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Gemeinsam können sie alles meistern: Der berührende Freundinnen-Roman »Der Glanz von irischem Klee« von Cathy Kelly jetzt als eBook bei dotbooks. Eine irische Kleinstadt am Meer – vier Freundinnen in den Stürmen des Lebens … Während Lizzie neben der Hochzeit ihrer Tochter die eigene Scheidung managen muss, steigt ihre Freundin Abby zum Star einer Fernsehshow auf – aber wird sie sich damit immer weiter von den Menschen entfernen, die sie liebt? Erin hingegen fühlt sich wie im freien Fall, seitdem sie erfahren hat, dass die Frau, bei der sie aufwuchs, nicht ihre leibliche Mutter ist. Nun steht sie vor der Hausforderung, ihre wahren Wurzeln zu finden … Und schließlich gibt es da noch Sally, die mit ihrem kleinen Salon das Herz von Dunmore ist – und plötzlich eine erschütternde Diagnose erhält. Doch genau dafür sind beste Freundinnen da: Um Hoffnung zu schenken, um sich gegenseitig zu helfen – und das Unmögliche möglich zu machen! Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der warmherzige Frauenroman »Der Glanz von irischem Klee« der irischen Bestsellerautorin Cathy Kelly. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 1085
Über dieses Buch:
Eine irische Kleinstadt am Meer – vier Freundinnen in den Stürmen des Lebens … Während Lizzie neben der Hochzeit ihrer Tochter die eigene Scheidung managen muss, steigt ihre Freundin Abby zum Star einer Fernsehshow auf – aber wird sie sich damit immer weiter von den Menschen entfernen, die sie liebt? Erin hingegen fühlt sich wie im freien Fall, seitdem sie erfahren hat, dass die Frau, bei der sie aufwuchs, nicht ihre leibliche Mutter ist. Nun steht sie vor der Hausforderung, ihre wahren Wurzeln zu finden … Und schließlich gibt es da noch Sally, die mit ihrem kleinen Salon das Herz von Dunmore ist – und plötzlich eine erschütternde Diagnose erhält. Doch genau dafür sind beste Freundinnen da: Um Hoffnung zu schenken, um sich gegenseitig zu helfen – und das Unmögliche möglich zu machen!
Über die Autorin:
Cathy Kelly arbeitete als Redakteurin, Filmkritikerin und »Kummerkastentante« bei der Dubliner Sunday World, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden und regelmäßig die Bestsellerlisten erobern. Am liebsten schreibt sie warmherzige, einfühlsame Geschichten über ihre irische Heimat. Cathy Kelly lebt mit ihrer Familie und ihren drei Hunden in County Wicklow.
Die Website der Autorin: www.cathykelly.co.uk/
Bei dotbooks veröffentlichte Cathy Kelly auch ihre Romane:
»Der Duft von irischem Lavendel«
»Eine irische Hochzeit«
»Die irischen Freundinnen«
»Heimkehr nach Irland«
»Wie küsst man einen Iren«
»Wie angelt man sich einen Iren«
»Wie heiratet man einen Iren«
»Die Schwestern von Ballymoreen«
»Die Freundinnen von Cloud’s Hill«
»Die Frauen von Ardagh’s Crown«
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eBook-Neuausgabe Januar 2023
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2003 unter dem Originaltitel »Best of Friends« bei bei HarperCollins Publishers, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2004 unter dem Titel »Dann klappt’s auch mit dem Nachbarn« und 2011 unter dem Titel »Himmelblau ist die Hoffnung« bei Blanvalet.
Copyright © der englischen Originalausgabe 2003 by Cathy Kelly.
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2004 und 2011 by
Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-98690-545-3
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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
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Cathy Kelly
Der Glanz von irischem Klee
Roman
Aus dem Englischen von Uta Hege
dotbooks.
Für Tamsin
Haare kämmen, Zähne putzen, den Eyeliner kannst du vergessen, ein bisschen Mascara und ein Hauch von Tönungscreme müssen genügen. Deo... Mist, kein Deo mehr da. Schreib es sofort auf den Einkaufszettel. Wo ist der Einkaufszettel überhaupt ...?
Sally Richardson schossen eine Million und eine Sachen durch den Kopf, während sie eilig ihre Bluse zuknöpfte und mit ihren vom Duschen noch ein wenig feuchten Beinen in eine schlichte schwarze Hose stieg.
Der Freitagmorgen war im Haus der Richardsons noch chaotischer als andere Vormittage, denn freitags und samstags machte der Beauty Spot, der Schönheitssalon, der Sally gehörte und den sie selber führte, nicht erst um halb zehn, sondern bereits um neun Uhr auf. Diese halbe Stunde macht einen Riesenunterschied, dachte Sally, während sie sich wie jeden Freitag abhetzte. Sie musste auf die Minute pünktlich um acht Uhr fünfundvierzig das Haus verlassen, um die Jungen in der Tagesstätte abzugeben, statt wie an den anderen Tagen erst um viertel nach neun.
Sie hatte keine Zeit, um noch gemütlich mit einem Toast und einer Tasse Kaffee am Frühstückstisch zu sitzen – was es bei den Richardsons dank zwei arbeitenden Elternteilen sowieso nur äußerst selten gab.
Wie Sally ihren Freundinnen erzählte, erging sie sich nie in irgendwelchen Fantasien, in denen Jude Law ihr die Kleider vom Leib riss und schwärmerisch gestand, sie wäre die schönste Frau, der er in seinem ganzen Leben je begegnet war. Nein, sie träumte davon, dass der Haushalt wie am Schnürchen lief, dass sie morgens munter aus dem Bett sprang, spätestens halb acht geduscht, perfekt geschminkt, tadellos frisiert und mit etwas anderem als einer Strumpfhose mit Laufmasche bekleidet dazu bereit war, den dreijährigen Daniel aus dem Bett zu zerren. Der vierjährige Jack wäre um die Uhrzeit schon längst aufgestanden und beschäftigte sich mit einigen seiner Action-Men-Figuren. Das Anziehen der Jungen ginge völlig problemlos, während des Frühstücks würden nicht wie jeden Morgen jede Menge Cornflakes auf dem Fußboden verstreut. Die beiden kleinen Jungen würden sich nicht ständig streiten, und vielleicht fände sie selber sogar noch die Zeit, um eine Tasse Kaffee mit ihrem Mann zu trinken, bevor der um acht Uhr zwanzig das Haus verließ. Natürlich war das der Stoff, aus dem Tagträume bestanden, wie Sally ihrer Schwiegermutter Delia gegenüber bereits zugegeben hatte. (Fast hätte sie ihr auch von Jude Law erzählt, sich dann aber eines Besseren besonnen. Vor allem, da Delia eher an Typen wie Sean Connery Gefallen fand.)
»Es ist sicher nicht gut für das Image eines Schönheitssalons, wenn die Eigentümerin total außer Atem, ohne einen Hauch Make-up und mit falsch geknöpfter Bluse morgens dort erscheint«, hatte Sally einmal unglücklich gestanden.
Delia jedoch, die wusste, wie sehr ihre Schwiegertochter sich abzurackern pflegte, fand, dass Sally mit ihrer cremigweichen Haut und ihren blitzenden dunklen Augen auch ohne Kosmetik schlichtweg bezaubernd aussah. Sie hatte unbekümmert gelacht und konstatiert, dass die morgendliche Hetze halt die Hauptsportart der arbeitenden Mütter war. »Als Steve und Amy klein waren, war ich so schlank wie du«, hatte sie wehmütig erklärt. »Wenn man mich hingegen jetzt sieht ... Üppige Polster an den Hüften und Arme wie ein Gewichtheber.«
»Du siehst fantastisch aus«, hatte Sally, die ihre Schwiegermutter liebte, leidenschaftlich protestiert. Nachdem ihre eigene Mutter schon vor Jahren an Krebs gestorben war, war Delia zur Ersatzmutter für sie geworden.
Mit Kindern blieb man eindeutig schlank, überlegte Sally an diesem Freitagvormittag im Februar. Sie war seit einer Stunde auf und hatte es noch nicht geschafft, mehr als an ihrer Teetasse zu nippen, denn Danny hatte seine Rice Pops auf seiner Jeans und seinem Pullover verteilt, weshalb sie ihn noch einmal hatte umziehen müssen. Der Toaster hatte zudem offenbar beschlossen, einen freien Tag zu nehmen, Steves Brotscheibe zu Holzkohle gebrannt und dadurch den Rauchmelder im Hausflur aktiviert.
»Verdammt!«, murmelte Steve, als es ihm nicht gelang, das Gerät zum Verstummen zu bringen.
»Verdammt, verdammt, verdammt!«, wiederholte Danny fröhlich und verteilte kunstvoll weitere Cerealien auf dem Tisch.
»Verdammt, verdammt, verdammt«, quietschte auch Jack, wobei er seinen Löffel gegen den Rand seiner glücklicherweise bereits leeren Schale klirren ließ.
Sally, die wusste, dass die nächsten Tage aus lauter »Verdammts« bestehen würden, seufzte leise auf und formte, als Steve einen Moment später an der Küchentür erschien, tonlos das Wort: »Sprache.«
»Tut mir Leid«, erwiderte ihr Mann und nestelte an einem seiner Hemdsärmel herum. »Ich habe einfach nicht daran gedacht. Der Knopf ist abgesprungen, als ich eben den Arm über den Kopf gehoben habe. Ich brauche Nadel und Faden.«
Sally pulte das letzte Stückchen Kohle aus dem Toaster. »Ehrlich gesagt ist die Chance, ein anderes sauberes Hemd zu finden, deutlich größer als die, dass du das Nähzeug irgendwo entdeckst. Soll ich dir eben ein Hemd bügeln?«
»Nein, Schatz, danke. Du hast keine Zeit. Ich mache es schnell selbst.« Steve beugte sich über seine zierliche Frau und küsste sie zärtlich auf den Kopf.
