Sonderprojekte. Wir sind ja so stolz auf unser kleines Mädchen, nicht wahr, Jimmy?«

Ihr Vater blickte weiter auf die Straße, wo er die morgendlichen Radfahrer das Fürchten lehrte. »Ja, das sind wir«, bemerkte er beiläufig. »Sehr stolz. Auf euch beide. Ich habe immer schon gewusst, dass unsere Kirsten sich sehr gut machen würde. Ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.«

Emma lächelte matt und nahm sich vor, nach ihrer Rückkehr Antoinette Page anzurufen, um sich für die groben Bemerkungen ihrer Mutter zu entschuldigen, die bis dahin sicher zu ihr durchgesickert waren. Wenn Anne-Marie O’Brian weiterhin mit Petes und Emmas Überfliegerkarrieren prahlte, als ob sie Weltraumwissenschaftler seien und den dazu passenden Porsche und Millionen auf der Bank liegen hatten, würden sie bald keine Freunde mehr haben. Pete arbeitete als Verkäufer in einem Bürobedarfsgeschäft, und ihre Arbeit beinhaltete ebenfalls jede Menge Briefe eintüten und organisatorische Tätigkeiten und nicht das Herumtreiben auf eleganten Wohlfahrtsessen, wie ihre Mutter Kinder in Not sicherlich allen gegenüber beschrieb.

Emmas Job war vorwiegend administrativ und zielte weniger darauf ab, Geld für ihre Organisation zu akquirieren. Sie organisierte die Telefonseelsorge, bei der missbrauchte oder verängstigte Kinder anonym anrufen konnten. Zusätzlich kümmerte sie sich um das Tagesgeschäft im Büro von Kinder in Not. Natürlich gab es tatsächlich opulente Mittagessen, bei denen reiche Frauen mit guten Beziehungen Hunderte von Pfund für eine Eintrittskarte zahlten, doch zum Bedauern ihrer Mutter besuchte Emma diese Art von Veranstaltungen nicht.

Emma jedoch hatte sich vorgenommen, die Dinge in einem positiven Licht zu sehen. Immerhin war es schön, dass ihre Eltern stolz auf sie waren, wenn sie das auch nur Dritten und niemals ihr persönlich gegenüber geäußert hatten. Natürlich waren sie auf ihre jüngere Schwester Kirsten noch viel stolzer. Gott sei Dank mochte Emma Kirsten sehr, denn ihr Leben lang zu hören zu bekommen, wie klug/ hübsch/niedlich Kirsten war, hätte die Beziehung zwischen den Schwestern leicht zerstören können. Obwohl Jimmy sie unbewusst ständig gegeneinander hatte ausspielen wollen, standen sie sich nahe.

»Frau Page war entzückt, von Kirstens neuem Haus in Castel Nock zu hören«, fuhr Anne-Marie fort. »Ich habe ihr erzählt, dass sie über fünf Schlafzimmer mit direktem Badezimmerzugang verfügen und dass Patrick einen ... wie hieß der Wagen gleich noch?«

»Lexus«, warf Jimmy ein.

»Genau. Hat sie sich nicht prima gemacht, habe ich gefragt. Ich habe ihr erzählt, dass Kirsten nun nicht mehr arbeiten muss, aber Geld für ein Umweltprojekt zusammenbekommen möchte ...«

Emma hätte ein von der stolzen Mutter diktiertes Buch über die Erfolge ihrer jüngeren Schwester schreiben können. Kirsten war es gelungen, in dreifacher Weise das große Los zu ziehen. Sie hatte einen unermesslich reichen Börsenmakler geheiratet, bis auf Weihnachten ging sie ihren Eltern aus dem Weg und galt dennoch als die gehorsame Tochter.

Obwohl sie Kirsten liebte und sie durch das eine Jahr Altersunterschied fast wie Zwillinge aufgewachsen waren, war Emma die Lobtirade von Kirstens wunderbarer Wohltätigkeitsarbeit leid. Schließlich wusste sie, dass ihre Schwester sich lediglich deshalb für das Umweltprojekt interessierte, weil sie dabei möglicherweise Sting treffen würde und sie auf diese Weise etwas zu erzählen hatte, wenn sie sich mit den anderen wohlbetuchten Damen auf dem Golfplatz traf. Auch verübelte es Emma Kirsten und Patrick, dass es ihnen gelungen war, sich von den sonntäglichen Mittagessen zu verabschieden und es Pete und ihr überließen, sich sieben Stunden lang den Monolog »Was meiner Meinung nach in der Welt nicht in Ordnung ist« anzuhören. Beim letzten Mittagessen hatte Jimmy die ganze Zeit gegen Immigranten gewettert, die sich in Irland nach Arbeit umsahen.