Mit ihren einen Meter siebenundfünfzig war Sally fast dreißig Zentimeter kleiner als ihr Mann. »Mir ist erst bewusst geworden, wie lächerlich wir beiden nebeneinander aussehen, als ich unsere Hochzeitsfotos angeschaut habe«, pflegte sie zu scherzen. Abgesehen von dem Größenunterschied jedoch passte sie mit ihrer elfengleichen Figur, ihren dunklen Haaren und den nicht minder dunklen Augen wunderbar zu dem schlanken Steve mit seinem fein gemeißelten Gesicht, seinen blonden Haaren und ungewöhnlich leuchtend braunen Augen. Die Jungen schlugen mit ihren rabenschwarzen, schalkhaft blitzenden Augen ihrer Mutter nach.
Steve war kein Naturtalent als Bügler, und so bekämpfte er knurrend das frische Hemd. »Ausgerechnet jetzt, wo der Boss seinen letzten Tag hat und ich sowieso schon zu spät bin ...«
»Wenn das Schlimmste, was heute passiert, ein abgesprungener Knopf und zwei kleinen Jungen sind, die deine Mutter, wenn sie heute Nachmittag kommt, mit einem lauten ›Verdammt‹ begrüßen, dann geht es uns noch ziemlich gut«, erklärte seine Frau.
Steve nickte spöttisch. »Da hast du natürlich Recht, Pollyanna.«
»Ich bin nicht Pollyanna«, protestierte Sally. »Es ist nur so, dass Mum gesagt hat, mal soll dankbar sein für alles ...«
»... was einem beschert wird. Ich weiß.« Steve zog sein gebügeltes Hemd an und trank hastig seinen Kaffee.
»Ich will bestimmt niemandem damit auf den Geist gehen«, fuhr Sally würdevoll fort, »dass ich die Welt durch eine rosarote Brille sehe, obwohl es nicht angemessen ist.«
»Das tust du garantiert nicht«, antwortete Steve und klappte energisch das Bügelbrett zusammen. »Ganz im Gegenteil ist dein Optimismus eins der Dinge, die ich an dir liebe. Komm her.«
Dieses Mal küsste er sie zärtlich auf den Mund.
»Mami, was heißt ›auf den Geist gehen‹?«, fragte Jack interessiert.
Seine Eltern lachten, und Steve nahm sein Jackett von der Rückenlehne eines Stuhls. »Tschüs, ihr Rangen«, sagte er und küsste auch seine geliebten Söhne.
»Tschüs, Daddy.«
»Tschüs, Pollyanna.« Dabei duckte er sich ängstlich, als würde Sally gleich mit einem schweren Gegenstand nach ihm werfen.
»Du bist die Range!«, rief sie ihm vergnügt hinterher.
Die Haustür fiel ins Schloss, und Sally blickte auf die Uhr. Acht Uhr zweiunddreißig. Verdammt. Sie müssten sofort los, und Danny hatte erst ein Viertel seines Müslis aufgegessen. Also nahm sie neben ihm Platz und drängte ihn, sich etwas zu beeilen, worauf er, stur wie er nun einmal war, natürlich noch langsamer aß.
Liebevoll zerzauste sie sein sowieso schon wirres Haar und dachte, was für ein Glück sie doch im Leben hatte, mit einem Mann wie Steve und zwei derart wunderbaren Jungen. Egal, ob Steve sie deshalb manchmal auf den Arm nahm – der Leitspruch ihres Lebens war immer schon gewesen, dass man nichts als selbstverständlich nehmen durfte, was man Gutes geschenkt bekam.
Wie hatte ihre Mum oft gesagt? Schließlich wusste man nie, wie es im Leben einmal weiterging.
Abby starrte in die kalten, unbestechlichen Tiefen des Spiegels bei ihrem Frisör. Als hätte sie nicht schon genug Probleme, war sie sich jetzt völlig sicher, dass sie neue Falten um ihre Augen herum sah. Mit dem Altwerden verhielt es sich wie mit dem St.-Andreas-Graben, dachte sie erbost: Man wusste einfach nie, wann und wo die nächste Falte kam. Ihr vierzigster Geburtstag war der Beginn des Niedergangs gewesen, das stand eindeutig fest. Seither – seit nunmehr unglaublichen zwei Jahren – hatte sie das Gefühl, dass es mit ihrem Gesicht unaufhaltsam den Bach hinunterging.
Neben ihr stand Cherise, die dachte, dass Abby in Wirklichkeit noch attraktiver aussah als im Fernsehen, und begutachtete kritisch das gerade geschnittene Haar.
Wie alle anderen Angestellten in Giannis Salon war auch Cherise blutjung, bildhübsch und trug die Uniform des Ladens, die aus einer schwarzen Hüfthose, einem hauteng anliegenden T-Shirt und einem Nabelring bestand. Abby löste ihren neidischen Blick von Cherises flachem, solarium-gebräunten Bauch und sah lächelnd in den Spiegel. Unweigerlich lächelten die Falten mit. Trotz ihrer schicken neuen Frisur, ihrer eleganten Bluse von Armani und der Bewunderung all derer, die sie erkannt hatten und sie, während sie so taten, als wären sie in ihre Zeitschriften vertieft, mit heimlichen Seitenblicken beschossen, hatte Abby einen Kloß im Magen. Gott, sie wurde wirklich alt. Und sie sah alt und müde aus. Zweiundvierzig. Das klang bereits uralt. Egal, ob andere erklärten, sie bilde sich das Altwerden nur ein.
»Gefällt es Ihnen?«, fragte Cherise mit leicht besorgter Stimme.
»Danke, Cherise, es gefällt mir sogar sehr«, antwortete Abby freundlich und schämte sich dafür, dass sie nicht sofort eine nette Reaktion gezeigt hatte.
Abby war stets zu allen Menschen freundlich. Das, sagten die Leute von Entrümpeln Sie Ihr Heim und Leben, machte einen Großteil ihres Charmes und zweifellos auch ihres Erfolges aus. Es war keine falsche Freundlichkeit, sie war echt. Abby mochte Menschen und wurde von ihnen gemocht. Die Einschaltquoten von Entrümpeln waren dafür ein überzeugender Beweis. Im Verlauf von bisher nur zwei Sendestaffeln hatte Abby Barton die Verwandlung von einer Mutter mit einem bescheidenen Nebenjob zum Fernsehstar geschafft.
Ihr vor kurzem gegründeter privater Entrümpelungs-Service konnte sich vor Aufträgen kaum retten. Es wurde darüber gesprochen, ob Abby nicht ein Buch zu ihrer Serie schreiben könnte, und bald fingen die Dreharbeiten für die dritte Sendestaffel an. Sowohl die Fernsehmacher als auch die Zuschauer hatten sie ins Herz geschlossen. Die Bank schickte der Familie statt strenger Mahnungen freundliche Weihnachtsgrüße, und manchmal winkten ihr völlig fremde Menschen, wenn sie an ihr vorbeifuhren, hysterisch aus ihren Autos zu.
Trotzdem war sie noch ganz die Alte. Wie Abby ihren engsten Freundinnen gestand, wartete sie nur darauf, dass die Leute merkten, dass sie eine Hochstaplerin und ihr die plötzliche Bekanntheit und der gleichzeitige relative Reichtum völlig unverdient zugefallen war.
»Ruhm ist etwas Vorübergehendes – fehlendes Selbstvertrauen aber hat man ewig«, hatte sie einmal scherzhaft gesagt, und die anderen hatten schallend darüber gelacht.
»Niemand könnte je behaupten, dass dir dein Erfolg zu Kopf gestiegen wäre«, sagte dazu ihr Mann Tom, was aus seinem Mund als großes Lob zu werten war.
Tom hatte zerzauste dunkle, inzwischen grau melierte Haare, ein schmales, intelligentes Gesicht, eine randlose Brille und, da er anders als Abby nie der Versuchung von Keksen oder mehr als einem Gläschen Wein zum Essen erlag, eine schlanke, hoch gewachsene Figur. Mit seiner puritanischen Strenge war er wie geschaffen für die Stelle des stellvertretenden Schulleiters, die er bekleidete, hegte allerdings auch gleichzeitig eine tiefe Abneigung gegen jeden, der womöglich seine asketischen Maßstäbe verlor.
Er hätte es außerdem gehasst, wenn aus der liebenswerten, leicht verrückten Abby eine von Kleidern, Autos und Urlauben besessene Karrierefrau geworden wäre.
Intellektuell brillant, doch zugleich ein wenig weltfremd, war ihm nie bewusst gewesen, dass Abby heimlich immer schon gern Geld für ihre Frisur ausgegeben hatte oder für ein im Grunde unerschwingliches Make-up. Und dass einer der Vorteile ihres jetzigen finanziellen Erfolges der war, dass sie die Kosten für den neuen Haarschnitt und für neue Kleider nicht mehr dadurch vor ihm verschleiern musste, indem sie sich im Supermarkt für billigeres Fleisch und Sonderangebote entschied. Wenn Tom eine Ahnung davon hätte, was sie für den heutigen Besuch bei Giannis bezahlte, hielte er ihr garantiert eine Predigt über Sparsamkeit. Das wusste sie genau.
Geld war neuerdings ein Streitthema in der Familie Barton. Nachdem sie über Jahre hinweg gezwungen gewesen waren zu sparen, hatte Abby angenommen, ihre neue Einkommensquelle würde ihnen das Leben deutlich erleichtern. Stattdessen machte das nun vorhandene Geld es in gewisser Hinsicht sogar schwerer. Tom sah sich nämlich unverdrossen als Familienvorstand und der Ernährer von Frau und Tochter.
Auch wenn er in der Schule als moderner Erzieher mit vielen innovativen Ideen galt, hielt er bei sich zu Hause an der traditionellen Rollenverteilung fest. Trotz ihrer zunehmenden Arbeitsbelastung erledigte Abby auch weiter alle Einkäufe und die Wäsche ganz allein. Langsam begann diese einseitige Regelung sie zu stören. Doch sie wusste, dass Tom Schwierigkeiten mit der Tatsache hatte, dass seine Frau mehr verdiente als er.
»Ich finde, die etwas fedrigeren Enden stehen Ihnen fabelhaft«, sagte jetzt Cherise und schüttelte die feinen Haare mit den Fingern noch ein wenig auf. »Sie schmeicheln dem Gesicht.« Dann trat sie lächelnd einen Schritt zurück und bewunderte ihre berühmte Kundin aus der Distanz. »Wissen Sie, damit wirken Sie viel jünger!«
Prompt erinnerte sich Abby daran, dass sie selbst genau diesen Satz von sich gegeben hatte, als ihre Tante Sadie nach fünfzig Jahren endlich ihren leuchtend roten Lippenstift zugunsten eines warmen Pinktons gewechselt hatte. Die weißhaarige Sadie hatte ihren Mund ohne den schmalen, leuchtend roten Strich missbilligend im Spiegel betrachtet. Zwar hatte sie sich durch den Farbwechsel nicht verändert und nach wie vor wie sechsundsiebzig ausgesehen, aber die Farbe ihres neuen Lippenstifts hatte einfach besser zu ihr gepasst. Die jugendliche Cherise sah Abby sicher ähnlich wie Abby ihre Tante Sadie: als zähes, gegen das Alter ankämpfendes Schlachtross. Alles Geld und aller Ruhm der Erde würden das nicht ändern.
Wenig später schleuderte Abby die Tüte mit den Haarpflegeprodukten in den Kofferraum des schimmernd schwarzen Allradfahrzeugs, dessen Kauf fast einen Krieg im Hause Barton heraufbeschworen hatte, öffnete die Fahrertür, schwang sich hinter das Lenkrad und blinzelte kritisch in den Spiegel. Ihre Haare waren wirklich gut geworden, fand sie. Durch die viel diskutierten, kastanienbraunen Strähnen wurde das Meergrün ihrer Augen vorteilhaft betont.
Ein Passant lugte zu ihr in den Wagen. Abby bemerkte das ihr inzwischen vertraute Aufflackern in seinen Augen, bedachte ihn mit einem kurzen, professionellen Lächeln und ließ eilig den Motor an. Sie hoffte, sie wäre aus der Parklücke heraus, bevor der Mann erkannte, dass er keine Bekannte angelächelt hatte, sondern Fernsehberühmtheit und Selbsthilfe-Guru Abby Barton.
Es schockte sie geradezu, wenn die Menschen sie erkannten. Achtzehn Monate nach ihrer ersten Sendung hatte sie sich noch nicht daran gewöhnt, dass völlig fremde Leute sie im Supermarkt freundlich nickend grüßten.
Wenn Abby von ihrer Tochter Jess begleitet wurde, gab diese für gewöhnlich irgendwelche giftigen Kommentare zu den fiktiven Überlegungen der Leute ab.
»Was macht die denn hier im Supermarkt? Haben berühmte Leute nicht irgendwen, der für sie die Einkäufe erledigt?«, oder ähnliche Dinge grummelte Jess dann vor sich hin, worauf Abby den Einkaufswagen glucksend vor Heiterkeit die Gänge hinunterschob. »Und guck dir nur mal diese Hose an. Ich dachte, so große Fernsehstars würden im Geld schwimmen. Aber die hier läuft mit einer durchlöcherten Jogginghose in der Gegend herum. Geradezu skandalös.« Mit ihrer spitzen Zunge und ihrem ausgeprägten Blick für komische Situationen schaffte der Teenager es regelmäßig, Abby das Gefühl zu vermitteln, als wäre es tatsächlich lustig, allerorts von Fremden angeglotzt zu werden. Wenn sie jedoch allein war, fand Abby die Begegnungen mit völlig Fremden oft alles andere als amüsant – vor allem, da die Menschen, wie Abby zu ihrer Überraschung herausgefunden hatte, offenbar die Auffassung vertraten, dass gegenüber berühmten Leuten, selbst wenn sich deren Ruhm eher bescheiden ausnahm, nicht mal ein Mindestmaß an höflicher Distanz geboten war.
Eines Tages hatte sie vor dem Regal mit Hygieneartikeln gestanden und müde überlegt, welche Sorte Tampons sie aus dem Riesensortiment auswählen sollte, als sie unvermittelt von hinten angesprochen worden war: »Wow! Dem Fernsehen nach hätte ich Sie viel jünger geschätzt. Anscheinend verwenden die dort wirklich erstaunliches Make-up.«
In der Minute hatte es Abby große Mühe gekostet, ihre legendäre Freundlichkeit nicht zu verlieren. Mit zusammengebissenen Zähnen hatte sie geknurrt: »Allerdings. Und davon nehmen sie stets eine Jumboportion«, wahllos die erste Tamponschachtel, die ihr in die Hand gefallen war – natürlich die falsche –, in ihren Korb geworfen und sich eilig aus dem Staub gemacht. Es war nicht immer leicht, wenn man berühmt war. Das stand eindeutig fest.
Als sie die Stadt hinter sich ließ, hob sich ihre Stimmung langsam. Es war unmöglich, an einem derart Frühling versprechenden Märztag schlecht gelaunt zu sein. Zahllose Narzissen erstrahlten am Rand der Autobahn, reckten ihre langen Hälse, als sähen sie den vorbeifahrenden Wagen neugierig hinterher. Und zwischen den voluminösen weißen Wolken, die über die sanft gewölbten Hügel zogen, von denen Cork schützend umgeben war, tauchten immer größere Flecken leuchtend blauen Himmels auf.
Abby ließ die letzten Ausläufer der Stadt hinter sich und nahm die Abfahrt Richtung Dunmore. Das exklusive Dunmore, früher ein winziges Hafenstädtchen, war inzwischen fast ein Teil von Cork. Sicher würden eines Tages die saftig grünen Wiesen, die die Stadt bisher umgaben, von irgendwelchen Siedlungen verdrängt, sodass der kleine Ort endgültig mit der großen Stadt verschmolz.
Bisher jedoch war Dunmore eine eigenständige Gemeinde mit eigenen Banken, eigenen Geschäften, einer eigenen Industrie, einem kürzlich restaurierten Pier und einem ausgeprägten Sinn für Gemeinschaft, der die fünftausend Bewohner miteinander verband.
Die Bartons waren vor einem halben Jahr dorthin gezogen, und Abby war total begeistert. Sie liebte den hufeisenförmig angelegten Hafen und den historischen Dorfplatz mit dem alten Gerichtshaus (inzwischen eine Bank), das Bahnhofshotel und die kleine Kirche mit dem hohen, schlanken Turm, die inmitten der beeindruckenden Häuser der wohlhabenden Stadtbewohner lag. Vor hundert Jahren war Dunmore eine Art Ferienort für reiche Viktorianer gewesen, die des schwefelhaltigen Wassers wegen zur Kur angereist waren. Sie ließen die luxuriösen Villen auf dem Knock Hill errichten, von dem aus man über die mit Rhododendren bewachsenen Gärten hinweg einen wunderbaren Ausblick auf die zerklüftete Küste hatte. Inzwischen waren die meisten dieser Häuser in kleine Hotels, Konferenzzentren und Bürohäuser verwandelt worden, und nur noch eine Hand voll wurden von Privatleuten bewohnt. Das Heilwasser war weltweit im Handel, und die Abfüllung sicherte vielen Menschen in der Gegend Arbeit. Die reichen Bewohner von Dunmore waren keine Müßiggänger mehr wie vor hundert Jahren, sondern Menschen, für die das Leben in dieser schönen Gegend der Lohn für harte Arbeit war. Abby fuhr niemals durch das hübsche, sorgsam gepflegte Zentrum, ohne von einem Gefühl der Dankbarkeit erfüllt zu sein.
Die kleine Annie Costello aus den Cottages – wobei Cottages ein Euphemismus für eine Ansammlung von winzigen gemeindeeigenen Wohnhäusern in einer weit von Cork entfernten Kleinstadt gewesen war – hätte niemals zu hoffen gewagt, es je in ihrem Leben derart weit zu bringen. Die Familien in den Cottages hatten sich schon glücklich schätzen können, wenn die nächste Mahlzeit gesichert gewesen war. Und jetzt konnte Abby Barton, geborene Annie Costello, sich einfach das Essen bringen lassen, wenn ihr danach war. Sie hatte ein gut gefülltes Konto, war berühmt, genoss allgemeines Ansehen, und das Haus in Dunmore war die Krönung ihres Glücks.
Ihre Eltern hatten ihren Erfolg nicht mehr miterleben können. Wie hätte sich Mum für mich gefreut, dachte Abby häufig traurig und stellte sich dabei das vor Stolz glühende Gesicht ihrer geliebten Mutter vor. Ihrem Vater hingegen wäre der Erfolg der Tochter gleichgültig gewesen. Hauptsache, er hätte weiterhin genügend Geld für seine tägliche Schnapsration gehabt.