Als sie sich dem Flughafen näherten, wurde Anne-Marie nervös. »Hoffentlich wird Kirsten die Woche gut überstehen. Am Telefon sprach sie davon, dass Patrick verreist.«

Emma rollte mit den Augen. Im Gegensatz zu ihrer Wenigkeit gehörte Kirsten zu den Lebenskünstlern. Wenn man sie an der Nordwand des Eigers mit nichts weiter als einem Zelt und etwas Gemüsebrühe aussetzen würde, würde sie vierundzwanzig Stunden später von der Sonne gebräunt, mit jeder Menge neuer Kleider und einer endlosen Liste all jener interessanten Menschen auftauchen, denen sie unterwegs begegnet war und die allesamt Jachten, Villen in Gstaad, persönliche Fitnesstrainer und Rolexuhren besaßen. Eine Woche ohne Patrick würde für Kirsten bedeuten, dass sie mit ihrer goldenen Kreditkarte bei Brown Thomas wie wild zuschlagen konnte und jeden Abend mit einem Bewunderer an der Seite in einem Nachtclub Wodka-Tonic kippen konnte. Emma glaubte nicht, dass ihre Schwester ihrem bodenständigen und verlässlichen Ehemann gegenüber untreu gewesen war, doch zweifellos genoss sie den Flirt mit fremden Männern.

»Sie wird es schaffen, Mama«, meinte Emma trocken.

Am Flughafen angekommen, ließ ihr Vater sie vor der Abflughalle mit dem Gepäck aussteigen und fuhr dann wieder weg, um einen Parkplatz zu finden. Schlagartig hyperventilierte Anne-Marie. Solange ihr Mann an ihrer Seite alle Welt herumkommandierte, war sie die Ruhe in Person, doch kaum war er außer Sichtweite, wurde sie nervös und überkandidelt.

»Meine Brille«, meinte sie plötzlich, nachdem Emma und sie sich in die sich nur langsam vorwärts bewegende Schlange vor dem Egypt-Air-Schalter eingereiht hatten. »Ich habe sie wohl vergessen!«

Angesichts der drohenden Hysterie ihrer Mutter nahm Emma zärtlich ihre Hand und tätschelte sie beruhigend. »Soll ich mal in deiner Handtasche nachsehen, Mama?«, fragte sie.

Anne-Marie nickte gequält und streckte ihr die kleine beige Lederhandtasche entgegen. Die Brille befand sich in einer der Seitentaschen in ihrem abgenutzten Stoffetui und wäre ihrer Mutter beim Nachsehen sicher sofort ins Auge gefallen.

»Sie war die ganze Zeit über schon hier, Mama.«

Ihre Mutter beruhigte sich etwas. »Ich bin mir ganz sicher, etwas vergessen zu haben«, meinte sie. Sie schloss die Augen, als ob sie in Gedanken eine Liste durchgehen würde. Eine Minute lang war sie still. »Hast du etwas vergessen?«, erkundigte sie sich panisch.

Emma schüttelte den Kopf.

»Sanitärsachen und solche Dinge«, flüsterte ihre Mutter. »Wer kann schon wissen, ob es die dort gibt. Sicher hast du das vergessen. Ich hätte dir heute früh im Supermarkt etwas kaufen sollen, aber diese Frau Page hat mich abgelenkt ...«

Emma versuchte, nicht weiter hinzuhören, doch die Worte ihrer Mutter blieben beharrlich im Raum stehen. Sanitärzeug. Vermutlich hätte sie tatsächlich ihre Tampons mitnehmen sollen, doch hatte sie das Schicksal nicht herausfordern wollen.

Ihre Periode sollte in vier Tagen beginnen, doch vielleicht würde sie diesmal aussetzen. Jetzt könnte es endlich wahr werden: schwanger! Die ganze Woche über war sie so müde gewesen. Sie war sich sicher, dass ihre Brustwarzen empfindlicher waren, genau wie es in ihrem Schwangerschaftsbuch beschrieben stand. Normalerweise fühlten sie sich anders an. Also war sie das Wagnis eingegangen und hatte alle Utensilien für die Monatshygiene zu Hause gelassen. Nicht einen einzigen Tampon oder eine der großen Unterhosen hatte sie mitgenommen, weil sie befürchtete, das könne ihr Unglück bringen. Bei der Vorstellung wurde Emma ganz aufgeregt.

Als ihr Vater sich zu ihnen gesellte, erzählte er lang und breit, wie weit weg er das Auto hatte parken müssen. Emma gelang es, ein mitfühlendes Gesicht aufzusetzen.

»Sind wir so weit?«, fragte er. »Lasst uns anstehen.«

Er legte einen Arm um seine Frau. »Ägypten! Diese Reise wirst du stets in Erinnerung behalten, Anne-Marie, Liebling. Schade, dass Kirsten nicht auch hat mitkommen können. Sie hätte es so sehr genossen, und sie ist einfach ein unglaublich guter Kumpel. Leider ist sie mit ihrer Wohltätigkeitsarbeit beschäftigt und muss sich um Patrick kümmern.« Er seufzte väterlich liebevoll. Emma begann erneut, an ihrem Daumennagel zu knabbern, den sie bis jetzt in Ruhe gelassen hatte.

Beruhige dich, wiederholte sie wie eine defekte Schallplatte und wie man es ihr in den Ratgeberbüchern geraten hatte. Lass dich von ihm nicht irre machen. Jetzt, wo sie dieses wunderbare Gefühl der Hoffnung in sich trug, würde sie mit ihm fertig werden. Ein Baby. Diesmal musste sie ganz einfach schwanger sein, es konnte gar nicht anders sein.

Kapitel 3