Schließlich hielt Abby vor dem Supermarkt des Dorfes. Zu Anfang ihrer Ehe hatten sie und Tom regelmäßig zusammen an den Wochenenden eingekauft. Heutzutage aber ließ er sie, obgleich sie mehr zu tun hatte als je zuvor, damit allein.
Also hetzte sie jetzt in der Hoffnung, zusätzlich Jess noch vom Bahnhof abholen zu können, durch das Geschäft. Vom Bahnhof bis zu ihrem, in der Briar Lane gelegenen Haus waren es zu Fuß nur zehn Minuten. Aber Jess hatte am Morgen derart müde ausgesehen, dass Abby dachte, das Schleppen ihrer schweren Büchertasche könnte sie vielleicht überanstrengen. Sie hatte sich auf die Lippe beißen müssen, um nichts zu ihr zu sagen. Als sie ihr das letzte Mal angeboten hatte, sie vom Bahnhof abzuholen, hatte Jess empört erklärt, sie hätte endgültig genug davon, behandelt zu werden wie ein kleines Kind.
»Manchmal will ich einfach meine Ruhe haben«, hatte sie geschnauzt und war sich dabei mit den Fingern durch den sandfarbenen Pferdeschwanz gefahren. »Schließlich muss ich auch alleine mit dem Zug zur Schule fahren, da werde ich es ja wohl noch schaffen, zu Fuß vom Bahnhof nach Hause zu gehen.«
Das hatte gesessen. Jess hatte nicht aus der bescheidenen Vier-Zimmer-Doppelhaushälfte ausziehen wollen, in der sie groß geworden war. Weder zu ihren Freundinnen noch zu ihrer Schule war es von dort aus weit gewesen, wohingegen sie in Dunmore Meilen entfernt von allem und, wie sie fand, vollkommen abgeschnitten war.
Heute war Freitag, und Jess wäre bestimmt erschöpft. Sie könnte also nichts dagegen haben, wenn Abby sie am Bahnhof träfe. Sie könnten sich auf der Fahrt nach Hause unterhalten, und vielleicht wäre es wie früher. Bevor die Arbeit so viel von ihrer Zeit beansprucht hatte und bevor sie hierher gezogen waren, hatte Abby Jess und ihre beste Freundin Steph oft von der Schule abgeholt. Die Mädchen hatten vor Freude laut gejuchzt, wenn sie Abbys altersschwachen Fiat vor dem Schultor hatten stehen sehen, und hatten, nachdem sie ihre Sporttaschen, die schmutzigen Turnschuhe und die eselsohrigen Bücher aus der Bibliothek in den Kofferraum geworfen hatten, während der ganzen Fahrt nach Hause fröhlich geplappert. Dabei hatten sie Welt bewegende Dinge erzählt, dass sich beispielsweise die fürchterliche Saffron Walsh aus ihrem Jahrgang, jetzt, wo sie eine pinkfarbene Guess-Armbanduhr besaß, für die Königin der Klasse hielt. Oder dass die O’Brien-Zwillinge wegen Rauchens von der Schule fliegen würden und dass Miss Aston eindeutig in den neuen Geschichtslehrer Mr. Lanoix verschossen war, weil sie jedes Mal, wenn sie im Flur an ihm vorbeilief, einen roten Kopf und verträumten Gesichtsausdruck bekam.
Die Schlange an der Kasse jedoch hatte sich gegen Abby verschworen, und zu allem Überfluss hielt noch eine Frau mit einem voll beladenen Einkaufswagen, die den Geldbeutel vergessen hatte, den Betrieb für zehn Minuten auf. Als Abby endlich ihre Tüten in den Kofferraum geladen und hechelnd den Bahnhof erreicht hatte, spähte sie dort vergeblich nach einem hoch gewachsenen, schlanken Mädchen mit sandfarbenem Haar, einem grauen Rock, einer grauen Strickjacke und einer riesengroßen Schultasche. Außer einem Paar, das einen enormen Koffer die Treppe zum Eingang heraufwuchtete, war niemand zu entdecken.
Da sie wusste, dass ihre Tochter die Abkürzung durch das Einkaufszentrum und die Fußgängern vorbehaltenen kleinen Nebenstraßen nähme, fuhr Abby seufzend nach Hause. Jess würde vor ihr dort sein, und die Gelegenheit zu einer Unterhaltung wäre mal wieder vertan. Im Wagen hörte Jess ihr, wenn auch widerwillig, wenigstens zu. Zu Hause pflegte sie nach der Schule direkt in ihr Zimmer zu gehen, die Tür hinter sich zuzudonnern und den CD-Player anzuschalten. Abby war sich nicht sicher, ob es an Jess’ schwierigem Alter lag oder ob es ihre eigene Schuld war, dass es keine echte Bindung zwischen dieser neuen Jess, diesem unbekannten aufsässigen Wesen, das entschlossen die Geduld seiner Eltern auf die Spitze trieb, und seiner Mutter gab. Doch egal aus welchem Grund – sie hatte den Eindruck, dass sie sie verlor.
Glücklicherweise erhellte Abbys Stimmung sich, wie jedes Mal, wenn sie die Briar Lane hinabfuhr. Während der Jeep über die Schwellen in der Fahrbahn hoppelte, empfand sie einen Hauch von Stolz, weil ihnen dank ihrer harten Arbeit der Umzug hierher gelungen war.
Auch ihr vorheriges Haus war durch ihr Talent als Innendekorateurin durchaus heimelig gewesen. Doch die Gartland Avenue war eine ganz normale Straße in einer ganz normalen Siedlung – und mit den ungehobelten Milligans als Nachbarn, die sich Tag und Nacht mit einer Lautstärke von sechzig Dezibel angeschrien hatten, nicht unbedingt eine Idylle.
Die Briar Lane hatte ein völlig anderes Niveau. Die gewundene, von majestätischen Platanen und überwachsenen Lorbeerbüschen gesäumte Straße erschien ihr mit ihrem Sammelsurium aus vom Regency inspirierten Prachtgebäuden, niedrigen, lang gestreckten, alten Bauernhäusern und hübschen kleinen Häuschen wie ein Paradies.
Abby hatte sich auf den ersten Blick in das Lyonnais verliebt. Das einstige Pförtnerhäuschen eines großen, längst verschwundenen Herrenhauses war nach Jahren des vorsichtigen Ausbaus ein großzügiges Gebäude geworden, mit hübschen weißen Giebeln und zweigeteilten Fenstern und Steinmauern, um die sich ein Meer von Kletterrosen rankte.
Selbst der absolut nicht romantische Tom hatte zugegeben, dass das Haus eine angenehme Atmosphäre hätte, als er damals, dicht gefolgt von dem Makler, mit ihr durch die Räume gewandert war.
Abby hatte ihm aufgeregt die Hand gedrückt. »Es ist wunderschön, nicht wahr?«, hatte sie trotz seiner vorherigen Warnung, sich, egal, wie gut ihnen das Haus gefallen würde, nicht allzu angetan zu zeigen, ein ums andere Mal geflüstert. Es war genau die Art von Haus, die ein Fernsehstar besitzen sollte – nicht die Hälfte eines zwanzig Jahre alten Doppelhauses, das aussah wie die übrigen Häuser in der Straße, sondern dieses prächtige, ungewöhnliche Gebäude mit großen, luftigen Zimmern, Ecken und Winkeln, einer phänomenalen Vorratskammer mit einem verborgenen Schrank, und einem ausgedehnten Garten, in dem sogar die armlose Statue einer griechischen Göttin hinter einem Efeukleid versteckt war. Abby hatte sofort gewusst, wie sie das Haus gestalten, wo sie welche Gegenstände platzieren und in welchen Farben sie die Wände streichen würde.
»So etwas ist für uns viel zu teuer«, hatte Tom während der Besichtigung des großzügigen Schlafzimmers unter dem Dach erklärt. Natürlich war es mehr, als er sich von seinem Gehalt als Lehrer jemals hätte leisten können, und es fiel ihm schwer, die Finanzen der Familie aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Es kam bei ihm nicht so recht an, dass Abby unverdrossen wiederholte: Nachdem sie jahrelang alles von seinem Geld bestritten hätten, wäre es doch nur gerecht, wenn sie jetzt einmal das Geld verdiente. Tom kam damit nicht zurecht. »Wir können uns so was nicht leisten«, hatte er im Anschluss an die Besichtigung des Hauses noch einmal erklärt und dabei die Lippen so fest aufeinander gepresst, dass er ausgesehen hatte wie sein stets gereizter Dad.
Doch Abby hatte zum ersten Mal seit ihrer Hochzeit die Missbilligung ihres Gatten ignoriert und für das, was sie wollte, gekämpft. Sie kämen ganz bestimmt zurecht, hatte sie ihm erklärt. Sie würde einfach noch mehr Privataufträge annehmen, und sicher böten sich ihr durch die Fernsehserie weitere lukrative Arbeitsmöglichkeiten an. Auch wenn sie so etwas hasste, träte sie zum Beispiel halt ab und zu irgendwo auf. Sie würde schlicht – fast – alles tun, um Lyonnais zu kaufen. Dort würden sie glücklich sein, das wusste sie genau. Allerdings sollte Tom aufhören, sich darüber aufzuregen, dass sie mehr verdiente als er.
Seufzend bog sie in die Einfahrt ihres Hauses und blickte wie jedes Mal bewundernd auf den blühenden Magnolienbaum neben dem Tor. Sie liebte dieses Haus, doch war es, seit sie hierher gezogen waren, nicht einfacher geworden. Ihre Beziehung zu Tom wurde zunehmend schlechter, und Jess lebte inzwischen, wie es schien, in einer anderen Welt. Genau in dem Moment, in dem das Leben der Familie Barton hätte perfekt sein sollen, geriet es seltsam aus dem Gleichgewicht.
Am frühen Nachmittag desselben Tages hatte Abbys Tochter sehnsüchtig auf die Wanduhr in ihrem Klassenraum gesehen. Noch vierzig Minuten Chemie. Öde. Das Leben eines Teenagers war überwiegend öde. Zahnspangen waren öde, Prüfungen waren öde, Leute, die einen rumkommandierten, waren öde, doch am ödesten war eindeutig eine Doppelstunde in Chemie. Als sie merkte, dass Miss Nevin ihren Blick über die Schüler wandern ließ, senkte Jess, in dem Bemühen, den Eindruck zu erwecken, sie dächte angestrengt über die komplizierte chemische Formel nach, ihren Kopf über ihr Buch. Niemand konnte besser Interesse an der Arbeit heucheln als Jess Barton. Für diese schauspielerische Leistung hätte sie im Grunde eine Oscar-Nominierung verdient.
»Es liegt an dem Winkel, in dem du den Kopf neigst«, hatte sie ihrer besten Freundin und Komplizin, Steph Anderson, die regelmäßig wegen mangelnder Aufmerksamkeit ertappt und unehrenhaft vor die Tür gestellt wurde, ein ums andere Mal erklärt. »Und daran, wie du auf deinem Kugelschreiber kaust. Wenn du möglichst andächtig an deinem Kuli lutschst, siehst du automatisch konzentriert aus. Du musst dich über das Buch beugen und wirken, als ob du dich für das Zeug, das drinsteht, tatsächlich interessierst.«
Jess vertrat die Ansicht, dass alles, was ein Lehrer wollte, eine Klasse voller, in einem Winkel von fünfundvierzig Grad über ihre jeweiligen Tische gebeugter, nachdenklich an ihren Stiften beißender Schüler und Schülerinnen war. Das wusste sie von ihrem Dad. Er sagte, niemand passe ständig auf, doch die Kinder, die er mochte, wüssten sich zumindest dementsprechend zu benehmen.
Und Jess benahm sich gut. Man konnte problemlos in Gedanken eine Million oder auch nur vier Meilen entfernt an der St.-Michaels-Schule für heiße Typen weilen, solange man auf seine Bücher starrte und dadurch den Eindruck erweckte, eine gute Schülerin zu sein. Bisher hatte dieses System reibungslos funktioniert. Jess Barton war noch nie des Klassenraums verwiesen worden und hatte dadurch auch noch nie die gleichzeitig erteilten zehn Strafpunkte kassiert.
Natürlich gingen ihr zurzeit keine chemischen Formeln durch den Kopf. Sie dachte nur an Ian Green. Den tollen Ian mit den leuchtend blauen Augen und dem nie ganz glatt rasierten, wohlgeformten Gesicht. Steph hatte behauptet, Drei-Tage-Bärte wären megaout, aber Jess hatte das heimliche Verlangen, einen Typen zu küssen und dabei männliche, erwachsene Stoppeln auf ihrer Haut zu spüren wie in einer leidenschaftlichen Szene aus irgendeinem Film. Jess hatte schon viele glückselige Stunden mit Tagträumen von sich und Ian zugebracht. Ian war glücklicherweise groß. Groß genug, um sich zu ihr herabbeugen zu müssen, wenn er sie küssen wollte, denn auch sie war groß. Es gab nur ein Problem. Oder eher zwei. Das erste war, dass Ian auf die St.-Michaels-Schule für heiße Typen ging statt aufs Bradley College wie sie selbst. Die Typen am Bradley waren alle blöd. Und das zweite war, dass er bereits eine Freundin hatte, die blöde Saffron Walsh, die in dieselbe Klasse ging wie sie, schon fast sechzehn und leider das Mädchen mit den größten Chancen war.
»Die einzige Erfolgsaussicht, die die hat, ist die, dass sie eventuell irgendwann mal die Wettervorhersage im Fernsehen sprechen darf«, hatte Steph mit herzerfrischender Abneigung erklärt. Man hätte zwar denken können, dass Steph in Saffron eine Konkurrentin sah. Beide waren nämlich weizenblond und hervorragend gebaut. Doch Jess, die bereits seit dem Kindergarten Stephs beste Freundin war, wusste, dass Steph einfach dachte, dass die blöde Saffron nicht gut genug für Ian war. Wenn Ian endlich erkennen würde, was für eine Ziege Saffron war, ließe er sie vielleicht fallen und finge dann auf wundersame Weise etwas mit Jess Barton an. Wobei wundersam das Schlüsselwort des Satzes war.
Jess war halt weder weizenblond noch allzu gut gebaut. Sie war eher die Sorte »zuverlässiges Mädel, das man gerne für die Netzball-Mannschaft nahm«. Schlank und hoch gewachsen wie ihr Vater, brauchte sie weder einen BH noch fand sie irgendwelche Jeans, die lang genug waren für ihre dünnen Storchenbeine. Sie hatte durchaus hübsche Augen – meergrün, mit dichten dunklen Wimpern, genau wie ihre Mum –, doch sie waren, weil sie die Sehschwäche ihres Vaters geerbt hatte, hinter langweiligen Brillengläsern versteckt. Ihre Haare waren unaufregend glatt, hatten die langweilige Farbe nassen Sandes, und auch der Rest ihres Gesichts war gewöhnlich, und zwar mit einem großen G: ein gewöhnlicher Mund, eine gewöhnliche Nase, ein gewöhnliches, recht spitzes Kinn. All das machte sie zu einem Menschen, den jeder übersah. Auch dass sie eine berühmte Mutter hatte, nützte ihr nicht viel. Die Leute erwarteten offensichtlich, dass die Tochter der glamourösen Abby Barton ebenfalls ein glamouröses Wesen war. »Und dann lernen sie mich kennen«, pflegte Jess zu sagen, wobei sie ihre Verletztheit hinter aufgesetzter Knurrigkeit verbarg.
Steph meinte, dass das nicht stimmte und dass sie Jess darum beneidete, dass sie so groß und schlank war und dass sie so tolle Wangenknochen und so wunderschöne Augen hatte, die leidenschaftlich blitzten, wenn sie begeistert war.
»Ich bin mit regelrechten Schlitzaugen geschlagen«, behauptete Steph und trug, um diesen vermeintlichen Makel zu kaschieren, zentimeterdicke Farbe auf ihre Lider auf. »Während deine Augen riesengroß und vor allem deine Wimpern superlang und superdicht sind. Warte, bis du erst Kontaktlinsen bekommst und deine blöde Spange los bist. Dann werden sich die Typen auf dich stürzen, bis du dich vor lauter Angeboten nicht mehr retten kannst.«
Aber Steph wollte Jess damit bestimmt nur trösten. Die Jungs mochten Mädchen nur, wenn sie einen Busen aufzuweisen hatten und dadurch weiblich wirkten. Mit ihrer Größe, ihren fehlenden Rundungen und ihrer Unfähigkeit, auch nur den kleinsten Büstenhalter je zu füllen, war sie ungeachtet ihrer vielleicht akzeptablen Wangenknochen ein totaler Flop.
Dieser Gedanke führte sie zu Problem Nummer drei. Bisher hatte sie nie auch nur ein Wort mit Ian gewechselt. Natürlich lief er wegen Saffron mit Leuten von ihrer Schule durch die Gegend, aber das waren keine Leute, die Interesse hatten an jemandem wie ihr. Es war die Art von Leuten, die die »richtigen Klamotten« trugen und die jede Menge Kohle hatten, am Wochenende in die Stadt zu gehen und sich dort zu amüsieren, Kaffee zu trinken oder CDs zu kaufen. Jess hatte keine Ahnung, wie man so lässig in der Gegend rumhing, dass es bei Mädchen wie Saffron fast als eine eigene Kunstform zu bezeichnen war.
Und was das Allerschlimmste war: Nun, da die Bartons nach Ödland alias Dunmore umgezogen waren, war die Chance gen null gesunken, dass sie jemals zufällig mit Ian, diesem tollen Hecht, zusammentraf.
»Ian & Jess«, schrieb sie auf ihren Block, bedeckte die Schrift mit ihrer Hand und rahmte die Worte mit einem kleinen Herz. Dann übermalte sie das Ganze hastig, damit ihr Nachbar Gary bloß nichts davon sah. Gary war ein guter Schüler, doch ein schlechter Mensch, und wäre durchaus dazu in der Lage, lautstark zu verkünden, in wen die gute Jess verschossen war. Und Jess würde todsicher sterben, falls irgendjemand außer Steph jemals erführe, was sie für Saffrons Freund empfand.
»Und jetzt zu den Hausaufgaben«, verkündete Miss Nevin mit gut gelaunter Stimme von ihrem Pult aus. »Ich habe eine Liste mit dreißig Fragen vorbereitet, auf die ihr bitte bis zur nächsten Stunde die Antworten finden sollt. Es ist nicht allzu schwierig – nur eine kleine Überprüfung dessen, was wir in dieser Woche durchgenommen haben. Reicht die Blätter bitte von vorn nach hinten durch.«
Während die Fragebögen verteilt wurden, hörte man jede Menge Seufzer, vor allem von den Schülern, die zuvor eine Geschichtsstunde durchlitten und dort einen endlos langen Aufsatz über die Kriege des achtzehnten Jahrhunderts für Montag aufbekommen hatten. Zu blöd, diese Leute im achtzehnten Jahrhundert. Sie hatten sich pausenlos bekriegt. Wie waren die bloß drauf gewesen? Hatten offensichtlich von der Uno keinen blassen Schimmer.
Jess schlug ihr Aufgabenheft auf und starrte trübsinnig auf die Einträge des Tages. Im Juni fänden die ersten offiziellen Prüfungen ihrer Klasse statt, und die Lehrer bürdeten ihnen deshalb jede Menge Hausaufgaben auf. Neben dem Geschichtsaufsatz müsste sie noch für Englisch eine Arbeit über Paradise Lost verfassen (für den blöden Mr. Redmond, der anscheinend dachte, Fünfzehnjährige hätten am Wochenende nichts Besseres zu tun als jedes einzelne, je von Milton zu Papier gebrachte Wort genau zu analysieren), jede Menge Aufgaben in Mathe lösen, eine Seite für Französisch schreiben (das war nicht weiter schlimm), ein paar Seiten für Kunstgeschichte lesen (das war locker-flockig), und schließlich noch die letzten vier Kapitel aus Erdkunde angucken, weil Mr. Metcalf Montagnachmittag einen Test schreiben lassen wollte – was als weiterer Beweis für seinen blühenden Wahnsinn anzusehen war, denn die vier Kapitel waren natürlich die längsten im gesamten Buch.
Jetzt schrieb sie noch »Chemie – 30 Fragen bis Dienstag« auf die bereits übervolle Seite und wandte sich, als es endlich schellte, seufzend an Steph.
»Was sind wir? Lauter kleine Einsteins?«, kam Steph ihr mit der Entrüstung zuvor, während sie die Bücher in die Taschen stopften. »Warum lernen wir überhaupt Chemie? Wir hätten stattdessen Hauswirtschaft belegen und uns einen Namen als Mode-Designerinnen machen können.«
»Hauswirtschaft ist etwas anderes als Handarbeiten«, meinte Jess. »In Hauswirtschaft lernst du was über die acht Milliarden Vitamine und Mineralien, die du brauchst, um gesund zu bleiben, was nichts anderes als Chemie ist, weshalb ...«
»... wir uns gleich für Chemie entschieden haben«, beendete Steph den angefangenen Satz. »Selbst wenn es Handarbeiten gäbe, hätte ich dazu genauso wenig Talent. Denk bloß dran, was passiert ist, als ich meine Jeans aufpeppen wollte. Perlen sollten aufgeklebt und nicht genäht werden.«
Jess nickte beifällig.
»Was machst du heute Abend?« Steph sah sie fragend an.
»Ich schätze, ich klebe mich mal wieder vor die Glotze«, antwortete Jess elend. Sicher war sie die Einzige aus ihrer ganzen Klasse, der ein öder Freitagabend zu Hause bevorstand. Nein, nicht nur aus ihrer Klasse, sondern auf der ganzen Welt.
»Ich würde mich heute Abend liebend gerne vor die Glotze kleben«, protestierte Steph. »Omas Feier wird sicher total ätzend – all die blöden Verwandten, die einen ständig anjubeln, wie groß man geworden ist, und dass sie sich genau daran erinnern, als man noch ein Baby war und von ihnen mit dem Fläschchen gefüttert worden ist. Das ist doch wohl total krank.«
Jess prustete. Es war immer lustig, wenn Steph von irgendwelchen ihrer zahllosen Verwandten sprach. Heute Abend träfe sich die gesamte Sippe im Hungry Hunter zur Feier des Geburtstags ihrer Oma. Stephs Mutter wollte unbedingt, dass Steph ihrer Großmutter zuliebe diese grauenhafte blaue Bluse und einen vernünftigen Rock anzog, Steph jedoch hatte für diesen Abend eine schicke Chiffonbluse, unter der man die Spitze ihres Büstenhalters hervorlugen sah, und eine hautenge Jeanshose vorgesehen. Schließlich käme auch der Stiefsohn ihres Onkels, der, wie sie verkündet hatte, einfach »un-glau-blich« sexy war. Sie hatte deshalb die Absicht, so lässig und cool auf der Feier zu erscheinen, als kleide sie sich ständig wie die Leute bei Viva oder MTV.
»Wenigstens gehst du aus«, erklärte Jess.
»Ja, tut mir Leid«, meinte Steph entschuldigend. »Aber dafür gehen wir morgen Abend auf die Party von Michelle. Du könntest dir heute Abend schon mal überlegen, was du anziehen willst. Wenn du möchtest, leihe ich dir meinen Wonderbra.«
Jess war ehrlich gerührt. Steph liebte kein Kleidungsstück so sehr wie diesen BH. Doch an Jess wäre er total vergeudet.
»Ich muss mich beeilen«, fügte Steph hinzu. »Ich muss mir noch die Haare waschen.«
Damit bog Steph vor dem Schultor nach links, und Jess wandte sich nach rechts, schob sich umständlich die Knöpfe des Kopfhörers von ihrem Discman in die Ohren und lief schlecht gelaunt zum Bus, der sie zum Bahnhof brachte. Früher, als sie noch beide in der Garland Avenue gelebt hatten, bevor ihre Mutter berühmt geworden und sie gezwungenermaßen mit ihren Eltern nach Dunmore umgezogen war, waren sie zusammen nach der Schule heimgegangen. Wen interessierte es, wenn Dunmore aussah wie ein Dorf aus einem Bilderbuch? Jess kannte dort keine Menschenseele und musste nach der Schule zusätzlich mit dem Zug fahren, um nach Hause zu gelangen. In der Umgebung der Briar Lane hatte sie noch nie irgendwelche Teenager gesehen. Es gab jede Menge Kids, die auf die kleine Schule im Dorfzentrum gingen, und an den Wochenenden von frühmorgens bis spätabends entweder auf ihren Rollerskates oder auf pinkfarbenen Barbierädern durch die Gegend düsten. Jugendliche ihres Alters jedoch gab es dort anscheinend nicht. Sie konnte nicht mal nach der Schule trödeln, um mit Steph zu quatschen, denn wenn sie den Zug verpasste, führe der nächste erst neunzig Minuten später. Das grauenhafte Dunmore hatte ihr Leben ruiniert.
Ein anderer Typ aus ihrer Schule stieg in Dunmore aus dem Zug, doch er war ein Jahr weiter, in der heiß ersehnten, weil examensfreien fünften Klasse. Dazu war er eindeutig zu cool, um ihr auch nur einen Blick zu schenken, geschweige denn, mit ihr zu reden. Anfangs hatte Jess auf dem Weg zur Schule, weil er der einzige vertraute Anhaltspunkt in dieser neuen Landschaft für sie gewesen war, in seiner Nähe Platz genommen. Doch er hatte nichts Besseres zu tun, als verbissen auf den Knöpfen seines dämlichen Game Boys rumzuhacken. Also hatte sie begonnen, ihn ebenfalls zu ignorieren, stürmte jeden Morgen an seinem Platz vorbei in einen anderen Wagen und warf, wenn sie an ihm vorbeikam, lässig ihren Pferdeschwanz nach hinten, damit er ja kapierte, wie gleichgültig er ihr war. Heute war nicht mal dieser Blödmann irgendwo zu sehen.
Im Bus drehte sie das Volumen ihres Discman bis zum Anschlag auf, zog ihren Schal über Mund und Nase und fühlte sich hundeelend. Steph dachte, es war cool, wenn man eine Mutter hatte, die im Fernsehen auftrat. Das Gegenteil war der Fall.
Als sie endlich in Dunmore ankam, wurde sie weder am Bahnhof noch zu Hause von irgendwem erwartet. Nun, das war nichts Neues, dachte sie mit einem Seufzer, und vergaß dabei praktischerweise, dass sie erst vor einer Woche mit ihrer Mutter darüber in Streit geraten war, weil diese sie behandelte wie ein kleines Kind. Ständig machte sie sich irgendwelche bescheuerten Sorgen, und Jess hatte genug davon, ihr pausenlos zu sagen, dass die anderen aus ihrer Klasse jede Menge Freiheit hatten, solange sie zu Hause anriefen und sagten, wo sie waren. Ihre Mutter war eindeutig schlimmer als die Polizei. Ständig wollte sie wissen, was Jess in jedem Augenblick des Tages unternahm.
»Jess, ich hole dich wirklich gern vom Bahnhof ab«, hatte ihre Mutter in dem Du-bist-doch-mein-Baby-Ton gesagt, mit dem sie sie in den Wahnsinn trieb. »Ich würde mir die allergrößten Sorgen um dich machen, wenn ich nicht auf dich warten würde. Schließlich laufen jede Menge unheimlicher Menschen in der Weltgeschichte rum.«
Das war ein altbekanntes Argument. Als wäre Jess nicht schlau genug, um irgendwelche schrägen Typen zu erkennen. Also bitte.
»Ich bin fast sechzehn«, hatte sie entgegengesetzt. »Ich bin kein kleines Kind mehr.«
Dad hatte sie unterstützt, und ihre Mutter hatte ihn dafür mit ihrem, wie Jess es nannte, »Laserblick« bedacht. In den letzten Wochen funkelten zwischen ihren Eltern jede Menge dieser »Laserblicke« hin und her. Schließlich hatte Jess gewonnen und konnte allein vom Bahnhof nach Hause gehen. Trotzdem wäre es ganz nett gewesen, heute einmal nicht zu Fuß gehen zu müssen ...
Jetzt inspizierte sie den Terminkalender, den die Mutter neben dem Kühlschrank hatte liegen lassen, und blätterte bis Freitag. »12 Uhr Frisör.« Die Glückliche, fand Jess. Sich vorzustellen, mitten in der Woche, statt in der Schule genervt zu werden, einfach zum Frisör zu gehen und sich dort einen tollen, neuen Look verpassen lassen zu können ...
Auch Wilbur war nirgendwo zu sehen. Wilbur war Jess’ zehnjähriger Kater, der nicht nur mit ungewöhnlichen grauen Sprenkeln, sondern obendrein mit einem dicken, fedrig weichen Schwanz ausgestattet war, den er, wenn ihm etwas nicht passte, pfeilschnell zucken ließ. Er lag nicht in seinem Bett auf der Heizung in der Küche, und es wäre sinnlos, ihn zu rufen. Wahrscheinlich schlief er dort, wo er nicht durfte: gemütlich zwischen den Handtüchern im Wäscheschrank, der bereits am ersten Tag nach ihrem Einzug sein heimlicher Lieblingsplatz geworden war.
Jess setzte sich an den Küchentisch aus gebeizter Kiefer, breitete ihre Bücher vor sich aus und schaltete den tragbaren Fernseher in der Küchenecke ein. Momentan lief eine Wiederholung von Sabrina – total verhext! Jess nahm sich einen Stift, öffnete das Buch, in dem sie sich Stichpunkte zu dem Milton-Aufsatz anstreichen wollte, und machte es sich mit Blick auf den Fernseher bequem.
Zehn Minuten später wankte Abby, schwer bepackt mit Tüten, durch die Tür, warf sie hinter sich zu und öffnete mit einem Seufzer die Reißverschlüsse ihrer hochhackigen Stiefel. Das Problem mit ihrer Größe bestand darin, dass sie meinte, hohe Absätze zu brauchen, doch die brachten sie leider um.
»Jess!«, rief sie und schälte sich aus ihrer Jacke. »Bist du da?« Als keine Antwort kam, setzte Abbys Herzschlag furchtsam aus. Dunmore war wohl kaum eine Hochburg des Verbrechens, doch man wusste nie. Ihr konnte alles Mögliche passiert sein.
Auf Socken eilte Abby in die Küche, wo Jess bei ausgeschaltetem Fernseher über ihren Hausaufgaben saß.
»Hallo, Liebling, du arbeitest«, sagte sie und lächelte erleichtert, als sie den geneigten Kopf der Tochter sah. Früher hätte Jess sie sofort liebevoll umarmt. In letzter Zeit jedoch duckte sich Jess hastig weg, so als wäre die Berührung mehr als sie ertragen konnte.
»Sie ist ein Teenager, was erwartest du von ihr?«, hatte Tom, als sie ihm erzählt hatte, wie unglücklich sie deshalb war, in scharfem Ton gefragt. »So etwas erlebe ich tagtäglich in der Schule.«
»Ich weiß«, hatte Abby knapp erwidert. Es hatte sie erbost, dass sich Tom, nur weil er Lehrer war, einzubilden schien, er wüsste alles über Teenager im Allgemeinen und Jess im Besonderen. Abby ahnte, dass die nächsten Jahre schwierig werden würden. Aber sie hatte nicht erwartet, dass ihrer liebevollen, verschmusten Jess die Verwandlung von der besten Freundin zur größten Feindin innerhalb von wenigen Monaten gelungen war.
Sie unterdrückte mühsam den Impuls, Jess über das Haar zu streichen, als diese düster und ohne den Kopf zu heben sagte: »Ja, wir haben jede Menge Hausaufgaben übers Wochenende auf. Außerdem muss ich noch lernen.« Je länger Jess an die bevorstehende Prüfung dachte, umso größer wurde ihr Verlangen, ihre schlechte Laune an jemand anderem auszulassen.
»Ich war am Bahnhof, weil ich dachte, du wärst eventuell müde«, erklärte Abby zögernd. »Ich dachte, du würdest dich vielleicht freuen, wenn du nicht laufen müsstest. Aber als ich dort ankam, warst du schon weg.«
Endlich hob Jess den Kopf von ihren Büchern, musterte ihre Mutter und bemerkte tonlos: »Neue Frisur.«
»Ist sie okay?« Unsicher fuhr sich Abby mit den Fingern durch das Haar.
»Ja«, gab Jess, wenn auch ein wenig widerstrebend, zu. »Sie ist sogar ganz toll. Mum, ich wünschte, ich könnte noch mal probieren, mir die Haare zu färben.« Jess hatte das einmal zusammen mit Steph getan. Leider war es total schief gelaufen und für das Zehnfache des Preises für das Färbemittel hatte der Frisör das grausige Ergebnis halbwegs gemildert.
»Sie würden dich in der Schule umbringen«, erklärte ihre Mutter glücklich, weil Jess endlich wieder einmal mit ihr sprach. Nach einer Welle pinkfarbener Haare hatte der Leiter von Jess’ College, außer für die letzten beiden Klassen, ein allgemeines Haarfärbe-Verbot verhängt.
»Ganz dezente Strähnen«, flehte Jess. »Dieses Mal würde ich auch gleich zum Frisör gehen. Niemand würde etwas davon merken. Mr. Davies fällt nur auf, wenn jemand rabenschwarze oder leuchtend pinkfarbene Haare hat. Ein paar blonde Strähnen würden ihm bestimmt nicht auffallen. Schließlich gibt es jede Menge Leute, die blonde Haare haben.«
»Wir werden darüber reden«, meinte Abby, die alles versprochen hätte, um den Frieden zu bewahren.
»Das sagst du immer«, maulte Jess.
»Ja, ich weiß, ich bin grausam.« Abby grinste kurz und begann, die Lebensmittel in die Schränke einzuräumen. Jess legte verstohlen die Fernbedienung auf die Anrichte zurück. Ihre Mutter war, was Fernsehen betraf, ein durchaus großzügiger Mensch. Viele ihrer Freundinnen hatten von den Eltern, nun, da sie in der vierten Klasse waren und für die Prüfung lernen mussten, absolutes Fernsehverbot. Doch Mum war eindeutig nicht begeistert, wenn sie bei laufender Glotze ihre Hausaufgaben machte. Und der Preis dafür, dass sie morgen Abend auf Michelles Party gehen durfte, war, dass der ganze Schulkram vorher erledigt war.
»Ich habe frische Pasta mitgebracht und kann Tagliatelle mit Knoblauch und Champignons für dich zum Abendessen machen«, drang Abbys Stimme aus der Tiefe des Kühlschranks an ihr Ohr.
Jess’ Miene hellte sich auf. »Super«, meinte sie. Sie war seit über zwei Jahren Vegetarierin und versuchte ständig, ihre Mum dazu zu bewegen, sich ihr anzuschließen. Begriffen die Leute denn nicht, dass auch Tiere Rechte hatten?
»Ich fürchte, dein Vater und ich müssen noch einmal weg«, fuhr Abby fort, ohne zu sehen, dass ihre Tochter dabei das Gesicht verzog. »Beech feiert sein zehnjähriges Bestehen. Wahrscheinlich gibt es nichts als Käse und jede Menge schlechten Wein«, erklärte Abby feixend. Beech, die Gesellschaft, die ihre Fernsehserie produzierte, war berüchtigt dafür, dass sie niemals irgendwelches Geld für irgendwelchen Luxus zum Fenster hinauswarf. »Wir müssen leider hin, aber wenn ich die Pilze jetzt gleich brate –«
»Ich habe keinen Hunger«, kam Jess’ genervte Antwort.
Ihre Mutter sah jetzt hoch. »Du musst doch etwas essen.«
»Wenn ich Hunger kriege, bestelle ich mir eine Pizza.«
»Falls du dich einsam fühlst, bin ich sicher, dass Jennifer herüberkommen würde, bis wir wieder da sind«, schlug Abby behutsam vor. Jennifer war die zweiundzwanzigjährige College-Studentin, die vier Häuser weiter unten wohnte und sich als Babysitter gerne etwas Taschengeld verdiente.
»Ich will nicht, dass Jennifer hierher kommt! Ich bin kein kleines Kind mehr, Mum. Ich dachte, darin wären wir uns einig. Wenn Sally Richardson denkt, dass ich alt und zuverlässig genug bin, um auf ihre Kinder aufzupassen, warum denkst du nicht endlich auch mal, dass ich alt genug bin, um allein zu bleiben, wenn ihr beiden ausgeht?«, fragte Jess mit zornbebender Stimme.
Abby verzog unglücklich das Gesicht. Es gefiel ihr nicht, dass Jess den Pizzadienst anrief, wenn sie allein im Haus war. Man las so viele schreckliche Dinge in der Zeitung. Dass sie eine Alarmanlage hatten und dass Jess genauestens wusste, dass sie keinem Fremden öffnen durfte, hieß noch lange nicht, dass dadurch jedes Unglück ausgeschlossen war. Was, wenn der Pizzalieferant ein Vergewaltiger oder ein Mörder war? Abby ging im Geiste all die grausigen Möglichkeiten durch. Jess hatte an ihrem vierzehnten Geburtstag rundheraus erklärt, jetzt wäre sie zu alt, um sich, wenn die Eltern eingeladen waren, noch beaufsichtigen zu lassen. Bereits die Gewährung dieser kleinen Freiheit hatte Abby die größte Überwindung abverlangt, und nun hatte Jess tatsächlich selber angefangen, Sallys kleinen Jungen zu betreuen. Weder spätabends noch über einen allzu langen Zeitraum, sondern ab und zu einmal für eine Stunde. Aber Abby fand es geradezu erschreckend, dass aus ihrem Baby selbst ein Babysitter geworden war.
»Du weißt, dass es mir nicht gefällt, wenn du alleine eine Bestellung an der Tür annimmst.«
Jess schmollte, und Abby suchte angestrengt nach einer Lösung. »Könnte sich nicht Steph von ihrem Vater hierher bringen lassen?«, fragte sie und ahnte bereits, dass das aus irgendeinem Grund nicht ging, denn sonst hätte Jess schon lange selbst etwas in der Richtung vorgeschlagen. Es war leichter gewesen, Jess’ Freizeit zu organisieren, als ihre beste Freundin nur ein paar Häuser entfernt gelebt hatte.
»Sie kann nicht«, grunzte Jess. »Ihre Oma hat heute Geburtstag. Und hier in diesem Nest gibt es niemanden, den ich einladen kann.«
Abby schloss seufzend die Tür des Kühlschranks. Daran brauchte Jess sie nicht extra zu erinnern. Das Wissen um die Einsamkeit der Tochter raubte ihr bereits seit Monaten den Schlaf.
Obgleich sie ihr neues Zuhause liebte, drohte ihrer Beziehung zu Jess durch deren Einsamkeit eindeutig Gefahr. Vielleicht lag es aber auch einfach nur daran, dass das Mädchen zurzeit im so genannten schwierigen Alter war.
Abby ließ Geld für eine Pizza auf der Arbeitsplatte liegen und ging, um sich zurechtzumachen, ins Schlafzimmer hinauf. Es war halb sieben, sie müssten um sieben aus dem Haus – doch nach wie vor gab es keine Spur von ihrem Mann. Nicht, dass Abby davon überrascht gewesen wäre. Nach fast siebzehn Jahren Ehe wusste sie, dass Tom mit dem Begriff der Zeit so gelassen umging, als lebe er allein auf einer Insel. Wodurch er, wie sie annahm, einen gesunden Ausgleich zu ihrem Wesen schuf. Sie war impulsiv und ständig angespannt wie eine Feder, während Tom eine endlose, beinahe mönchische Gelassenheit besaß.
»Sei doch nicht immer so hektisch«, war seine Standardreaktion, wenn Abby aufgeregt wurde, weil sie dachte, sie wären mal wieder viel zu spät. Wodurch sie natürlich neben der Hektik zusätzlich schlechte Laune produzierte. Kapierte er denn nicht, wie nervtötend er mit seiner verdammten Ruhe manchmal war?
Es war eine Erleichterung für Abby, sich in ihr Schlafzimmer zurückziehen zu können, um sich für den Abend umzuziehen. Es war ein wirklich hübscher Raum, und sie hatte ihn nach ihrem Einzug als einen der ersten renoviert. Schränke vom Boden bis zur Decke (›unerlässlich, um möglichst viel Gerümpel zu verstecken‹, wie Abby selber sagte) und ein mit einem Bettkasten bestücktes, herrlich breites Bett. Alles war in weichem Creme und kühlem Apfelgrün gehalten, und nirgends störte auch nur eine herumliegende Zeitschrift die Aura klassischer Ruhe und Eleganz, die zu erhalten die reinste Sisyphus-Arbeit war. Da Abby im Rahmen ihrer Arbeit Trios dekorativer Schachteln propagierte, in denen man jede Menge Krimskrams aufbewahren konnte, fühlte sie sich verpflichtet, sie auch selber zu benutzen. Nur konnte sie sich einfach nie erinnern, welche Schachtel was genau enthielt. Häufig endete es damit, dass sie auf der Suche nach ihrem Schmuck die Dose mit dem Make-up in ihren Händen hielt. Andererseits fand sie nie einen Stift. Selbst wenn es womöglich Häresie war so zu denken, vermisste sie manchmal das Marmeladenglas mit den bunten Kugelschreibern, das in ihrem alten Haus auf dem Ankleidetisch gestanden hatte, bis sie zur Fachfrau in Sachen Ordnung aufgestiegen war.
Angefangen hatte alles mit den Schränken. Nicht mit ihrem Kleiderschrank – der erst vor kurzem in der Zeitschrift Style abgebildet worden war – und auch nicht in ihrem Badezimmer, einem Schrein der Badefreuden streng nach Zen, für das sie ein Vermögen ausgegeben hatte –, sondern mit ihren Küchenschränken, mit dem dort herrschenden schlichten Rotationssystem, nach dem sie neu gekaufte Dosen oder Gläser gewissenhaft hinten hinstellte, um niemals etwas fortwerfen zu müssen, weil es nie nachrückte und dadurch das Verfallsdatum irgendwann überschritten war. Auch die Liste an der Pinnwand war dabei eine große Hilfe. Und alles, was aus dem Kühlschrank, der Vorratskammer oder einem Schrank genommen wurde, wurde in das praktische Notizbuch mit dem angehängten Kugelschreiber eingetragen, sodass Abby, wenn sie einmal pro Monat ihre Vorräte auffrischte, genau wusste, was zu besorgen war.
Sie war von Natur aus ein ordentlicher Mensch, und als Jess zehn geworden war und sie plötzlich wieder mehr Zeit für sich gefunden hatte, war sie auf die Idee gekommen, mit ihrem angeborenen Ordnungssinn anderen zu helfen, ihr Leben zu sortieren.
Ursprünglich hatte sie nur den Inhalt von Kleiderschränken sortiert. Hatte Frauen mit Dutzenden identischer schwarzer Kleidungsstücke dabei geholfen, sich von den Sachen zu trennen, die sie schon seit Jahren nicht mehr angezogen hatten. Es war nicht mehr als ein kleiner Nebenjob gewesen – ein paar Vormittage in der Woche, in denen sie die Frauen beraten hatte, heiß geliebte, doch fadenscheinige Stücke fortzuwerfen und andere, kaum getragene, einfach zu verkaufen. Sie war keine Stylistin, sondern eine Entrümplerin, hatte sie ihren Kundinnen erklärt.
»Anschließend können Sie sich dann neue Kleidung kaufen – ich helfe Ihnen nur, die alten Sachen zu entsorgen.«
Der Durchbruch war nach zwei Jahren erfolgt, als eine Kundin angesichts des perfekten Zustands von Abbys Küchenschränken abgrundtief geseufzt und den Wunsch geäußert hatte, wenigstens nur halb so gut organisiert zu sein.
Abby hatte sich erboten, ihr die Hauptpunkte ihres Systems auf einem Zettel zu notieren.
»Nein, bitte machen Sie das«, hatte die Frau sie angefleht, und bald begann Abby, gerümpelfreie Systeme für Privatbüros zu entwerfen und für Häuser, die so voll waren, dass man dort kaum noch etwas fand. Gegenüber alten Postkarten, Zeitungsausschnitten und Briefen alter Liebschaften ließ sie keine Gnade walten. Mit den Menschen, die sich stets nur widerstrebend von ihren alten Schätzen trennten, ging sie jedoch sehr behutsam um.
»Nicht Sie benutzen diese Dinge, sondern die benutzen Sie!«, war ihr oberster Leitsatz. »Wenn etwas weder schön noch nützlich ist, werfen Sie es weg! Sie werden sich viel besser fühlen, wenn Ihr Leben frei von Gerümpel ist.«
Irgendwann hatte sie das Arbeitszimmer einer Journalistin aufgeräumt, und deren begeisterter Artikel über die stärkende Erfahrung der Entsorgung großer Säcke voller Müll hatte schließlich das Fernsehen auf sie aufmerksam gemacht ...
Kurz vor sieben kam endlich Toms zehn Jahre alter Volvo quietschend vor dem Haus zu stehen.
»Tut mir Leid«, rief er und warf die Haustür schwungvoll hinter sich zu. »Ich wurde von der Theatergruppe aufgehalten.«
Oben warf die fertig umgezogene Abby einen Blick auf ihre Uhr und seufzte leise. Typisch Tom. Die Leitung der Theatergruppe gehörte nicht einmal zu seinem Job. Was nützte es ihm, zweiter Schulleiter zu sein, wenn er all die zusätzliche Arbeit weiter selber machte, statt sie zu delegieren? Zu Hause ließ er Abby alles für sich machen, aber in der Schule vollzog er blitzartig die Wandlung zum Herrn »Neinlassen-Sie-mich-das-erledigen«.
Sie wartete noch fünf Minuten vergeblich, dass Tom heraufkam, um sich umzuziehen. Augenrollend marschierte sie dann nach unten. Sie würde kein Wort verlieren, aber demonstrieren, dass sie fertig war und sie endlich los müssten.
Tom und Jess waren zusammen in der Küche und lachten über irgendeinen Scherz.
»Dad, du alter Hippie«, meinte Jess mit weicher Stimme. Sie hatte ihren Stuhl vom Tisch zurückgeschoben und die langen Beine in der schwarzen Strumpfhose auf einem zweiten ausgestreckt. »Hör du besser weiter Jethro Tull. Du wirst bestimmt nie cool.«
»Ich habe kein Problem mit MTV«, versicherte Tom und gab seiner Tochter einen spielerischen Klaps auf den Arm. »Ich habe nur gesagt, dass mir dieser Chad-Kruger-Song gefällt. Schick mich also bitte nicht sofort ins Altersheim, okay?«
»Also gut, ich warte noch bis nächste Woche«, erklärte Jess mit einem Grinsen. »Aber jetzt hau endlich ab. Ich muss noch meine Chemie-Hausaufgaben machen und ihr müsst auf euer tolles Fest.«
Tom zauste Jess die Haare und statt den Kopf zurückzuziehen, sah sie ihn liebevoll an.